Cover

Schluss. Ende. Das war's. Mullen liegt blutend im Staub, den d i e aufgewirbelt und er gefressen hat. Wie bin ich nur da hinein ger ... verdammt, ich weiß genau, wem ich diese Scheiße zu verdanken habe. Ist das die Gnade Gottes, dass man kurz vor dem Ableben auch noch schwachsinnig wird? Und überhaupt, wo bleibt mein Film?! Meinem innerem Auge verlangt es nach Ablenkung. Heavenly Studios presents : "Das Leben des Richard Ehren Milford-Mullen" in Holy Color, aber bitte die gekürzte Fassung, nicht den Directors Cut, hab schon gefühlte 10 Liter in den Rinnstein geblutet und, auch wenn es abgedroschen klingt, ja, ich bin müde, ja, mir ist kalt.

"Mullen, Du Fucker, die ham Dich ganz schön fertig gemacht, siehst gar nich gut aus, machst'n Letzten, wa?!" Die Umrisse des Riesenrhinozeros, dass hier gerade eine außergewöhnliche Kombinationsgabe an den Tag legt, lassen nur wenige pissgelbe Strahlen Tageslicht in den Hinterhof, der wohl zu Mullens letzter Ruhestätte wird. Besorgt schaut sich der Schatten von den Ausmassen eines Kleintransporters um. D i e könnten ja immer noch in der Nähe sein. Sicher sind sie das. Mullen würde seinen sterbenden Arsch und Mr. Rhino seinen letzten Rest Grosshirn darauf verwetten, dass sie das sind. Sie weiden sich versteckt im Schatten am Leiden jener, die die Grenze überschritten haben. Die die Zeit, das Leben, den Kreislauf, ja Gott, Allah, Vishnu, Odin verlachten und am Tag der Abrechnung ihnen nichts als ihre weichen, aufgedunsenen Leiber entgegenstellen konnten. Wie lächerlich, wie profan, wie jämmerlich ... Menschen. Sie kreischen nach ihren Götzen, weinen Blut, schälen sich die Haut vom Leib, winseln, kriechen, scheißen und ... ob arm, reich, klein, groß, dick, dünn, schwarz, weiß, Christ, Moslem, Hindu, Heide ... sterben. So wie gerade Mullen ... der Fucker.

 

Rückblende

Es war Sommer, als Mullen in diese Stadt kam. Es war keiner dieser Ansichtskartensommertage, nein, die Hitze thronte wie eine fette Hure über den Dächern und schickte flimmernde Ausdünstungen in jede Gasse, drückte den letzten Sauerstoff aus den Wohlstandskullissen und ließ nur schwitzende, miefende DNS zurück, die durch das ausgebrannte Skelett der Stadt irrte, auf der Suche nach Erlösung oder wenigstens einem Geschäft mit Klima. Brennendes Licht kochte Strassenzüge auf und selbst den Fliegen war es zu heiß, um lästig zu sein. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, auch nicht auf den zweiten, einen dritten hatte Mullen erst gar nicht riskiert, er hasste diese Stadt und das bereits nach 'nem Automatenkaffee und dem obligatorischem Häufchen, dass ihm die Chucks verzierte. 

Obwohl sein Magen wie ein Kettenhund knurrend gegen seinen auferlegten Nahrungsentzug rebellierte, beschloss Mullen, sich auch weiterhin fester Nahrung zu verweigern und direkt seinen Auftraggeber aufzusuchen. Er würde sich am Abend in dem irischen Pub, das ihm gerade mit seiner moosgrün getünchten Holzfassade wie eine Oase inmitten einer Steinwüste entgegen leuchtete, die benötigten Kalorien in flüssiger Form holen und sich der süssen Umarmung eines kleinen Mittsommernachtsrausches hingeben.

"Mullen?!"

Spielte sein ausgehungerter Verstand ihm einen Streich?

"Richard Mullen?!!"

Soll das sein Name sein? Ist er gemeint?

"Hey! Mister 'Ich-scheiß-auf-den-Typen-der-wie-ein-Irrer-hinter-mir-her-brüllt-und-sich-damit-zum-Affen-macht'! Schwing endlich deinen schmalen Hintern hier rein!"

Gut, das war jetzt schwer zu ignorieren. Trotzdem wollte er Wem-auch-immer nicht sofort das Gefühl geben ins Schwarze getroffen, faktisch den Richtigen erwischt zu haben. Mullen hielt inne und wühlte in seiner ausgeleierten Sakkotasche nach dem silbernem Etui mit passendem Zippo, ein Gespann, das geschickt verbarg, jemandem zu gehören, der sich seine Zigaretten selber dreht. Er platzierte die Filterlose im Mundwinkel, zündete sie aber nicht an und spielte lässig mit dem Zippo. Klack-tschack, klack-tschack.

"Soll ich Dir noch 'ne Einladung schicken?" Wer-auch-immer blieb hartnäckig.

"Warum nicht? Wobei ich bezweifle, dass du lesen und schreiben beherrschst. Alouatta, oder auch Brüllaffen, nicht besonders schlau, aber laut, unglaublich laut."

Mit diesen Worten wandte sich Mullen zum Eingang des Pubs, dessen Tür wohl schon wieder geschlossen wurde. Doch die Tür war nicht zu, etwas ... jemand stand im Türrahmen und füllte ihn komplett aus. Zigarette und Zippo segelten zu Boden und Mullen bereute seine letzten Worte gerade bitterlich, eben weil es wohl seine letzten waren ("Mrs. Mullen, ihr Sohn wurde erschlagen. Seine letzten Worte waren irgendwas mit Brüllaffen.").

"Brüllaffen? Was soll der Scheiss?" die Türfüllung sah sich irritiert. "Sieht das hier aus wie 'ne Zoohandlung?"

Mullen konnte sein Glück nicht fassen, er hatte tatsächlich eines der seltenen Exemplare erwischt, das auf Grund seiner kognitiven Einschränkung absolut beleidigungsresistent war. Es sei denn, es ging gegen seine Mutter, was wohl ein Instinktüberbleibsel aus der Urzeit war. Also bemühte sich Mullen nichts über Mütter zu bemerken, setzte sowas wie ein versöhnliches Lächeln auf und erklärte King Kong, dass es besser sei, jetzt gemeinsam reinzugehen, bevor sie noch zusammen gesehen werden.

Der wirtliche Barraum wirkte im Umfeld des Kolosses wie eine Puppenstube. Eine Eckbank komplett ausfüllend, hielt sich der Hüne auch nicht lange mit Höflichkeitsfloskeln auf.

"Mister van Vanth hat dringende Geschäfte tief im Süden zu erledigen, da hatter mir den Auftrag gegeben, dich hier abzufangen und dir den Job zu erklären."

"Van Vanth schickt DICH ?! Und überhaupt, wer sagt dir, dass ich der Richtige bin?"

"Mr. van Vanth sagte mir nur, wenn hier so'ne abgewrackte Mischung aus Buchhalter und Privatschnüffler vorbeischleicht, mit'ner Fresse, als ob ihn seine Alte verlassen, die Kinder aber dagelassen hat - das ist dein Mann. Und naja, hast du in letzter Zeit mal in Spiegel geguckt?"

"Hey, hey, ...äh... " Die naive Offenheit seines Gegenübers liess Mullens Fassung kurz straucheln.

"Darragh. Darragh O'Donnell. Aber meine Freunde nennen mich nur Ducky, weil ich mal was mit'ner Ente hatte."

"Okay Darragh, abgesehen davon, dass ich mir das geistige Bild des Teils mit der Ente hoffentlich bald wegsaufe - ich bin nicht dein Freund. Was hat van Vanth dir alles erzählt?"

"Es geht wohl um so'ne Art Vertreterjob. Du weißt schon, Leuten auf'n Sack gehn und irgend'nen Scheiß andrehen. Mann, wie'n Vertreter siehst du aber nicht gerade aus?"

"Was weißt du schon? Du siehst auch nicht unbedingt humanoid aus und trotzdem, du atmest. Ich bin in dem Job nicht gut, nein, ich bin der Beste. Ich habe schon Blinden Lesebrillen verkauft, Christen den Koran, Alleinstehenden Lunchboxen im Partnerlook, Müttern Fruchtbarkeitstests und, Mann, den Moslems sogar Rushdie's Gesamtwerke. Was'ne Zeit!" schwärmt Mullen.

"War'n das mit den Müttern?" meldete sich der urzeitliche Instinkt. Zeit für Mullen das Ruder wieder zu übernehmen.

"Vergiss es. Komm zur Sache. Ich brauch Details."

"Mr. van Vanth meinte, ich soll dir erstmal das hier geben, wegen der Moritation, oder so."

Darragh schob ihm einen fetten Umschlag über den Tisch, dessen Inhalt man förmlich erriechen konnte. Baumwollfasern, Polymere, Metall, Fluoreszenzfarbe, Druckerschwärze, oh ja, ein kurzer Blick auf den Inhalt bestätigte Mullen, dass sein Lebensunterhalt für den Rest des Jahres gesichert war.

"Okay, ich bin motiviert. Wie geht's jetzt weiter? Worum dreht sich's? Bei d e m Honorar hoffentlich nicht um irgend'nen Snuff- oder Päderastenscheiß Dann muss ich Van Vanth jeden einzelnen Schein ins Brotloch stopfen, bis ihm die Därme aus der Bauchdecke platzen."

"Verträge."

"Verträge?!!"

"Verträge."

Mullens Fassung bekam wieder Schlagseit.

"Ich fang doch in der Vertreterhierarchie nicht wieder ganz unten an und drück Versicherungen. Van Vanth hat wohl'n Eisprung! Ich werde ..."

"Komm runter, Mann, keine Versicherungen. Hier, sechs Stück, wenn alle unterschrieben sind, ist der Job erledigt."

"Das war's??!! Lass mich raten, es gibt den berühmten Haken?!"

Der Kleiderschrank griente gehässig.

"Yep, die Klienten dürfen's erst nach der Unterschrift lesen. Du darfst es dir garnich anseh'n. Ha, die Deppen musst Du erstmal finden ..."

"Wenn es in dieser Stadt noch mehr von deiner Sorte gibt, sitz ich morgen schon im Zug nach Hause." konterte Mullen.

"Hä?!"

Treffer - versenkt.

"Lass gut sein, Darragh, ich wollte Dich nicht überfordern. Lass uns was trinken."

Der Job schien lösbar, das Bier tat gut und plötzlich nahm etwas Unbekanntes von Mullen Besitz, eine seltsame Euphorie, ein inneres Lächeln, Lachen, Brüllen. Er wollte nicht mehr trinken, nein, er wollte saufen! Und fressen! Ja! Er wollte die ganze Welt nicht nur umarmen, sondern ficken!! Jaaa!!! Er wollte .... (Stop, Stop, Stooop! Langsam. Ich meine, die Rede ist hier von Mullen, nicht Keith Richards. Kleine Brötchen, flache Bälle, you know).

Aber das Ganze löste in Ihm doch ein Gefühl aus, dass schon lange Zeit nicht mehr an seiner Seele zupfte. War es ein ... Gutgefühl? Nein, aber es war gut. Gut ... gute ... gute Laune! Ja! Das war's! Er hatte Gute Laune! Der fünf Zentner Mann, ein Auftrag und drei Guiness hatten es tatsächlich geschafft, Mullen etwas fühlen zu lassen, was er glaubte erfolgreich vor Jahren verbannt zu haben.

Also gut, das musste gefeiert werden. Die vergilbte Musikbox, die zwar mit Compact Discs, nicht dem guten, alten Vinyl geschwängert wurde, kam ihm dabei gerade recht. Okay, jede Menge irische Bands, wer hätte das gedacht. Corrs, Cranberries, Thrills - zu modern. The Kelly Family? Hm, Mullen kannte eine Familie Kelly im Norden Irlands, aber die hatten einen Schlachtereibetrieb. Was soll das denn für Musik sein? Heavy Metal? Dann doch lieber was Klassisches - Dubliners, Undertones, Thin Lizzy, ah, The Pogues, aber die alten Pogues mit MacGowan. Dirty Old Town, der Klassiker, was passte besser zu diesem Loch und seiner neu gewonnen guten Laune.

I met my Love by the Gasworks Wall

Shane's lallende Lyriks würden sicher sein Hochgefühl eine Weile nähren.

Dreamed a Dream by the old Canal

Das Geldstück bahnte sich scheppernd seinen Weg durch die Eingeweide der Maschine und gab satt klackend das gespeicherte Liedgut frei.

Life is a Mystery / Everyone must stand alone / I hear you call my name / And it feels like Home

Die Reaktion des Hausherrn auf diesen musikalischen Holocaust liess nicht lange auf sich warten.

"Ducky, du Einzeller! Du sollst deinen Dünnschiss zu Hause hören und nicht damit meine Musikbox verseuchen. Meine Gäste bekommen ja'n Hirnschlag von der Sülze!!!"

Langsam wich die Blutleere in der Großhirnrinde, die der anaphylkatische Schock bei Mullen ausgelöst hatte und das Sprachzentrum nahm wieder seinen Dienst auf.

"Da ... das war Madonna?! Ich meine ... Darragh ... M-a-d-o-n-n-a!" stotterte er fassungslos. Darragh konnte die Aufregung nicht verstehen."Hey, sie war in den Achtzigern echt toll. Mann, was'ne Braut. Und in ihren Videos issie meist voll nackt!"

"Mensch, Darragh, Madonna! Wie kann man zwei seiner Sinne nur derart verarschen! Ich wette du setzt dich auch zum Pissen hin, liest dabei die Vogue und pfeifst "My Heart will go on"?!"

"Krieg Dich wieder ein, Mann." versuchte Darragh die Szene zu entspannen "Noch'n Bier?"

"Aber schnellstens, sonst hyperventilier ich hier noch. Und pack gleich noch'nen doppelten Green Spot mit drauf, als Reparation quasi."

Einige Reparationen später klärten sich Mullens Sinne beim Verlassen des Pubs wieder ein wenig und er registrierte die sechs Umschläge in seiner Hand. Sie waren aus einem pergamentähnlichem Material gefertigt und leicht transparent, man konnte die darin befindlichen Papiere deutlich erkennen. Sie schienen in einer anderen Sprache verfasst zu sein und so sehr sich Mullen im fahlen Licht der Nacht auch mühte, ihm war es nicht möglich, auch nur Bruchstücke zu entziffern. Lediglich im Fenster für die Unterschrift stand deutlich "Bitte hier unterzeichnen". Dummerweise waren die Umschläge jeweils mit einem antiquiertem Siegel aus schwarzem Wachs gegen neugierige Blicke geschützt.

In der Vergangenheit hatte Mullen jeden Schund gelesen, jedes Wundermittel probiert, jede Gebrauchsanweisung entschlüsselt, kurz, jedes seiner Handelsgüter akribisch studiert, nur das konnte ihm eine maximale Verkaufsquote garantieren. Van Vanth würde sicher über ein fehlendes Siegel hinwegsehen, wenn Mullen ihm sechs unterschriebene Verträge unter die Nase hielt.

Das Wachs war härter, als er dachte. Es kostete Mullen Einiges an Anstrengungen, es seiner ursprünglichen Bestimmung zu berauben. Die aufkommende nächtliche Brise kühlte den Hinterhof, in dem Mullen stand, plötzlich empfindlich aus. Kurz überlegte er, auf das Zimmer zu gehen, dass ihm der Wirt für diese Nacht überlassen hatte, aber die Neugier war stärker. Zitternd fischte er die Papiere aus dem geöffneten Umschlag. Mullen überflog das Dokument kopfschüttelnd. Schriftzeichen, Symbole, Ornamente, alles deutete auf irgendeinen religösen Inhalt hin. Aber warum in keiner verständlichen Sprache? Und weshalb wurde alles so aufwendig konzipiert und zudem noch handschriftlich festgehalten?

"Ich bin der etwas archaische Typ, verzeih. In vielerlei Hinsicht obsolet, weit entfernt von den banalen Gebetsmühlen Eurer modernen Welt."

Mullen schreckte herum und blickte direkt in das zerfurchte Gesicht eines uralten Mannes. Die dunklen, fast schwarzen Augen lagen wie Glassphären auf den hohen Wangenknochen. Die pockige Nase ragte schnabelartig über den lippenlosen Mund und bildete mit dem unnatürlich spitzem Kinn eine abstoßende Einheit. Gehüllt in widerlichen Gestank und eine Dunkelheit, die merkwürdig wechselhaft schien, wirkte der Alte derart bedrohlich, dass Mullen diesem Moloch regungslos ausgeliefert war.

"Regeln sind meine Passion, eine Gepflogenheit, die ihm wohl nicht vertraut ist. Ohne Gewissen das Siegel zerissen."

Das ausgeschüttete Adrenalin gab Mullen einen Initiativschub, in dessen Verlauf er sich die optischen Eindrücke als Quittung für den Pubbesuch erklärte und er wieder kurzzeitig bei relativ klarem Verstand war.

"Mister van Vanth, lassen Sie mich erklären ..."

"Es ist nicht, wie es aussieht. Ich weiß. Doch werde ich den Frevel nicht dulden, treibe ein die Anstandsschulden." reimte der Greis unbeirrt weiter.

"Mister van Vanth, ich ..."

"Schweig ! Wie bemerkete er so keck : '...bis ihm die Därme aus der Bauchdecke platzen .' Eine amüsante Vorstellung."

Mit einer fast beiläufigen Handbewegung delegierte der Alte seine finsteren Häscher, die es geschickt verstanden, sich im Dunkel nahezu lautlos, kaum wahrnehmbar zu bewegen. In kurzen, behenden Bahnen umschwärmten sie Mullen, ohne ihn jedoch auch nur einmal zu berühren. Scheinbar unverrichteter Dinge wichen sie in Richtung ihres Despoten zurück und verbargen ihn vor der schwarzen Kulisse des Hofes.

Mullen verstand gar nichts. War das wirklich van Vanth? Was waren das für Erscheinungen? Wieso der plötzliche Rückzug? Die Zugfahrt, die Tageshitze, der Alkohol, zu wenig Schlaf, noch weniger Ballaststoffe, das alles hatte Mullen wohl doch mehr zugesetzt, als er zugeben wollte.

Sein Vorhaben, jetzt doch endlich das Zimmer aufzusuchen, wurde nochmals durch etwas unterbrochen. Ein Geräusch. Fein, tröpfelnd, kaum hörbar. Dennoch konnte Mullen registrieren, dass das Geräusch direkt unter ihm seinen Ursprung hatte und blickte an sich herab. Aus seinem Sakko mündete ein schmales, dunkelrotes Band in eine riesige, dunkle Lache unter seinen Füssen. Entsetzt sprang Mullen zurück, wobei etwas Organisches auf das Kopfsteinpflaster traf. Er riss sich Sakko und Hemd vom Leib und starrte auf seine Innereien, die teilweise aus seiner geöffneten Bauchdecke auf das Pflaster hingen. Kollabierend fiel Mullen auf die Knie und versuchte in einem verzweifeltem Wahn unter Tränen, Geschrei und Schmerzen, seine Organe wieder an ihren anatomischen Ursprung zu bringen. Doch nach Verzweiflung folgte Erkenntnis. Die Erkenntnis, diesen Kampf nicht gewinnen zu können. Mullen krümmte sich auf dem mittlerweile vereistem Boden zusammen und wartete auf sein Ende.

 

Gegenwart

"Mullen, Scheisse, du blutest ja wie'n angestochenes Schwein. Es wurde zwar gesagt, das ist einkalkulierter Kollateralschaden, aber irgendwie habe ich dich Loser ins Herz geschlossen. Deine Zeit ist einfach noch nich ran."

Zwischen den Sonnenstrahlen erkennt Mullen ein bekanntes Gesicht. Darragh scheint wohl mit dem Ernst der Lage etwas überfordert zu sein, aber selbst im Angesicht des sicheren Todes vergisst Mullen seine gute Kinderstube nicht.

"MusstdDu Riesenrind mir mit deinem debilem Gefassel meine letzten Minuten auch noch zur Hölle machen?!"

"Die Hölle hat dich gerade ausgeschissen, aber den Triumph gönne ich ihr nicht."

Darragh bewegt sich auf Mullen zu und gibt den Blick auf eine sternenklare Nacht frei.

"Scheisse, was ...?!" stöhnt Mullen irritiert. "Es war doch gerade ... die Sonne ..." Er bemerkt, dass die Strahlen keineswegs von eben dieser stammen, vielmehr sind sie eine Art Aura, ein Lichtschein, der von etwas hinter Darragh ... nein verdammt, dieses Licht geht direkt v o n Darragh aus. Mullen ist wie gelähmt, als der Riese sich über ihn beugt.

"Ha, Mullen, du hast ja Schiss. Mr. Grossfresse zittert wie ein verschrecktes Fohlen."

"Ich sterbe, du Arsch."

"Halt die Luft an."

Mit diesen Worten stösst Darragh seine Pranke mit den Ausmaßen einer Gusspfanne direkt in die offene Bauchwunde. Mullen glaubt den Verstand und auch seinen letzten Lebensfunken zu verlieren. Er will schreien, doch was sich dann vor seinen Augen abspielt, lässt jeden Laut in seiner Kehle ersticken. Die klaffende Wunde schliesst sich augenblicklich um Darraghs pulsierenden Unterarm und als er die Hand durch die Oberhaut wieder herauszieht, ist Mullens Bauchdecke immer noch so fahl und behaart wie jeher, nur nicht mehr von einem Ende zum anderen aufgerissen. Alles war wie vorher, keine Schmerzen, kein Blut, keine Todesangst. Mullen springt auf und stürzt soweit es geht in die Tiefe des Hofes. An eine Backsteinwand gepresst kann er von allen Fragen und Ängsten, die sein noch traumatisiertes Hirn plagen, lediglich herausstammeln "Was ... bist ... du??!"

"Ein verdeckter Ermittler, wenn Du so willst ..."

"'Bulle?!! Kein Bulle steckt seine Hand in den Bauch anderer Leute, die ihn danach wieder anbrüllen können, was er wohl ist!!!"

"Nein, ich komme von höherer Stelle."

"FBI?! CIA?! MI6?! Mossad?!"

"Nein, nein, nein. Aus eurer Sicht komme ich praktisch von höchster Stelle."

"Okay, okay. Alles klar. Jetzt blick ich durch, ich hab's. Wie konnte ich Trottel das nur übersehen." feixt Mullen wirr. "Ich bin tot! Na klar! Mausetot! Ich liege hier im Rinnstein, meine Hirnzellen quittieren nach und nach ihren Dienst und versüßen mir mein Sterben mit einigen absurden Halluzinationen."

Mullen rutscht resigniert an der Wand zu Boden, legt den Kopf in den Nacken und starrt durch Darragh hindurch.

"Richard. Du bist nicht tot." Darraghs Stimme hatte jetzt eine sanfte, ja fast hypnotische Klangfarbe

"Du. Ich. Dieser Hof. Der Auftrag. Van Vanth. Alles echt. Ich hab dich zurückgeholt, weil du uns in Zukunft vielleicht noch nützlich sein könntest. Dein Glaube ist noch unberührt, kann noch geformt werden. Du musst nur zu ihm finden."

Aus Mullens starrem Blick liest Darragh, dass ihn Worte im Moment nicht erreichen, also muss etwas Visuelles, Greifbares seinen Verstand wieder einrenken.

"Ich hasse es, dass zu tun ..." Darragh streift Jacke und T-Shirt vom Oberkörper "... es sieht so ... schwul aus."

Perplex findet Mullen einige, wenige Worte.

"Darragh ... Darragh ... ich ... ich bin keine Ente ... keine Ente ...".

Der Riese lächelte beschwichtigend.

"Ungeachtet dessen, was du gleich siehst, Richard, glaube mir, ich bin auch keine Ente."

Darragh "Ducky" O'Donell, der schwachsinnige Ire, das Pubmaskottchen, der Gigolo vom Ententeich breitet in theatralischer Geste seine muskulösen Arme aus, jede Faser seines gigantischen Körpers bebt unter der sichtlichen Anstrengung. An Nacken und Schultern treten enorme, klar strukturierte Muskelstränge hervor und unter knorpligem Knirschen und Reissen gibt sein mächtiges Kreuz sechs gewaltige, strahlend reinweisse Schwingen frei.

"Du ... du ... bist ein Engel?!"

"Ein Engel?! Ich bitte dich, Richard, ich fang doch in der Engelshierarchie nicht wieder ganz unten an und spiele Harfe" lächelt Darragh. "Ich bin ein Seraphim, ein Wächter, ein Kämpfer für das Gleichgewicht, ein Aussendienstler des Jenseits und im Moment ermittle ich gegen van Vanth, oder auch nur Vanth, wie ihn der dritte Kreis kennt. Ein alternder Dämon, dem noch sechs Seelen für den Übertritt in den vierten Kreis fehlten. Er war aber längst nicht mehr so geschickt wie in früheren Tagen. Die Menschen sind in diesen Zeiten, in denen sich selbst Familien gegenseitig ans Messer liefern, vorsichtiger, misstrauischer geworden. Vanth war es nicht möglich, sie auf dem üblichen Weg zu einer Signatur zu bewegen, sei es als Abonnementenjäger in der Fussgängerzone, Sektengründer oder halt Klinkenputzer, Verzeihung, Vertreter. So hat er sich den Besten der Branche geholt, der für ihn die Arbeit erledigen sollte. Laut der alten Schrift ein ausserordentliches Vergehen, aber Samael war's Schnuppe. Nur wir konnten diese Machenschaften nicht so einfach hinnehmen. Du weisst schon, das Gleichgewicht. Dir das jetzt zu erklären, würde dich sicher deinen letzten Rest Verstand kosten, also machen wir's kurz. Wir konnten Vanth nicht einfach so kassieren, das läuft so nicht. Aber wir wussten, wenn ein Irdischer ihm in die Karten linst, würde er sich zeigen und denjenigen ... naja, Du weisst ja ..."

Darragh deutet auf Mullens Unterleib.

"... und die körperliche Offenbarung gegenüber eines Menschen, wie auch das Verwunden eines Schutzbefohlenen der Chöre hebt das elysäische Dekret auf und, et voilá, wir hatten ihn bei den Eiern."

Mullens spirituelle Aufnahmefähigkeit stösst an ihre Grenzen "Ich kann das alles nicht glauben."

"Kann ich mir denken." Darragh war gerade dabei, seine Rangzeichen wieder im Torso zu verbergen, was ihm wohl offensichtliche Schmerzen bereitet.

"...... an .... deiner ... Stelle .. würde ich mir auch fortgeschrittene Wahnvorstellungen attestieren, aber so sieht's nunmal aus. Ich konnte dich um's Verrecken nicht einfach so verrecken lassen, was mich'ne Menge Papierkram und eine Anhörung vor'm Höheren Rat kostet."

Mullens Dankbarkeit hielt sich in Grenzen "Aber was sollte der Scheiss mit "Mullen, du Fucker"..."machst'n Letzten"... "blutest wie'n angestochenes Schwein"?!"

"Vanth und seine Schatten waren noch in der Nähe und ich durfte meine Tarnung nicht auffliegen lassen, bevor die Wächter ihn gestellt hatten. Entschuldige, dass du deinen Lebenssaft solange in die Kanalisation pumpen musstest, aber wie gesagt, dein Überleben war eigentlich keine Option. Gern geschehen."

"Ach, fick Dich."

Darragh streckt die Hand nach Mullen aus und berührt ihn kurz an der Stirn, worauf dieser entgeistert hochschreckt.Das Zugabteil ist glücklicherweise leer, so dass niemand seine verwirrten Blicke und Gesten vielleicht falsch deuten könnte und Mullen beim nächsten Halt die Kavallerie nebst Weisskitteln erwartet. 

Langsam kommen Entspannung und Erinnerung Hand in Hand zurückgeschlendert. Der Kongress, na klar. Was für eine Grütze, verschwendete Zeit. Bin auf dem Weg nach Hause und muss wohl eingenickt sein. Hat jemand angerufen? Unbekannter Teilnehmer, dreimal. Was solls, der ruft sicher auch noch ein viertes Mal an, wenn es was Wichtiges war. Als er vom Mobilfunktelefon aufsieht, fällt sein Blick auf einen dicken Umschlag, der auf dem Boden vor ihm liegt. Vorsichtig hebt Mullen ihn auf. Ein flüchtiger Blick in den Umschlag genügt, um Moralempfinden und Gewissen auszublenden und sich dafür zu entscheiden, dass jemand, der soviel Geld mit sich rumschleppt, auch besser darauf aufpassen sollte. Mit dieser laut gedachten Moralpredigt verschwindet der Umschlag in Mullens Aktenmappe.

Die Sonne flutet das Abteil. Mullen schließt die Augen, streckt die Beine aus und lässt sich in den Abteilsessel sinken. Scheiß Sommer, denkt er, viel zu heiß.

ENDE?

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.01.2012

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