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Es war in einer stürmischen Novembernacht. Draußen klapperte der Sturm an meinem Roll-Laden ... er schrie und kreischte auf schreckliche Weise. Einsam und verlassen lag ich in meinem riesigen Bett in meinem düsteren Zimmer und machte kein Auge zu. Auch Papa hatte den Fernseher schon längst ausgemacht und war schlafen gegangen. Sein leises und regelmäßiges Schnarchen war aus dem Schlafzimmer deutlich zu hören. Ich drehte mich immer wieder von rechts nach links , vom Bauch auf den Rücken, zählte sogar Schäfchen (meine Oma Kristina hatte mir mal gesagt, dass das helfe), aber nichts half: Ich schlief und schlief einfach nicht ein. „Warum schlafen alle, nur ich nicht?“, dachte ich und wusste nicht, ob ich vor Wut laut schimpfen und heulen sollte. Und dann wieder: rataratarata. Dieser verflixte Sturm da draußen, der einfach nicht aufhören wollte. Er hatte wohl rechten Spaß daran, mich zu ärgern. Er wollte mich quälen und wach halten. Das war so gemein! Manchmal dachte ich: Die Nacht ist mein Feind! Einfach nur schlafen! Einpennen und träumen! Das wollte ich! War das denn so schwierig zu verstehen? Schlafen, pennen, schlummern, knacken: so wie es gerade die ganze Welt tut! Zu Mama und Papa ins Bett? So ein Quatsch! Das machen doch nur Babys! Plötzlich, ganz unerwartet, hörte ich ein seltsames Geräusch- ein Rumpeln und Rattern, ein Grummeln und Grollen. Nein, der Wind war es diesmal nicht. Die Töne kamen aus meinem Kleiderschrank! Was war das bloß? Einbrecher? Geister? Monster? Eigentlich glaubte ich an so ´nen Kinderkram schon längst nicht mehr, aber jetzt... jetzt war alles anders! Denn die Geräusche waren mehr als unheimlich. Auf einmal öffnete sich die Schranktür. sie knarrte, knirschte und quietschte. Ganz fest kniff ich meine Augen zu, drehte mich zur Wand und tat so, als ob ich schliefe. Ich spürte, dass mein Körper zu zittern begann. Was immer da auch war, es sollte weg gehen!

„Ich weiß, dass du nicht schläfst, Marie“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter mir. Es war eine sanfte Frauenstimme, die mir plötzlich ganz und gar keine Angst mehr bereitete. Die Panik war von Jetzt auf Gleich völlig verschwunden. Ganz von selbst drehte ich mich um und entdeckte eine hübsche junge Dame mit langen blonden Haaren. Ein blaues, enges Kleid trug sie. Darunter verbarg sich ein schöne Frauenfigur. Sie lächelte mich freundlich an, strich über mein Haare und sagte: „Ich hab’ gehört, dass du nicht schlafen kannst und dass die Nacht mittlerweile zu einem echten Feind geworden ist?“ „Ja“, antwortete ich. „Woher weißt du das?“ Mit einem zauberhaften Lächeln verriet sie mir: „Weißt du, das ist der mein Job. Ich spüre immer genau, wenn sich Kinder im Bett wälzen und nach ihren Träumen suchen.“ Dann erschrak sie ein wenig und fuhr fort: „Aber ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. „Gestatten, liebe Marie“, sagte sie und streckte mir ihre Hand grüßend entgegen, „Mein Name ist Erika. Erika die Schlummerfee.“ Wie bitte? Eine Schlummerfee? Feen gab es doch nur in Märchen und nicht in der Wirklichkeit. Doch genau jetzt stand eine solche Gestalt plötzlich ganz leibhaftig vor mir. Ich konnte sie deutlich sehen und spüren, riechen und hören. Sie hatte meine Hand genommen und streichelte diese ganz sanft. Eine echt Fee berührte mich in diesem Moment! Es war ein tolles Gefühl. Einfach unbeschreiblich, einfach traumhaft. „Du findest es ungerecht, dass alle schlafen, nur du nicht?“ fragte sie. Ich nickte heftig und stimmte zu: „Das ist echt saugemein! Warum können bloß alle pennen, nur ich nicht?“ „Glaub mir, dass ist nicht so! Ich werde dir beweisen, dass es viele Kinder gibt, die, wie du, gerade nicht schlafen. Magst du mitkommen?“ Zunächst zweifelte ich ein wenig, denn ich sollte doch nicht mit fremden Menschen mitgehen. Das predigten Mami und Papi mir fast täglich. Es gäbe so viele böse Menschen da draußen. Doch dieses junge Fräulein sah wirklich nicht böse aus. Sie schien sehr lieb zu sein und war schön, wunderschön sogar. Die hätten auch meine Eltern nett gefunden, da war ich mir hundertprozentig sicher. „Aber wohin gehen wir denn?“, fragte ich. „Wir gehen nicht, wir fliegen“, betonte sie. „Und zwar dorthin, wo der Schlaf gerade ebenso keinen Einzug hat, wie in deinem Kinderzimmer!“ Hä? Das kapierte ich nicht. Was meinte sie bloß mit diesen schrägen Worten? Erst jetzt entdeckte ich ihre rosafarbend- schimmernden Flügel auf ihrem Rücken. „Fliegen?“ schrie ich. „Das wollte ich immer schon mal!“ Im letzten Jahr war unser Ibiza- Urlaub wegen so ´ner doofen Grippe von Papa ins Wasser gefallen. Aber jetzt, genau jetzt hatte ich endlich die Chance, die Welt über den Wolken kennen zu lernen. Diese Gelegenheit konnte ich mir einfach nicht entgehen lassen. Sofort schnappte ich mir meinen Anorak, nahm Erikas Hand und folgte ihr. Langsam öffnete sie meine quietschende Schranktür. Doch was war das? Ein starker Wind blies uns plötzlich entgegen; meine Haare wehten wild durcheinander. Wo waren denn plötzlich alle meine Hosen, Shirts und Pullis hin? Alles futsch! Das war nicht mehr der Schrank, aus dem ich vor ein paar Stündchen noch meinen Schlafanzug geholt hatte. Das war etwas anderes. Wir befanden uns auf einem hohen Berg in einem verschneiten Gebirge. Es war weder Tag noch Nacht; der Himmel war bewölkt und dämmrig. Ein paar Wölkchen zogen an uns vorüber und es war mir, als grüßten sie uns freundlich. Erika machte einen kräftigen Satz nach vorne und sofort fielen wir einige Meter schwerelos in die unendlich wirkende Tiefe. Dabei hielt sie meine Hand ganz fest. Gemeinsam flogen wir dem Sonnenaufgang in der weiten Ferne entgegen. „Wohin geht’s?“, fragte ich. Ich war schrecklich neugierig. „In den fernen Osten, nach Kyoto in Japan“, verriet Erika. Nach ein paar Minuten Flug stoppten wir an einem großen Fenster, öffneten es und befanden uns plötzlich in einem fremden Kinderzimmer. „Sayonara Erika“ sagte ein asiatisch ausschauendes Mädchen, das uns freundlich anlächelte und dabei mit dem Kopf nickte. „Sayonara Mishiko“, entgegnete die Fee. Erika klopfte mir auf die Schulter und stellte mich vor: „Hier, das ist Marie. Sie denkt doch wirklich , sie sei die einzige, die in diesem Augenblick nicht schläft. Gerne möchte ich ihr das Gegenteil beweisen. Also Mishiko: Schläfst du?“ „Schlafen?“, unterbrach das Mädchen plötzlich und lachte laut. „Schau mal auf die Uhr- ich muss mich beeilen, nicht zu spät zur Schule zu kommen. Die beginnt nämlich in genau zehn Minuten! Ach, wie gerne ich jetzt doch schliefe, aber in der Zweiten schreiben wir `nen Mathetest, da wäre ein Nickerchen nicht so angebracht!“ „Da hast’ e Recht“, stimmte ich zu. „Ja, dann wollen wir dich auch nicht aufhalten“, sagte Erika und klopfte Mishiko aufmunternd auf die Schulter. „Viel Glück wünsche ich dir. Aber ich bin mir sicher, dass du das mit links packst!“ Als Mishiko schon fast aus dem Zimmer gegangen war, fügte die blonde Fee noch hinzu: „Ach ja, die Primzahlen kommen nicht vor!“ Das Mädchen machte einen riesigen Luftsprung und jubelte über diese Nachricht. „Danke, Erika!“, schrie sie und verließ den Raum.
Das war ja genial. Woher wusste Erika das bloß? Aber das war wohl eine dieser tollen Fähigkeit, die nur Feen drauf hatten. Erika nahm erneut meine Hand und startete in die Lüfte. Wir flogen über ein riesiges Meer, über etliche kleine Inseln und sahen viele kleine Schifferboote. „Nun geht es ab ins Gestern, “, teilte Erika mir während der Reise mit. Ins Gestern? Wie soll das denn gehen? Schon wieder sprach diese Zauberfrau in Rätseln. Aber ich glaubte ihr- diese Erika war einfach toll! Sie war die reinste fliegende Zeitmaschine. Nun hielten wir an einem großen Sportplatz. Dort spielten einige Jungs Baseball, schrieen, kreischten und feuerten sich gegenseitig an. Sie waren einfach genauso, wie die Jungs aus Maries Klasse immer waren: Laut, aufgeregt und megahektisch. Jungen waren also überall gleich. Einer von ihnen kam geradewegs zu uns herüber gelaufen. Er trug eine rote Baseballkappe und einen blauen Trainingsanzug. „Hey Erika“ begrüßte uns dieser blonde Junge mit dem amerikanischen Akzent „Auch wieder da?“ Lang nichts mehr gehört von dir.“ Die beiden klatschten sich gegenseitig in die Hände. „Hi Jason“, grüßte Erika zurück. „Darf ich dir Marie vorstellen? Sie ist der Meinung, alle Kinder schliefen jetzt gerade.“ Der Junge guckte Marie erstaunt an und sagte mit weit aufgerissenen Augen: „Typisch Girl! Warum sollte ich schlafen? Nach der Schule muss ich doch mit meiner Mannschaft trainieren, um die Schulmeisterschaft zu gewinnen. Da kann ich doch nicht pennen!“ Da hatte der Jason Recht. Wenn er jetzt schliefe, würde sein Team bestimmt nicht siegen. Später tranken wir noch gemeinsam etwas Cola, naschten ein paar Schokoriegel , während Jason erzählte, dass sein Baseball- Team seit acht Spieltagen ungeschlagen sei. Wow! Eine echte Sportskanone, dieser Jason! „Bisher haben wir Kinder gesehen, die ein Leben wie du führen, nicht wahr?“ fragte Erika während unseres nächsten Flugs. „Ja“, antwortete ich, „Ich hätte echt nicht gedacht, dass die Kids in anderen Ländern genauso leben wie ich.“ „Dann möchte ich dir aber jetzt etwas anderes zeigen.“ Als Erika dies sagte, wurde sie plötzlich sehr ernst und leise. Was war bloß los? An dem Ort, wo wir jetzt angekommen waren, herrschte bereits tiefschwarze Nacht. Als wir nun in ein Fenster einer großen Fabrik blickten, zeigte Erika auf ein afrikanisch ausschauendes Mädchen, das in dieser Halle an einer großen Nähmaschine saß und daran arbeitete. Sie hatte uns schon entdeckt, winkte uns schüchtern zu, schaute aber sofort verschüchtert auf einen düster dreinschauenden Mann und führte ihre Arbeit schnellstens fort. „Wer ist das? Was macht sie?“ wollte ich wissen. „Das ist Bejide. Sie arbeitet hier für eine große Bekleidungsfirma. Wie du siehst macht sie das auch nachts. Sie hat eine große Familie, die nur durch die Arbeit von ihr und ihren anderen älteren Geschwistern überleben könnte.“ Arbeiten? Als Kind! Und auch noch nachts? Das war ja ein schlimmer Gedanke! „Aber, aber... als Kind darf man doch nicht arbeiten gehen. Man muss doch zur Schule gehen!“ „In diesem Land darf man dies“, entgegnete Erika, „die kleinen, geschickten Fingerchen von Kindern sind für diese Arbeit geradezu perfekt!“ Dagegen war mein Leben als Schülerin ja das reinste Paradies.
Ich hatte eben einfach nicht einschlafen können, lag aber in meinem schönen, weichen Bett. Doch Bejide konnte und durfte nicht schlafen, weil sie für ihre Liebsten arbeiten gehen musste. Sie hätte gerne eine bestimmte Freundin: Meine Feindin – die Nacht! „Aber was können wir dagegen tun?“, schrie ich. Erika antwortete, dass wir eigentlich nichts tun könnten. Wir sollten aber wissen, dass Bejide schon jede Kleinigkeit glücklich mache, die ihrer Familie gut tun würde. Daher ginge sie sogar gerne arbeiten. Ich wollte hier nur weg. Schrecklich war es hier, gruseliger als der Film eben bei Paco. Denn das war die Wahrheit. Die Stimmung war so düster und ich konnte den Gedanken kaum ertragen, Bejide nicht von hier wegschleppen zu können. „Wie könnte man ihr nur helfen?“, fragte ich mich jedoch immer wieder. „Wohin fliegen wir nun?“, fragte ich Erika einige Minuten später. „Jetzt geht es zu dir nach Hause, meine Kleine! Morgen hast du Schule und da musst du ausgeschlafen sein!“ Zuerst war ich total enttäuscht; denn ich hätte so gerne noch viel mehr gesehen. Doch ich spürte, wie die Müdigkeit meinen Körper schwächelte und ganz plötzlich zweifelte ich überhaupt nicht mehr daran, heute noch schlafen zu können. Nicht mal ein kleines bisschen. Wir stiegen aus meinem Schrank und ich legte mich in mein warmes, kuscheliges Bett. Dort war es wunderschön. „Bis du eingeschlafen bist, werde ich hier bleiben“, versprach Erika. Obwohl es draußen noch immer pfiff und blies, machte mir der Sturm plötzlich nichts mehr aus. Noch kurz dachte ich an Jason, Mishiko und daran, was sie jetzt wohl machten. Doch vor allem dachte an die arme Bejide. Sie tat mir so leid. Ich nahm mir vor, am nächsten Tag sofort mein Sparschwein zu schlachten, ein paar Süßigkeiten zu kaufen, um diese an Bejides Familie ins weit entfernte Nigeria zu senden. Darüber würde sich dieses hübsche Mädchen sicherlich freuen. Süßigkeiten mag ja jedes Kind auf dieser Welt. Aber erst morgen würde das geschehen. Dafür hatte ich jetzt keine Kraft mehr. Diese Reise war zwar aufregend, aber auch wirklich anstrengend gewesen. Nun war ich wirklich erschöpft und konnte meine Augen kaum mehr offen halten. Ich gähnte herzhaft und lächelte Erika an, wusste ich doch, dass sie immer wiederkehren würde, wenn ich mich mal wieder im Bett wälzen würde. Dann machten wir wieder eine Reise um die schlaflose Welt.

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Tag der Veröffentlichung: 18.06.2009

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