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Das soll mir mal wer erklären. Da findet man eine Freundin und dann ist es auch wieder falsch. Vielleicht bin ich einfach zu jung. Bin ja erst 8 Jahre und vier Monate, aber das ist zu hoch für mich.
Damit ich am Nachmittag nicht alleine zu Hause bin, schicken mich Mami und Papi seit nun mehr als einem Jahr in die Nachmittagsbetreuung der Kirche nebenan. Da ist es echt cool. Mittags gibt es gutes Essen, bei den Hausaufgaben kann mir auch geholfen werden und man kann soo viel spielen, tun und so weiter. Das hätte ich zu Hause nicht.
Mama arbeitet ja den ganzen Tag in ihrer Modefirma. Da wäre ich meistens alleine. Denn Papa kommt auch nur am Wochenende von der Arbeit nach Hause (war aber jetzt schon ganze drei Wochenenden nicht da). Da war es Mamas Idee kurz nach meiner Einschulung, das Angebot der Betreuung anzunehmen, denn sie kennt die Gemeinde gut. Sie trällert ja seit Jahren im Kirchenchor.
Es war eine gute Idee mit der Betreuung. Eine richtig gute.
Auch, weil ich dort meine allerbeste Freundin Katrin kennen gelernt habe. Katrin ist schon 9 und geht in die dritte Klasse. Aber auf der Gutenschule. Ich bin auf der evangelischen Grundschule Kastanienstraße, die direkt neben der Kirche und somit neben der Betreuung liegt. Katrin muss mittags immer 3 Kilometer zu Fuß gehen, um zu uns zu kommen. Manchmal hole ich sie ab, obwohl meine Mutter nicht mag, dass ich alleine so weite Wege gehe und dann noch in „diese Gegend“. Damit meint Mami den Stadtteil Liebich, wo Katrin zur Schule geht und auch lebt. Dort sieht es anders aus als bei uns am Stadtrand. In Liebich steht ein Hochhaus neben dem anderen, die man sogar von den Nachbarorten aus sehen kann. In so einem Hochhaus mit 26 Stockwerken wohnt meine beste Freundin mit ihrer Mutter, ihrem großen Bruder Simon und den beiden Zwillingen Jana und Klara. Einen Papa gibt es im Moment nicht. Katrin hat einen anderen Vater als Simon und die beiden Zwillinge wieder einen anderen. Das macht ganze drei Väter. Eigentlich. Aber aus drei Vätern sind 0 Väter geworden. Keiner meldet sich mehr. Auch das kapier ich nicht wirklich. Katrin schon, aber sie sagt: „Es ist zu schwierig, das zu erklären!“
Bei uns am Stadtrand ist vieles anders: Hier stehen schöne, bunte Häuser. Es gibt große Gärten, grüne Bäume und der Stadtwald ist direkt um die Ecke.
Mami sagt das, was ich nicht verstehe. Sie möchte nicht, dass ich so viel mit Katrin mache. Dabei ist sie doch meine Freundin. Ich mag sie. Sogar lieb haben tu ich sie. Ich habe keine Schwester, dafür ist sie da. Denn Katrin weiß Sachen von mir, von denen Mami nicht einmal etwas ahnt. Daher will ich sie weiterhin lieb haben.
Warum das so ist, kann mir Mami nicht wirklich erklären. „Weißt du, mein Schatz, Katrin und ihre Familie passen nicht so richtig zu uns und unseren Gewohnheiten.“
„Doch. Ich finde, sie passt sehr gut zu mir.“
„Merkst du denn die Unterschiede nicht zwischen DENEN und UNS?“
„Klar merke ich das. Die haben sogar noch zwei Hunde und `nen Papagei in ihrer kleinen Wohnung und wir gaaar nichts in unserem großen Haus. Außerdem kocht Katrins Mama die beste Lasagne der Welt und wir gehen immer essen oder kriegen was von der Haushälterin zubereitet. Bei denen ist es laut und chaotisch, aber aufregend. Bei uns ist es still. Nur, wenn du und Papa euch streitet, ist es laut...“.
„Aber vor allem haben Papa und ich eine Arbeit und leben hier, in dieser schönen Gegend. Katrins Familie lebt in Liebich und warum? Weil ihre Mutter arbeitslos ist!!!“
Das war der Satz, den ich immer hörte. Den wiederholte Mami immer und immer wieder. Aber verstehen tat ich ihn trotzdem nie. Für mich ist das irgendwie kein Grund. Denn ich weiß, dass sich Petra, Katrins Mutter, ganz doll Mühe gibt, einen Job zu finden. Aber nichts kommt. Das macht Petra fertig, denn sie hat sogar mal studiert und hatte jahrelang einen guten Beruf als Bürochefin oder sowas ähnliches. Dabei geht sie frühmorgens, vormittags und auch nachmittags bei vielen Familien zu Hause putzen, seit vielen Jahren. Ich finde, das ist Arbeit. Aber Katrin sagt immer, ich dürfte darüber nicht reden und weitersagen, dass sie da arbeitet. Denn das ist verboten oder so. Deswegen wusste meine Mutter davon auch nichts, denn ich hielt mein Versprechen, nichts zu verraten.

Damals war es schon cool gewesen, als Anna zum ersten Mal in die „Kucks“, in unsere Nachmittagsgruppe kam. Die traute sich gar nicht, hinter ihrer Mutter hervor zu kriechen. Versteckte sich immer hinter deren Rücken und hielt sie fest an der Jacke. „Der muss geholfen werden“, dachte ich mir sofort, denn ich kannte das ja schon. Immer wieder waren in den letzten Jahren hier Neue hin gekommen und hatten Schiss vor dem, was jetzt kommen würde. Ich bin ja schon „Kuckskind“ seit ich in den Kindergarten kam.
Also ging ich sofort zu Anna hin und fragte sie nach ihrem Namen. Ich wollte mit ihr spielen. Zuerst wollte sie nicht und bei ihrer Mutter bleiben, aber als Maja, eine unsere coole Jugendleiterinnen, auch noch einmal sagte: „Komm’ doch Anna. Die Katrin kann dir vieles zeigen“, war sie einverstanden. Anna bekam damals gar nicht mit, dass ihre Mutter plötzlich weggegangen war. Sofort hatten wir uns super verstanden und viel gelacht.
Doch schon damals hatte ich mitbekommen, wie Annas Mutter sofort gefragt hatte: „Was is’n das für ‚n’ Mädchen?“
Da fing das Ganze schon an.
Aber auch unsere Freundschaft fing an diesem Tag an. Unsere Freundschaft hat bis jetzt gehalten und wird es tun bis wir als Omis im Altersheim landen.

So richtig schwierig wurde alles an diesem Tag. Ich kam in den Gemeindesaal und Maja kam mir schon besorgt entgegen: „Geh´ mal zu Katrin. Ihr geht es schlecht. Sie braucht dich.“ Katrin war um halb 12 schon in der Gruppe? So früh war sie normalerweise nie da. Es musste also etwas geschehen sein. Etwas Schlimmes. Schreckliches. Fix rannte ich in die Leseecke, wo sie auf dem Schaukelstuhl saß und in die Luft starrte.
„Was ist los?“, fragte ich. „Warum bist du schon so früh hier?“
„Mir war übel in der Schule. Da bin ich nach der Dritten gegangen und sofort hierher. Alles ist scheiße...“
„Was ist scheiße?“
„Ja, alles!“
„Sag’ mir sofort, was passiert ist, sonst werde ich böse. Denn ich bin nicht scheiße!“
Katrin war still. Sie überlegte, ob sie wirklich reden sollte oder nicht. Doch scheinbar fiel ihr in diesem Moment ein, dass Freundinnen sich die Wahrheit und sowieso alles sagen. Also begann sie leise: „Simon hat wieder Mist gebaut!“
Simon? Oh nein. Das hatte ich im letzten Jahr leider schon oft gehört. Simon, Katrins Bruder, hatte immer wieder Probleme, sich von seinen Freunden zu lösen. Dabei waren das nicht so Freunde wie Katrin und ich. Seine Freunde überredeten ihn immer wieder zu irgendwelchem Blödsinn, sogar zu Verbotenem. Deswegen hatte Simon auch schon öfters Kontakt zur Polizei. Ja, zur echten Polizei. Ein paar Mal war er sogar schon von denen geschnappt worden.
„Oh nein“, jammerte ich. „Was ist passiert?“
Ich sah, dass Katrin Tränen in den Augen hatte. Ich nahm sie in den Arm und wischte ihr die Tränen weg.
„Er hat was Böses, was richtig Böses gemacht. Dafür kommt er jetzt bestimmt in den Knast!“
„Wieder seine Freunde?“
„Ja, genau. Diese Blödis. Diese Kacker. Diese Scheißis. Die machen aus meinem Bruder `nen anderen. Dabei ist er gar nicht so.
Weißt du, wer letzte Nacht bei uns an der Tür schellte?“
„Die Polizei!“
„Genau. Ich hab die Zimmertüre leise geöffnet und gelauscht. Ein dicker Polizist sagte: ‚Wir haben ihren Sohn Simon mit drei Mittätern bei einem Raubüberfall auf die Tankstelle an der Lilienstraße überwältigen können und festgenommen. Bitte kommen sie mit auf die Wache.’ Mama hat sich sofort angezogen und heut Morgen war sie auch noch nicht da. Hab’ auf dem Tisch nur nen Zettel gefunden, auf dem stand: ‚Mein Schatz. Ich musste weg. Habe die Zwillinge zu Oma gebracht. Bitte hol dir beim Bäcker zwei Brötchen und geh in die Schule. Mach dir keine Sorgen. Ich liebe dich!’
„Keine Sorgen machen ist gut“, sagte ich. „Einfach gesagt.“
„Ja, aber sie meint es ja nur gut. Weiß ja auch nicht, dass ich alles mitbekommen habe.“

Ich wusste schon immer, dass es irgendwann mal ganz böse enden würde mit meinem Bruder. Schon als er die Schule einfach so verlassen hatte, gab es Ärger und er wurde immer motziger. Vorher hatte die Polizei ihn schon öfters zu uns nach Hause gebracht, weil er bei irgendetwas erwischt worden war. Doch seitdem er sich dann um einen Job bemühte, was Mama von ihm verlangte, das aber überhaupt nicht klappte, wurde alles schrecklicher. „Ich hab’ keinen Bock zu arbeiten“, schrie er immer. Seitdem war Mama wegen ihm auch schon drei Mal beim Gericht gewesen. Ja, bei so `nem richtigen Gericht mit Richterin und Anwältin und Staatsanwalt. Wie im Fernsehen. Beim letzten Mal hatte Simon noch zur Strafe drei Wochen in einem Altersheim arbeiten müssen, weil er den Sven von nebenan die Nase beim Prügeln gebrochen hatte. Aber da hatte die Richterin schon versprochen: „Beim nächsten Mal ist eine Jugendstrafe nicht mehr zu verhindern.“
Und genau das stand jetzt an. Ich kapierte es nicht. Wieso raubt man einen anderen Menschen aus? Das passte nicht zu Simon. Er war so ein Lieber, der gerne kuschelte und schmuste. Noch vor drei Jahren hatte er drei Tage lang nur geheult, weil sein Wellensittich Torkel gestorben war. Da konnte er gar keinem weh tun.
Aber wenn er mit den Jungs von der Nebenstraße zusammen war, war er ein anderer Simon. Einmal grüßte ich ihn auf der Straße, als er mit ihnen an den Containern eine rauchte. Da schrie er nur: „Nerv nicht und zisch ab!“ Da lachten alle seine Freunde. Er auch.
Aber dass er jemanden ausraubt, hätte ich nie gedacht. Fremde Leute einfach so abziehen und dann auch noch mit einer Pistole in der Hand... woher hatte der die denn bloß?
Jetzt ging es Mami viel schlechter noch als vorher. Ich habe genau gesehen, dass sie nun öfters am Tag ihre Tabletten zum Ruhigwerden nahm. Sie war gestresst. Sie war enttäuscht. Sie war todtraurig.
Aber wir brauchten sie! Das wusste sie. Für uns steht sie jeden Tag auf. Sie lebt für uns. Denn sie liebt uns und wir lieben sie. Auch Simon.

Er musste wirklich für dreieinhalb Wochen in Jugendarrest, der Simon. Jugendarrest hieß nichts anderes als Gefängnis. Jugendgefängnis. Das machte Katrin noch trauriger. Bei ihr zu Hause herrschte eine miese Stimmung. Petra arbeitete weniger, weil sie täglich in die Nachbarstadt, eben in diese Jugendarrestanstalt fuhr, um ihren Sohn zu besuchen. Das bedeutete aber auch: weniger Kohle für Katrins Familie, obwohl sie eigentlich mehr davon gebraucht hätte. „Die Fahrtkosten mit dem Zug sind soo teuer“, sagte Katrin.

Pennte jetzt öfters bei Omi mit den beiden Zwillingen, da Mama nun spätabends bei den Leinerts die drei Schmuckläden in der Innenstadt putzte. Herr Klaut hatte nämlich gesagt, er könne sie nicht mehr halten, wenn sie momentan so unregelmäßig käme. Da brauchte Mami eben einen neuen Schwarzjob, damit wir auch weiter was zu knabbern hatten.

Ich weiß aber einfach nicht, wie es herausgekommen war. Doch urplötzlich wusste Mami von Simons Tat. Es war schrecklich, wie sie reagierte.

Kein Name hatte bei dem dicken Artikel ‚Jugendgang raubt Tankstelle aus’ gestanden. Nur irgendwelche Andeutungen von wegen Simon H., Milan I., Thomas U. und Galan O. Aber jeder bei uns im Viertel und plötzlich auch die ganze Stadt wusste, wer die Verbrecher wirklich waren. Ich bekam das ab. Im Viertel, in der Schule, von Annas Mutter.

„Jetzt ist es endgültig vorbei, mein Schatz!“
„Was ist vorbei?“, fragte ich zurück. Aber ich ahnte schon, was sie meinte und meine Vorahnung war richtig.
„Ich möchte nicht, dass du weiterhin so einen engen Kontakt zu Katrin Hummelmann und ihrer Familie hast. Diese Menschen sind kein Umgang für dich.“
„Doch“, schrie ich. „Ich liebe die Familie!“
„Ach, du weißt doch gar nicht, was Liebe ist. Bist doch erst acht. Du magst Katrin, gut und schön. Aber wenn du erst eine richtige Freundin gefunden hast, vergisst du sie ganz schnell.“
„Ich will keine andere Freundin. Katrin ist meine richtige Freundin.“
„Ist mir egal. Ich möchte es nicht. Dein Vater stimmt mir zu. Auch er befürchtet, einen schlechten Ruf davon zu tragen, wenn du Kontakt zu diesen Leuten hast. Kannst Katrin ja gerne noch in der Gruppe treffen, ... das ist ja auch leider nicht zu vermeiden. Aber nichts weiter! Weißt du, was ihr Bruder getan hat?“
Ich war geschockt, als ich merkte, dass Mama von dem Überfall wusste. Mein Herz raste. Doch ich antwortete sofort: „Ja, das weiß ich.“
„Ist das nicht Grund genug? Einen kriminellen Bruder hat deine tolle Freundin! Einen Taugenichts, der nach der neunten Klasse die Schule verlassen hat und zu faul ist, zu arbeiten... oder zu dumm...“
Was redete sie da bloß?
„Du kennst den Simon doch gar nicht. Eigentlich ist der voll nett, aber...“
Sie unterbrach mich: „Netter Junge, der einen Raubüberfall verübt. Wirklich nett... und deine Katrin wird sicherlich in seine Fußstapfen treten. Warum auch nicht? Bei einem Vorbild wie ihrer Mutter...“
„Die Petra kennst du auch nicht“, schrie ich. Dann begann ich zu heulen und rannte aus dem Haus. Ich rannte quer durch die Stadt und stand plötzlich an den 34 Klingschildern am Haus von Katrins Oma. Bei „Hummelmann“ klingelte ich Sturm, rannte in den achten Stock zu Fuß und sagte zu Katrin: „Wir müssen was unternehmen! Meine Eltern hassen dich, deine Familie und auch mich!“

Der Plan stand. Denn auch ich hatte die Schnauze voll von den Großen. Immer musste ich jetzt nach der Gruppe auf die Zwillinge aufpassen, weil Oma zu müde war. Konnte das ja verstehen. Sie hatte die beiden ja den ganzen Tag bei sich und musste sich um sie kümmern. Aber deswegen bekam ich am nächsten Tag in der Schule immer wieder Ärger, weil ich vor lauter Kümmern und Kochen und Füttern am Abend im Unterricht immer wieder einschlief. Meine Lehrerin Frau Kleinert hat mich darauf schon angesprochen und sich gesorgt. Nicht, dass ich wegen diesem Mist noch die Empfehlung fürs Gymnasium verpasse. Das muss ich packen! Also: Nichts wie raus hier, damit die Großen sehen, dass ich auch noch da bin!
Hallo, huhu, hier bin ich. Ich lebe noch.

„Wir müssen zusammen weg hier“, schlug ich vor. „Alle müssen sehen, dass man uns nicht einfach so übergehen kann.“
Die Erwachsenen sahen uns manchmal einfach nicht.
„Da hast’e Recht. Aber erst in den Ferien. Sind ja nur noch anderthalb Wochen. Ich lass’ die Schule nicht sausen.“ Das war typisch Katrin. Schule war so wichtig für sie. Nie fehlte sie da, auch wenn sie krank war ging sie dorthin. Nicht zu kapieren war das!
„Ist gut. Bis dahin können wir auch alles planen.“
„Hoffentlich übersteht das meine Mutter. Eigentlich kann ich das nicht tun. Dann flippt sie total aus.“
„Überleg’s dir“, war meine Meinung. Ich wollte Katrin zu nichts zwingen. Das macht man als Freundinnen nämlich nicht.
„Nein. Ist okay. Die sollen merken, dass wir nicht egal sind. Dass wir auch noch da sind. Dass wir zusammen gehören und dass man uns nicht einfach trennen kann. “
Ich fügte noch hinzu: „Aber vor allem soll deine Familie auch merken, dass du auch noch ein Kind bist und nicht erst immer um 12 oder so ins Bett kommst, weil du zu Hause helfen musstest. Es werden ja auch bestimmt nur ein paar Tage werden.“
„Glaube nicht, dass sich das ändern wird“, dachte Katrin sich. „So war das immer und solange meine Mutter keinen normalen Beruf hat, ist sie immer unterwegs. Von hier nach da, von da nach dort. Da muss sich ja irgendwer um die Wohnung kümmern.“

Wir wollten es tun. Anna zwar mehr als ich, aber ich liebe die Anna und wollte den Großen zeigen, dass ich, die Katrin, auch erst 9 bin. Sollten wir Maja eigentlich einweihen?
Sie war doch eine Freundin von uns, die unsere Freundschaft vor Annas Mutter immer in Schutz nahm. Eigentlich mussten wir ihr unseren Plan erklären.
Also fand Anna: „Ich finde, wir sollten ihr am gleichen Tag einen Brief in den Postkasten schmeißen. Darin erklären wir unsere Gründe. Unseren Eltern schreiben wir gar nichts. Die sollen ruhig vor Sorge fast tot umkippen...“
„Echt? Meinst du das ernst? Tot umfallen?“
„Ach, das sagt man doch nur so.“
Ich war einverstanden. Annas Ideen hörten sich gut an.
Also: Wir hauten ab, am ersten Samstag der Osterferien.
So war es geplant und so wurde es Wirklichkeit.

Mama war, wie immer samstags, früh aus dem Haus gegangen. Der Arbeitstag war am Wochenende zwar immer nur bis zwei Uhr nachmittags, aber dafür ging es auch früher los. Papa schlief natürlich noch. Er war mit dem Schnellzug erst um halb vier am Bahnhof angekommen. Höchste Zeit also, sich Klamotten in den Rucksack zu packen und sich noch Brote zu schmieren. Endlich machte ich mir genau das drauf, was ich auf einem Brot drauf haben wollte: Nutella und Schinken. Zwei, drei, vier, fünf Stullen geschmiert und rein gesteckt in den Rucksack.
Gut, gut, Zahnputzzeug musste auch sein. Hinein damit. Und sonst? Geld! Kohle!
Hmmm... es musste sein. Es ging nicht anders. Sie würden es schon nicht merken.
Fix hüpfte ich an Papas Westentasche und fand seine prall gefüllte Brieftasche. Ohne zu gucken und mit viel Übelkeit im Bauch fasste ich ins Geldscheinfach und holte etwas heraus. Ich schaute nicht, wie viel es war und klemmte es nur hektisch in die Hosentasche.
Schnell zog ich mir den fetten Anorak über, denn morgens und nachts war es noch immer klirrend kalt. Dann ging es ab aus dem Haus hin zum Erwachsensein.
Cooles Gefühl.

Ich hatte noch einmal zu Hause gepennt, nicht bei Oma. Als mein Handywecker klingelte, war es halb sechs. Absolut schlecht hatte ich geschlafen. War zu nervös gewesen, um auch nur ein Auge zu schließen. Mama war schon weg. Samstags musste sie die Schmuckläden von Herrn Maier schon ab frühmorgens reinmachen. Oma lag bei uns im Wohnzimmer mit den Zwillingen im Arm. Ich musste also auf Zehenspitzen meine gepackte Tasche (mein Schulranzen, denn da passt immer noch am meisten rein)nehmen und mir die Packung Trinkbeutel aus dem Küchenschrank holen. Die hatte ich gestern Abend noch extra gekauft und hinter den Knödeln versteckt.
War das Geld dabei?
Ja. Gut. Die 179,55¤, die ich in den letzten Jahren zusammen gespart und im Schließfach meines Schreibtisches verschlossen hatte. Denn als ich das noch nicht getan hatte, waren letztes Jahr plötzlich ganze 50 Euro verschwunden gewesen und niemals wieder aufgetaucht.
Dann war es soweit.
„Tschüss liebe Familie“, flüsterte ich traurig und spürte dieses Heulgefühl in mir hochkommen. Doch ich verschluckte es schnell. „Seid nicht allzu böse, traurig oder ängstlich. Bald bin ich wieder da.“
Eine Sekunde später war ich schon im Treppenhaus und auf dem Weg zum Bahnhof.

„Wir nehmen die Bahn bis nach Nesselfurth. Das sind doch nur 10 Kilometer von hier. Aber da finden sie uns nicht zu schnell.“
„Okay“, antwortete Katrin. „Aber wir fahren nicht schwarz. Ich hab genügend Kohle. Da können wir uns Tickets holen, so wie sich das gehört.“
Typisch!
„Den Brief hast du bei Maja aber eingeworfen?“
„Natürlich.“
Katrin hatte sogar eine Kopie im Copy-Shop gemacht und hielt mir die im Zug vor die Nase.


Liebe Maja,
wie geht es dir? Uns geht es nicht gut. Wir haben das Gefühl das uns keiner versteht. Meine Familie vergisst mich immer und alle hassen meine Familie. Wegen Simon und so. Auch die Mama von Anna mag uns nicht. Sie will uns trennen und das wir uns nicht mehr mögen. Keiner versteht uns. Du schon ein bischen. Deswegen melde ich mich bei dir.
Damit du es weist. Wir hauen ab und wollen erst zurück wenn die Erwachsenen uns verstehn wollen. Dann kommen wir zurück vorher nicht. Sage das bitte unseren Eltern. Aber sage auch das wir sie lieb haben. Ja?

Tschüs
Deine Katrin und auch deine Anna

„Das ist gut“, fand ich. Ich hätte das Ganze zwar noch etwas schrecklicher und trauriger ausgedrückt, aber war schon in Ordnung so. „Die werden sich alle noch wundern.“
Schon war die dritte Haltestation, eben Nesselfurth, von dieser netten Frauenstimme über die Lautsprecher angesagt worden. „Wir müssen raus“, sagte Katrin und packte ihren und auch meinen Kram zusammen.
Als wir dort am Bahnhof so herumstanden, war die Ratlosigkeit aber groß. „Und wohin jetzt?“, fragte Katrin. „Gute Frage. Am besten, wir gehen einfach mal quer in die Stadt rein. Nesselfurth ist cool. Es hat eine coole Innenstadt, schöne Geschäfte und tolle Cafés. Am Wochenende gehen meine Eltern und ich hier oft essen.“
„Also ist’s teuer hier!“
„Hmmm.... glaub schon. Meine Eltern gehen ja immer nur da hin, wo’s teuer ist. Weißt du ja.“
„Das weiß ich.“
Trotzdem schritten wir an diesem Morgen durch die aufwachende Stadt. Das ein oder andere Geschäft öffnete, in den Cafés und Bäckereien saßen Frühstückskunden. Es war ein hektischer Samstag in dieser City.

Eine tolle Stadt. Überall uralte Gebäude und Stadtmauerreste. Das waren Überbleibsel aus dem Mittelalter, war ich mir sicher. Dieses Thema hatte ich geliebt in der Dritten. Mir wurde klar, dass ich vieles noch nie gesehen hatte. Es fing bei dieser Stadt ja schon an, die nur ein paar Kilometer von mir zu Hause entfernt lag. Es hörte bei einer Reise nach irgendwo auf. Noch nie war ich im Urlaub gewesen. Dazu war das Geld immer zu knapp und die Zeit zu mager gewesen. Doch nun merkte ich, dass ich auch mal weg wollte. Es tat gut, jetzt nicht im Hochhaus zu sitzen und das Wochenend-Kinderprogramm zu glotzen. Hier war’s besser.
„Würde auch gern mal einfach so Ausflüge am Wochenende und in den Ferien machen.“
„Dann machen wir das ab jetzt einfach zusammen! Wir sind doch Schwestern.“
„Stimmt“, sagte ich. Da hatte Anna Recht.
Aber nur irgendwie.
Denn Schwestern haben nun mal gleiche Wurzeln, gleiche Vorfahren. Doch unsere Wurzeln waren sooo unterschiedlich. Konnte man da eigentlich Schwestern sein?

„Schlage vor, dass wir heute Mittag hier trotzdem irgendwo was mampfen gehen“, fand ich. Aber Katrin hatte eine andere Idee. „Wir müssen mit unserem Geld sparsam sein“, mahnte sie. „Wer weiß, wie lange wir durchhalten müssen. Also: Wir gehen nicht essen, sondern einfach im Supermarkt einkaufen und holen uns dort Essen und Trinken.“
Na ja, begeistert war ich zwar nicht von dieser Idee, denn ich wollte etwas richtig Cooles, Warmes, Leckeres im Magen haben. Schließlich gab es hier so tolle Restaurants und Gasthäuser. Das Italia mit dem netten Besitzer Giovanni oder dieses Edelding Zum eisernen Hengst, wo es die besten Schweinepasteten weit und breit gab. Da war ich schon so häufig mit meinen Eltern gewesen und hatte mich satt gegessen. Da wäre ich in diesem Augenblick auch gern etwas genießen gegangen.
Aber es hörte sich schon richtig an, was Katrin da sagte. Sie wusste es auch besser, wie es ist, aufs Geld zu achten. Hört sich doof an, ist aber so. Ich bekomme IMMER ALLES, was ich will und was man kaufen kann.
Doch das, was ich in echt will, die Katrin, darf ich nicht haben. Dabei ist die kostenlos. Ist schon seltsam.

Wir verbrachten den Tag also in dieser tollen Stadt. Wir kamen fast vom einen Ende zum anderen. Dabei staunte ich nicht schlecht über diese schönen alten Häuser und Kirchen. Alle Gebäude waren schon mit bunten Frühlingsblumen geschmückt und wirkten mit den Pflanzen noch viel hübscher.
Sauber war es – ÜBERALL! Nach zertretenen Kaugummis oder mal etwas Papier auf der Straße suchte man erfolglos.
Anna und ich genossen diesen sonnigen Apriltag. Schon richtig warm war es in der Sonne. Deswegen verbrachten wir den Nachmittag auf einem riesigen Abenteuerspielplatz an einem Waldstück. Viele andere Kinder mit ihren Mamas, Papas, Omas und Opas Familien waren auch dort. Alle waren fröhlich, alle grinsten sich an und knutschten sich. Das sah schön aus.
Aber eine Sache passte irgendwie nicht hier hin. SIE passte nicht auf diesen Platz. Auf einer Bank in der Ecke neben dem Klettergerüst saß eine alte, kleine und schmutzig gekleidete Frau mit vielen Tüten und einem großen Rucksack auf dem Rücken. Keine Frage: Es war eine Obdachlose. Sie lachte die Kinder und ihre Familien freundlich an, doch kam ein Kind nur in ihre Nähe, war ein Erwachsener schon fix hinterher und fing es wieder ein.
Keiner wollte mit dieser Frau etwas zu tun haben. Denn sie passte nicht hierher.

„Mit der müssen wir reden“, schlug Katrin vor.
Was war das denn für eine blöde Idee, fragte ich mich. Wir konnten doch nicht einfach so zu dieser Pennerin... äh Heimlosen gehen.
„Wieso müssen wir das? Wir kennen sie doch gar nicht. Nachher ist die verrückt oder sogar gefährlich.“
„Genau das müssen wir eben rauskriegen“, erklärte Katrin. „Keiner außer einer Obdachlosen kann uns bessere Tipps geben, wo wir pennen können und wie wir ohne Eltern leben.“
Sie hatte Recht, meine Schwester. Gut durchdacht. Und langsam wurde es ja auch spät. Irgendwo mussten wir ja schlafen.

„Hallo“, grüßte ich die Dame. Sie lächelte und grüßte zurück. „Ich bin Katrin und das ist Anna. Wir haben eine Frage.“ Das Lächeln der Dame wurde größer. „Ihr seid heute die ersten Kinder, die nicht gehindert werden, mit mir zu reden. Das tut gut. Ich bin die Lore. Was habt ihr auf dem Herzen, meine Guten?“
„Sag mal Lore, das ist zwar etwas gemein zu fragen, aber du bist doch so `ne Obdachlose?“
Kurz guckte Lore überrascht, aber ihr süßes Lächeln kam nur rasch darauf wieder zum Vorschein.
„Du bist aber direkt. Das mag ich. Ja, ich bin so `ne Obdachlose. Wieso?“
Dann erzählten wir der netten Lore unsere kleine Geschichte und die Gründe, warum wir ausgerissen waren.
„Wo können wir die Nacht denn verbringen?“
Lore wurde ernst. „Am besten daheim, in eurem Bett. Eure Eltern sterben bestimmt fast vor Angst um euch.“
„Das ist auch gut so“, schrie Anna. „Sollen sie nur.“
„Seid doch froh, dass ihr ein Heim habt mit Menschen, die euch lieben.“ Dann schien sie zu denken. „Aber na ja, ich verstehe euch natürlich auch irgendwie. Die Großen denken immer, sie wüssten alles besser als die Kleinen. Wenn ich hier am Nachmittag sitze und die Kinder beobachte, sehe ich das immer wieder. Die Kinder möchten in meine Tüten gucken oder mich nur grüßen. Aber die Großen mögen es nicht, wenn sie mit einer Pennerin Kontakt haben.“
„Versteh’ ich nicht“, sagte Anna. „Dabei bist du `ne coole und nette und schlaue Pennerin, find´ ich.“
Lore lachte.

Sie erklärte uns, dass sie uns keine Tipps geben dürfte. Nachher würde sie Ärger bekommen mit dem Staat. „Wenn die Polizei euch erwischt, dann werdet ihr sowieso nach Hause gebracht.“
„Dann verstecken wir uns“, antwortete ich. „Dazu brauchen wir aber einfach einen sicheren Platz für die Nacht. Am Tag fallen wir ja nicht so auf.“
„Das glaubt ihr. Hier in der Gegend werden ab morgen die Polizisten bestimmt alles auf den Kopf stellen und jeden Busch überprüfen, um euch zu finden. Wenn ihr mir versprecht, eure Eltern nur kurz in solch schrecklicher Angst zu lassen, dann begleite ich euch in dieser Nacht. Dann seid ihr sicherer, wenn auch nicht hundertprozentig.“
Das war eine super Idee. „Habt ihr auch so ein Mobiltelefon dabei? So etwas hat doch heutzutage jedes Kleinkind.“
Klar hatte ich meins mitgenommen. Es hätte ja immer was passieren können. „Hier!“
Dann ruft jetzt sofort einer von euch beiden zu Hause an und erklärt nur kurz, dass ihr in Ordnung seid!“
Musste das sein? „Och nee. Die sollen sich doch sorgen!”
„Wenn nicht, kann ich euch nicht helfen.“
„Mach schon“, stupste mich Katrin an. Okay, okay. Ich machte das Handy an und erhielt erst einmal viele SMS-Signalpiepser und die Nachricht: Sie haben 10 unbeantwortete Anrufe und 7 Nachrichten auf Ihrer Maibox.

Was zu Hause so abging, konnten wir uns nur zusammenreimen, als wir die traurigen Mailboxnachrichten von Anna abhörten. Sie waren fast alle von ihrer Mutter mit immer gleichem Inhalt. Na ja, fast. Während die erste Nachricht noch bitterböse klang und lautete: „Anna. Wo bist du? Kannst du dich nicht abmelden? Ich warne dich: Wenn du dich in dieser Gegend mit diesem Mädchen rumtreibst .... piep piep piep“, hörten sich die weiteren Nachrichten eher so an: „Mein Schatz. Wo bist du bloß? Wir machen uns Sorgen. Bitte komm’ zurück. Tu uns das nicht an!“ Zwischendurch hatte auch Maja angerufen und nur kurz erklärt: „Hallo Ihr beiden. Macht keinen Scheiß und kommt zurück! Eure Eltern sorgen sich und ich weiß nicht, ob sie sich einfach so von euch erpressen lassen. Anna, dein Vater hat schon eigenhändig einen Suchtrupp losgeschickt und macht die Polizei verrückt. Die werden euch finden. Ganz bestimmt! Kommt zurück, bevor es weiteren Ärger gibt und euch noch etwas passiert. Draußen ist’s gefährlich.“
„Das weiß ich auch“, lachte Anna höhnisch.
„Da seht ihr, was ihr angestellt habt“, erklärte Lore ernst. „Wollt ihr nicht doch nach Hause?“
Ich war mir nicht mehr so sicher, ob das Ganze eine so gute Idee war. Aber Anna war strikt für unseren Plan. „Komm Katrin. Ruf du bei deiner Mutter an und sag ihr, dass wir in Sicherheit sind! Ich will mit meinen Eltern nicht reden.“
Das war eine gute Idee. Meine Mutter würde sich bestimmt genauso sorgen. Vielleicht ja sogar mehr.
Und wie ich’s mir gedacht hatte, hörte ich eine verheulte Stimme auf der anderen Seite der Leitung. „Hallo Mama“, grüßte ich. Daraufhin schrie sie aufgeregt: „Mein Schatz! Katrin! Wo seid ihr? Was macht ihr?“
„Wir wollen euch nur sagen, dass alles in Ordnung ist. Uns geht’s gut. Wir kommen aber erst wieder, wenn ihr uns ernst nehmt.“
Ich war so kalt, aber ich rasselte den Text einfach so runter, weil ich die Stimme von Mama nicht mehr hören wollte. Das hätte mir weh getan. Aber es war gut, ihr Bescheid gesagt zu haben. Rumms, legte ich auf.

„So, und nun ab zu unserem Schlafplatz“, rief ich aufgeregt. Ich freute mich voll auf diese Nacht ohne meine Eltern. Es würde ja nicht die einzige bleiben.
Katrin war irgendwie anders. Sie unterdrückte immer wieder die Tränen, nachdem sie ihre Mutter gesprochen hatte. Heimweh?
Lore war noch immer nicht begeistert, dass wir uns nicht nach Hause begaben.
„Häufig schlafe ich in einer Einrichtung der Stadt hier um die Ecke“, erklärte sie, nachdem wir einige Minuten gelaufen waren. „Die wurde extra für Obdachlose geschaffen. Dort bekommt man auch etwas zwischen die Zähne, wenn der Hungerast an einem nagt. Betteln gehen bringt hier in Nesselfurth nicht viel. Da muss man schon in die Großstadt.“
„Wieso gehen wir denn nicht dahin?“, wollte ich wissen. „Da ist es doch wärmer als hier draußen.“ Katrin guckte mich an und sagte: „Überleg mal! Meinst du, die lassen uns da einfach pennen, wenn wir danach fragen? Wir sind Kinder.“
Stimmt. Sofort hätte man da die Polizei angerufen und uns nach Hause gebracht.
„Ich fühl mich übrigens super gut, wenn ich an meine Eltern denke, wie sie jetzt so rumheulen und so weiter...“
Darauf sagte keiner der beiden etwas. Das war wohl nicht so deren Meinung gewesen.

„So, hier sind wir“, sagte Lore nach fast einer Stunde Latschen. „Hier werden wir übernachten.“ Wir standen vor einer alten Bauernhütte am Stadtrand. Sie gehörte zu einem großen Hof, der aber total verlassen und verkommen war. Hier lebte seit Jahren scheinbar keiner mehr. „Das ist der Platz, an dem ich am häufigsten schlafe. Hierher verirrt sich kaum mal wer und jagt mich weg.“ Ganz geheuer war mir nicht und auch Anna guckte immer wieder um sich herum. Nach rechts, nach links, oben und unten. Dabei hatte sie einen zweifelhaften Gesichtsaudruck.
Aber sie freute sich anscheinend noch immer: „Na dann Los. Lasst uns die Sachen auspacken!“
In der Hütte lag haufenweise altes Stroh. Da konnte man es gut aushalten. Fast schon gemütlich war es. Auch recht warm. Lore ermahnte uns aber immer wieder: „Lasst die Jacken bloß an! Aprilnächte sind tödlich.“ Auch erinnerte sie uns alle paar Minuten daran: „Geht morgen wieder heim! Tut mir den Gefallen! Ich habe schon so viele Geschichten gehört, die so begannen wie eure und dann schrecklich endeten.“
„Was meinst du?“, wollte Anna wissen, doch Lore gab keine Antwort. Ein paar Minuten schwiegen wir und es war totenstill.
Irgendwann traute ich mich allerdings die Frage zu stellen, die ich schon seit Stunden beantwortet hatte wollen: „Sag mal, wieso lebst du eigentlich hier auf der Straße? Warum hast du kein Zuhause wie andere?“
Lore stöhnte. Doch sie antwortete direkt: „Das ist eine laaange Geschichte. Um alles zu erzählen, bräuchte ich noch mal ein zusätzliches Leben.“
„Och komm“, bat Anna. „Erzähl mal!“

Es war schon traurig, ihre Lebensgeschichte. Seit mehr als fünfunddreißig Jahren (so alt ist meine Mama noch nicht mal und die ist schon alt) lebte sie in den Straßen unseres Landes. Damals hatte sie total freiwillig ihren Job als Lehrerin gekündigt, obwohl sie erst wenige Zeit in der Schule gearbeitet hatte. „Wisst ihr“, erklärte sie, „damals war vieles anders. Wir waren jung und dachten, uns könnte nichts passieren. Da streiften wir von leerstehendem Haus zu leerstehendem Haus, lebten und feierten dort. Aber irgendwann merkten wir, dass das nicht für immer so weitergehen konnte. Nach ein paar Jährchen wollten wir wieder anders leben, so wie andere Leute auch. Normal würde mancher es nennen: Kinder haben, ein Haus und eine Arbeit... Alles, was wir vorher blöd fanden. Doch manchen, so auch mir, gelang das nicht mehr so richtig. Ich schaffte es einfach nicht mehr, ein normales Leben zu führen. Seitdem wandere ich hier in der Gegend herum und lebe in den Tag hinein. Auch war ich schon in den Großstädten, aber da gefiel es mir nicht. Dort wurde ich zwar nicht so oft weggejagt wie hier und dort gibt es auch viel mehr von den Leuten wie mich, aber es war auch schmutziger, gewalttätiger und kälter...“.
Mir fiel auf, dass Lore immer wieder hustete schlecht Luft bekam. Sie japste. Außerdem kullerten ihr immer wieder Tränen aus den dunklen Augen.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte ich. Lore erinnerte mich irgendwie an meine Oma Trudi. Die ist ja herzkrank und macht auch immer so komische Geräusche. Ich sorgte mich, wollte aber trotzdem mehr über ihr spannendes Leben erfahren. Doch das war wohl ein Megafehler.
Wenn ich heute zurückdenke, könnte ich mich in den Hintern beißen. Warum?
Ich war so neugierig, dass ich plötzlich wissen wollte: „Hast du denn keine Kinder, die sich um dich kümmern?“
In diesem Augenblick begann Lore plötzlich noch viel stärker zu husten und fasste sich an ihre Brust. Sie keuchte und hechelte und sagte: „Au, es sticht... es sticht...“. Kahlweiß wurde sie dabei.
„Was ist das denn?“, schrie Anna aufgeregt. Sie sprang auf und lief im Kreis. „Oh Gott, oh mein Gott. Sie stirbt!!!“
„Bleib ruhig! Vielleicht ist das so was wie `ne Herzattacke oder so. Meine Oma hatte so was auch schon... Wir müssen Hilfe holen!“. Lore wurde immer blasser und blasser.
„Sie stirbt“, schrie Anna. Sie drehte total durch! „Sie nibbelt uns hier vor unseren Augen ab...“
„Sei still!“, schrie ich wütend zurück, riss ihr zitternd das Handy aus ihrer Jackentasche und rief die Notfallnummer an.
„Ja, hier in Nesselfurth in so einer Hütte... Ein alter, verlassener Bauernhof... in der Scheune...Sie kriegt keine Luft mehr und hält sich ihr Herz, ist ganz weiß und schwitzt...“
Ich legte auf und hoffte, dass der Krankenwagen uns finden würde. Dabei wusste ich ja selbst nicht, wo wir waren.
„Lass’ uns abhauen“, sagte Anna. „Wir müssen weg!“
„Wieso?“, fragte ich stutzig. Was sollte die Idee? „Wir können Lore nicht alleine lassen. Nachher passiert Schlimmeres.“ Ich hielt die Hand der alten Frau und streichelte sie. Dabei sagte ich ihr: „Ruhig bleiben. Alles wird gut. Gleich wird dir geholfen!“ Ihre Bein legte ich auf meinen Ranzen. Das kannte ich aus irgend einer Serie im Fernsehen. „wir bleiben hier – basta!“
„Tolle Idee.“, antwortete Anna. „Dann verhaften die uns direkt oder stecken uns ins Heim, nachdem sie unsere Eltern angerufen haben.“
„Das ist doch jetzt auch egal“, erklärte ich ruhig. „Lore ist jetzt wichtiger... Früher oder später wären wir eh erwischt worden.“
Anna setzte sich langsam hin und wurde nach und nach ruhiger. Auch sie nahm eine Hand von Lore und streichelte. Ihre linke Hand nahm ich und streichelte nun auch Anna. Sie zitterte fast genauso stark wie Lore. Die alte Dame jedoch lächelte ein wenig. Sie hatte alles mitbekommen und war wach.
„Dann ist unser Plan jetzt also kaputt“, sagte Anna traurig und langsam. „Das will ich aber nicht.“
„Vielleicht gibt’s ja noch eine Chance“, machte ich Mut.

Da hörten wir schon die Sirenen des Krankenwagens und hektische Schritte auf die Scheune zukommen. Es waren die Sanitäter. Ein großer Blonder fragte: „Wer seid ihr denn?“
„Freunde sind wir“, antwortete ich ihm. „Ganz einfach Freunde.“
Er guckte den Notarzt fragend an und zuckte mit den Schultern.
Der Arzt selbst lobte uns: „Gute Arbeit. Beine hoch gelegt und ruhig geblieben. Das hätte auch böser ausgehen können. Für Kinder seid ihr aber schon ganz schön erwachsen.“ Cooles Gefühl, so gelobt zu werden.
„Aber Kinder sollten nachts in keiner Hütte schlafen“, sagte der Blonde. „Wir nehmen euch erst mal mit in die Klinik.“
„Im Krankenwagen mitfahren dürfen wir?“
„Ja, aber nur vorne. Hinten müssen wir die Dame versorgen.“
„Die Dame heißt Lore“, erklärte Katrin.

Im Krankenhaus war vielleicht was los. Obwohl es Nacht war, rannten überall Leute herum. Hier schlief man scheinbar nie. Wir saßen auf zwei blauen Plastikstühlen und warteten darauf, was kommen würde und wie es Lore ging.
Plötzlich standen zwei Polizisten vor uns. Mir wurde ganz übel. Polizei machte mir immer Angst, obwohl das eigentlich Quatsch ist. Die sind ja eigentlich gute Menschen. Glaub ich.

Oh Mann, echte Polizisten!
„Kann es sein, dass eure Namen Anna Talier und Katrin Hummelmann lauten?“, fragte ein dicker, runder Polizist, der einen gedrehten Schnauzer im Gesicht trug. Der andere, ein dürrer Rothaariger, stand nur daneben und guckte müde in die Luft. Auch gähnen tat er dauernd.
„Keine Ahnung“, antwortete ich.
Er grinste. „Wenn ja, dann suchen euch eure Eltern. Die Mutter von Anna Talier ruft alle paar Minuten auf der Wache an und fragt, ob wir die beiden Mädchen schon gefunden haben.“ Da wandte er sich zu seinem Kollegen. „Das sind tolle Mädchen, Michael. Die sind abgehauen, damit die befreundet bleiben dürfen und mal endlich von Erwachsenen verstanden werden.“
„Woher wissen Sie das?“, fragte ich.
Mist. Damit hatte ich mich wohl verraten. Also gab ich zu: „Ja, wir sind die beiden, die Sie suchen. Aber nach Hause will ich trotzdem nicht! Damit Sie’s wissen! Da ist es scheiße.“
„Ja, das habe ich in deinem Alter auch immer gedacht. Kann euch beide ja auch verstehen. Habe gehört, dass man eure Freundschaft nicht so toll findet.“
„Genau“, antwortete Katrin. „Und ich muss immer Sachen machen, die mich anstrengen...“.
„So geht das aber nicht“, sagte der dicke Polizist. „Aber ihr wisst bestimmt, dass ihr nicht einfach so auf der Straße leben könnt.“
„Wieso nicht“, fragte Katrin. „macht Lore doch auch.“
„Lore?“
„Die Frau, wegen der wir hier sind.“
„Ach, die Frau, der ihr das Leben gerettet habt?“
Wieso Leben gerettet? Wir hatten doch nur den Krankenwagen geholt. Wir Mädels schauten zuerst uns und dann die Polizisten fragend an.
Jetzt meldete sich auch der Dürre zu Wort: „Der Arzt erklärte uns, dass ihr echt super gehandelt habt. Ihr habt Hilfe geholt, euch aber auch um die Frau gekümmert. Wäre niemand da gewesen, wäre sie wohlmöglich gestorben. Denn vielleicht hätte sie niemals wer gefunden.“
„Ja, Penner sind den meisten Leute schnuppe“, sagte ich. „Das ist scheiße. Dabei ist so ein Leben auf der Straße schon spannend.“
„Aber zu Hause ist’s trotzdem besser“, widersprach mir Katrin. „Wärmer, gemütlicher und es gibt freundlichere Menschen. Wir sind Kinder und DÜRFEN nicht auf der Straße leben! Bei Erwachsenen ist das was anderes.“
„Da hat deine Freundin Recht“, erklärte der Dicke. „Aber ich habe eine Idee.“

Die Idee war gar nicht übel. Der Polizist schlug uns vor, unsere Eltern zu benachrichtigen, aber zu sagen, dass wir nur unter ganz bestimmten Bedingungen mit zurück kämen. Das war ein guter Plan, und genauso taten wir es.
Eine Dreiviertelstunde später kamen Annas Eltern aufgeregt in den Wartesaal gerannt. Hinter ihnen liefen etwas langsamer meine Mutter mit Maja. Es war schön, sie zu sehen. Sie hatte die Zwillinge an der Hand. Sogar die beiden Nervigen zu sehen, freute mich.
„Mein Schatz, meine Maus, mein Schnurzel. Jetzt wird alles wieder gut.“, schrie Annas Mutter. Ihre Eltern wollten ihre Tochter knuddeln, doch die stieß die beiden motzig weg. „Ab hier! Es ist NICHTS gut. Wir wollen, dass ihr uns zuhört.“
„Waaas?“, fragte der Vater erstaunt. „Wie redest du mit uns?“
„Lauschen Sie jetzt erst einmal den beiden jungen Damen“, mahnte der Polizist.
Anna begann also: „Ihr Erwachsenen habt gemerkt, dass wir nicht alles mit uns machen lassen. Wir können auch selbst denken und entscheiden. Sogar abhauen und auf der Straße leben wollten wir - ZUSAMMEN! Versteht einfach, dass wir Freundinnen sind und zwar die besten... Keiner kann uns auseinander reißen.“
Dann erklärte ich noch zusätzlich: „Ich bin genauso viel wert wie Sie und ihre Tochter, auch wenn ich in `nem Hochhaus wohne und `nen Bruder im Kn... äh im Gefängnis habe.“ Ich wandte mich zu meiner Mutter. „Und ich möchte, dass ich mich vor allem um die Schule und um meine Freundin kümmern kann und dann erst um den Haushalt...“.
Die Großen standen da und guckten verdutzt. Das hatte gesessen.
Jetzt aber ließen wir erst die Bombe platzen: „Und wenn ihr das nicht ernst nehmt“, drohte Anna, „dann gehen wir freiwillig in ein Heim. Da können wir zusammen sein und auch Sachen machen, die Kinder mögen...“
Alle schauten geschockt. Annas Mutter weinte sogar.
„Ich muss mich setzen“, sagte sie und wurde ganz blass im Gesicht. Meine Mutter blieb aber ruhig. Maja grinste sogar etwas und zwinkerte uns zu. Der Polizist lächelte sowieso.
„Sie sollten das durchaus für voll nehmen“, sagte er. „Die beiden meinen das absolut ernst. Durch ihr Ausreißen haben sie gezeigt, dass sie einen eigenen Willen haben und erwachsener sind, als sie denken...“
In diesem Moment kam der Notarzt hinzu: „Sogar ein Leben haben die beiden gerettet“, mischte er sich in das Gespräch ein.
„Wie bitte?“, fragte meine Mutter nach. „Was haben Sie gesagt?“

Der Notarzt erklärte die ganze Geschichte und lobte uns immer und immer wieder. „Sie haben tolle Kinder!" Mein Papa aber war geschockter als vorher. „Meine Tochter treibt sich mit einer Obdachlosen rum... Wenn das meine Kollegen erfahren....“
„... werden sie Sie um ein solches tolles Kind beneiden“, unterbrach ihn plötzlich Katrins Mutter, die sich bis dahin stark zurück gehalten hatte. „Wir sollten unseren Kindern wirklich mehr Beachtung schenken“, meinte sie. „Ich bin auf jeden Fall bereit dazu.“
Meine Eltern sahen nicht so begeistert aus. Immer wieder schauten sie sich fragend an und zuckten die Schultern. Als ich dann noch mal drohte „Dann eben Heim“, sagte mein Vater: „Gut, gut. Versuchen kann man’s ja mal!“
Katrin und ich guckten uns glücklich an und umarmten uns. „Jippie“, schrie ich und gab ihr einen Kuss. „Keiner kann uns trennen! Denn wir gehören einfach zusammen!“

„So, und nun geht’s nach Hause“, sagte meine Mutter. „Wir haben schon frühen Morgen. Irgendwann müsst ihr auch mal ein wenig schlafen.“
„Aber wir müssen zu Lore“, antwortete ich und Anna nickte zustimmend. „Wir müssen wissen, wie es ihr geht.“
Der Notarzt erklärte: „Die wird gerade kräftig durch untersucht. Es wäre also Unsinn, hier zu bleiben. Kommt morgen wieder und besucht sie dann.“
„Da wird sie sich sicherlich freuen“, fügte der Polizist hinzu.
Mir wurde etwas mulmig im Magen, als ich an eine bestimmte Sache dachte. „Ihr werdet sie doch nicht einsperren?“, fragte ich. „Sie hat uns nichts getan.“
„Ja, das stimmt“, bejahte Anna das Gesagte. „Die ganze Zeit versuchte sie, uns nach Hause zu schicken. Nur wegen ihr hat Katrin ihre Mutter angerufen. Sonst hätte Lore uns direkt bei der Polizei angemeldet...“
Der Polizist hockte sich vor uns hin und versprach: „Keine Sorge. Die Lore kenn’ ich schon seit Jahren. Die werde ich bestimmt nicht einsperren und kein anderer. Versprochen!“

Wir glaubten ihm. Also gingen wir mit unseren Eltern nach Hause, um schlafen zu gehen. Auf der Rückfahrt meinte Mama immer wieder: „Tu uns das bitte bitte nie wieder an! Es war sooo schrecklich, dich nicht zu finden und mir die ganze Zeit Gedanken zu machen.... Hätte ja sonst etwas geschehen können.“
Irgendwie tat sie mir jetzt schon etwas leid. Schön waren die letzten Stunden bestimmt nicht gewesen. Aber hoffentlich lehrreich.
„Nicht mit Lore“, antwortete ich. „Sie hat uns beschützt. Mit ihr wäre uns nie was passiert!“
„Das glaube ich sogar“, stimmt mein Vater plötzlich zu. Ich wunderte mich darüber, aber es hörte sich toll an. „Man geht an solchen Leuten immer vorbei und denkt gar nicht daran, was in ihnen vorgeht oder was es für gute Menschen sein könnten...“.
„Genau. Dabei war sie auf der Uni, so wie ihr. War sogar `ne Lehrerin... Nur ihr Leben wurde dann anders als euers. Wäre doch auch doof, wenn alle Leben gleich wären.“
Es stimmte, was ich da gesagt hatte. Leben sind cool, weil sie unterschiedlich sind. Vielleicht mochte ich deshalb auch Katrin so gerne.

Ich pennte in den Armen meiner Mama ein, als wir mit dem Bus um 5:10 Uhr nach Hause fuhren. Meine beiden Geschwister tollten zwar im Bus herum, aber das bekam ich nicht mehr mit. Mama streichelte mich die ganze Fahrt und kraulte meinen Nacken. Das war schön.
Am nächsten Morgen wachte ich in ihrem Bett auf. Es war schon fast 11. Ich musste los. Ab zu Lore.
Mama war von der Frühschicht schon wieder heimgekehrt und hatte einen fetten Frühstückstisch gedeckt. Hmm, alles leckere Sachen standen darauf: frische Brötchen, Marmelade, Wurst, sogar Erdbeertee.
Man sollte öfters mal abhauen, wenn einen danach so etwas erwartet, dachte ich mir.
„Ess jetzt erst mal und dann rufst du Anna an“, sagte Mama. „Ihre Mutter hat sich schon gemeldet und angeboten, euch nach Nesselfurth zu fahren.“
„Ihre Mutter.... Mutter hat ... hat... hier angerufen und und mit DIR geredet?“, stotterte ich. Das war ja kaum zu glauben.
Mama nickte.
Krass.
Dann gab sie mir einen Kuss auf die Wange und sagte: „Ich bin übrigens wirklich stolz auf dich, auf EUCH! Wusste gar nicht, dass ich eine so verantwortungsvolle Tochter habe.“
„Du bist halt `ne coole Mutter, die coole Kinder hat“, antwortete ich.
„Ach ja, viele Grüße von Simon“, bestellte sie mir. „Er war genauso erschrocken, als er von deinem Verschwinden gehört hatte. Du sollst bloß nicht mehr so einen Mist fabrizieren, soll ich dir ausrichten.“

Meine Eltern redeten nicht viel auf der Fahrt. Wahrscheinlich wussten sie nicht, worüber. Katrin war ihnen einfach fremd. Dafür planten wir beiden Mädchen aber auf der Rückbank genau, mindestens ein Mal in der Woche zu Lore zu fahren, um mit ihr zu reden. Die Gespräche waren cool gewesen. Da haben wir mehr gelernt als an manchen Tagen in der Schule. Außerdem wollten wir noch etwas über ihre Familie wissen.
Cool war aber echt, dass meine Eltern einverstanden waren, dass wir ALLEINE zu Lore gingen. „Ich rufe an, wenn ihr uns wieder holen könnt!“
Sie guckten zwar erst etwas zerknirscht, aber sie sagten „Ja“.
„Die lernen aber schnell“, dachte ich mir.
Wir gingen also in die Klinik rein, hin zum Empfang in der großen Wartehalle im Erdgeschoss. Dort saß eine ältere schmale Dame mit einer dicken Brille auf der Nase.

„Wo bitte liegt Frau Lore äh ....“, stotterte ich. Ich wusste ja gar nicht, wie Lore so richtig hieß. Anna mischte sich ein: „Letzte Nacht ist hier eine Obdachlose mit einem Herzanfall eingeliefert worden. Lore soundso heißt die ...“.
Die Dame grinste. „Ja, ich weiß, wen ihr meint. Davon spricht ja das ganze Krankenhaus. Seid ihr etwa die Mädchen, die Retterinnen der Dame?“
Wir wurden beide knallrot. Die Retterinnen... „Na ja, gerettet ist vielleicht was übertrieben. Wir haben einfach den Notarzt gerufen“, sagte ich.
„Ihr seid kleine Heldinnen“, lobte sie weiter. „Die Dame ist auf Station 4B. Sagt einfach, dass ihr ‚die Mädchen’ seid.“

„Die Mädchen?“, wiederholte ich grinsend. „Wir sind ja richtig bekannt hier!“ War ein komisches Gefühl, aber ein angenehmes. Der Fahrstuhl kam und kam nicht, so dass wir zu Fuß die Treppen in den vierten Stock latschten. Auf der Station 4B angekommen, wurde mir unheimlich und übel. Überall hörte man seltsame Schreie, Rufe und es roch seltsam. Nicht nach Arzt oder Klinik, sondern nach was Ekligem. Eine Schwester, die uns entgegen kam, wurde von Katrin gefragt: „Entschuldigen Sie bitte. Wir beide haben gestern eine Obdachlose mit hierher gebracht....“. Schon unterbrach sie lächelnd: „Aaahh, die kleinen Powerfrauen... die Frau Zobel liegt in Zimmer 455. Den Gang runter auf der linken Seite, gleich neben der Dusche.“
Wir bedankten uns, liefen hurtig den Gang hinunter und öffneten die Türe zum Zimmer 455.

Aber dort lag nur eine schlafende Frau, die aber viel älter als Lore war. Nein, das war sie nicht. Daneben aber stand ein freies, sauber gemachtes Bett. „Vielleicht ist sie bei `ner Untersuchung oder baden oder so“, vermutete Anna. „Kann sein“, antwortete ich. Doch mir war das nicht geheuer.
In diesem Augenblick sah ich auf dem Kopfkissen einen dicken Briefumschlag liegen. Auf diesem stand fett, aber in Schönschrift geschrieben: Anna und Katrin.
„Hey, komm’ mal her. Das ist ein Brief für uns!“ Wir setzten uns auf die Bettkante und lasen.

Liebe Katrin, liebe Anna.
Ich danke euch, dass ihr euch meiner angenommen und mich nicht so abgelehnt habt, wie ich es sonst jeden Tag erlebe. Vielen Dank für die schnelle Hilfe, als es mir schlecht ging. Ich liebe das Leben und möchte es noch ein bisschen genießen. Vielleicht wäre genau das nicht mehr möglich gewesen, wenn ihr nicht bei mir gewesen wäret.
Doch mein Leben kann ich nur draußen, in dieser großen Welt, genießen. Daher habe ich mich an diesem Morgen auf eigene Verantwortung entlassen, obwohl es die Ärzte nicht für gut hielten. Ich halte es in solchen Gebäuden nicht aus. Hier ist so eng und alle Menschen sind gestresst. Schon dieser Geruch in diesem Haus macht mich verrückt. Das ist in der Natur nicht so. Ich wusste, dass ihr mich heute besuchen kommt, aber ich wollte euch nicht mehr treffen, da ich sonst sehr traurig geworden wäre. In einer einzigen Nacht habe ich euch nämlich sehr lieb gewonnen. Ihr habt mich dazu gebracht, meiner Vergangenheit nachzugehen. Denn es ist einiges geschehen damals, dass ich noch klären muss. Dafür werde ich aber Nesselfurth und die Gegend um Nesselfurth herum auch einmal verlassen müssen. Es wird also schwierig werden, mich in den nächsten Wochen zu finden. Doch hoffe ich, das wir uns irgendwann, hoffentlich bald, noch einmal wieder sehen. Bleibt weiterhin so tolle Mädchen, die für ihre Träume und Wünsche kämpfen und die andere Menschen ernst nehmen, egal woher sie kommen, wie aussehen oder wo sie leben.

Viele liebe Grüße
Eure Lore

PS: Für Katrin:. Deine Mutter soll sich einmal bei der Firma „Zobelmarketing“ in eurer Heimatstadt bewerben. Die suchen immer gute Kräfte für ihr Büro, denn dort stapeln sich die Aufträge haufenweise. Soll sich an Frau Jenny Zobel wenden, an die Chefin,, und viele Grüße von Lore bestellen. Viel Erfolg!


„Jenny Zobel?“, fragte ich. „Das wird doch nicht ....“
„... ihre Tochter sein...“, unterbrach Katrin. Krass, sie hatte also doch eine Familie! Hatte ich’s mir doch gedacht. Alleinsein ist zwar manchmal okay, aber nicht für immer. Das hatte Lore anscheinend jetzt auch wieder gespürt und machte sich nun auf die Suche nach ihren Wurzeln. Auch ich war irgendwie froh, wieder zu Hause zu sein, obwohl meine Drohung noch immer galt: Wenn ich nicht in der Nähe meiner Katrin sein dürfte, würde ich aus dieser Familie weggehen. Denn Katrin ist auch Familie.

Wir erklärten den Schwestern in ihrem Schwesternzimmer, dass Lore gegangen war. „Ja, das haben wir auch gerade erfahren“, antwortete die dürre, lange Oberschwester Susanne. „Das finden wir zwar nicht gerade toll, aber verstehen kann ich es auch irgendwie: Wer die Freiheit liebt, ist im Krankenhaus fehl am Platz!“
In diesem Moment kam die Schwester von vorhin mit einem vollgepackten jungen Mann hinter sich herschleifend, den Gang hinauf zu uns gerannt.
„Hallo, hallo“, rief sie und blieb atemlos vor uns stehen.
„Das, das ist Herr Zeile vom Morgenanzeiger. Ich, ich habe ihn angerufen wegen unserer beiden Heldinnen hier... Jetzt, jetzt will er einen Bericht über euch verfassen...“
„Über uns?“, fragten wir gleichzeitig.
„Genau“, antwortete der Reporter. „Geht ganz fix. Aber setzen wir uns doch mal hin...“
Man, war das aufregend: Die Zeitung. Ein Reporter, der auch noch etwas über uns schreiben und abdrucken wollte. Kaum zu glauben!
Aber es war wahr. Am nächsten Morgen, ich hatte schon wieder so lange geschlafen, stand meine Oma plötzlich an meinem Bett und rüttelte an mir.
„Katrin, Katrin.... wach auf!“
Als ich langsam die Augen öffnete, sagte sie: „Guck mal, was mir gerade Frau Sauer im Supermarkt in die Hand gedrückt hat. ‚Tolle Enkelin’ sagte sie...“
Ich sah noch nicht wirklich scharf, erkannte aber das Packen Papier in meiner Hand, auf dem MORGENANZEIGER gedruckt stand.

Grundschülerinnen zeigen Zivilcourage
Von zu Hause ausgebüchst, retten zwei Mädchen das Leben einer Obdachlosen

Von GREGOR ZEILE. Eigentlich hatten sie ihren Eltern mit dem Ausreiß-Kommando nur einen Schrecken einjagen wollen, doch für Katrin Hummelmann (9) und Anna Talier (8) wurde diese Nacht ein Abenteuer, das sie zu wahren Heldinnen machte. Mit ihren Eltern in Ärger auseinander gegangen, wollten die zwei Freundinnen nicht mehr zu Hause leben. Also reisten sie gut vorbereitet ins benachbarte Nesselfurth, um dort gemeinsam auf der Straße zu leben. Auf ihrem „Ausflug“ lernten sie die Obdachlose Lore Z. kennen, die den beiden Schutz und Obhut gewährte und sie stets zu überreden versuchte, nach Hause zurück zu kehren. „Aber wir blieben stur und bei Lore“, erklärte Anna. „Schließlich wollten wir unseren Eltern beweisen, dass wir keine Kleinkinder sind.“ In dieser Nacht erlitt die 63-Jährige Streunerin allerdings eine plötzliche Herzattacke. Doch die Kinder reagierten blitzschnell und riefen den Notarzt. Obwohl sie wussten, dass sie damit ihr Versteck aufgegeben hatten, blieben sie bei der Frau, redeten ihr gut zu und pflegten sie bis der Krankenwagen die Versorgung übernahm. „Die Mädchen haben absolut richtig und ruhig gehandelt“, analysierte der amthabende Notarzt Dr. Fix. „Wir wissen nicht, ob die Patientin überlebt hätte, wären die beiden nicht dort gewesen.“ Dabei mahnte Fix an: „Vielleicht sollten wir viel häufiger auf unsere Mitmenschen achten und nicht so ignorant sein.“
Die beiden Mädchen hatten jedenfalls keinerlei Vorurteile und Probleme damit, auf die Obdachlose zuzugehen. „Wenn uns einer einen guten Schlafplatz für die Nacht draußen zeigen konnte, dann doch wohl eine obdachlose Frau“, erklärte Katrin Hummelmann. „Sie war freundlich und lieb. Das sah man ihr schon an. Da ist es doch total schnuppe, dass sie kein eigenes Zuhause hat. Ihr gefällt das Leben an der frischen Luft und das soll man einfach hinnehmen.“

Seitdem der Artikel nun auch von Maja gut sichtbar an die Pinnwand am Eingang zum Gemeindesaal hing und meine Mutter auf jeder Chorprobe auf unsere tolle Tat angesprochen wurde, gab es das Thema „Du machst nichts mehr mit Katrin“ komischerweise auch nicht mehr bei uns zu Hause.
Tja, so kann das gehen, wenn man mal zeigt, dass man einen eigenen Willen hat, den die Erwachsenen, auch die Eltern, nicht einfach so übergehen können.
Was so eine Freundschaft so alles erreichen kann...
Dabei wollten wir doch einfach nur frei sein, Freunde sein und Kinder sein.


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Tag der Veröffentlichung: 21.01.2009

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