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Es war ein kalter Frühlingstag.
Der Wind wehte sanft durch das offene Fenster in den Raum.
Tobias saß auf seinen Platz und schaute sinnlos ins Leere. Seine Augen fielen ihm fast zu.
Er hatte letzte Nacht schlecht geschlafen und schuld daran war dieser verfluchte Traum.
Er besuchte ihn jetzt schon seit drei Wochen.
Jede Nacht stand er ihr gegenüber.
Der schwarzen Frau ohne Gesicht..

Sie steht nur da und sagt nichts. Tobias hat schreckliche Angst, um ihn herum laufen Menschen hin und her, doch sie beachten ihn nicht.
Sie sehen durch ihn hindurch als ob er gar nicht da wäre. Als ob er nicht existiere.
Er möchte schreien, doch der Schrei stirbt in seiner Kehle.
Die schwarze Frau kommt langsam auf ihn zu. Er möchte fliehen, doch seine Beine bleiben einfach stehen. Sie ist nur noch fünf Meter von ihm entfernt.
Tobias versuchte wieder zu schreien,
doch der Schrei starb abermals. Drei Meter.
Die schwarze Frau breitet die Arme aus.
Klebriger Schweiß läuft über Tobias Haut. Zwei Meter.
Gleich ist sie da und dann nimmt sie ihm gefangen.
Ein erneuter Versuch zu schreien, zu fliehen, doch nichts passiert. Ein Meter.
Tobias schaut wild um sich, sucht nach Hilfe. Findet sie aber nicht, denn er existiert nicht für die Menschen um ihn herum. Jetzt steht sie direkt vor ihm.
Ihre Arme umschließen seinen schwachen hilflosen Körper und dann. . .
Nichts.
Es ist nichts als Finsternis um ihn herum.
Er fällt! Fällt hinunter in die alles umschlingende Finsternis.
Er ist in ihr. Er schreit. Schreit um sein Leben, doch niemand ist da der ihn hören kann.
Er fällt schneller. Der Fall scheint endlos zu sein, so wie die Finsternis die ihn umgibt.
Er schreit ein letztes Mal mit aller Kraft, sein Kopf droht zu zerplatzen, doch es hilft nichts. Tobias schließt die Augen und dann. . .



Öffnete er sie wieder, denn der Fall war endlich vorbei, doch die Dunkelheit umgab ihn noch immer. Er schaute sich um, sucht. Suchte nach etwas. Nach jemanden. Seine Hände tasteten durch die Dunkelheit. Bis sie etwas gefunden hatten. Es war etwas Weiches.
Jetzt erst kann er es riechen. Ein Geruch nach verregneten Tagen .
Er kannte ihn, denn er hatte ihn schon öfter gerochen, wenn er mit Tanja unterwegs war.
Jetzt ertasteten seine Finger etwas Kaltes. Es fühlt sich an wie ein rundes Stück Metall.
Es hängt an einen schmalen Lederriemen. Jetzt bewegte diese es sich.
Tobias hatte wieder angst.
Er spürte wie dieses ES ihn beobachtete. Dann sieht er diese Augen.
Sie nährt sich seinem Gesicht. Der Geruch wird stärker, doch die Augen waren ihn seltsamerweise vertraut.
Er spürte wie dieses ES es sich auf seinen Bauch gemütlich machte.
Seine Augen sahen direkt in die Augen dieses Wesens. Er konnte seinen Atem riechen und dann. . .
Er befand sich noch immer in dieser alles umschlingenden Dunkelheit, doch er hatte keine Angst mehr. Sie verging so schnell wie sie gekommen war.
Die Augen sehen ihn noch immer an. Treu. Liebevoll. Er kannte sie.
Es waren Tanjas Augen. Sanft strich er über ihr weiches Fell.
Er hatte keine Angst mehr, denn er war endlich wach.

So war es heute Morgen und nun saß er in der Schule. Der immer wiederkehrende Traum zehrte an seinen Kräften. Er war so schrecklich müde. Die Worte der Lehrerin hörte er, doch sie hatten keine Bedeutung für ihn. Er wollte nur noch schlafen.
Seine Augen blickten noch immer ins Leere.
Seine Gedanken kreisten immer nur um sie.
Wer war sie? Wer war diese schwarze Frau?
Er hörte ein leises Flüstern weshalb er aufrichtete und nach links sah.
Eine Stimme flüsterte seinen Namen. Dann sah er einen Schatten.
Er sah wie er langsam Form an nahm. Real wurde.
Es war ihr Schatten, doch diesmal hatte Tobias keine angst.
Er war zu müde. Zu schwach um überhaupt etwas zu empfinden.
„Bist du müde Tobias?“ ihre Stimme klang sanft und zärtlich.
Er nickte um ihre Frage zu beantworten.
„Möchtest du schlafen?“ Tobias nickte wieder.
Die anderen Kinder beachteten ihn nicht. Er schien für sie gar nicht zu existieren.
Es war wie in seinem Traum.
Aber leider war es diesmal die Realität, denn er war schon immer ein Außenseiter.
Keine Freunde, keine richtigen Eltern. Ein Ausgestoßener der Gesellschaft.
Seine Eltern hatte er nie kennen gelernt. Gleich nach der Geburt wurde er in ein Kinderheim gebracht wo er bis zu seinem zweiten Lebensjahr lebte. Dann wurde er endlich von Bill und Johanna adoptiert.
Er mochte sie, doch lieben konnte er sie nicht, denn sie waren nun mal nicht seine richtigen Eltern. Zwar hatte er sie die ersten vierzehn Jahre Ma und Pa genannt, doch als sie ihn dann über seine Herkunft aufklärten nicht mehr: Obwohl er wusste, dass er sie damit sehr verletzte nannte er sie von da an nur noch Bill und Johanna.
„Möchtest du schlafen?“ fragte sie ihn wieder und Tobias nickte abermals.
„ Dann komm heim.“ sagte die liebliche Stimme und zum ersten Mal an diesen Tag wurde Tobias Blick klar. Komm heim wiederholte er in seinen Gedanken und plötzlich traf ihn eine Erkenntnis wie ein heftiger Faustschlag in die Magengegend.
War sie etwa Sie? War sie seine wirkliche Mutter?
War sie endlich gekommen ihm zu sich zu holen? Heim zu holen?
„Ja komm heim mein Junge!“ Sagte der Schatten der schwarzen Frau, als ob sie genau wusste was Tobias dachte. Tobias schaute sich noch mal um, die andern Kinder starrten wie willenlose Zombies nach vorne zur Tafel an der Miss Peach gerade ein paar neue Vokabeln aufschrieb, während der Wind sanft den Geruch des Frühlings durch das offene Fenster wehte.
„Komm heim mein Kind! Komm heim!“
Tobias stand, von allen unbemerkt, von seine Platz auf und („Komm heim!“)
... ging auf das Fenster zu. „JA MEIN KIND KOMM HEIM!“
„Tobias! Setzt dich sofort wieder hin!“ Miss Peach schaute ihn drohend an, doch ihre Worte nahm er nicht mehr wahr. Er hatte seinen Entschluss gefasst. Er würde heim kommen!
Zu ihr, seiner Mutter.
Ein letztes Mal drehte er sich nach ihr um.
„Willst du dich nun endlich wieder hin setzen oder hast du vor noch weiter durch denn Raum zu laufen und sinnlos durch die Gegend zu starren? Wir sind doch kein Museum.“
Die Kinder lachten über Miss Peachs Äußerung, doch ihre Frage blieb unbeantwortet.
Das Lachen verstummte, alle Blicke ruhten auf Tobias.
Zum ersten Mal in seinen Leben als Ausgestoßener hatte er die Aufmerksamkeit der Andern auf sich gezogen. Alle starrten ihn an, als wäre er ein durchgedrehter Gorilla in einen Käfig kurz vor den Ausbruch, doch Tobias beachtete sie nicht für ihn zählt nur sie. Seine Mutter! „Komm heim mein Junge es wird Zeit!“ Geleitet von ihrer wundervollen Stimme drehte er sich um, stützte sich auf den weißen Fensterrahmen und hörte ihre Stimme zum letzten Mal. „JA! So ist gut mein Junge komm heim! Ich warte!“
„Tobias, NEIN!!!“Miss Peach rannte zu ihm und versuchte ihn von seinen Vorhaben abzuhalten. Vergebens. Es war zu spät.
Tobias stürzte mit den Kopf voraus aus dem Fenster.
Seine letzten Gedanken galten seiner neu gefundenen, wahren Mutter.
Ich komme heim Mutter. Ich komme heim!
Der Fall ähnelte dem in seinem Traum, nur dass dieser viel kürzer war und diesmal würde er nicht Schweiß nass aufwachen diesmal wird er schlafen – für immer!

Miss Peach stand fassungslos vor dem Fenster inzwischen waren auch die andern Kinder zu ihr gekommen. Alle starren – manchen mit Tränen in den Augen andere mit weit aufgerissenem Mund – die zehn Meter runter in die Tiefe auf den toten Leib und fast unbemerkt von allem verschwanden leise zwei Schatten.
Der Schatten einer Frau und der eines Jungen.
Hand in Hand wie Mutter und Sohn auf ihren Weg noch Hause.
Lösten sie sich in nichts auf, so als wären sie nie da gewesen.
Als hätten sie nie existiert.

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Tag der Veröffentlichung: 22.02.2009

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