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Prolog

Stefan Seidner sah Arnold Protz nachdenklich an.

"Du bist also der festen Überzeugung, dass der Kommunismus und der Sozialismus alle deine Probleme lösen würden?" fragte er mit einem Lächeln.

Arnold antwortete mürrisch: "Ja! An Stelle des Kapitalismus nur noch Volkseigentum, niemandem gehört alles, alles ist Eigentum des Volkes."

Zu zweit saßen sie in Stefan Seidners kleiner aber gemütlicher Wohnung bei einer Tasse Kaffee. Arnold war fünfundzwanzig Jahre alt. Sein braunes Haar und seinen Bart hatte er lange nicht mehr gepflegt. Sein Pullover und seine Hose waren schmutzig und mit Tabak bestreut. Außerdem war er immer mürrisch. In diesem kapitalistischen Staat konnte man nur schlechte Laune haben, wie er Stefan Seidner immer wieder erklärte.

Stefan Seidner war dreiunddreißig Jahre alt. Er war das Gegenteil von Arnold. Seine Kleider waren einfach aber sauber. Sein dunkelblondes Haar, seine schlanke Figur und seine freudige Natur ließen ihn wesentlich jünger erscheinen.

Jetzt wandte er nachdenklich ein: "Warum hat das nur nie geklappt?"

"Weil die Leute dumm sind. Und weil unsere Politiker keinen Kommunismus wollen!"

Stefan entgegnete: "Ich will auch keinen Kommunismus. Hältst du auch mich für dumm oder für einen der Politiker, auf die du ja wirklich nicht gut zu sprechen bist?"

"Du hast doch nie Marx gelesen!"

Stefan erwiderte ernst: "Karl Marx - während seiner ersten dreißig Jahre hat er das Geld seines Vaters vergeudet, danach führte er in London ein Hungerleben, gab sich aber dennnoch bürgerlich."

"Wie Karl Marx es sich vorstellte, das wäre wahres Paradies!"

"Ich jedenfalls wollte in diesem Paradies keine drei Monate leben!"

"Ich würde dort gern ein ganzes Leben verbringen!" erwiderte Arnold.

Stefan erwiderte: "Wie du meinst..."

1. Kapitel

Stefan und Arnold stiegen aus dem Zug. Und innerhalb weniger Augenblicke fanden sie sich in einem großen Gedränge, sodass sie Mühe hatten, sich nicht zu verlieren.

Zusammen mit Dutzenden von anderen Menschen verließen sie den Bahnhof und sahen schon in unmittelbarer Nähe das Anmeldungsgebäude, wo sie sich unmittelbar nach ihrer Ankunft zu melden hatten.

Auf dem Weg dorthin meinte Stefan Seidner zu seinem Freund: "Jetzt werden wir endlich erfahren, wer von uns Recht hat. Du, der du den Kommunismus als das wahre Paradies ansiehst, oder ich, der ich vom Kommunismus nichts, aber auch gar nichts wissen will!"

Zusammen gingen sie in das Anmeldungsgebäude.

Hier wurden ihnen ihre Wohnadressen gegeben, außerdem je ein blauer Arbeitsoverall und ein Paar Arbeisschuhe gegeben, danach wurden sie in zwei Kleinbussen zu ihren Arbeitsstellen gefahren.

Man fuhr Stefan Seidner zusammen mit einem halben Dutzend weiterer Ankömmlinge zu einem Territorium am Rande der Ortschaft. Er hatte dort allerdings als einziger auszusteigen, während die anderen im Bus weiterfuhren. Hier hatte er sich in einem kleinen ehemaligen Geräteschuppen, der auch als Pausenraum diente, umzuziehen, dann wurde ihm ein Spaten gegeben, und er hatte eine mit Hanfschnur abgesteckte Fläche, die ein Aufseher ihm zeigte, umzugraben. Stefan Seidner war exakt eine halbe Stunde in diesem Land, als er die ersten Spatenstiche umgrub.

Die Sonne flutete die ganze Umgebung mit hellem Licht, ohne allerdings das Land auszudörren; schon die ersten Spatenstiche brachten dunkelbraune feuchte Erde ans Tageslicht.

 

Arnold Protz wurde zu einer Baustelle gefahren. Dort hatte er sich in einer kleinen Kabine umzuziehen.

"Setzen Sie Steine auf die Karre und fahren Sie sie dann zur Baustelle!" wies ihn ein junger Mann, der, ganz im Gegensatz zu den Arbeitern, einen roten Overall trug, an, indem er auf ein Fundament, wo mehrere junge Männer in blauen Overallen arbeiteten, zeigte.

Arnold erwiderte sauer: "Das mache ich nicht!"

"Ja, warum das denn nicht? Wollen Sie nicht helfen, Ihr Eigentum weiter auszubauen?"

"Hier muss man ja genauso schuften wie unter den Kapitalisten!"

Der Mann erwiderte: "Hier bauen Sie Ihr Eigentum, im Kapitalismus sorgen Sie dafür, dass die Kapitalisten in großartigen Villen leben, während Sie selbst den letzten Dreck als Wohnung haben! Aber Häuser bauen sich auch hier nicht von selbst! Aber es ist doch ein Unterschied, ob Sie in dem Bewusstsein 'Das ist meines' oder im Bewusstsein 'Das gehört irgendeinem reichen Schwein' bauen. Finden Sie nicht auch?"

Arnold antwortete nicht mehr. Er beneidete Stefan Seidner. Der hatte erklärt, nicht mehr als drei Monate hier zu leben, während er, Arnold, sich verpflichtet hatte, hier für den Rest seines Lebens zu wohnen. Kommunismus - war das nicht zeit seines Lebens für ihn der Inbegriff des Paradieses?"

Er bückte sich mühsam, nahm einen Stein auf, wobei er einen weiteren Hustanfall gerade noch verhindern konnte, kniete sich schließlich nieder und setzte im Zeitlupentempo vier weitere Steine auf die Karre, die er schließlich unter größter Anstrengung zur Baustelle fuhr. Als er zurück war, fragte ihn der junge Aufseher: "Warum knien Sie denn während der Arbeit nieder?"

"Ich bekomme Husten und Kopfweh, wenn ich mich bücke."

"Was haben Sie denn vorher gemacht?"

Arnold antwortete: "Ich war Verwaltungsangestellter."

"Solche Jobs erledigen hier hauptsächlich Frauen. Man kann ja eine Frau nicht während der Schwangerschaft eine Karre schieben lassen!"

Ein heftiger Hustanfall ließ Arnold erbeben. Der junge Mann sah dem ungerührt zu. Er fragte, als der vorüber war: "Sie haben wohl im Kapitalistenland ziemlich heftig geraucht, wie?"

Und er meinte: "Ja, ja, dort wird man zu weiß nicht welchem ungesunden Leben erzogen! Kapitalistenland - widerlich! Überall Kneipen, überall Lokale, dann die Diskotheken mit der amerikanischen Kapitalistenmusik - widerlich!"

Er meinte: "Hier werden Sie richtig gesund leben! Rauchen - nun, für Ihren Stundenlohn werden Sie kaum mehr als vier Zigaretten bekommen. Tabak muss ja auch importiert werden. Überhaupt: Was wollen Sie hier leben wie im Kapitalistenland? Dort werden Sie natürlich kaputt gemacht, weil die Ärzte, die Pharmaindustrie und andere Kapitalistenschweine an Ihrem Kaputtsein verdienen."

"Darf man hier denn nicht mehr rauchen?" fragte Arnold, als sein Hustanfall endlich vergangen war.

"Sie dürfen schon. Aber das ist ein ziemlich teurer Spaß. Aber warum wollen Sie das Leben im Kapitalistenland hier fortsetzen? Dann hätten Sie ja gleich dort bleiben können."

Arnold antwortete nicht mehr. Hier wurde er ja noch mehr ausgebeutet als im Kapitalistenland.

"Wie lange werde ich hier pro Tag zu arbeiten haben?" fragte Arnold.

"Sie können kommen und gehen, wann immer Sie wollen. Pro Stunde haben Sie je nach Arbeitsleistung 50 Cent bis drei Euro."

"Ich habe hier für drei Euro pro Stunde zu arbeiten?"

"Sie vergessen immer wieder: Was Sie sich aufbauen, gehört Ihnen!"

Arnold schob die Karre mühsam zum Steinstapel zurück. Der Aufseher nickte. Wenn er das Rauchen aufgegeben hat, wenn er etwas geübter ist, wird er zügiger arbeiten.

Arnold setzte sich auf die Karre, legte den Kopf in die Hände und atmete schwer. Der Aufseher nickte. Jaja, das ungesunde Leben der Armen im Kapitalistenland!

Irgendwann ließ sich Arnold seinen Lohn, sechzig Cent, die noch nicht einmal für eine einzige Zigarette reichten, zumal nirgendwo einzelne Zigaretten zu bekommen waren, auszahlen, und ging sauer von der Baustelle.

Ganz im Gegensatz zu Arnold Protz wurde Stefan Seidner nicht nach Zeit, sondern nach Quadratmetern - er sprach von Spatenstichen - bezahlt.

Stefan wunderte sich: Die Erde war butterweich. Nur an den äußersten Rändern war sie ziemlich hart. Offensichtlich war dieses Stück bereits mehrmals umgegraben worden.

Der Himmel hatte sich während der letzten Minuten etwas bewölkt, aber von Zeit zu Zeit schien die Sonne durch eine Wolkenlücke direkt auf das Feld. Dann wieder verzog sie sich hinter eine große Wolke, und man konnte annehmen, es würde heute noch regnen.

Und mit einem Mal erlebte Stefan Seidner eine nie gekannte Begeisterung. Er grub und grub und hatte innerhalb weniger Augenblicke fünf Quadratmeter umgegraben, genug, um eine Woche zu leben, wenn er sparsam lebte. Er legte eine kleine Atempause ein und grub weiter. Leider hatte er sich nichts zum Trinken mitgebracht. Freilich war der nächste kleine Kaufladen, wo es immerhin Malzbier und Limonade gab, nicht weit weg.

Er grub eine ganze Weile, dann legte er eine kleine Atempause ein, dann wieder grub er eine kleine Weile.

Sein Arbeitsaufseher ging zu ihm. Er meinte zu ihm: "Sie arbeiten ja wie ein Kapitalist."

Stefan Seidner entgegnete: "Nun, ich habe im Kapitalistenland gelebt. Und dorthin werde ich auch wieder gehen."

"Bleiben Sie doch hier. Leute wie Sie können wir wirklich gebrauchen."

"Der Kommunismus weder für mich noch für die anderen ein Paradies - mögen sie diese Erkenntnis haben oder auch nicht!"

"Aber der Kapitalismus, wo die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, das ist das wahre Paradies, wie?"

"Das wahre Paradies wird es auf der Erde nicht geben. Aber zum Philosophieren bin ich nicht hier!"

"Wenn Sie nicht erkennen, dass das wahre Paradies nur im Kommunismus möglich ist, ist Ihnen nicht zu helfen!"

Stefan Seidner erwiderte: "Um so besser. Dann versuchen Sie es auch nicht mehr. Denn ich bin nicht hier, um mir von Ihnen helfen zu lassen!"

Darauf arbeitete Stefan Seidner weiter. Der äußerste Rand des abgesteckten Stückes war extrem schwer zu graben. Er schien in der Tat lange nicht umgegraben worden zu sein. Der Aufseher erklärte: "Ja, das ist Wiese, die jetzt zum Kartoffelland gefügt werden soll. Jedes Mal ein kleines Stückchen Wiese mehr."

Stefan meinte darauf: "Wenn das so ist, nehmen Sie doch gleich das ganze Stück!"

Er zog den Stab aus dem Boden und steckte ihn zehn Meter weiter wieder ein, ebenso den anderen.

"Wie viel werden Sie davon schaffen?" fragte der Aufseher.

"Vielleicht ein paar Quadratmeter. Und wenn ich nur ein paar Spatenstiche jeden Tag schaffe - was liegt daran!"

Stefan Seidner glaubte, nicht richtig zu sehen: Ganz hinten sah er Arnold Protz kommen.

Als Arnold ihn erkannte, winkte Stefan Seidner ihm freudig zu.

"Wer ist das?" fragte sein Aufseher kritisch.

"Der Freund, mit dem ich heute gekommen bin."

"Und was hat er vor?"

"Das weiß ich nicht. Vielleicht will er ein wenig mit mir plaudern!"

"Verplaudern Sie nicht zu viel Zeit! Infolge zu vielen Plauderns sind schon viele zugrunde gegangen!"

Stefan Seidner erwiderte freudig: "Das kann mir nicht passieren. In drei Monaten bin ich wieder zu Hause."

"Ich begreife nicht, dass Sie sich so sehr in dieses Land, wo die Armen immer ärmer und die Kapitalisten den Rachen nicht voll genug kriegen können, zurücksehnen!"

Stefan antwortete nicht mehr. Arnold war inzwischen angekommen. Stefan steckte den Spaten in die Erde. Er meinte freudig zu ihm: "Da sehen wir beide uns wieder im wahren Paradies!"

Arnold fragte ihn verstimmt: "Wie ist es dir bisher ergangen?"

"Och, nun ja, wie soll es mir ergangen sein? Du siehst es ja!"

Dabei wies er mit der Hand auf die inzwischen gegrabene Fläche. Die Bezahlung dafür hätte für die drei Monate Aufenthalt ausgereicht.

"Hast du noch Geld?" fragte ihn Arnold.

"Ein Bisschen. Warum fragst du?"

"Kannst du mir fünf Euro borgen?"

"Fünf Euro?" fragte Stefan Seidner schockiert. "Du meinst wohl fünf Cent. Ja, die kann ich dir allerdings borgen!"

"Nein, fünf Euro! Damit ich mir ein Paket Tabak kaufen kann."

Stefan Seidner fragte in höchstem Erstaunen: "Du meine Güte! Ist Tabak hier so teuer?"

Der Aufseher erklärte: "Das kleine Zehn-Gramm-Päckchen kostet fünf Euro. Das große Vierzig-Gramm-Päckchen kostet 20 Euro."

Stefan erwiderte mit einem Schmunzeln: "Na, für Raucher ist dieses Land aber wahrhaftig kein Paradies!"

"Wozu denn auch?" erklärte der Aufseher. "Rauchen ist ungesund. Und im Übrigen muss Tabak importiert werden."

"So weit ich weiß, wächst hier auch kein Tee. Der ist hier aber bemerkenswert billig!" erwiderte Stefan Seidner.

"Tee - das ist etwas völlig anderes. Tee kostet nicht viel Geld. Kaffee beispielsweise ist hier auch teuer."

"Was kostet hier Kaffee?" fragte Stefan Seidner.

"Einhundert Gramm einen Euro!"

"Oh, das ist aber wirklich nicht billig! Da werde ich längst nicht jeden Tag zum Frühstück Kaffee trinken können!"

"Och, Sie haben sich doch schon heute zehn Euro mit Graben verdient."

Stefan erwiderte mit einem Lächeln im Gesicht: "Und morgen werde ich Muskelkater haben und infolgedessen kaum etwas schaffen!"

"Nutzen Sie die Zeit hier zu gesundem Leben!"

Stefan fragte: "Wieso? Kaffee ist doch nicht besonders schädlich!"

"Aber all die anderen Dinge!"

"Welche?"

"Bier, Schnaps, Zigaretten und Tabak..."

Stefan entgegnete: "Nun, mein Freund wird bestätigen, dass ich davon nie viel genommen habe."

Irgendwann meinte Stefan Seidner zu Arnold Protz: "Du wirst mir nicht böse sein, wenn ich jetzt weiter arbeite, nein?"

Arnold erwiderte: "Ich wusste ja gar nicht, dass du so arbeitswütig bist!"

Stefan fragte den Aufseher: "Bin ich arbeitswütig?"

Der antwortete: "Ich habe Ihnen ja schon gesagt: Sie arbeiten wie ein Kapitalist!"

"Unterhalten Sie sich mit meinem Freund. Er ist dem Kapitalismus genauso abhold wie Sie!"

Darauf nahm Stefan Seidner seinen Spaten und ging wieder an die Arbeit.

"So kenne ich ihn gar nicht!" meinte Arnold Protz schlecht gelaunt.

Der Aufseher, der Stefan Seidner eine Weile beim Graben zusah, sagte mit einem Lächeln: "Er müsste sich hier ja sagenhaft wohl fühlen! Er arbeitet wie - dazu fällt mir kein Vergleich ein! Und Sie? Wie zufrieden ist Ihr Aufseher mit Ihnen?"

Arnold antwortete entrüstet: "Aufseher - dass es so etwas im Kommunismus gibt, begreife ich nicht! Ich denke, hier ist alles Volkseigentum."

Der Aufseher erwiderte: "Ja! Das Feld, welches Ihr Freund bearbeitet, ist genauso Volkseigentum wie das Haus, an dem Sie heute gebaut haben!"

"Und wieso werde ich beaufsichtigt? Wieso habe ich eine kleine 40-qm-Wohnung?"

"Sie haben doch keine Familie. Als Einzelperson brauchen Sie doch nicht mehr!"

"Aber das alles gehört doch mir, oder?"

"Überlegen Sie doch einmal: Wenn hier zehn Millionen Menschen insgesamt vierhundert Millionen Quadratmeter Wohnraum besitzen, wie viel Wohnraum bleibt dann für den Einzelnen?"

Arnold sah den Aufseher sauer an. Der meinte: "Tja, bei euch Kapitalisten kann jeder unbegrenzt viel Wohnraum haben, wenn er nur genug Geld hat. Darum besitzen die Reichen ganze Hochhäuser, während die Ärmsten obdachlos sind. Obdachlosigkeit gibt es hier nicht!"

Arnold erwiderte: "Und wieso muss ich hier schuften?"

"Wer lässt Sie schuften?"

"Ich habe heute schon mehrere Karren mit Steinen gefahren!"

"Wäre Ihnen Graben lieber? Dann arbeiten Sie hier."

Er brachte Arnold einen Spaten.

"Schauen Sie sich an, wie Ihr Freund es macht. Er ist darin schon recht versiert!"

Arnold nahm den Spaten und versuchte zu graben. Er steckte den Spaten vorsichtig in die Erde und versuchte, die Erde auszuhebeln. Da er sich fast nicht bücken konnte, ein heftiger Hustanfall wäre die Folge gewesen, blieb er während der Tätigkeit krampfhaft gerade.

Innerhalb kürzester Zeit fühlte er sich so abgekämpft, dass er schließlich den Spaten fallen ließ.

Stefan meinte: "Schauen Sie sich Ihren Kollegen an. So wird es gemacht!"

In der Tat grub Stefan Seidner eine Scholle nach der anderen herum. Der Aufseher meinte: "Ich glaube, das hat hier noch keiner so großartig gemacht! Aber - was machen Sie denn? So geht das doch wirklich nicht! Sehen Sie es sich von Ihrem Kollegen ab!"

Arnold ging zu Stefan. Der grub weiter ohne ihn zu beachten. Schließlich versuchte es Arnold erneut.

Der Aufseher meinte zu ihm: "Ja ja, ich sehe, dass Sie das nicht gewöhnt sind. Diese Raucherei und überhaupt das ungesunde kapitalistische Leben!"

Arnold fragte: "Darf man hier denn nicht mehr rauchen?"

"Lassen Sie doch die ungesundem kapitalistischem Laster hinter sich!"

Völlig abgekämpft setzte sich Arnold auf die noch nicht umgegrabene Grasfläche. Der Aufseher erklärte ihm: "Pro Quadratmeter zwanzig Cents! Wenn Sie so weiter machen, haben Sie in einer Woche kaum eine Scheibe Trockenbrot!"

Arnold knurrte: "Ach! Lassen Sie mich doch in Ruhe!"

Er versuchte, noch einen Spatenstich umzugraben.

 

Stefan Seidner kam zu den anderen. Er schwitzte ein wenig, lachte aber über das ganze Gesicht. Jetzt schlug er sich den Staub aus seinem Overall (Ein klassischer Trainingsanzug, dessen Jacke man, sobald es zu warm würde, ausziehen könnte, wäre ihm zum Graben lieber gewesen.) und setzte sich zu den anderen, wo auch seine Tasche lag. Er verzog das Gesicht beim Anblick der Zeitung und bedauerte, nicht einen einzigen Schluck Wasser zu haben.

Eine Weile betrachtete er den Himmel. Die Sonne war schon merklich gesunken. Ein paar Schönwetterwolken waren tiefrot und orange geworden. Es ging auf den Abend zu.

"Wie spät ist es?" fragte er den Aufseher.

"Was fragen Sie nach der Uhrzeit? Arbeiten Sie, bis zum Dunkelwerden! Denken Sie daran: Das hier gehört Ihnen!"

Stefan erwiderte lachend: "Sie vergessen: Ich bin in drei Monaten wieder weg!"

"Ich nicht!" erwiderte Arnold.

"Nun, das war deine Entscheidung. Ich habe dich gewarnt!"

"Ich habe geglaubt, hier würde dem Volk alles gehören..."

Stefan Seidner meinte nach einigem Nachdenken: "Immerhin muss ich auch noch einkaufen."

"Sie sollten heiraten. Dann könnten Sie das Einkaufen Ihrer Frau überlassen!" schlug der Aufseher vor.

Stefan erwiderte: "Ich bin in ein paar Wochen wieder weg. Und dann kann Ihnen egal sein, ob ich verheiratet bin oder nicht."

Er stellte den Spaten, den Anhäufler und eine Harke, die jemand achtlos liegenlassen hatte, an der Tür des Geräteschuppens und fragte: "Werden Sie das Geschirr in den Geräteschuppen stellen und ihn abschließen?"

"Ja. Können wir morgen früh abrechnen?"

"Geben Sie mir einen kleinen Abschlag. Sagen wir: Ein einhalb Euros."

Der Aufseher gab ihm ein paar Münzen.

"Dann einen schönen Feierabend. Und legen Sie sich zeitig schlafen!"

Stefan Seidner erwiderte schmunzelnd: "Mach ich!"

Arnold stand mühsam auf. Ihm schmerzten sämtliche Muskeln. Stefan dachte: Er hat doch kaum etwas gemacht!

Zusammen mit Arnold ging Stefan. Der Aufseher sah den beiden nach, bis sie in eine Seitenstraße einbogen und nicht mehr zu sehen waren. Er schüttelte nachdenklich den Kopf.

Dieser Stefan Seidner scheint ja recht fleißig zu sein. Aber dieser andere - er kann ja nur rauchen und husten.

Dieser Aufseher war Stefan Thais, der zusammen mit zwei Freunden vor sechs Jahren hierher gekommen war.

Stefan Thais war dreißig Jahre alt. In seiner Heimat hatte er eine Ausbildung zum KfZ-Mechaniker absolviert und wurde während seines Wehrdienstes zum Gewohnheitstrinker. Eine Arbeitsstelle fand er nach seiner Bundeswehrzeit nicht, was ein ungeregeltes Leben mit so genannten weichen Drogen und falschen Freunden und schließlich einen Gefängnisaufenthalt als Folge hatte.

Hier gab er innerhalb kürzester Zeit das Rauchen, das Trinken und die illegalen Drogen auf und lebte sich ein. Er hatte Felder umzugraben, zu beharken, Kartoffeln zu pflanzen, diese anzuhäufeln und schließlich zu ernten.

Sein glänzendes Organisationstalent und seine grundlegende Ehrlichkeit befähigten ihn, sich im Laufe der folgenden Jahre hoch zu arbeiten, sodass er es bald zum Aufseher brachte. Inzwischen hatte er eine Frau und drei Kinder.

 

Stefan Seidner ging nicht sofort nach Hause, sondern in eines der Geschäfte einkaufen. Es erinnerte ihn an einen Supermarkt oder Discounter in seiner Heimat. Nur war es viel kleiner.

Während in seiner Heimat das Warenangebot vielfältig, ja fast unübersichtlich war, gab es hier eine Sorte koffeinierten und eine Sorte koffeinfreien gemahlenen Bohnenkaffee, ebenso Expresskaffee und ungemahlenen Bohnenkaffee, alle Sorten in einem Regal. Ähnliches galt für andere Artikel vom Waschpulver bis zu den Zigaretten: Kannte Stefan, der nicht rauchte, in seiner Heimat fast dreißig Zigarettenmarken, so gab es hier nur 'Zigaretten'.

Preisvergleiche waren hier überflüssig. Die üblichen Artikel des täglichen Bedarfs kosteten in sämtlichen Geschäften das Gleiche.

Man bediente sich selbst mit Einkaufwagen oder Einkaufskorb.

Stefan hatte sich während einer Arbeitspause eine Einkaufsliste angelegt, auf die er während der Arbeitszeit, wann immer ihm etwas eingefallen war, dieses sofort notiert hatte. Jetzt arbeitete er sie schlicht ab, indem er mit einem Einkaufswagen durch die Regale fuhr und einen Artikel nach dem anderen in ihn legte.

An der Kasse standen vier Kunden, ein junger Mann im Arbeitsoverall, den er heute irgendwo (war es auf der Baustelle?) gesehen hatte, und drei Frauen, vor ihm.

Irgendwann war er an der Reihe. Dass er etwas mehr zu bezahlen hatte, als er ausgerechnet hatte, störte ihn nicht. Er packte die Waren in einen Karton, der irgendwo in den Regalen gestanden hatte, verabschiedete sich und ging.

Draußen wartete Arnold schlecht gelaunt auf ihn.

 

Zusammen gingen sie in Stefans Wohnung. Arnold setzte sich auf Stefans Sofa und hatte es und den Esstisch innerhalb weniger Augenblicke mit Tabakkrümeln bestreut. Auf Stefans sauberem Tisch fielen sie sofort auf.

Stefan hatte während der Mittagspause auch schon einiges eingekauft und zu Hause platziert. Dabei hatte er sich über die Einrichtung seiner neuen Wohnung gewundert. Eine einfache aber komfortable Kochzeile mit Elektroherd, Kühlschrank, Spüle und einem recht großen Küchenschrank und einer recht großzügigen Ausstattung mit zwei Töpfen, einer Bratpfanne, Geschirr und Besteck sowie ein recht einfach ausgestattes Wohn- und Schlafzimmer waren ihm als Erstausstattung gestellt worden. Außerdem hatte er ein Fahrrad einen Reparaturkeller.

Er nahm geradezu automatisch zwei Malzbiere aus seinem Kühlschrank; er vergaß, dass Arnold das Malzbier hier nicht ausstehen konnte.

"Das ist vielleicht eine tote Gegend!" meinte Arnold voller Verärgerung.

"Eine tote Gegend?"

"Wo kann man denn hier einkehren?"

Stefan Seidner erwiderte: "Du weißt, wie in sämtlichen kommunistischen Staaten das Familienleben gefördert wird. Und du willst mir doch wohl nicht etwa weis machen, dass durch Kneipengängereien das Familienleben besonders gefördert wird!"

"Aber was kann man denn hier eigentlich machen?" fragte Arnold sauer.

"Wie viel Geld hast du heute verdient?"

"Sechzig Cent."

Stefan fragte: "Und? Wie lange wirst du davon leben können?"

Arnold antwortete nicht. Wenn er nur ein paar Brote, ein paar Kartoffeln, ein wenig Fleisch, ein wenig Milch, ein wenig Käse, ein wenig Obst, ein wenig Gemüse benötigte, könnte er davon leicht eine Woche leben. Aber an Tabak war nicht zu denken. Und auch eine schöne Flasche Bier konnte er sich auch nicht kaufen.

Stefan Seidner hatte für drei Tage im Voraus eingekauft. Er hatte mehr als zwanzig Euro verdient. Freilich hatte er 'wie ein Kapitalist' gearbeitet, wie Stefan sich auszudrücken pflegte, während Arnold kaum das Geld, welches ihm sein Aufseher gnädigerweise gegeben hatte, verdient hatte.

"Du fühlst dich auch noch wohl hier!" meinte er angewidert zu Stefan Seidner.

Arnold sah sich in Stefans Wohnung um. Nirgendwo lag ein Kleidungsstück unordentlich herum, alles war sauber und ordentlich, der Tisch war leer, auf dem Schreibtisch lag nur ein Schreibblock und ein Bleistift, auf dem Nachttisch stand nur seine Nachttischlampe. Auch das Bett war frisch gemacht. All das machte einen freundlichen und einladenden Eindruck. Arnold jedoch fand das alles verkrampft und spießig. Freilich übersah Arnold dass Stefan Seidner auch in seiner Heimat nie wie einer der üblichen Arbeitslosen gelebt hatte. Auf seinem Esstisch hatte weder eine Flasche noch ein übervoller Aschenbecher gestanden.

Stefan antwortete: "Allerdings! Wenn ich bedenke, dass ich hier in kurzer Zeit wieder verschwinde... Ein paar Wochen Urlaub kann man hier ja durchaus machen."

"Du nennst diese Schinderei Urlaub?"

"Musstest du dich heute schinden?" fragte Stefan Seidner. Er meinte nachdenklich: "Aber wie hat der Aufseher mehr als einmal erklärt? Das ungesunde kapitalistische Leben... Hier wirst du wesentlich weniger rauchen - dir wird ja kaum etwas anderes übrig bleiben. Und wenn ich hier verschwinde, kannst du vielleicht besser und flotter graben als ich! Bist ja immerhin acht Jahre jünger als ich!"

"Monatelang kaum eine Zigarette, kaum ein Bier, monatelang die Schufterei!"

"Hast du geschuftet? Ich gar nicht!"

"Wenn wirklich alles Volkseigentum ist, wieso muss ich hier dann schuften, bis ich tot umfalle?"

Während sich Arnold mit Stefan unterhielt, räumte der seine Waren in den Kühlschrank, stellte Arnold einen Aschenbecher hin und spülte das Geschirr.

"Nun, weil ein Haus sich weder in diesem noch in jenem System allein baut."

Er dachte: Noch nicht einmal das Geschirr spült sich von allein. Und auch der Staub entfernt sich nicht von allein. Die Wäsche geht auch nicht von allein in die Waschmaschine.

Er fuhr fort: "Nehmen wir an, du bist zusammen mit einer Million anderen Mitinhaber eines Betriebes. Dieser Betrieb macht einen Gewinn von - sagen wir: zwanzig Millionen Euro pro Jahr. Dann bleiben für dich gerade zwanzig Euro. Dafür würdest du hier gerade ein Paket Tabak bekommen."

"Andreas wollte heute noch kommen."

"Wann?"

"Im Laufe des Abends!"

"Hoffentlich nicht zu spät! Schließlich muss ich morgen auf Zeit wieder aufstehen!"

Arnold erwiderte ärgerlich: "Du scheinst dir die Lebensweise hier schon gewaltig angeeignet zu haben."

Stefan erwiderte: "Und du vielleicht nicht? Du hast doch während der letzten fünf Jahre mehr gearbeitet als ich. Und frühes Aufstehen dürftest du besser als ich kennen. Außerdem bist du mit deinen 25 Jahren acht Jahre jünger als ich und wirst dich noch leichter umgewöhnen als ich. Ja, ich merke allmählich, dass ich älter werde!"

Er dachte: Warum verwendest du nicht wenigstens den Aschenbecher, wenn ich dir schon einen hinstelle?

Langsam wurde die Sonne immer roter. Abendstimmung verbreitete sich. Inzwischen war Stefan müde geworden.

Andreas Heinchen, den fast alle seine Bekannten Andi nannten, war zwei Jahre älter als Arnold. Sein Haar war ziemlich lang, kraus und wenig gepflegt, ebenso sein übriges Äußeres. Er trug einen ziemlich schmutzigen blauen Pullover und eine ziemlich abgetragene Hose.

Stefan Seidner hatte er nie gemocht. Seine widerliche, sorglose Art war ihm immer zuwider. Kannte Stefan Seidner eigentlich, außer während seiner Obdachlosigkeit, schlechte Laune? Andi hatte so viele Sorgen - hätte er ein Tausendstel davon - sie würden ihn selbst dann noch zu zerdrücken drohen wie eine Fliege. Zu Stefan ging er nur, weil er Arnold dort antreffen wollte.

Er läutete gegen acht Uhr an. Stefan öffnete ihm.

Seine schlechte Laune steigerte sich, sobald er Stefans ordentliche Wohnung sah. Sie erinnerte ihn an die Ordnungssucht seiner eigenen Eltern. Wie oft hatte ihn seine Mutter aufgefordert: "Räum dein Zimmer auf!"

Er steuerte den nächsten Sessel an, auf den er sich sofort fallenließ. Stefan stellte ihm eine Flasche Malzbier hin.

Er meinte freudig: "Na, wenn ich euch beide so erlebe, kommt ihr mir gar nicht vor, als wäret ihr im Paradies!"

Aus irgendeinem Grund hatte Stefan Seidner sagenhaft gute Laune. Lag es daran, dass sein Tisch so üppig gedeckt war? Aber das war doch auch schon in seiner Heimat gewesen.

Andi erwiderte: "Wenn ich gewusst hätte, dass das Kommunismus ist... Du kannst dir nicht vorstellen, wie mir die Beine schmerzen!"

Stefan meinte belustigt: "Nun, mir habt ihr beide nicht geglaubt. Sich paradiesische Vorstellungen machen, wenn man mit irgendeinem System nicht zufrieden ist, das ist einfach. Nun, so leicht habe ich es mir nie gemacht. Und darum erschüttert mich, was ich hier antreffe, keineswegs."

Hin und wieder warf er einen Blick nach draußen. Es wurde immer dunkler.

Er meinte: "Im kapitalistischen System muss man arbeiten. Und man weiß, dass man das, was man macht, für irgendeinen reichen (und somit verhassten) Kapitalisten macht."

Andi fragte grimmig: "Ja, ist es denn vielleicht nicht so?"

Stefan antwortete: "Oh ja, voll und ganz. Und hier muss man auch arbeiten. Für bestimmte Güter sogar wesentlich mehr. Brot, Kartoffeln, Käse, Wurst, Fleisch, Milch, Obst, Gemüse - das und einiges andere ist ja noch erschwinglich. Aber eine Tafel Schokolade kostet hier mehr als zwei Euro. Und ein kleines Päckchen Tabak, zehn Gramm - solche Päckchen gibt es bei uns gar nicht - kostet hier fünf Euro. Aber immerhin hat man das Gefühl, man ist Mitbesitzer dessen, was man sich aufbaut."

Andi sah Stefan grimmig an. Der fragte sprühend von guter Laune: "Ist es vielleicht nicht so?"

Nach einer Weile meinte Stefan: "Wenn ich das zwingende Bedürfnis habe, Mitinhaber des Unternehmens, in dem ich arbeite, zu sein, kaufe ich mir Aktien. Kommunismus brauchen wir dazu nicht!"

Andi meinte zu Stefan Seidner: "Wenn man dich reden hört, möchte man annehmen, du wärst mit deinem Leben zu Hause zufrieden!"

Arnold meinte: "Wie kann man dort, wo sich die Kapitalisten gegenseitig auffressen, wo für uns arme Leute nur ein paar Krumen von den Tischen der Reichen fallen, glücklich sein!"

Stefan erwiderte: "Nun, wie großartig, dass ihr euch gleich verpflichtet habt, hier für alle Zeiten zu bleiben!"

Andi fragte Stefan Seidner: "Aber sage mir doch einmal: Hast du dir den Kommunismus nicht auch anders vorgestellt?"

Stefan antwortete: "Allerdings! Schlimmer!"

"Wie! Noch schlimmer?"

Inzwischen war es draußen so dunkel, dass man keine Hand mehr vor Augen sah. Andi meinte zu Stefan Seidner: "Noch nicht einmal Straßenlaternen gibt es hier!"

"Wozu denn auch?" fragte Stefan Seidner. "Wozu soll Volkseigentum für unnötig brennende Laternen vergeudet werden? Warum wollt ihr hier das ungesunde kapitalistische Leben fortführen? Denn du willst mir doch wohl nicht etwa weis machen, dass es besonders gesund ist, nach dem Dunkelwerden noch draußen herumzustrolchen!"

Andi erwiderte: "Wenn du diese Sprüche weiterhin einübst, hast du es bald zum Funktionär gebracht!"

Stefan erwiderte: "Nie! Ich bin in drei Monaten wieder hier weg!"

"Ich habe ein Leben lang hier zu bleiben!"

"Nun, wohl bekomm's!"

Nach einer Weile meinte Andi schlecht gelaunt: "Hier kann man aber auch wirklich gar nichts machen!"

Stefan erwiderte: "Ich habe schon unserem gemeinsamen Freund gesagt: Hier wird das Familienleben gefördert. Ihr wart ja beide nie verheiratet, sonst wüsstet ihr wie ständiges Kneipen-Aufsuchen das Familienleben gefährdet."

Andi erwiderte: "Aha! Und? Wie sollen sich Mann und Frau kennenlernen, wenn es nirgendwo die Möglichkeit, irgendwo einzukehren gibt?"

Stefan erwiderte: "Du bist fast dreißig. Willst du jetzt noch heiraten?"

Schließlich meinte Stefan Seidner: "Mach ein paar Bekanntschaften. Frage doch einmal, wie sie ihre Frau kennengelernt haben. Wir sind ja erst einen Tag hier. Natürlich kennen wir die Spielregeln dieses Staates längst noch nicht!"

Irgendwann meinte Stefan Seidner zu den anderen: "So, jetzt müsste ich euch bitten, euch auf den Heimweg zu machen. Für mich ist morgen früh die Nacht wieder herum."

Andi erwiderte stocksauer: "So! Musst du das! Na, du scheinst dieses System ja sehr zu mögen!"

Stefan erwiderte: "Wenn ich mich nicht irre, habe ich euch beiden schon mehr als einmal gesagt: Ich bin in ein paar Wochen wieder hier weg. Wenn von uns dreien sich hier jemand einleben sollte, dann ihr. Aber jetzt lasst uns Feierabend machen. Ihr könnt morgen Abend nach Feierabend gern wieder vorbeikommen. Für mich ist Zeit zum Schlafen!"

Darauf machte sich Stefan Seidner zum Schlafen fertig. Andi meinte zu ihm: "Gastfreundlich bist du nicht gerade."

Stefan erwiderte: "Ich muss morgen wieder auf Zeit aufstehen. Euch beiden mag es besser gehen. Aber ich muss morgen wieder arbeiten."

Darauf verschwanden Andi und Arnold. Stefan riss die Fenster auf.

Ahh, er mit seiner Qualmerei! dachte er, während er die Tabakkrümel vom Tisch und vom Sofa entfernte. Von Rücksicht haben sie beide noch nichts gehört!

 

Draußen war es jetzt so dunkel, dass man keine Hand vor Augen sah. Nur die Sterne, die sich um das ungesunde Kapitalistenleben nicht kümmerten, die auch kein Volkseigentum zum Leuchten brauchten, leuchteten hier genauso hell wie in Arnolds und Andis Heimat. So konnte man die Konturen der Häuser und Straßen gerade noch erkennen.

Mit einem Mal hörte Arnold in der Dunkelheit Schritte.

Eine kleine Taschenlampe leuchtete auf, und ein vielleicht dreißigjähriger Mann war erkennbar.

"Ja, was machen Sie denn noch um diese Zeit hier auf der Straße?" fragte er die beiden.

Andi erwiderte leise: "Wir haben Sie gar nicht kommen gehört! Wer sind Sie?"

"Natürlich der Straßenaufseher. Oder dachten Sie, ein Gespenst?"

"Was tun Sie hier noch um diese Zeit?" fragte er ernst.

"Wir waren noch auf Besuch bei einem Freund."

"Um diese Zeit? Sagen Sie... Sie sind noch nicht lange hier?"

"Nein, seit heute..."

"Schon verstanden. Na, jetzt aber ganz schnell nach Hause."

"Ist es denn verboten, nachts noch weg zu gehen?"

"Nicht verboten? Aber nachts hat man zu schlafen, damit man am nächsten Tag wieder arbeiten kann."

Andi meinte: "Hier wird man beaufsichtigt wie ein kleines Kind! Überall Aufseher und Funktionäre!"

"Nun, wer anders als kleine Kinder strolchen nachts in den Straßen herum?"

"In unserer Heimat ist das selbstverständlich."

"Nun, wenn es bei Ihnen so viel schöner ist als bei uns, warum sind Sie dann nicht dort geblieben? Aber jetzt nichts wie nach Hause! Oder soll ich Sie heim leuchten?"

"Wir finden allein nach Hause!"

"Merken Sie sich für die Zukunft: Es ist bei uns absolut nicht üblich, nachts herumzustrolchen! Verboten ist es natürlich nicht. Wir sind ein freies Land!"

"Das nennt man Freiheit: Mehr als die Hälfte des Tages ist man in den eigenen vier Wänden gefangen!"

Andi fragte Arnold: "Kommst du noch mit zu mir? Kannst bei mir schlafen!"

Arnold erwiderte: "Wahrscheinlich ist das hier auch absolut unüblich!"

Andi meinte: "Warum haben wir und nicht, wie Stefan Seidner, auf drei Monate fest gelegt? Verlängern hätte man noch immer können!"

Sie verbrachten den Rest der Nacht bei Andi. Dabei verbrauchten sie den Rest Schnaps und den Rest Tabak. Dass Stefan Seidner ihnen nichts gegeben hatte, ärgerte sie. Hatte er nicht mehrere Quadratmeter umgegraben und infolgedessen eine Menge verdient? War es da zu viel verlangt, für seine beiden Freunde, die so viel für ihn getan hatten, wenigstens eine kleine Flasche Schnaps und ein kleines Päckchen Tabak übrig zu haben? Aber mehr als Malzbier hatte er nicht für sie übrig. Auch hatte Stefan gesehen, wie ihnen die Beine schmerzten. Konnte er ihnen nicht wenigstens eine Decke oder eine Matratze zum Schlafen geben?

Er meinte zu seinem Freund: "Dass ich mich so hätte irren können, hätte ich nie angenommen!"

Arnold erwiderte traurig: "Wenn ich nicht wenigstens morgen etwas mehr arbeite, werde ich mir in diesem Monat nicht ein einziges Päckchen Tabak kaufen können!"

"So! Dir fehlt es an Tabak, nun, mir fehlt es inzwischen an allem! Und das wurde uns als Paradies geschildert!"

Arnold und Andi legten sich nicht etwa schlafen, weil sie müde waren. Vielmehr langweilten sich beide derartig, und ihre Arme und Beine schmerzten ihnen derartig, dass sie es nirgendwo anders aushielten, als im Bett.

 

2. Kapitel

 

Ein bewölkter aber recht sonniger Tag hatte begonnen, als Stefan Seidner zur Arbeit erschien. Der Aufseher wunderte sich: Stefan war der erste, der pünktlich war. Und anscheinend hatte er nicht die geringsten Muskelkater. Er begrüßte den Aufseher flüchtig, holte seinen Spaten aus dem Geräteschuppen und ging zum Feld, wo er sogleich mit dem Graben begann. Im Laufe der folgenden Viertelstunde erschienen weitere Arbeiter, die der Aufseher zu ihrer Arbeit einzuteilen hatte, obwohl sie bereits seit mehreren Tagen oder Wochen hier arbeiteten. Und sie murrten, sobald er ihnen ankündigte, was sie zu tun hatten.

"Ja, wenn Sie nicht häufeln wollen, können Sie auch pflanzen!" - auf solche Äußerungen reagierten die meisten mit noch mehr Unmut.

Im Laufe des Vormittags ging der Aufseher zu Stefan, der noch genauso emsig arbeitete wie zu Beginn. Er fragte ihn: "Kann ich dich für ein paar Stunden allein lassen?"

Stefan fragte, indem er weiter arbeitete, leichthin: "Warum nicht? Ich weiß ja, was ich zu tun habe."

"Wenn deine beiden Freunde wieder kommen, plaudere nicht zu viel. Dieses Stück sollte heute noch fertig werden!"

Stefan Seidner übersah das Stück. Es waren vielleicht fünfzig Quadratmeter.

Er meinte mit einem Schmunzeln: "Hier kann wohl mehrmals im Jahr geerntet werden, wie?"

"Hier ist absolut egal, wann Aussaat vorgenommen wird."

"Um so trauriger, dass es hier keine modernen Maschinen gibt."

"... die unsere saubere Luft verpesten! Und

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 10.01.2017
ISBN: 978-3-7396-9259-3

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