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Es ist Mittwoch, zwölf Uhr. Auf dem Stundenplan steht Kunst Unterricht. Der Lehrer schreibt die Aufgabe an die Tafel, das Thema lautet: "Zeichne etwas, an das du glaubst." Abgabe der Blätter: Stundenende.

Alle Schüler holen sich ein leeres Blatt, nehmen ihre Bleistifte und setzten sich zurück an ihren Platz. Es ist still im Raum. Ungewöhnlich still für die sonst so laute, lebhafte Klasse. Alle sind in Gedanken versunken, denken darüber nach, was sie zeichnen könnten. Ab und zu hört man jemanden husten, wie ein Bleistift gespitzt wird oder das leise Tuscheln von zwei Schülern, die ihre Ideen austauschen.

Die Schulglocke läutet. Der Ton, der normalerweise eine Erleichterung für alle ist. Die Stunde ist zu Ende, die Schule ist aus, die Schüler packen ihre Sachen zusammen, geben schnell ihre Blätter ab und machen sich auf den Weg nach Hause oder zur Bushaltestelle.
Nach zwei Minuten ist das Klassenzimmer fast leer. Fast. Ein Mädchen sitzt immernoch über ihrem leeren Blatt. Der Lehrer wird auf sie aufmerksam, als er seinen Blick von den Zeichnungen der anderen Schüler hebt und geht auf sie zu.
"Das ist aber nicht viel, was du in dieser ganzen Stunde geschafft hast. Du bist doch sonst eine so zuverlässige Schülerin", tadelte er und man konnte sehen, wie er leicht seinen Kopf schüttelte.
"Aber ich bin doch fertig", sagte die Schülerin dann nach einer kurzen Pause des Schweigens. Nachdem sie den verblüfften und etwas gereizten Blick ihres Lehrers sah, der wohl dachte, sie wolle ihn ärgern oder provozieren, setzte sie zu einer Erklärung an. Sie schluckte noch einmal, dachte über ihre Worte, die sie sagen wollte, über ihre etwas verworrenen Gedanken nach. Sie räusperte sich kurz, dann begann sie mit ruhiger, sicherer Stimme zu erklären: "An meinem Bild wird sich nichts mehr verändern. Ich kann das, an das ich glaube, nicht zeichnen. Ich glaube an Gott. Aber wie soll ich Gott zeichnen? Haben sie ihn schon einmal gesehen? Ich glaube an Engel. Aber wie soll ich einen Engel zeichnen? Ich habe noch nie einen gesehen. Ich glaube an die Liebe." Das Mädchen machte eine kurze Pause, sah auf ihr Blatt und atmete kurz tief ein. "Aber wie soll ich die Liebe zeichnen? Liebe sieht man nicht. Man fühlt sie. Und wie soll man etwas zeichnen, das man noch nie gesehen hat?" Das Mädchen verabschiedete sich und ging mit schnellen Schritten aus dem Klassenzimmer.

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Tag der Veröffentlichung: 23.05.2011

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