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1. Kapitel




"Guck dir die mal an! Da gibt's sicher was zu holen", flüstert Henry mir ins linke Ohr. Ich streiche mir meine zerzausten dunkelbraunen Haare. "Wo, wen meinst du?", wispere ich zurück, so leise es geht und er hört es, obwohl er eine selbstgemachte, dicke Wollmütze auf dem runden Kopf hat.
Ich mustere sein Gesicht mit den dunklen, fast schwarzen Augen, den dichten Augenbrauen und dem markanten Kinn. Seine Haut ist blass und man sieht, dass es ihm nicht besonders gut geht, auch wenn er immer versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Er will stets sicher und mutig wirken, aber durch die schmutzige durchlöcherte Kleidung, die dreckigen Hände und den mageren Körper gelingt das mit der Zeit einfach nicht mehr. Henry ist eben doch verletzlicher, als ich anfangs gedacht hatte ... er ist ja auch nur ein armer Weisenjunge von der Straße, wie Blake, Lou, Carina, die kleine Mo und ich, Fae. Ich mag meinen Namen nicht besonders, denn ich finde nicht, dass Fee ein passender Name für ein Waisenmädchen ist, das in irgendeiner alten, dreckigen Gasse im hintersten Teil Londons durch Diebstähle und ähnliches ums Überleben kämpft. Aber ich hab mir den Namen ja nicht ausgesucht ... und mein Leben auch nicht!
"Na die da vorne! Sie sieht sich gerade eine der Holzschnitzereien von Harold an! Mach doch die Augen auf, stell dich nicht so an!", holt Henry mich aus meinen Gedanken zurück in eine ganz normale Situation, die wir sechs fast jeden Tag erleben. Wir stehlen, damit wir uns wenigstens einmal pro Tag etwas zu essen leisten können, das satt macht. Oft schicken wir die kleine Mo vor. Sie ist fünf Jahre alt und Lou's kleine Schwester. Außerdem sieht Mo mit ihren blonden Locken zuckersüß aus und sie tut fast jeder alten Dame leid, sodass sie immer etwas bekommt, ob ein bisschen Geld oder ein Stück Lebkuchen oder Brot.
"Ich weiß nicht", antworte ich zögernd. "Was weißt du nicht?", faucht Henry mich wütend an, "Was ist denn heute mit dir los? Du bist doch sonst nicht so ... so ein Angsthase!" Ich kneife die Augen zusammen und überlege, was ich antworten soll. Henry wird immer schnell ärgerlich, vor allem, wenn jemand seinen "Job" nicht erledigen will. "Naja, ich will Harold nicht die Kundschaft vergraulen, wenn sich schon mal jemand für seine Schitzereien interessiert. Er ist doch immer so stolz und glücklich, wenn er etwas selbstgemachtes verkauft hat, für das er mehr als eine Stunde gebraucht hat!", versuche ich meine Bedenken zu erklären. Ob es funktioniert weiß ich nicht, jedenfalls weiß ich, dass ich Harold mag und dass er uns schon oft geholfen hat, wenn wir fast am erfrieren oder sonst was waren. Und jetzt auf dem Weihnachtsmarkt gibt es sowieso noch genügend andere reichen Leute, denen ein "verschwundener" Zehner auch nichts ausmacht! "Na toll, jetzt kneifst du also! Such dir doch selbst dein Geld!", keift Henry mich an. "Mein Geld? Was tun wir hier, arbeiten? Wir stehlen, Mann!", fauche ich zurück, jetzt werde ich langsam wirklich wütend. "Denkst du ich habe mir diesen Job ausgesucht?", antwortet er mir, doch jetzt klingt seine Stimme nicht mehr böse, sondern traurig, so, als müsse er sich die Tränen verkneifen. "Das hier ist kein Job!", brülle ich, und als ich merke, dass sich ein paar der Leute zu uns umdrehen ziehe ich meinen alten, durchlöcherten Regenmantel enger zu und schlage den Kragen hoch. Ich drehe mich um und murmle "denkst, du, ich habe mir diesen Verlauf meines Lebens ausgesucht?" Ich habe mich nicht nur weggedreht, damit die Leute mich in meinen dreckigen Klamotten nicht mehr anstarren, sondern dass Henry mein Gesicht nicht sieht ... ich habe die Augen fest zusammengekniffen und den Mund schmerzverzerrt. Eine Träne, die in meinen Augen brennt, rinnt über meine Backe. Mit meiner kalten, zitternden Hand wische ich sie weg, wütend auf mich selbst, dass ich mich nicht zusammenreißen kann und schon wieder an "andere" Zeiten denke ... schöne Zeiten meines Lebens, mit den Personen, aus denen mein Herz seine Kraft zum Schlagen nahm ... jetzt pocht es nur noch wie wild, in solchen nervenaufreibenden Situationen wie das Stehlen ... ich hasse es!

Ich wurde als Tochter von Violett und Billy McDathery geboren. Wir hatten ein schönes, großes Haus. Ich hatte mein eigenes Zimmer und einen Hund namens Bessi. Wir fuhren meistens zwei mal im Jahr in den Urlaub, im Winter zum Ski-fahren und im Sommer irgendwo hin in den Süden.
Meine Mutter war eine hübsche Frau, finde ich. Sie hatte gewellte braune Haare, die bis über die Schulter reichten. Ihre zierliche, schlanke Figur ließ sie in manchen Momenten so aussehen, wie ein Engel, den Gott vom Himmel geschickt hat, um einfach bei mir zu sein. Mom hatte leuchtend blaue Augen, hell und strahlend ... sie war einfach wunderschön ... eine Fee.
Mein Dad war ein großer, schlanker Mann. Er ging jede Woche am Donnerstag Abend ins Fitnessstudio und bevor er zur Arbeit ging joggte er manchmal. Wenn ich mal früher aufgewacht bin, bevor Mom mich für die Schule geweckt hat, bin ich mit ihm gejoggt. Oder ich bin mit dem Fahrrad nebenher gefahren. Bessi war auch immer dabei, da hatte sie gleich Bewegung. Es war immer unglaublich schön ... auch wenn wir manchmal gar nichts geredet haben, währrend der Jogging-Tour, weil Dad kein Seitenstechen bekommen wollte, war es trotzdem herrlich! Die schöne Natur und einfach, weil Dad neben mir war, weil er einfach nur DA war ... es war eine fantastische Zeit!
Doch als ich zwölf war, starben beide bei einem Autounfall. Mehr weiß ich nicht, man hat nie mit mir darüber gesprochen, auch wenn ich fragte. Das hat mich traurig gemacht ... und wütend. Ich hatte doch wohl ein Recht darauf zu erfahren, wie meine Eltern gestorben sind, oder nicht? Ich habe sie doch so unglaublich geliebt ... ich liebe sie immer noch! So sehr, dass ich schon oft in letzter Zeit daran gedacht habe, mich ... in den Himmel zu schicken, aber dann denke ich an Mo und Lou. Ich habe die kleine so lieb wie eine Schwester und Lou ist zu meiner besten Freundin geworden! Außerdem habe ich Angst ... Angst, gar nicht in den Himmel zu kommen, weil wir doch immer stehlen und ...
Jedenfalls kam ich nach dem Tod meiner Eltern zu meiner Oma und meinem Opa, doch auch die starben nach wenigen Monaten. Meine Oma an Krebs und mein Opa aus Trauer oder noch etwas, auch das habe ich nie erfahren! Viel mehr Verwandte gibt es in meinem Leben nicht mehr und seit ungefähr drei Monaten lebe ich nun auf der Straße, bei Lou, Mo und den anderen vier.
Manchmal sitze ich abends vor dem kleinen Fluss neben unserer "Wohnung" und weine, dann kommt die kleine Mo und fragt mich was los ist. Ich schüttele dann immer den Kopf und sie nimmt mich in den Arm. "Arme Fae, hab dich lieb!", flüstert sie mir dann meistens ins Ohr.

"Was ist jetzt?", zischt mir Henry forsch ins Ohr. "Hast du vor, mit leeren Taschen nach Hause zu kommen? Das wird Carina nicht gefallen, das kannst du mir glauben!" Er steckt seine roten Hände in die großen Hosentaschen. Carina ist so etwas wie unsere Anführerin. Zumindest benimmt sie sich immer so.
"Nein, das habe ich nicht vor!", gifte ich zurück und blinzele eine Trände weg. "Ich habe aber auch nicht vor Harold die Kundschaft zu vergraulen! Willst du, dass er und seine Frau Hellen auch irgendwann einmal auf der Straße enden, weil die Leute sagen: Das ist der, der den Kindern von der Straße beim stehlen hilft?" Ich bin gerade so wütend, wie noch nie und ich könnte Henry gerade eine klatschen. Aber dann sehe ich seine Augen. Auch wenn sein Mund wütend aufgerissen ist und seine Nase gerümpft, seine Augen sind halb geschlossen. Es scheint, als könnte er sie nur noch schwer offen halten und tiefe Falten zeichnen seine junge Stirn. Er hat keine Kraft mehr und er tut mir leid.
Ich stoße einen tiefen Seufzer aus und schließe für einen Moment die Augen. "Lass uns dahin gehen." Meine Stimmer zittert, während ich auf einen dicken, kleinen Mann zeige, der ein große goldene Uhr trägt. Sogar seine runden Brillengläser haben einen goldenen Rand und er trägt einen dicken Pelzmantel. Henry flüstert mir ein "okay" zu und nickt, bevor wir uns unter die Leute mischen. Der Mann will gerade einen kleinen Engel mit riesigen Flügeln aus Porzellan bezahlen, als im zwei fünfzig Pfund Scheine herunterfallen. Ich bücke mich schnell, um ihm das Geld wieder zu geben, bevor er es aufheben kann. Allerdings gebe ich ihm nur einen der Scheine wieder, was er aber nicht merkt.
"Danke, junge Dame!", sagt er mit tiefer Stimme und sein Atem, der nach Zigarren-Rauch riecht, steigt mir in die Nase. Ich hätte mir die Nase am liebsten zugehalten, der Geruch ist fürchterlich, aber ich erinnere mich an die Manieren, die meine Mum mir beigebracht hat. Er fasst in die Tasche seines Pelzmantels und reicht mir ein Karamelbonbon, das in glitzerndes Papier eingewickelt ist. Ich bedanke mich, wende mich dann aber schnell ab und suche Henry.


2.Kapitel




"Einen Fünfziger!", ruft Lou erfreut, als Henry und ich vom Markt zurück kommen.
"Gut gemacht", lobte Carina uns und wendet sich wieder ihren Stricknadeln und dem grünen Wollknäuel zu. Carina ist 15 und hat schwarzes, lockiges Haar. Ihre grauen Augen wirken meist betrübt und abweisend. Zu uns anderen war sie noch nie besonders freundlich. Wir nennen sie heimlich oft unsere Anführerin, weil sie die Älteste ist und manchmal, wenn wir uns Wolle leisten können Pullover für uns strickt.
"Für wen ist der Pullover?", frage ich sie, um sie wieder ins Gespräch mit einzubinden.
"Für Mo", antwortet sie knapp und wickelt die Schnur weiter auf.
"Und wo sind Blake und Mo?", frage ich besorgt, denn sonst, wenn ich zurück komme, kommt die kleine Mo immer gleich angerannt und strahlt übers ganze Gesicht. Manchmal kann ich sie nicht verstehen, vielleicht, weil sie noch so klein ist. Sie lacht immer, ist immer voller Freude, egal, wie schlecht es uns gerade geht. Erst jetzt bemerke ich, dass ich Mo eigentlich noch nie richtig traurig gesehen habe ... sie denkt immer positiv, auch wenn ich nicht genau weiß, ob sie überhaupt versteht, was positiv und was negativ ist!
"Wo wohl?" Lou knufft mich in die Seite und legt ihren Arm um mich. "Sollen wir einkaufen gehen? Ich habe einen Bärenhunger!" Das letzte Wort dehnt Lou bedeutend aus und tippt sich mit der Hand auf den dünnen Bauch.
"Aber nicht so, wie wir aussehen!", bemerke ich mit einem Blick in einen kleinen abgebrochenen Autospiegel mit einem Sprung, den wir auf einem alten Schrottplatz gefunden haben. "Komm!" Ich ziehe Lou am Arm hinter mir her, ich spüre den Blick von Henry auf mir. Ich glaube kaum, dass er mich versteht, schließlich ist ihm fast immer egal, wie er aussieht.
Ich lasse mich vor dem kleinen Fluss auf den Boden sinken. Das Wasser plätschert einen Mini-Wasserfall hinab und eine Ente flattert aufgeregt davon. Wieso sie wohl noch hier war? Es ist sehr kalt draußen und Enten habe ich hier noch nie gesehen.
Ich wasche meine Hände in dem kalten Wasser und lasse auch etwas über mein Gesicht laufen. Ich reibe mir den Schmutz von den Armen und putze meine Zähne mit einer Zahnbürste, die ich aus meinem früheren Leben mitgenommen habe. Meine Haare kämme ich mit meiner alten roten Bürste, dann knote ich sie mit einem blauen Haarband zusammen und gebe die Bürste an Lou weiter. Ich helfe ihr und mache auch ihr Haar zurecht, danach sehen wir beide, finde ich zumindest, gar nicht schlecht aus! Bis auf unsere Klamotten natürlich. "Jetzt müssen wir noch unsere Anteile ausrechnen", sage ich, ein wenig enttäuscht, zu Lou. Es ist nämlich nicht so, dass ich, weil ich das Geld besorgt habe, alles behalten darf! Jeder bekommt einen Teil davon und ich eben etwas mehr. Wir sind zu sechst, also bekommen die anderen sieben Pfund und ich 15 Pfund.
"Du 15 Pfund und ich 7, oder?", fragt Lou mich. Sie ist nicht so gut im rechnen, doch so langsam hat sie's auch raus. Ich nicke und zeige mit dem Daumen nach oben. Langsam machen wir uns auf den Weg, zurück zum Markt.

Eine Stunde später kommen wir mit vollen Taschen zurück. Was man mit so wenig Geld doch alles kaufen kann! Auf dem Markt war vieles, wie Brot und Wurst und Lebkuchen zum Sonderpreis und billiger, als im Laden. Punsch wurde sogar umsonst verteilt, weil es so kalt ist heute. Ich hab genug zu essen gekauft für mindestens eine Woche und ich hab sogar noch zwei Pfund übrig. Lou hat für Mo gleich mit eingekauft. Wir setzten uns mit unseren Taschen in das kleine, alte Auto, das Lou, Mo, Blake und ich vom Schrottplatz bis hier her geschoben haben. Es hat sogar noch ein Dach und zwei ganze Scheiben, für uns vier ist es ein guter Schutz vor Schnee und Regen. Ich kuschele mich, so bequem es eben geht, in eine gepolsterte Ecke des kleinen rostigen Wagens, von dem bereits die Quietscheentchengelbe-Farbe abblättert. Plötzlich fällt mir etwas ein und ich fasse in meine Tasche. Das Plastikpapier knistert zwischen meinen Fingern und ich hole das Karamelbonbon heraus. Ich breche es umständlich in drei Teile, wobei das Karamel lange, klebrige Fäden zieht. Einen Teil gebe ich Lou, den anderen schiebe ich mir selbst in den Mund und den dritten wickele ich wieder in das Silberpapierchen ein, für Mo. Das süße Karamel zerschmilzt in meinem Mund und klebt an meinen Zähnen. Das habe ich schon ewig nicht mehr gegessen. Es schmeckt wundervoll, vielleicht etwas übertrieben, aber es ist eben mal wieder so etwas anderes, als nur Brot und ab und zu Wurst oder Käse.

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Tag der Veröffentlichung: 14.08.2010

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