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Titel

 Arne Siegel

Sneewietje

Märchen, Gesellschaftsdrama, Thriller

 

frei nach Jakob und Wilhelm Grimm

 

 

 

 

 

 

 

 

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Sneewietje - Die Story

Es war einmal mitten im Winter und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: Hätt ich doch ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, und so schwarz wie das Holz an den Rahmen.

Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz und ward darum das Sneewietje genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin.

Nach über einem Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war ein schöne Frau, aber sie war über alle Maßen eitel und konnte nicht leiden, dass sie an Schönheit von jemandem übertroffen werden sollte. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel. Wenn sie davor trat und sich betrachtete, sprach sie stets:

»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?«

So antwortete der Spiegel:

Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.«

Da war sie zufrieden, denn sie wusste, dass der Spiegel die Wahrheit sagte. Es war der neuste Schrei, ein Hightech-Image-Display, was automatisch die Top 100-Liste der ›Finde ich schön‹-Daumen-Damen im Königreich einspielte und den aktuellsten Stand auf Wunsch auch verbal mitteilte. Es konnte demnach nichts falsch an der Aussage des Gerätes sein und die Wahrheit hinsichtlich ihrer Grazie stand unumstößlich im Raum.

Sneewietje aber wuchs heran und wurde von Tag zu Tag schöner, und als es ins siebte Lebensjahr kam, war es so schön wie der klare Tag und schöner als die Nummer eins im Beauty-Ranking, die Königin selbst. Irgendwann fragte sie erneut ihren Spiegel, der nur numerisch arbeitete und daher keine Galanterie kannte:

»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?«

So antwortete er wahrheitsgemäß:

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, aber Sneewietje ist tausendmal schöner als Ihr.«

Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund an, wenn sie Sneewietje erblickte, kehrte sich ihr Herz im Leibe herum, so hasste sie das Mädchen. Eifersucht und Hochmut wuchsen wie Unkraut in ihrem Innern, so dass sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte. Da rief sie einen Jäger und sprach:

»Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will's nicht mehr vor meinen Augen sehen! Du sollst es töten und mir Lunge und Leber als Beweis mitbringen!«

Der Auftragsmörder gehorchte. Er führte es hinaus und als er den Hirschfänger gezogen hatte und Sneewietjes unschuldiges Herz damit durchbohren wollte, fing es an zu weinen und bat:

»Ach lieber Jäger, lass mir mein Leben! Ich will in den wilden Wald gehen und nimmermehr heimkommen.«

Und weil es so schön war, hatte der Jäger Mitleid und sprach:

»So lauf zu, du armes Kind!«

Die wilden Tiere werden dich bald gefressen haben, so dachte er und ließ es dabei bewenden, denn es war ihm, als hätte man einen Stein von seinem Herzen gewälzt, weil er es nicht zu töten brauchte. Und als gerade ein Frischling herbei gesprungen kam, stach er ihn ab, nahm Lunge und Leber heraus und brachte sie als Wahrzeichen der Königin mit. Der Koch musste beides in Salzwasser garen und mit Schwenkkartoffeln servieren. Das kannibalische Weib aß alles auf und meinte, sie hätte Sneewietjes Lunge und Leber verspeist.

Nun war das arme Kind im großen Wald mutterseelenallein und war so ängstlich, dass es alle Blätter an den Bäumen zählte und nicht wusste, wie es sich helfen sollte. Da fing es an zu laufen, stolperte über Stock und Stein, verfing sich in Dornen, und die wilden Tiere sprangen an ihr vorbei, aber sie taten ihm nichts. Es lief so lange die Füße es trugen, da wurde es bald Abend und es kam an ein Häuschen. Die Tür war nicht verschlossen, also ging es hinein und setzte sich hin um auszuruhen. Im Zimmer war alles eine Nummer kleiner als normal, was sie sofort an Menschen mit minderem Körperwuchs denken ließ, die in den Bergstollen nach Schätzen gruben. In der Mitte stand ein weiß gedeckter Tisch mit sieben Tellern, jeder mit Löffel, Messer und Gabel und dazu jeweils ein Becher. An der Wand befanden sich sieben Betten mit schneeweißem Tuch eingedeckt. Sneewietje, weil es so hungrig und durstig war, bediente sich an den Vorräten, die genau für sieben Personen geteilt waren und aß und trank, bis es satt war und seinen Durst gestillt hatte. Dabei nahm es nur geringe und gleich bemessene Mengen zu sich, damit nicht einer von ihnen am Ende zu wenig hätte. Danach wurde es müde und probierte die Bettchen, die von Anfang an zu klein waren, bis sie ein halbwegs passendes gefunden hatte. Es legte sich hinein, befahl sich Gott und schlief ein.

Als es ganz dunkel geworden war, kamen die Herren des Häuschens. Es waren sieben Arbeiter an der Zahl, die in der Erde nach Erz hackten und gruben; weil sie so kleinwüchsig waren, nannte man sie die sieben Zwerge. Sie zündeten ihre Talglichter an und wie es nun hell im Stübchen ward, da sahen sie, dass jemand darin gewesen war, denn es befand sich nichts mehr in der Ordnung, wie sie es hingestellt hatten. Der erste fragte: »Wer hat auf meinem Stuhl gesessen?« Der zweite: »Wer hat von meinem Teller gespeist?« Der dritte: »Wer hat von meinem Brötchen genommen?« Der vierte: »Wer hat von meinem Gemüse gegessen?« Der fünfte: »Wer hat mit meinem Gäbelchen gestochen?« Der sechste: »Wer hat mit meinem Messer geschnitten?« Der siebte: »Wer hat aus meinem Becher getrunken?« Sie wunderten sich über den Reichtum an Varianten und konnten sich zunächst keinen Reim darauf machen, was geschehen sein könnte. Dann sah sich der erste im Zimmer um und konnte sich kaum darüber fassen, dass sein Bettzeug zerknautscht war. Die anderen kamen gelaufen und stellten fest, dass auch in ihren Laken jemand geruht hatte. Der siebte aber, mithin der längste der sieben Zwerge, erblickte Sneewietje in seiner Liegestatt. Er wunderte sich sehr über den unbegreiflichen Anblick und dachte, dass er halluzinierte. Ein rascher Blick in seinen noch unberührten Weinbecher verriet ihm allerdings, dass er mitnichten betrunken sein konnte. Da rief er die anderen herbei, die vor Überraschung schrien. Sie hoben ihre Kerzenlichter und ließen Sneewietje in goldenem Schein erstrahlen.

»Ei, du mein Gott! Ei, du mein Gott!«, raunten sie, »was ist das Kind so schön!«, und hatten so große Freude, dass sie es nicht aufweckten, sondern fort schlafen ließen. Der siebte Zwerge durfte Schritt um Schritt jeweils eine Stunde im Bett eines Kameraden ruhen bis die Nacht endlich vorüber war.

Als der Morgen graute, erwachte Sneewietje, und wie es die sieben Zwerge sah, erschrak es. Sogleich wurde ihre Erinnerung lebendig und sie wusste, wo sie sich befand. Die Bergarbeiter zeigten sich von ihrer besten Seite und waren äußerst höflich. Sie erkundigten sich nach ihrem Namen, wollten wissen, auf welche Weise sie bis zum Zwergenhaus gelangt sei. Da erzählte sie ihnen, dass sie um Haaresbreite einer Tötung durch ihre Stiefmutter entgangen wäre. Der gedungene Killer in Person eines gewöhnlichen Jägers habe jedoch Skrupel gehabt, sie zu morden und ein junges Wildschwein stattdessen genommen. Wie die Geschichte weiter verlaufen ist, könne sie nicht sagen, weil sie seit dem Vorkommnis im Wald einsam umherirrte, wo sie sich keiner barmherzigen Menschenseele mitteilen konnte.

Die Zwerge waren zutiefst gerührt ob ihrer Ausführungen. Gleichzeitig bedachten sie die Umstände, und dass es notwendig wäre, der, dem Tod so knapp Entronnenen Unterschlupf zu gewähren, bis man übrige Schritte zur Aufklärung des Falles erwäge. Sie würden ihr also Kost und Logis bieten, aber um den Preis - obwohl sie fast noch ein Kind war -, dass sie sich ihnen in Form von Hausarbeit anzudienen hätte. Alle anderen männlichen Begehrlichkeiten blieben außen vor, dass hatte der Zwerg, dem das längste Bett gehörte, bestimmt und die anderen vor Taktlosigkeiten gegenüber Sneewietje gewarnt. Bergleute hätten per se einen hohen Ehrenkodex und Sämtliches müsse in gegenseitigem Einvernehmen passieren, egal ob Mann oder Weib. Die restlichen sechs nickten das ab und überlegten, wie sie einer Maid, die bei Hofe mit Bediensteten gelebt hatte, in ihrer wenigen Freizeit Kochen, Waschen, Nähen, Schuhe reparieren und Stricken beibrächten. Aber Sneewietje lachte und versicherte ihnen, dass viel in ihr steckt, und dass sie sich gewiss anstellig geben würde. Eine Männer-Kommune in einem Waldhaus zu bewohnen, bedeutete eine spannende Episode ihres Lebens und sie würde sie vollen Herzens genießen.

Am nächsten Tag ging es auch schon los. Sie hütete das Haus und die Männer gingen in die Berge und schürften Erz und Gold. Abends kamen sie zurück und erwarteten, dass ein Essen für sie bereit steht. Sie vergaßen auch nicht, das Mädchen vor ominösen Fremden, vor allem aber vor möglichen Attacken ihrer Stiefmutter zu bewahren.

»Sie wird bald wissen, dass du hier bist. Also lass ja niemanden herein!«

Die Königin mit den kannibalischen Zügen, die glaubte Sneewietjes Lunge und Leber gegessen zu haben, dachte natürlich, sie wäre nun die Allerschönste. Sie vertraute aber keinem Menschen, so auch nicht dem Jäger, und wollte 100%ig sicher gehen. Darum fragte sie ihr Hightech-Image-Display, was ihr auch als gewöhnlicher Spiegel dient, nach dem aktuellen Stand der Top 100 ›Finde ich schön‹-Daumen-Damen im National-Beauty-Net und siehe da! Tausende von erhobenen Daumen erschienen auf dem Screen. Die misstrauische Königin wusste wohl, dass es nur Animationen waren und wollte die zertifizierte Liste sehen. Das war eigentlich nicht nötig, weil sie ja wusste, dass sie an der Spitze stand. Es gab nur eine ernst zu nehmende Konkurrentin im Königreich und sie erstarrte, als sie sah, dass die Rivalin die Position, um einen Platz vor ihr inne hatte. Erbost wandte sie sich an das Gerät und stellte ihm in schrillem Ton die obligatorische Frage:

»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?«

So antwortete der Spiegel:

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, aber Sneewietje über den Bergen bei den sieben Zwergen ist tausendmal schöner als Ihr.«

»Was?! Gleich tausendmal?«

Der Schrecken stand ihr ins Gesicht geschrieben, da sie wusste, dass der Spiegel niemals die Unwahrheit sprach. Sie stellte fest, dass der Jäger sie betrogen hatte und Sneewietje demzufolge noch am Leben war. Da sann und sann sie aufs Neue, wie sie es töten wollte, denn so lange sie nicht die Schönste war im ganzen Land, ließ ihr der Neid keine Ruhe und das könnte sie auf Dauer nicht aushalten. Und als sie endlich die Lösung gefunden hatte, färbte sie sich das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit und kleidete sich wie eine alte Krämerin. In dieser Gestalt ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die hölzerne Pforte und rief:

»Schöne Ware für junge Frauen feil zu bieten!«

Sneewietje guckte zum Türfenster heraus und sagte:

»Guten Tag! Was habt ihr zu verkaufen?«

»Beste Ware für so adrette Mädchen wie dich! Schnürkorsett, um den Busen anzuheben mit bunten Bändchen dran, vom Feinsten!«

Sie holte eins hervor und hielt es ihr hin. Sneewietje griff zu und wendete es entzückt von einer Hand in die andere. Die Frau ist ehrlich, ich kann sie herein lassen, dachte die junge Haushälterin in spe, riegelte die Tür auf und wollte das hübsche Schnürkorsett sofort bezahlen.

»Kind!«, sprach die Alte. »Wie du aussiehst! Komm, ich will dich einmal ordentlich schnüren!«

Sneewietje hatte kein Arg, ließ die Hüllen fallen, was selbst der Alten den Atem stocken ließ. Der knappe Slip betonte die straffen rundlichen Pobacken und was sie oben herum alles auspackte, ließ sie vor Neid erblassen. Dann stellte sich Sneewietje vor sie hin und ließ sich die Kleidung anlegen. Die andere band auf ihrem Rücken die Schnürriemen so geschwind und so fest, dass ihr die Luft knapp wurde. Mit hochrotem Kopf und hervorquellenden Brüsten über der Wespentaille kippte Sneewietje um wie ein Stock, weil sie so zugeschnürt war und gab keinen Mucks mehr von sich.

»Nun bist du die Schönste gewesen, sprach sie und eilte hinaus.«

Nicht lange darauf, zur Abendzeit, kamen die sieben Zwerge nach Hause, aber wie erschraken sie, als sie ihr liebes Sneewietje auf der Erde liegen sahen und es regte und bewegte sich nicht, als wäre es tot. Der längste Zwerg kommandierte sofort, dass sie ihre lüsternen Blicke von ihr Blöße wenden sollen, sie sahen aber sofort, dass es fest zugeschnürt war und deshalb nicht atmete. Man breitete ein Tuch über ihren Oberkörper und schnitt die Riemen entzwei. Gott sei Dank, fing es ein wenig an zu atmen und ward nach und nach wieder lebendig. Als die Männer hörten, was geschehen war, sagten sie:

»Die alte Krämerfrau war niemand als die gottlose Königin selbst. Hüte dich also und lass keinen herein, wenn wir nicht bei dir sind!«

Das böse Weib aber, als es nach Hause gekommen war, ging vor den Spiegel und fragte:

»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?«

Da antwortete er wie sonst:

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, aber Sneewietje über den Bergen bei den sieben Zwergen ist tausendmal schöner als Ihr.«

Als sie das hörte, sackte ihr das Blut vom Kopf in die Beine, so erschrak sie, denn sie sah wohl, dass Sneewietje wieder lebendig geworden war. Nun aber, sprach sie, will ich etwas aussinnen, das dich zugrunde richten soll und mit Hexenkünsten, die sie verstand, fertigte sie einen giftigen Kamm. Dann verkleidete sie sich und nahm die Gestalt eines andern alten Weibes an. So ging sie hin über die sieben Berge, zu den sieben Zwergen, klopfte an die Tür und rief:

»Beste Ware für so schöne junge Mädchen wie dich! Kämme, Schleifchen, bunte Nagelattrappen, Duftwasser vom Feinsten!«

Sneewietje schaute heraus. Sie erinnerte sich daran, die Stimme schon einmal gehört zu haben und fuhr zusammen.

»Tut mir Leid, ich darf niemanden herein lassen.«

Die andere, die ihr Wähnen gewahrte, verstellte ein wenig ihre Intonation, so, wie sie dachte, dass es Sneewietje nicht so auffiele, dass sie die Mörderin mit dem Schnüren gewesen war.

»Das Ansehen wird dir doch wohl erlaubt sein«, sprach die falsche Alte, zog den giftigen Kamm hervor und hielt in ihr hin. Der Kamm - auch Lippenstifte und Kosmetik sah sie im Korb - gefiel dem Kinde so gut, dass es sich davon betören ließ und die Tür öffnete. Als sie beide sich des Kaufs einig waren, hatte es die Fremde mit anderen Dingen nicht mehr so eilig und sprach: »Nun will ich dich einmal ordentlich kämmen.«

Dem armen Sneewietje kam's komisch vor. Sie überlegte, ob so etwas neuerdings zum Kundendienst gehörte, dachte sich nicht viel dabei und ließ die Frau gewähren. Aber kaum, dass sie den Kamm zwischen die Haare gesteckt hatte, drang das Gift infolge Hautresorption in den Körper ein und ließ das Mädchen ohne Besinnung niederfahren.

»Du Ausbund von Schönheit«, sprach das boshafte Weib, »jetzt ist's um dich geschehen«, und ging fort. Zum Glück war es aber bald Abend, wo die sieben Zwerge nach Hause kamen.

Als sie Sneewietje wie tot auf der Erde liegen sahen, hatten sie gleich die Stiefmutter in Verdacht. Sie observierten alles genau, sahen den Kamm in ihrem Haar, zogen ihn hervor, woraufhin Sneewietje allmählich zu sich kam und erzählte, was vorgegangen war. Da warnten sie es noch einmal auf seiner Hut zu sein und niemandem aber auch niemandem die Tür aufzumachen.

Daheim angekommen stellte sich die Königin vor den Spiegel und sprach:

»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?«

Das Hightech-Image-Display in Form eines kunstvollen Spiegels, dass technisch gesehen nicht anders funktionierte als eine Maschine, antwortete wahrheitsgemäß:

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, aber Sneewietje über den Bergen bei den sieben Zwergen ist tausendmal schöner als Ihr.«

Als sie den Spiegel so reden hörte, zitterte und bebte sie vor Zorn. Sie holte einen Stein und wollte ihn voller Wüterei nach dem Apparat werfen, besann sich aber eines Besseren. »Sneewietje soll sterben«, rief sie, »und wenn es mein eigenes Leben kostet!« Darauf ging sie in eine ganz verborgene einsame Kammer, wo niemand hinkam, und machte da einen giftigen Apfel. Äußerlich sah er schön aus, weiß mit roten Backen, dass jeder, der ihn erblickte, Lust danach bekam, aber wer ein Stückchen davon aß, der musste sterben. Als der Apfel fertig war, färbte sie sich das Gesicht und verkleidete sich in eine Bauersfrau, und so ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen. Sie klopfte an. Sneewietje streckte den Kopf zum Fenster heraus und sprach:

»Ich darf keinen Menschen einlassen. Die Herren, die hier wohnen, haben mir's verboten.«

»Mir auch recht«, antwortete die falsche Bäuerin, »meine Äpfel will ich schon los werden. Da! Einen will ich dir schenken.«

»Nein«, sprach Sneewietje, »ich darf nichts annehmen.«

»Fürchtest du dich vor Gift?«, fragte die Alte. »Siehst du, da schneide ich den Apfel in zwei Teile, den roten isst du, den weißen will ich essen.«

Der Apfel war aber so präpariert, dass der rote Backen allein vergiftet war. Sneewietje fixierte den schönen Apfel, und als es sah, dass die Bäuerin davon aß, so konnte es nicht länger widerstehen. Sie streckte ihre Hand hinaus und nahm die giftige Hälfte. Kaum aber hatte es einen Bissen davon im Mund, so fiel es tot zur Erde nieder. Da betrachtete es die Königin mit grausigen Blicken, lachte überlaut und sprach: »Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz! Diesmal können dich die Zwerge nicht wieder erwecken.«

Und als sie daheim den Spiegel befragte: »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?«, so antwortete er endlich:

»Frau Königin, Ihr sei die Schönste im Land.«

Da hatte ihr neidisches Herz Ruhe, so gut wie ein neidisches Herz Ruhe haben kann. Die Bergmänner, wie sie abends nach Hause kamen, fanden Sneewietje auf der Erde liegen und es ging kein Atem mehr aus seinem Mund und es war daher als tot anzusehen. Sie hoben es auf, suchten, ob sie etwas Giftiges fänden, schnürten es auf, kämmten ihm das Haar, wuschen es mit Wasser und Wein, aber es half alles nichts; das schöne Kind war tot und nichts konnte ihm mehr helfen. Sie legten es auf eine Bahre und setzten sich alle sieben daran und beweinten es drei Stunden lang. Dann wollten sie es begraben, aber es sah noch so frisch aus wie ein lebender Mensch, denn es hatte noch seine schönen roten Backen. Da sprachen sie:

»Das können wir nicht in die schwarze Erde versenken«, und ließen einen durchsichtigen Sarg aus Glas machen, dass man es von allen Seiten aus sehen konnte. Sie legten es hinein und schrieben mit goldenen Buchstaben seinen Namen darauf, und dass es eine Königstochter wäre. Dann setzen sie den Sarg hinaus auf den Berg und einer von ihnen blieb immer dabei und bewachte ihn. Die Tiere kamen und beweinten Sneewietje, erst eine Eule, dann ein Rabe, zuletzt ein Täubchen.

Nun lag es einige Zeit in dem Sarg, verweste nicht, sondern sah aus, als ob es schliefe, denn es war noch so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und von so schwarzfarbenem Haar wie Ebenholz. Es geschah aber, dass ein Königssohn in den Wald geriet und zu dem Zwergenhaus kam, um dort zu übernachten. Er sah auf dem Berg den Sarg und das schöne Sneewietje darin liegen und las, was mit goldenen Buchstaben darauf geschrieben stand. Da sagte er zu den Bergleuten:

»Lasst mir den Sarg, ich will euch geben, was ihr dafür haben wollt.«

Aber die Männer antworteten:

»Wir geben ihn nicht um alles Gold in der Welt.«

Da erwiderte er:

»So schenkt ihn mir. Ich will es ehren und hochachten wie mein Liebstes.«

Wie er so redete, empfanden die Zwerge Mitgefühl und gaben ihm den Sarg. Der Königssohn ließ ihn nun von seinen Dienern auf den Schultern forttragen. Da passierte es, dass sie über eine Wurzel stolperten und von dem Schüttern fuhr der giftige Apfelgrütz, den Sneewietje abgebissen hatte, ihr aus dem Hals. Einen Augenblick später verflog die Wirkung des schädlichen Stoffes und Sneewietje schlug die Augen auf. Die Diener hoben den Deckel vom Sarg und halfen ihr, sich aufzurichten, woraufhin sie fragte:

»Ach Gott, wo bin ich?«

Der Königssohn, dem es gefiel, dass die Verführung in persona sich wieder ihres Lebens besann, entgegnete voller Freude:

»Du bist bei mir!« Und er erzählte was sich zugetragen hatte und sprach: »Ich habe dich lieber als alles auf der Welt, komm mit in meines Vaters Schloss, du sollst meine Gemahlin werden.«

Sneewietje hatte sich sofort in den Königssohn verliebt. Sie ging mit ihm mit und die Hochzeit ward mit großer Pracht und Herrlichkeit angeordnet. Die Zwerge machten indes lange Gesichter, waren aber froh, dass alles so glücklich endete. Zu dem Fest wurde aber auch Sneewietjes Stiefmutter eingeladen. Als sie sich nun mit schönsten Kleidern angetan hatte, trat sie vor den Spiegel und sprach:

»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?«

Der Spiegel antwortete ehrlich:

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, aber die junge Königin ist tausendmal schöner als Ihr.«

Da stieß das böse Weib einen Fluch aus und es ward so von Sinnen, dass es sich nicht zu lassen wusste. Sie wollte zuerst gar nicht auf die Hochzeit kommen, doch es ließ ihr keine Ruhe, sie musste fort und die junge Königin sehen. Und wie sie hinein trat, erkannte sie Sneewietje und vor Angst und Schrecken stand sie beklommen da und konnte sich nicht rühren. Aber es waren schon eiserne Pantoffeln über Kohlenfeuer gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. Da musste sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.

Impressum

Texte: Arne Siegel
Bildmaterialien: Arne Siegel
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2014

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