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Titel

Arne Siegel

Hans und Gret 

Märchen, Gesellschaftsdrama, Thriller

 

 frei nach Jakob und Wilhelm Grimm

 

 

 

 

 

 

 

 

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Hans und Gret - Die Story

Vor einem großen Wald lebt ein armer Holzhauer mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Der Junge heißt Hans und das Mädchen Gret. Sie haben kaum Geld fürs Essen und Heizen übrig, als eine wirtschaftliche Rezession das Land heimsucht, wonach er kaum das täglich Notwendige für alle aufbringen kann. Wie stets, wenn er im Bett liegt und sich mit seinen Sorgen herumwälzt, so seufzt er auch heute und spricht zu seiner Frau: »Was soll bloß aus uns werden, Liebste? Wie sollen wir unsere armen Kinder ernähren, wenn wir uns selbst kaum satt bekommen?«

Die Angebetete kratzt sich betreten den Scheitel, überlegt aber nicht lange.

»Ich habe da eine Idee: Geh' zum Sozialamt und bitte um Geld.«

»Du Dummchen! Das Sozialamt ist erst im nächsten Jahrhundert erfunden worden und zum Bürgermeister, um zu betteln, werde ich nicht gehen, das lässt mein Stolz nicht zu!«

»Mich nerven die beiden Blagen schon seit langem«, erwidert die Stiefmutter harsch. »Warum wollen wir sie nicht früh mit in den Wald nehmen, wo er am dichtesten ist? Dort fachen wir ein Feuer an, geben jedem ein Stück Brot als Zehrung mit, gehen an die Arbeit und lassen sie dann allein.«

»Nein, Frau!«, entgegnet er schroff. »Das brächte ich nicht übers Herz. Niemals könnte ich meine Kinder im Wald zurück lassen, die wilden Tiere würden bald kommen und sie zerfleischen. Außerdem, wenn es herauskäme, würden wir beide ins Kittchen wandern. Neulich hat so ein Fall in der Zeitung gestanden. Die Polizei ist dessen sensibilisiert.«

Sie schlägt schuldbewusst die Augendeckel nieder.

»Dann müssen wir aber alle vier Hungers sterben und du kannst höchstens noch das Holz für die Sargbretter schlagen.«

Sie redet alsdann so lange auf ihn ein, bis er schließlich nachgibt und ihrem Vorschlag zustimmt. Hans und Gret, die vor knurrenden Mägen nicht den Schlaf finden, hören, was die Stiefmutter zum Vater sagt und sind insofern gewarnt. Gret fängt sofort an zu weinen und flüstert mit tränenerstickter Stimme: »Die Alte will uns rausschmeißen, Hans! Wir sind verloren!«

»Sei still, Gret! Die müssen's ja nicht mitkriegen, dass wir's wissen. Mir wird schon etwas einfallen.«

Wie die Eltern dann eingeschlafen sind, steht er auf, zieht sein Röcklein an, hakt die Schlupftür auf und schleicht sich hinaus. Draußen scheint der Mond fast so hell wie der Schimmer des Morgens und es bereitet ihm keine Schwierigkeiten, die hellen Kiesel, die da verstreut liegen, einzusammeln und sich ins Täschlein zu stecken. Dann läuft er still wie auf Katzenpfoten zurück ins Gemach, spricht zu Gret: »Mach dir keine unnötigen Gedanken, Schwester! Gott wird uns behüten«, und legt sich zurück ins Bett.

Später, als die Sonne die ersten Strahlen durchs Glas der Fensterscheiben streckt, tritt die Stiefmutter durchs Türgewände und weckt die beiden Halbwüchsigen.

»Steht auf, ihr Faulenzer! Wir wollen in den Wald gehen und Holz holen!«

Dann bricht sie beiden ein Stück Brot ab und redet strikter Miene: »Hier habt ihr etwas Mittagbrot, doch esst's nicht zu zeitig, denn mehr bekommt ihr nicht.«

Gret steckt sich die Rationen unter die Schürze, weil Hans die Tasche voller Steine hat. Dann halten sie unbeirrt Kurs auf dem Spazierweg in Richtung Wald. Kaum sind sie ein paar Schritte gegangen, da guckt Hans wehmütiger Blicke nach dem Haus zurück.

»Hans spute dich bitte und schau nicht lang nach dem Haus, wir haben's eilig«, mahnt ihn der Vater.

»Hoho, Vater! Ich beobachte, wie sich das weiße Kätzchen auf den Dachfirst schleicht. Ich will ihm Ade sagen.«

Die Stiefmutter kommentiert's böser Worte.

»Du Narr! Nicht das weiße Kätzchen, sondern der Sonne Strahlen sind es, die sich silbrig am Kamin brechen. Also lauf zu!«

Das mit dem Vierbeiner ist nur ein Trick gewesen, weiß Hans; eine rhetorische Finte, die dazu dient, in Ruhe die Steinchen auf dem Weg wie eine Perlenkette verteilen zu können. Als sie dann im Wald ankommen, schickt sich der Vater an, ein possierliches Feuer zu schüren.

»Nun sammelt Reisig, Kinder, damit die Flammen noch größer werden und ihr nicht friert!«

Hans und Gret tragen Zweige hinzu und legen sie achtsam auf die beginnende Glut. Nach wenigen Minuten, als die Lohen emporschlagen, schultert der Vater die Axt, greift seine Frau bei der Hand, die indes frommer Miene versichert: »Legt euch ans Feuer, ihr beiden, ruht euch aus und lauscht derweil den Vögeln. Wir gehen nur ins Dickicht, hauen Holz und wenn wir soweit sind, kommen wir zurück und holen euch ab.«

Hans spürt sofort den Hinterhalt, sie sind aber dennoch voll im Vertrauen ob der Ehrlichkeit ihrer Rede und lassen die Eltern ziehen.

Hans und Gret sitzen also am Feuer und finden das erstmal recht romantisch. Sie essen ihr über den Flammen geröstetes Brot, die Zeit verrint alsdann und es wird schnell Mittag. Weil sie die Hiebe der Fällaxt hören, denken sie, der Vater wäre in der Nähe, aber es ist mitnichten das Schlagwerkzeug, sondern ein trockener Ast, den er an den Baumstamm gebunden hat und der im Wind hin und her schlägt. Von leidlichem Sattsein und dem Tack-Tack-Tack fallen ihnen die Augen vor Müdigkeit zu und sie schlafen fest, bis es finstere Nacht wird. Zwischen den Tannen schallen indes die Rufe der Käutzchen wider, was Gret schaudern lässt, aber Hans beruhigt sie mit Worten:

»Warte nur ein Weilchen bis der Mond aufgestiegen ist, dann werden wir den Heimweg schon finden.«

Später, als der Mond den Kindern sein wolkenumwehtes Gesicht zeigt, gehen beide den lichtreflektierenden Kieseln nach und finden bald zum Rand des Waldes. Nach Minuten zeichnet sich die Silhouette des Hauses des Vaters gegen den allmählich anbrechenden Tag ab. Sie klopfen an, bis sich die Frau im Innern regt und die Tür aufschwenkt. Ihr geht vor Schreck die Kinnlade herunter. Dann hebt sie zur Rede an:

»Ihr bösen Kinder! Warum habt ihr so lange im Wald geschlafen? Wir haben geglaubt, ihr wolltet gar nicht wieder kommen.«

Der Vater erfreut sich jedoch sichtlich ihrer Gegenwart, denn es geht ihm zu Herzen, dass er sie so allein zurückgelassen hat. Nicht lange danach ist die Not wieder allgegenwärtig und seine Partnerin legt erneut die Platte mit den alten Litaneien auf:

»Bald ist alles aufgegessen, wir haben noch einen halben Laib Brot, danach hat alles ein Ende. Die Kinder müssen fort. Wir werden sie tiefer in den Wald hinein führen, damit sie den Weg nicht mehr herausfinden, es wäre sonst keine Lösung für uns.«

Dem Vater fällt es schwer und er denkt, dass es richtig ist, den letzten Bissen mit den Kindern zu teilen, doch die Stiefmutter zeigt sich unerbittlich. Sie akzeptiert nicht seine Argumente, schilt ihn stattdessen und macht ihm Vorwürfe. Wer A sagt, muss auch B sagen, und weil er ein erstes Mal nachgegeben hat, so müsste er es nun auch ein zweites Mal tun. Die Kinder sind aber noch wach und verfolgen schweigsam das Gespräch durch die Wandritzen. Als die Alten dann schlafen, schleicht sich Hans zur Tür, er will draußen die Kieselsteine auflesen, kommt aber nicht hindurch, weil die Frau den Riegel unverrückbar vorgelegt hat. Trotzdem tröstet er seine Schwester und sagt: »Weine nicht, Gret. Schlaf nur ruhig, der liebe Gott wird uns schon helfen.«

Am nächsten Morgen weckt die Stiefmutter die Kinder und holt sie aus dem Bett. Sie erhalten ein Stück Brot, es ist aber noch kleiner als das vorige. Beim Gehen in den Wald zerbröckelt Hans es in der Tasche und streut es Stück um Stück auf die Erde.

»Hans, was stehst du da und guckst dich um, anstatt deiner Wege zu gehen?«

»Ich sehe nach meinem Täubchen, es sitzt auf dem Dach und will mir Ade sagen«, antwortet ihm Hans.

»Du Narr!«, entgegnet die Frau. »Es ist nicht dein Täubchen, als vielmehr die Morgensonne, die da droben auf den Schornstein scheint.«

Hans lässt sich aber von ihr nicht beirren und wirft klammheimlich alle Bröckchen auf den Weg. Sie führt indes die beiden noch tiefer in den Wald, wo sie ihr Lebtag noch nicht gewesen sind. Da ward wieder ein großes Feuer angemacht und die Stiefmutter sagt:

»Bleibt nur da sitzen, ihr Kinder, und wenn ihr müde seid, könnt ihr ein wenig schlafen. Wir gehen und hauen Holz und abends, wenn wir fertig sind, kommen wir und holen euch ab.«

Als es Mittag geworden ist, teilt Gret ihr Brot mit Hans, der ja sein Stück auf dem Weg verstreut hat. Sie ermüden und schlafen bis es dunkel wird, aber niemand kommt, um sie zu holen. Sie erwachen erst in finsterer Nacht, aber Hans zieht sein Schwesterchen zu sich heran und spricht:

»Wart nur Gret, bis der Mond aufgeht. Dann werden wir die Brotbröcklein sehen, die ich ausgestreut habe, sie zeigen uns den Weg nach Haus.«

Der Mond kommt und sie machen sich auf die Suche, aber sie finden kein Bröcklein mehr, weil abertausend Vögel in Wald und Flur sie aufgepickt haben. Hans sagt zu Gret:

»Wir werden den Weg trotzdem finden.«

Doch bei aller Anstrengung - sie würden keine Möglichkeit auftun, sich nahezu lichtloser Bedingungen in freier Wildbahn zu orientieren - gehen sie eine ganze Nacht und noch einen Tag, sie gelangen aber nicht aus dem Dickicht heraus. Ihre einzige Nahrung besteht aus einigen Beeren, die am Rand des Pfades wachsen. Und weil sie aufgrund der Strapazen erneut von lähmender Müdigkeit in den Schlaf gezwungen werden, verbleiben sie insgesamt 3 Tage im Tann ohne jegliche Hilfe. Wenn das so weiter ginge, müssten sie hier wohl verrecken, denkt der Bruder, der sich soeben ausmalt, wie schön es wäre, so etwas wie ein Mobiltelefon zur Hand zu haben, um Kumpels um Beistand anzutelefonieren. Doch damit müsste er sich wahrscheinlich, so wie es gegenwärtig aussieht, noch um Jahrhunderte gedulden müssen.

Als es dann auf Mittag angeht, erblicken sie plötzlich auf einem Ast ein schneeweißes Vöglein, das so lieblich tiriliert, dass sie prompt stehen bleiben und seinem Sang lauschen. Und wie es dann endet, schwingt es die Flügel, fliegt in die Richtung eines sonderbaren Häuschens, auf dessen First es sich setzt. Im Nähertreten stellen beide mit Staunen fest, dass es vollständig aus süßem Backwerk gebaut zu sein scheint, sogar die Fenster sind aus hellem Zucker gegossen.

»Das müssen wir ausnutzen«, befindet Hans, der sofort die einmalige Chance begreift. »Ich werde vom Dachstein essen und du solltest dich über die Scheiben hermachen, sie schmecken süß«, redet er, die Fingerspitze leckend, mittels der er soeben die Tatsache überprüft hat. Hans langt in die Höhe und bricht sich ein wenig vom Dach ab, um zu sehen, wie es ihm mundet. Gret stellt sich an die Zuckerverglasung, leckt erst, und knabbert sogleich daran. Dann ruft plötzlich eine heisere weibliche Stimme aus dem Stubenfenster:

»Knusper, knusper, knäuschen; wer knabbert an meinem Häuschen?«

Die Kinder sind nicht aufs Maul gefallen und antworten frech:

»Der Wind, der Wind, das himmlische Kind.« Sie machen sich nicht viel aus der Frage und speisen unvermittelt fort. Hans bricht sich ein nächstes Stück ab und Gret stößt gleich eine gesamte Fensterscheibe heraus, um sie sich auf der Stelle einzuverleiben. Plötzlich schwenkt die Tür auf und eine Frau mit strengen Gesichtszügen und seltsam legerer Bekleidung baut sich im Türgewände auf. Hans und Gret bekommen ob des ungewöhnlichen Anblicks der Waldbewohnerin einen Schreck und lassen die Esswaren gen Boden fahren. Die Fremde wiegt schelmisch den Kopf hin und her, sie redet mit großen unechten Zähnen im Mund:

»He, ihr Kids! Wer hat euch bloß so tief hier in den Wald geschickt? Kommt nur herein, ihr sollt meine Gäste sein und es wird euch auch kein Leid geschehen.«

Wer so scheinheilig psalmodiert, hat gewiss etwas zu verbergen, kombiniert Hans, aber was sollten sie tun, als mit ihr zu gehen? Sie fasst beide an den Händen und führt sie ins Innere des Häuschens. Dort tischt sie gutes Essen auf; Pfannkuchen mit Zucker, Äpfeln und Nüssen; zu trinken gibt es frische Milch. Daraufhin werden ihnen zwei Betten schön weiß aufgedeckt, Hans und Gret legen sich hinein und meinen, sie befänden sich im Himmel. In Wirklichkeit ist die Frau aber eine polizeilich gesuchte Juwelendiebin. Ihre schlimmste Eigenschaft stellt aber ihre kannibalisch-pädosexistische Neigung dar. Die Bürger der umliegenden Kommunen sind im Bilde darüber, dass die Menschenfresserin und Vergewaltigerin sich unauffindbar ins Dickicht geschlagen hat, worin sie sich den Umstand der Armseligkeit von Leuten zu nutze macht, die aus Gründen des Überlebenskampfs ihren leiblichen Nachwuchs wie Hunde in der Wildnis aussetzen. Den örtlichen Behörden sind diese haarsträubenden Umstände bekannt, sie sehen sich aber außerstande dahingehend Abhilfe zu schaffen, mithin die Täterin zu stellen. Das Brothäuslein dient also nur dazu, verirrte Kinder anzulocken und einzufangen, was ihr in Person von Hans und Gret erneut vortrefflich gelungen ist. Hat sie sie erstmal beim Schopfe, wird sie mit ihnen ihre unzüchtigen Spielchen treiben und sie zum illustren Finale als Festmahl verspeisen. Die böse Hexe, die sich sonst als harmlose Kräuterfrau ausgibt, besitzt eine Witterung, ähnlich wie ein wildes Tier. Sie spürt, wenn Kinder sich ihrer Behausung nähern und als Hans und Gret hinzu treten, raunt sie sich voller Hohn im Stillen zu:

»Die sind schon jetzt so gut wie gefangen. Sie werden mir nicht wieder entwischen.«

In der Frühe des beginnenden Morgens ist sie schon wach und schleicht sich ins Zimmer der Kinder. Dort betrachtet sie voller Wonne die roten Bäckchen der beiden und malt sich dabei aus, was es für ein Festschmaus würde.

Mit Freude registriert sie darüber hinaus, dass Hans sich im Begriff sieht, ein stattlicher junger Mann zu werden, der ihre weiblichen Gelüste insbesondere herausfordert. Bislang hat sie sich Hilfsmittel für die vaginale Stimulation aus Kerzenwachs gezogen, wohingegen er jetzt seine possierlichen Händchen in dieser Hinsicht selbst ein wenig anstrengen könnte. Zu diesem und jenem Zweck muss er ein wenig zu Kräften kommen, weiß die Hexe, wofür sein Schwesterchen in Form deliziöser Verköstigung umgehend zu sorgen hätte. Bevor er also richtig wach geworden ist, packt sie Hans beim Ohr, zerrt ihn in einen kleinen Stall und sperrt ihm das Gitter vor der Nase zu. Er lamentiert lauthals, was ihm aber nichts nützt, weil sie ein Vorhängeschloss in den Riegel gesperrt hat. Dann geht sie zu Gret, rüttelt sie wach und herrscht sie an: »Steh auf, Faulenzerin! Hol Wasser und koch deinem Bruder was Leckeres. Ich will ihn mästen, dass er fett wird, und dann mit Möhren und Salzkartoffeln verspeisen.«

Gret fängt bitterlich an zu weinen. So sehr sie sich auch den Forderungen der anderen widersetzt, es würde ihr am Ende nichts nützen. Sie muss tun, was die Hexe verlangt. Andererseits kommt es ihr in den Sinn, dass der eben geschilderte Fakt dem Straftatbestand des Kannibalismus gleichkommt. Sie hat davon gehört, weil ihr Vater gern Zeitung liest, und er hat gesagt, dass man nach einer Frau suche, die versteckt im Wald lebt und von den Eltern ausgesetzte Kinder äße. Gret ist zwar noch ein kleines Mädchen, kapiert aber immerhin so viel, dass Vater und Stiefmutter genau das mit ihnen getan haben: Söhnchen und Töchterchen im tiefen dunklen Wald in ihrer Not ausgesetzt. Das hätten die Eltern ihnen doch ehrlich sagen können, findet Gret. Nun müsste sie sehen, wie sie der kannibalischen Alten den Garaus machte. Aber ihr würde, dessen ist sie sich sicher, etwas Passendes dazu einfallen. Irgendwann begeht die Menschenfresserin einen Fehler und dann ist sie geliefert.

Nun wird dem eingesperrten Bruder das beste Essen gekocht, seine Schwester dagegen muss sich mit Resten und Küchenabfall begnügen. Jeden Morgen schleicht die Hexe zum Ställchen und ruft: »Hans! Streck deinen Finger heraus, damit ich fühle, ob du bald fett bist!«

Der Eingekerkerte merkt schnell, woher der Wind weht und versucht daher einen Trick. Er hält ihr ein Knöchlein heraus, was er dort findet und kann die Hexe somit überlisten. Sie hat trübe Augen und er würde ein wenig Zeit herausschinden, in der sich noch Dinge ereigneten, doch irgendwann würde sie zweifelsohne dahinter kommen und dann wäre er fällig.

Als vier Wochen vergangen sind, will die Hexe nicht mehr so recht daran glauben, dass Hans nicht fett werden will und heizt unversehens den Ofen an.

»He, Gret!, ruft sie dem Kind zu. Sei fleißig und hole Wasser! Hans mag fett oder mager sein, morgen werde ich ihn schlachten und kochen.«

Dass arme Schwesterchen schluchzt steinerweichend, als es das Wasser heran trägt und die Tränen fließen ihm wie Bäche die Backen herunter. »Lieber Gott, hilf uns bloß dieses eine Mal«, presst sie heraus. »Hätten uns nur die wilden Tiere vorher im Wald gefressen, so wären wir wenigstens gemeinsam gestorben.«

»Spar dir dein Gejammer!«, schilt die Hexe. »Es hilft dir alles nix. Wir wollen erst Brot backen. Ich habe schon den Ofen angeheizt und den Teig geknetet.« Sie stößt das arme Kind zum Herd, aus dessen Klappe schon die Funken heraus stieben.

»Kriech hinein!«, befiehlt sie unbarmherzig. »Und sieh nach, ob genug Holz angelegt ist, damit wir das Brot hineinschieben können!«

Wenn Gret aber darin verschwindet, wird sie die Ofentür zu machen. Sie soll darin rösten und dann würde sie es auch aufessen. Eine ultimative Situation, in der eine rettende Eingebung vonnöten wäre, begreift die andere, der klar wird, dass nur Sich-dumm-stellen hülfe.

»Ich bin doch nur so kurz, wie soll ich's denn machen?«

Die Hexe weiß, dass es nur eine Ausflucht bedeutet, doch allzu gern will sie wissen, wie es tatsächlich um den Brennvorgang steht. Sie traut dem Zeugnis der Kleinen nicht, will sich dessen lieber eigener Augen versichern und steckt kurzerhand den Kopf durch die Klappe. Im nächsten Moment gibt ihr Gret einen Stoß von hinten, der sie gegen die glühende Herdwand fahren lässt. Das Gesicht der Frau zischt vernehmlich, es schrumpft zu einer schwarz-braunen Kruste zusammen, was sie in die Höhe schnellen lässt, wo sie mit dem Scheitel, der ebenfalls in Flammen aufgeht, gegen die Ofendecke stößt. Es dauert nur Sekunden, in denen sich der Kopf so stark erhitzt, dass das Hirn darinnen zu sieden beginnt, sodass, begleitet von einem Knall und einer Dampfwolke, der Schädelknochen platzt und seinen Inhalt der Gluthitze preisgibt. Die Menschenfresserin kann nicht mal einen Schrei ausstoßen, so schnell geschieht alles, was Gret um so mehr freut, weil sie sie nicht leiden hören muss. Dann läuft sie stracks zu ihrem Bruder, entriegelt das Ställchen und ruft: »Hans! Wir sind erlöst. Die Hexe ist tot!«

Hans springt aus dem Käfig wie ein Vogel hervor, als ihm die Tür aufgemacht wird. Ach, wie freuen und küssen sie sich, weil sie sich nicht mehr zu fürchten brauchen. Dann durchstreifen sie die Zimmer des Hauses und entdecken dabei Truhen, gefüllt mit Gold, Perlen und Edelsteinen.

»Die sind viel besser als Kiesel!«, jubelt Hans und steckt sich, soviel davon hinein gehen, die Taschen voll und Gret ruft: »Ich will auch etwas mit nach Hause bringen«, und füllt sich die Schürze auf.

»Komm, Beeilung! Wir wollen von hier fort kommen, aus dem elenden Hexenwald«, mahnt sie der Bruder.

Als sie ein paar Stunden gegangen sind, gelangen sie plötzlich an einen breiten Fluss.

»Hier können wir nicht so ohne weiteres hinüber«, sagt Hans. »Ich sehe keinen Steg und keine Brücke.«

»Hier fährt auch kein Bötchen«, stellt Gret fest. »Aber da schwimmt eine weiße Ente. Wenn ich sie bitte, bringt sie uns hinüber.«

An dieser Stelle sei vom Autor vermerkt, dass es physisch gesehen nicht möglich wäre (auch nicht hintereinander), dass eine normale Ente es schaffte, die Kinder trockenen Fußes ans andere Ufer zu translozieren. Insoweit erlaube ich mir einen zeitlichen Vorgriff um mehrere Jahrhunderte und ändere die Geschichte wie folgt:

Gret ruft: »Entchen, Entchen, da stehen Hans und Gret - kein Steg und kein' Brücken - komm nimm uns auf deinen Rücken!«

Da kommt eine Servo-Power-Ente mit Lithium-Ionen-Antrieb angeschossen, schultert beide Kinder und strebt, eine Bugwelle vor sich her treibend, mit ihnen bis ans andere Ufer. Dort angekommen, danken sie lieb und gehen weiter vor sich hin, bis ihnen der Wald bekannter und bekannter vorkommt. Als sie just das elterliche Haus erblicken, fangen sie an zu rennen, stürzen in die Stube hinein und fallen ihrem Vater um den Hals. Der Mann hat keine frohe Minute gehabt, seitdem er die Kinder im Wald gelassen hat, seine Frau aber ist an Schwindsucht gestorben. Gret schüttet ihre Schürze aus, sodass Perlen und Edelsteine in der Stube herum purzeln und Hans wirft eine Handvoll nach der anderen aus seiner Tasche hinzu. Jetzt sind sie alle Sorgen los und leben in lauter Freude bis ans Ende ihrer Tage zusammen.

Mein Märchen ist aus - du baust dir ein Haus - und tust dir dort fein - Grimms Märchen mit rein.

Impressum

Texte: Arne Siegel
Bildmaterialien: Arne Siegel, Symbole www.ulead.de
Tag der Veröffentlichung: 01.05.2014

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