Immer wenn Hellion und Snake aufeinandertreffen, fliegen die Fetzen, aber auch die Funken. Eines Tages nimmt Snake exklusiv an einem von Hellions Survivalkursen im kolumbianischen Regenwald teil.
Bald geht es um mehr als nur einen Kurs, sondern um das nackte Überleben. Im Angesicht des Todes können sie nicht länger die starken Gefühle und die Leidenschaft verleugnen, die sie füreinander empfinden.
Snake von den Devil’s Neighbors
Im Regenwald von Kolumbien
Der Entsetzensschrei einer Frau lässt mich herumfahren. Ich weiß, dass man im Regenwald vorsichtig sein muss, denn überall lauern Gefahren. Dennoch beeile ich mich, zu der Frau zu gelangen. Es scheint wirklich dringend zu sein.
Wir sind ein Team von fünf Leuten: zwei Frauen und drei Männern. Eine der Frauen ist Hellion, welche die Survivalkurse leitet.
Hellion ist Mitglied im Schwester-Motorradclub, den Devil’s Daughters, zu meinem Club, den Devil’s Neighbors. Hellion scheint mich nicht zu mögen, aber da ich mich zukünftig öfters im Regenwald aufhalten möchte, ist für mich die Teilnahme an diesem Kurs eine gute Investition.
Endlich erreiche ich die vor Angst zitternde Frau. Kelly, die kleine Blondine aus Denver, steht wie gebannt zwischen den gewaltigen Bäumen und starrt aus ihren großen, blauen Augen auf eine riesige Schlange, die unweit von ihr ruhig auf dem Boden liegt.
»Eine Giftschlange«, keucht sie entsetzt, als ich näher zu ihr herantrete. Kelly ist ganz blass geworden und sieht aus, als würde sie jeden Moment umkippen.
»Keine Panik, Kelly. Bleibe ruhig. Ich bin gleich bei dir«, versichere ich ihr, als ich die letzten Yards zu ihr zurücklege.
Dann fällt mein Blick auf die Schlange. Neugierig betrachte ich das gewaltige Tier, das sich nicht aggressiv verhält. Es handelt sich um eines der selteneren Exemplare mit oranger Färbung, aber die dunkel umrandeten Sattelflecken auf dem Rücken der neun feet langen Schlangen zeichnen sie eindeutig aus.
»Das ist eine Boa constrictor, aber keine Sorge, die ist nicht giftig. Aufgrund der Größe könnte es sich um ein weibliches Exemplar handeln«, sage ich, um Kelly zu beruhigen, aber Kelly scheint meine wissenschaftliche Neugierde nicht zu teilen.
»Sie ... sie wollte sich auf mich stürzen. Von dem Baum da oben.« Sie deutet nach oben.
»Mach dir keine Sorgen. Wie es aussieht, verdaut sie gerade etwas Größeres. Ich glaube kaum, dass sie sich vom Baum auf dich stürzen wollte. Ich denke eher, sie ist herabgestürzt, weil einer der Äste morsch war.« Schließlich liegt ein gar nicht so kleiner, abgebrochener, morscher Ast neben der nahezu bewegungslosen Schlange, die soeben sehr mit ihrer Verdauung beschäftigt ist.
Ängstlich sieht Kelly mich an. »Aber wirklich sicher bist du dir nicht? Sie könnte trotzdem gefährlich sein.«
Ich trete näher zu Kelly heran. »Das ist im Moment unwahrscheinlich. Außerdem gehören wir nicht zu ihrem Beuteschema.«
Als die Schlange mich bemerkt, verschwindet sie im Unterholz.
»Gott sei gepriesen«, sagt Kelly sichtlich erleichtert und atmet tief durch. Sie streicht sich eine verschwitzte, blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Du hättest der Dame wirklich helfen können, anstatt nutzlos herumzustehen«, fährt mich Fred an, der auf uns zugelaufen kommt. Er ist etwa um die Vierzig, hager, glatzköpfig und besserwisserisch.
»Was war denn los?«, vernehme ich Hellions Stimme, die sich uns nähert. »Ich sagte doch, dass ihr euch nicht so weit von mir entfernen sollt. Und nehmt immer eure Stöcke mit.«
Sie hat recht. Wir hätten wirklich in ihrer Nähe bleiben sollen.
Fred sieht mich unfreundlich von der Seite her an, bevor er seinen Blick auf Hellion richtet. »Eine Schlange hat Kelly angegriffen, aber Dylan stand nur nutzlos daneben.«
Dylan ist mein bürgerlicher Name, mit dem Hellion mich bei den Leuten vorgestellt hat.
»Eine Boa constrictor ist vom Baum gefallen. Vermutlich ist der Ast abgebrochen«, verteidige ich mich. Von wegen angegriffen ... Der Typ übertreibt es schamlos.
»Ihr solltet auch immer mal wieder nach oben schauen. Es könnte sich ja auch mal ein Puma im Geäst aufhalten, aber im Allgemeinen sind bisher mehr Leute im Dschungel von herabfallenden Ästen oder umgestürzten Bäumen erschlagen worden, als dass sie Pumas, Schlangen oder Spinnenbissen zum Opfer gefallen wären.«
Fred lächelt gehässig, als er mich ansieht. »Außerdem ist uns wegen dir unser Schlangen-Ragout durch die Lappen gegangen.«
»Streitet nicht, fangt irgendwas, aber haltet euch in meiner Nähe auf. Außerdem solltet ihr eure Stöcke wirklich immer dabeihaben. Ohne geht es im Dschungel nicht, da man das Unterholz nicht mit den bloßen Händen teilen soll wegen den Dornen, Spinnen und dergleichen«, sagt Hellion verschnupft und stapft davon.
Offenbar ist sie sauer, dass wir ihre Sicherheitsanordnungen nicht ganz beachtet haben. Das kann ich auch verstehen. Aber ich hatte interessante Tiere beobachtet und dabei meinen Stock ganz vergessen. Ich weiß, dass es hier gefährliche Kreaturen gibt und dass ich deswegen vorsichtiger sein muss und mich nicht so einfach ablenken lassen darf. Ich nehme mir vor, in Zukunft umsichtiger zu sein.
Sie hat jeden von uns neben den großen Stöcken und den Allzweckmessern auch eine Machete gegeben, mit der Kelly die Schlange hätte erledigen können, wenn sie ihr gefährlich geworden wäre. Aber in diesem Fall habe ich keinen Grund gesehen, der Schlange etwas zu tun, da diese sich friedlich verhalten und noch zwei yard von Kelly entfernt gewesen war, ohne sich ihr zu nähern.
Ehrlich gesagt habe ich in diesem Moment auch etwas anderes im Sinn gehabt, als unser Mittagessen zu erlegen. Die seltene Farbe der Boa constrictor hatte mich fasziniert. Ich bin mit Schlangen aufgewachsen. Meine Mutter hat zwei Boa constrictors. Daher kommt auch mein Spitzname, den ich seit frühester Kindheit besitze.
Das gehässige Grinsen weicht nicht von Freds Gesicht. »Dann bin ich mal gespannt, was du fängst, du Rocker-Verschnitt.«
»Ich bin ein Biker und kein Rocker.«
»Das ist doch dasselbe Pack.«
Ich überlege, ihn darauf hinzuweisen, dass die Kursleiterin selbst eine Bikerin ist, unterlasse es aber. Mit ihrem Khaki, dem Camouflage-Shirt und den streng zurückgebundenen, langen, dunklen Haaren sieht Hellion noch ein wenig aus wie jene aus, die sie vor nicht allzu langer Zeit mal gewesen ist: ein Mitglied der US-Army. Sie hat zu den Bodentruppen gehört im letzten Afghanistan-Krieg, und soweit ich gehört habe, ist das gar nicht gut für sie ausgegangen. Was auch immer damals passiert ist, muss sie zutiefst traumatisiert haben.
Schon mehrmals hat sie versucht, vom Kokain runterzukommen. Sie hat zu meiner platonischen Freundin Natalja gesagt, sie brauche den Stoff, um den Krieg zu vergessen, was ich auch verstehe. Substanzmittelmissbrauch ist recht häufig bei Kriegsveteranen. Wer weiß, was sie dort alles erlebt hat.
Mir wird sie es wohl kaum erzählen, denn sie hasst mich, was sie mir schon mehrmals unmissverständlich klargemacht hat. Ich muss wirklich verrückt sein, an einem ihrer Kurse teilzunehmen – schließlich gibt es ja auch noch andere Leute, die so etwas veranstalten –, aber ich muss Hellion zugestehen, dass sie mich bisher nicht schikaniert hat.
Kelly ist inzwischen mit Fred weggegangen. Ich entscheide mich dazu, eine kleine Runde zu laufen, während der ich mich nach Tieren umsehe, die ich erlegen könnte. Schließlich will ich nicht mit leeren Händen zu unserem Lager zurückkehren, wenn ich schon die Schuld daran trage, dass es nichts mit unserem Boa-constrictor-Ragout wird.
Fred wird es vor Hellion sicherlich so aussehen lassen. Ich weiß nicht, was er gegen mich hat, denn ich habe ihm nichts getan. Manchmal gibt es einfach keinen Grund dafür. Hasser gibt es immer.
Aufgrund meines Interesses an der Flora und Fauna des Regenwaldes und da ich mich vor der Abreise ein wenig kundig gemacht habe, kenne ich mich mit den hier heimischen Früchten doch ein wenig aus.
Ich bin sehr erfreut, ein paar Granadillas zu finden, die an lianenartigen Pflanzen wachsen. Diese Art von Passionsfrüchten finde ich besonders schmackhaft. So manches Mal war ich bereits ohne Hellion in Regenwäldern gewesen, wenn auch nicht zum Zwecke eines Survival-Trainings. Letzteres habe ich wirklich nötig.
Bevor ich die Früchte abpflücke, teste ich, wie schwer die Früchte sind. Auch sollte die Fruchthaut ein wenig schrumpelig sein, was ein weiterer Hinweis auf die Reife ist. Ich pflücke einige der Früchte ab, die für unsere kleine Gruppe genügen sollten, und kehre zu unserem Lager zurück.
Dort grillt Hellion zu meinem Entsetzen gerade Vogelspinnen.
Sie wendet sich zu mir um. »Da bist du ja endlich. Nur Früchte? Bist du Veganer oder was? Um leistungsfähig zu bleiben, brauchst du Protein. Komm her und iss ein, zwei Vogelspinnen.«
»Die rühre ich nicht an!«, sage ich vehement. Sie hätte so ziemlich alles von mir verlangen können, nur das nicht.
»Ich esse die auch nicht! Lieber hungere ich!«, sagt Kelly angewidert.
Hellion starrt mich erzürnt an. »Wir sind hier in einem Survivalkurs und nicht auf einem Kindergeburtstag.«
»Ich werde eine Schlange fangen, ein Beuteltier, einen Kaiman oder sonst irgendwas«, sage ich rasch.
»Und die Spinnen? Die kann ich dann wegwerfen oder was?«, schreit Hellion uns wütend an, woraufhin Kelly kreidebleich wird.
Ich scheine irgendwie einen wunden Punkt bei ihr getroffen zu haben, genau wie sie zuvor bei mir. Nur kann ich mich im Gegensatz zu ihr besser beherrschen, was wohl daran liegt, dass ich kein traumatisierter Junkie bin.
»Dann isst du sie halt«, antworte ich ruhig.
»Hier wird nichts verschwendet. Esst die verdammten Spinnen oder geht wieder heim«, schreit Hellion, sodass Kelly noch bleicher wird und Freds fieses Grinsen breiter. Sogar der stoische, ruhige John wirkt jetzt irritiert.
»Hellion, komm lass uns reden«, sage ich rasch, ergreife ihren Arm und ziehe sie hinter ein Gebüsch.
Ich senke meine Stimme, als ich meine Worte erneut an sie richte. »Du kannst das hier nicht auf diese Weise abziehen. Kelly und ich sind deine Kunden. Willst du dir etwa dein Geschäft verderben?«
»Verdammte Kunden seid ihr. Auf Solche kann ich verzichten.«
Ich sehe, dass sie stark schwitzt, ihre Augen glänzen und ihre Hände leicht zittern. Sie ist eindeutig auf Entzug. Hat sie denn keinen Stoff mitgenommen?
»Komm, sei vernünftig, Hellion, und mach dir nicht alles kaputt.«
»Mir etwas kaputt machen? Manche Leute sind einfach nicht geeignet für Survivalkurse, und du bist einer davon. Warum sollte mich das auch überraschen? Du bist doch so ein Vater-Söhnchen ... arbeitest bei deinem Alten in der Firma. Wird einem da als Lieblingssohn des Firmenchefs der Arsch gepudert? Ist man sich dann zu fein dafür, Spinnen zu essen?«
»Erstens haben manche Leute Arachnophobie, was man zu akzeptieren hat. Ich ...«
Sie unterbricht mich. »Rede dich nur raus, du Versager. Du bist ein verdammtes Weichei. Ich hätte es wissen müssen und deinen Antrag ablehnen sollen.«
»Aus dir spricht das verdammte Kokain, Hellion. Du hast verdammt nochmal die Verantwortung für die Leute hier und der kannst du nicht nachkommen, wenn du ein Junkie bist.«
»Ich habe alles unter Kontrolle, und ich bin verdammt nochmal verantwortungsbewusst. Und vor dir muss ich mich nicht rechtfertigen!«
»Nein, das musst du nicht, aber vor dir selbst. Geh in dich und denke über diese ganze Scheiße nach.«
»Du bist ein kleiner Klugscheißer oder was? Buchhalter und Berufssohn ...«
Diese Frau strapaziert meine Nerven ernsthaft.
»Ich weiß, dass du in Afghanistan gewesen bist, und für mich sieht das nach einem posttraumatischen Stresssyndrom aus. Warum bist du überhaupt als Berufssoldatin in die Army eingetreten?«, frage ich.
Sie starrt mich wütend an. »Sind wir auf einmal Psychologe geworden oder was? Misch dich nicht in Sachen ein, von denen du keine Ahnung hast. Und was mir in Afghanistan widerfahren ist, geht dich einen verdammten Scheißdreck an. Was verstehst du denn schon davon? Du warst doch die ganze Zeit in deinem verdammten Sesselfurzer-Job, während sie meinen Arsch fast weggeschossen haben. Du weißt doch überhaupt nicht, wie das ist.«
»Nein, das weiß ich nicht.« Zumindest nicht aus erster Hand ...
»Dann misch dich verdammt nochmal nicht in meine Angelegenheiten ein.«
»Ich mische mich nicht ein. Ich gebe dir nur einen gut gemeinten Rat: Komm von den Drogen runter, sonst bringst du dich eines Tages um und vielleicht noch ein paar andere mit.«
»Verpiss dich!«
Und genau das tue ich, denn weitere Diskussionen sind hier nutzlos. Entweder sie kapiert es oder eben nicht ... Ich kann ihr dann auch nicht mehr helfen.
Hellion bringt Kelly und mich zu jener Stelle zurück, an der wir aufgebrochen sind. Es ist offensichtlich, dass ihr diese Unterbrechung gar nicht passt.
Fred lässt es sich nicht nehmen, dabei ständig gehässige Sprüche von sich zu geben, bis ich ihn ernsthaft zurechtweise. Der große, breite John hingegen nimmt das Ganze mit einer bewundernswerten Gelassenheit.
Dort gibt es auch wieder Handyempfang, sodass Hellion ihre Freundin Granny Castro und einen ihrer Kumpels anrufen kann, welche Kelly und mich mit ihren Motorrädern abholen und zurück in die Dschungelstadt Leticia bringen.
Hellion
Ein halbes Jahr später in Kolumbien
Natalja sitzt hinter mir auf meiner geliehenen Maschine, in diesem Fall einer Daelim Daystar Black Plus VL 125 Fr custom. Die ist natürlich in keiner Weise mit meiner Harley vergleichbar, aber hier in dem unwegsamen Gelände geradezu ideal. Schließlich gibt es keine befestigte Straße nach Leticia, und Motorräder gehören hier zu den bevorzugten Fortbewegungsmitteln, was meinen Schwestern und Brüdern aus den Motorrad-Clubs sehr entgegenkommt.
Wir fahren ein paar Wege entlang, die man bestenfalls als Trampelpfade bezeichnen könnte. Es ist schwül und heiß wie immer.
Trotz des Dröhnens meiner Maschine vernehme ich das Quaken zahlreicher Frösche und die Gesänge vieler exotischer Vögel. Unzählige Arten von Kolibris gibt es hier, und der Amazonas-Regenwald ist bekannt für seine um die Hundert Arten von Pfeilgiftfröschen. Selbst ich weiß das, obwohl ich mit Fröschen wirklich nichts am Hut habe.
Wir sind zu Zoes Enttäuschung nicht den ganzen Weg von den USA hier runtergefahren, wie wir es ursprünglich vorgehabt hatten. Für sie als Road Captain unseres Clubs wäre das die ultimative Herausforderung gewesen, und sie hat so etwas noch nie gescheut.
Schön wäre es gewesen, aber auch kaum zu bewerkstelligen. Selbst was die großen Fahrten betrifft, die wir sonst veranstalten, hätte das schon allein aus Kostengründen jeden Rahmen gesprengt.
Der Weg wäre einfach zu weit und kompliziert gewesen. Zu viele Länder liegen dazwischen, für die wir Genehmigungen und Visa gebraucht hätten.
Außerdem gibt es zwischen Panama und Kolumbien etwa 100 Meilen straßenlosen Dschungel. Spätestens da hätten wir unsere Maschinen verschiffen oder per Flugzeug transportieren lassen müssen, was ein teurer Spaß gewesen wäre, der sich gleich pro Motorrad auf umgerechnet ungefähr tausend US-Dollar beläuft – von den ohnehin steigenden Spritpreisen mal abgesehen. Und für den Hin- und Zurücktransport per Flugzeug von den USA aus hätte man per Maschine um die 2.500 USD löhnen müssen.
Daher sind wir lieber bis nach Leticia geflogen und haben uns bedarfsgerecht in Kolumbien ein paar Maschinen geliehen, was pro Motorrad lediglich fünfzig kolumbianische Pesos pro Tag kostet. Das entspricht in der Stadt Leticia um die siebzehn US-Dollar, und die Verleihfirmen verlangen noch nicht mal eine Kaution.
Das sind zwar keine Harleys oder Indians, aber dafür müssen wir uns keine Sorgen machen, dass unsere teuren Schätzchen Seewasser abbekommen könnten, was den Rost doch sehr fördert, oder sonstige Transportschäden erleiden.
Im Grunde ist es ja kein gewöhnlicher Clubausflug, bei dem man befreundete Clubs besucht oder ein Rennen veranstaltet. Meine Schwestern und Brüder wollten einfach wissen, wo ich mich herumtreibe, wenn ich für die Devil’s Daughters mal ausnahmsweise nicht verfügbar bin. Von meinen Erzählungen über Kolumbien angeregt, wollten immer mehr Mitglieder unserer Clubs dieses Land kennenlernen.
Natalja war mir in den letzten Monaten eine sehr große Hilfe gewesen. Ich muss zugeben, dass es mir schwergefallen ist, ihre Hilfe anzunehmen, und ich es ohne sie nicht geschafft hätte, im letzten halben Jahr vom Kokain wegzukommen. Nicht zuletzt lag das an ihrem zinslosen Kredit, mit dem ich die Entziehungskur in einer Klinik habe finanzieren können und ihrer endlosen Geduld mit mir.
Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber Snakes unverblümte Worte damals im Dschungel waren augenöffnend für mich gewesen. Nicht länger konnte ich mir einreden, alles unter Kontrolle zu haben, denn das hatte ich nicht mehr. Er mag ein verwöhntes Bürschlein sein, aber in dieser Hinsicht hatte er leider recht gehabt.
Eigentlich ist Natalja Property der Devil’s Neighbors, auch wenn sie keinen festen Partner hat. Sie steht also unter deren Schutz, was man an ihrer Weste mit dem entsprechenden Patch erkennt. Ich hoffe, sie findet eines Tages den Mann fürs Leben.
So sehr ich Kolumbien liebe, so erinnert es mich immer sehr an Faun, einen meiner besten Freunde aus der Army, der gefallen ist, genau wie etwas später Jake, mein väterlicher Freund und Mentor. Letzteren habe ich sogar sterben sehen, und ich hatte den Ort aufgesucht, an dem Faun sein Leben ausgehaucht hat. Diese Bilder verfolgen mich bis heute. Es ist kein Wunder, dass ich kokainsüchtig gewesen bin.
Etliche Ex-Soldaten trinken viel Alkohol, um abends einschlafen zu können. Bei mir war es umgekehrt gewesen. Ich habe gekokst, um möglichst nicht einzuschlafen in der Hoffnung, irgendwann so erschöpft zu sein, dass ich in einen traumlosen Schlaf falle, was leider nicht so geklappt hat, wie ich mir das vorgestellt habe.
Heute ist mir klar, dass ich niemals mit dem Kokain hätte anfangen sollen, aber hinterher weiß man ja bekanntlich immer alles besser. Die Tabletten vom Arzt hatten ohnehin nichts gegen meine Albträume, die Stimmungsschwankungen und Erinnerungslücken gebracht. Ich hatte mich so alleingelassen gefühlt, hatte aber auch die Scheu gehabt, mich bloßzustellen nach der sehr negativen Erfahrung mit meinem damaligen Psychiater.
Außerdem sind hier Drogen viel zu leicht zu bekommen ... Bis vor ungefähr zehn Jahren war Kolumbien noch ein Schauplatz von Drogenkriegen gewesen. Mächtige Drogenkartelle haben gegeneinander und gegen die Regierung gekämpft. Leticia insbesondere war ein Zentrum für den Drogenschmuggel zwischen Kolumbien, Brasilien und Peru gewesen, da hier in dieser Dschungelstadt die Grenzen dieser drei Länder aufeinandertreffen. Im Untergrund läuft da natürlich noch einiges, obwohl sich am Stadtrand eine Militär-Basis befindet.
Daher ist es kein Wunder, dass die Kolumbianer sowohl süßen Obstsalat als auch heiße Schokolade zusammen mit Käse servieren. Nur Drogenkonsum kann eine hinreichende Erklärung für derartige kulinarische Vorlieben sein.
Aber selbst zu meinen schlimmsten Zeiten habe ich solche Kombinationen nicht gegessen, zumindest nicht, soweit ich mich daran erinnern könnte. Aber man weiß ja nie, denn leider habe ich zu viele Erinnerungslücken. Womöglich habe ich Sardinen-Milkshake und Brokkoli-Saft getrunken und Schokolade mit Senf gegessen. Wundern würde mich nichts mehr ...
Wenn ich nicht so verdammt gut wäre in meinem Amt, hätte mich die Kokainsucht vermutlich bereits meinen Status im Motorradclub gekostet. Aber gerade die Motorradclubs sind recht tolerant, was Kriegstraumata betrifft, auch wenn der Psychiater von Fort Gilles mir genau dieses Trauma abgesprochen hat.
Viele der Gründer der älteren Clubs waren Vietnamveteranen. Es gibt sogar einen Club, der dies im Namen trägt, den Vietnam Vets Motorcycle Club. Als viele sich Leute damals gegen die Vietnam-Veteranen ausgesprochen hatten, waren die Clubs tolerant und vorurteilsfrei. Oft waren sie die Einzigen gewesen, bei denen sie sich wirklich angenommen gefühlt hatten.
Der Wind weht durch mein Haar, und tief atme ich den Duft der Freiheit ein. Hohe Bäume säumen die Straße, auf der wir entlangfahren, meine Schwestern, Brüder und ich. Das ist meine Vorstellung von Leben. So lebendig habe ich mich lange nicht mehr gefühlt.
Wie schon damals bei vielen Vietnam-Veteranen war auch bei mir der Motorradclub meine Rettung gewesen, mein Anker. Und Natalja natürlich. Sie ist eine der wenigen wahren Freunde, die ich in meinem Leben hatte.
Viele Leute dachten, eine Freundschaft zwischen der sanften lieben Natalja und mir, der unbeherrschten Hellion, würde nie funktionieren, aber wir haben sie eines Besseren belehrt. Ich bin froh, sie auch in Leticia heute an meiner Seite zu haben.
Die Stadt Leticia ist nicht nur das Tor zum Amazonas-Regenwald, sondern auch ein Schmelztiegel dreier Kulturen, was sich unter anderem in der Küche widerspiegelt. An Leticia grenzt die brasilianische Stadt Tabatinga, während sich auf der nahegelegenen Insel des Amazonas, der hier noch Rio Solimões heißt, die kleinere peruanische Ansiedlung Santa Rosa befindet.
Die Grenzen sind wenig reguliert. Man bekommt einfach einen Ausgangs- und anschließend einen Eingangsstempel. Und wenn man etwas nicht ganz Legales dabei hat, gelingt es einem oft, die Grenzbeamten mit Süßigkeiten zu bestechen.
In Leticia, der südlichsten Stadt Kolumbiens, findet man das Beste aus allen Welten. Bunte Häuser säumen die Straßen, und Palmen wachsen überall. Man sieht nur wenige Autos und wenn, dann meistens Jeeps und kaum Taxis, außer den Motorradtaxis, die man an den knallgelben Westen ihrer Fahrer erkennt.
Die meisten Leute sind zu Fuß, mit dem Fahrrad, dem Mofa oder dem Motorrad unterwegs. So viele Motorradfahrer wie hier findet man wohl kaum irgendwo anders auf der Welt. Ich kann gar nicht sagen, wie ich diese Stadt in den letzten Monaten vermisst habe.
Von den zahlreichen Straßenhändlern erwerben wir Perro Caliente, die kolumbianische Version von Hotdogs, sowie exotische Früchte.
Mit beiden Daumen öffne ich die dicke, ledrige, lila Schale einer Mangostán, die kaum größer ist als eine kleine Tomate. Das Fruchtfleisch ist weich, saftig und duftet herrlich. Der Geschmack erinnert mich an Aprikosen und Pfirsiche, nur dass ich gegen diese allergisch bin, die Mangostán hingegen hervorragend vertrage, und sie mir sogar noch köstlicher vorkommt als die vorgenannten anderen Früchte.
La Palenquera, also die Dame, die diese Früchte in einem Korb auf ihrem Kopf trägt, hat auch Granadillas dabei, die sie uns feilbietet. Erinnerungen kommen in mir hoch. Seit Snake damals seine im Dschungel zurückgelassen hat, habe ich keine mehr gegessen. Diese hatten John und Fred sich geteilt, denn ich hätte nichts davon runtergebracht an jenem Tag. Selbst die Vogelspinnen hatten ihren Geschmack für mich verloren, da ich mir bewusst geworden bin, was für ein drogensüchtiges Wrack ich war. Ich hatte Snakes schonungslose Worte wirklich gebraucht ...
Selbst Dawn, die sonst kein Blatt vor den Mund nimmt, hat mich ach so arme, von Albträumen geplagte Kriegsveteranin nicht allzu sehr belangt, solange ich meinem Amt im Club gut nachgekommen bin, und daran gab es ja wirklich nichts auszusetzen. Nur mein Privatleben lag in Scherben, Schutt und Asche.
Ich genieße gerade den letzten Bissen meiner Mangostán, da begegnet mein Blick dem Snakes, und ich kann einfach nicht wegsehen. Es ist schwer, an seinen dunklen Augen zu erkennen, was er denkt. Ich war damals wirklich nicht nett zu ihm gewesen, aber ich bin ohnehin kein allzu netter Typ. Nette Leute werden ausgenutzt und sterben zu jung ...
Snake trägt nur eine dünne, schwarze Lederweste zu der schwarzen Hose, weswegen man recht viel von seinem muskulösen Oberkörper sehen kann. Für einen Bürohengst – einen verdammten Buchhalter – sieht er unverschämt gut aus, und damit meine ich nicht nur seine Muskeln. Vermutlich tobt er sich heimlich in Leons Fitnessstudio aus. Aber nicht nur das, seine dunklen Augen sind wie geschmolzene Schokolade, und die halblangen Haare hat er nach hinten zurückgekämmt, was sein ausgeprägtes Kinn und die gerade Nase betont.
Gewaltsam reiße ich meinen Blick von ihm los, bevor er noch denkt, ich würde was von ihm wollen, denn das könnte ich gar nicht gebrauchen. Mit Sicherheit ist das nämlich nicht der Fall. Ich stehe nicht auf verwöhnte Kerle, die von Beruf Sohn sind, in der Firma ihres Vaters abhängen, um dort den ganzen Tag ihre Eier zu schaukeln, während andere Leute die Arbeit machen.
Solche Typen habe ich schon mehrmals kennengelernt, und ich kann sie nicht ausstehen. Meist sind die auch recht intrigant und hauen andere in die Pfanne, um sich selbst wichtig zu machen.
Meist gehen Snake und ich uns aus dem Weg, was auch besser so ist, denn wir vertragen uns einfach nicht. Welcher Teufel ihn geritten hat, dass er sich damals bei mir in den Survivalkurs eingeschrieben hat, weiß ich nicht. Jedenfalls habe ich ihm den Kursbeitrag abzüglich der bisherigen Kosten gutgeschrieben, was nicht jede Kursleiterin so macht, aber da ich selbständig bin, ist das meine Entscheidung gewesen, und das war mir eine Sache der Ehre. Man soll mir nichts nachsagen können, was mich dann vielleicht noch im Club verfolgt. Schließlich sind die Devil’s Neighbors unser Bruderclub. Aber auch wenn er kein Clubmitglied gewesen wäre, hätte ich das so gehandhabt.
»Nun zeig uns mal deine Lieblingskneipe«, fordert mich Red auf.
Er trägt seine Biker-Weste mit den üblichen Patches wie beispielsweise eines mit der 13 darauf, die für Marihuana steht, weil das M der dreizehnte Buchstabe des Alphabets ist. Soweit ich weiß, hat er diese Nummer auch auf seinem Schwanz tätowiert. Unter der Weste trägt er ein halb zerfetztes, schwarzes Shirt mit der Aufschrift I wasn’t born to follow. Vermutlich steht das für den Byrds-Song, der zum Soundtrack des Film-Klassikers Easy Rider gehört. Übersetzt bedeutet es, dass er nicht geboren wurde, jemandem zu folgen. Red ist der Bruder meiner Erzfeindin Zoe. Mit ihm komme ich eigentlich ganz gut klar.
Wir stellen unsere Maschinen vor Leonardo’s lavandería y bistro ab, wo ich mich oft rumtreibe, wenn ich mich in Leticia aufhalte. Die Kneipe ist einfach nur cool, und gleich nebenan kann man sich Zimmer anmieten.
Bolt, der Presi der Devil’s Neighbors, kratzt sich nachdenklich am Kopf. »Bist du dir sicher, dass das eine Kneipe ist? Wenn mich nicht alles täuscht, ist lavandería das spanische Wort für Wäscherei.«
»Es bedeutet Waschsalon«, berichtige ich ihn.
»Aber da steht doch, es wäre auch ein Bistro. Betreibt da die Mafia wohl ihre Geldwäsche?«, fragt Blade grinsend, dessen langer, hellblonder Zopf im Wind weht. Wegen der Hitze hat er sein Haar zusammengebunden. Blade betreibt zusammen mit Red einen Tattooshop in Beavers.
Ich sehe ihn an. »Es ist eine Wäscherei und ein Bistro zugleich. Esse, trinke und wasche deine Wäsche ist ihr Slogan.
Leonardo war der Vater des aktuellen Inhabers Jorge Herrera gewesen. Ursprünglich war es ein Waschsalon gewesen. Jorge hat Koch gelernt und wollte ein
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: 2017 Scarlett Draven
Bildmaterialien: Jimmy Thomas / RomanceNovelCovers, thonie321/Fotolia.com
Cover: 2017 Scarlett Draven
Tag der Veröffentlichung: 25.10.2017
ISBN: 978-3-7438-3802-4
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch widme ich meinen Leserinnen und Lesern sowie meinem besten Freund Ramied. Danke für die Ermutigung und dass Du für mich da gewesen bist, als ich ganz unten war. Ohne Dich hätte ich womöglich schon aufgegeben.