WildGreen
Eine Liebe in Irischgrün
Lurleen Kleinewig
Ireland is where strange tales begin
and happy endings are possible.
Charles Haughey
1
Natascha schlug die Augen auf und lauschte. Etwas hatte sie geweckt, und sie brauchte einen Moment, um herauszufinden, was es gewesen war: die Stille.
Ihre Zweizimmerwohnung zu Hause in Hannover lag zwar nicht gerade in der Innenstadt, aber in ihrem Viertel lebten überwiegend Familien und berufstätige Paare. Spätestens um sieben Uhr morgens war dort die Nacht vorbei. Hier jedoch, auf der Halbinsel Maugherow im Nordwesten Irlands, herrschte um die gleiche Uhrzeit nahezu vollkommene Ruhe. Die einzigen Geräusche stammten von den Seevögeln, vermutlich Möwen, deren Rufe von der Nähe zum Meer kündeten.
Das Meer. Natascha drehte sich auf die Seite, sodass sie aus dem Fenster blicken konnte, und zog die Bettdecke bis zu den Ohren hinauf. Es war empfindlich kühl in ihrem Schlafzimmer, weil sie über Nacht einen Fensterflügel offen gelassen hatte. Draußen war es bereits hell, und es schien zu nieseln. Nicht gerade ungewöhnlich für irische Verhältnisse.
Dass sie von jetzt an vier Monate lang in unmittelbarer Nähe des Atlantischen Ozeans leben würde, in diesem idyllischen Landstrich mit dem unaussprechlichen Namen Carrinaragh, überstieg momentan noch ihre Vorstellungskraft. Gestern Nachmittag war sie mit dem Flieger aus Hamburg in Dublin gelandet und mit ihrem Mietwagen gut zweieinhalb Stunden nach Sligo gefahren, ohne sich unterwegs auch nur ein einziges Mal zu verirren; eine Leistung, auf die sie insgeheim mächtig stolz war. Sie hatte sich mit ihrer Vermieterin an einer Tankstelle am Ortsausgang getroffen, und Caitríona hatte darauf bestanden, die zwanzig Kilometer bis zu ihrem Ferienhaus vor ihr herzufahren. Sie fand schnell heraus, warum. Allein hätte sie die Unterkunft niemals gefunden, nicht einmal mit Hilfe ihres satellitengesteuerten Navis. In Irland war es so eine Sache mit Straßennamen und Hausnummern – außerhalb größerer Städte existierten sie nämlich nicht. Ohne eine ortskundige Person oder eine sehr gute Wegbeschreibung war man in ländlichen Gebieten schlicht aufgeschmissen, selbst wenn mittlerweile Postleitzahlen – sogenannte Eircodes – eingeführt worden waren.
Natascha warf einen Blick auf ihr Handy. Erst kurz nach sieben. Um elf Uhr war sie schon wieder mit Caitríona verabredet, die mit ihr zu der Mietwagenstation in Sligo fahren würde, wo sie ihr Auto abgeben konnte. Gestern war es dafür zu spät und die Station bereits geschlossen gewesen. Für die Dauer ihres Aufenthalts in Irland durfte sie Caitríonas Zweitwagen nutzen. Das Angebot hatte ihre irische Gastgeberin während eines ihrer zahlreichen Telefonate in den vergangenen Wochen überraschend ausgesprochen. ›Er hat früher meiner Mutter gehört, und wir wollen ihn nicht verkaufen, aber eigentlich steht er nur rum. Wenn es dich nicht stört, eine kleine alte Klapperkiste zu fahren, kannst du ihn haben. Für einen Mietwagen bezahlst du in vier Monaten ja ein Vermögen.‹
Damit hatte sie zweifellos recht. Als Natascha vor rund einem halben Jahr den zaghaften – und zugegebenermaßen ziemlich verrückten – Plan gefasst hatte, einige Monate in Irland zu verbringen und dort einen Roman zu schreiben, hatte sie buchstäblich nichts in der Hand gehabt. Zumindest keinen Verlagsvertrag, der die Idee wenigstens ansatzweise gerechtfertigt hätte. Doch der Wunsch, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, war übermächtig gewesen, also hatte sie – zunächst nur aus Spaß – eine Liste verfasst mit den Dingen, die sie brauchen würde. Ein Auto hatte an erster Stelle gestanden, denn wie sollte sie sich sonst auf dem Land fortbewegen? Denn dass sie abgeschieden leben wollte, möglichst nah am Meer, war von Anfang an klar gewesen. Über öffentliche Verkehrsmittel brauchte sie sich da wirklich nicht den Kopf zu zerbrechen.
Natascha konnte sich noch nicht aufraffen, aus ihrem gemütlichen warmen Bett zu kriechen. Allerdings musste sie unbedingt Kaffee kaufen. Sie hatte am vorigen Abend in einem Supermarkt in Sligo die nötigsten Lebensmittel für die ersten Tage besorgt, bevor sie sich mit Caitríona getroffen hatte. Optimistischerweise war sie davon ausgegangen, im Ferienhaus eine gute altmodische Kaffeemaschine vorzufinden, doch es gab nicht mal einen Handfilter, nur einen Wasserkocher. Ihre gerade erworbene Packung Filterkaffee nützte ihr also nicht das Geringste. Obwohl es sie bei dem Gedanken schauderte, würde sie sich vorerst mit löslichem Kaffee über Wasser halten müssen. Den Tag mit Tee zu beginnen erschien ihr nicht gerade verlockend. Der silbernen Teekanne, die in der Küche auf der Arbeitsplatte stand, sah man an, dass sie oft benutzt wurde, aber sie hatte Tee noch nie viel abgewinnen können. Mangels Alternativen würde sie heute allerdings den Schwarztee probieren, den sie in einem der Küchenschränke entdeckt hatte. Mit viel Zucker würde sie das Experiment wohl überleben.
Schließlich stieg sie doch aus dem Bett und tappte zu ihrem Koffer, den sie gestern Abend nicht mehr ausgepackt hatte. Auf den alten blaugrauen Steinfliesen im Schlafzimmer lagen zwar dicke Läufer, aber Socken konnten definitiv nicht schaden, fand Natascha. Es war erst Mitte Mai, und in Irland war das noch weit vom Sommer entfernt.
Sie fischte aus dem Klamottenstapel auch eine Fleecejacke, die sie über ihr ausgeleiertes Schlafshirt zog, und ging in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Das altmodische Thermometer an der Hauswand außerhalb des Küchenfensters zeigte dreizehn Grad. Obendrein war aus dem Nieseln ein kräftiger Regen geworden. Huh!
Fröstelnd ließ Natascha Wasser in den Kessel laufen und starrte dabei aus dem Fenster. Das Grundstück, auf dem ihr Haus stand, befand sich am Fuß eines kleinen Hügels und war von üppig grünen Wiesen umgeben, so weit das Auge reichte. Nur der gepflasterte Hof mit der niedrigen Mauer trennte das Häuschen vom Weideland. Entlang der Zäune wucherten Schilfgras, dicht gewachsene Hecken und Bäume, die als Windschutz für die Tiere dienten, die normalerweise hier grasten. Derzeit war die Koppel rund um das Haus leer, doch wenn sie den Hals reckte, konnte sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein paar Schafe sehen, die sich hinter einem Gatter drängten. Laut Caitríona lag das Meer gleich hinter dem Hügel, nur einen Fußmarsch von nicht mal einem Kilometer entfernt.
Trotz des wenig einladenden Wetters zog es Natascha plötzlich nach draußen. Es gab so viel zu entdecken, und sie wollte keine Minute vergeuden. Mit dem Schreiben konnte sie morgen beginnen, wenn sie sich ein wenig eingelebt hatte.
Nachdem sie den Tee aufgegossen hatte, huschte sie ins Badezimmer und stellte die Heizung an. Caitríona hatte ihr gestern erklärt, wie alles funktionierte. Das Haus verfügte über eine Ölheizung für kalte Tage, und elektronische Durchlauferhitzer lieferten warmes Wasser. Die Feriengäste bezahlten ihren Strom normalerweise extra, doch Caitríona hatte ihr gezeigt, wie sie den Münzzähler austricksen konnte, indem sie den Deckel vom Münzfach abnahm und einfach dasselbe Geldstück wieder und wieder einwarf. ›Mit zwei Euro kommst du tagelang aus‹, hatte sie behauptet, und Natascha war insgeheim froh, dass ihre Mietvereinbarung einen Inklusivpreis beinhaltete. Zusätzliche Stromkosten hätten ihr Budget arg strapaziert, und ihr war wesentlich wohler, wenn sie einen Puffer für unvorhergesehene Ausgaben zurückbehalten konnte.
Zu ihrer großen Freude gab es im Wohn-Essbereich einen offenen Kamin. Sie sah sich bereits ganze Abende lang vor einem knisternden Feuer sitzen, den Laptop auf den Knien und einen Becher Kaffee in Reichweite. Bei dem Gedanken daran stieß sie einen wohligen Seufzer aus.
Der Tee, den sie aufgebrüht hatte, schmeckte überraschend gut. Ob das an dem angeblich so weichen irischen Wasser lag? Sie gab zwei Löffel Zucker hinein und nahm die Tasse mit ins Badezimmer. Die Fliesen waren in altmodischen Cremetönen gehalten, genau wie die Handtücher im Wandregal und der schon etwas verschlissene, aber frisch gewaschene Duschvorleger. Natascha lächelte in sich hinein, während sie sich auszog und das Haargummi löste, mit dem sie ihre schwere dunkelbraune Mähne gleich nach dem Aufstehen nachlässig zusammengefasst hatte. Sie mochte den leicht schäbigen Charme, der dem gesamten Haus anhaftete. Alles wirkte altbacken, angefangen bei den Schlafzimmermöbeln aus Kiefernholz bis hin zur Küche, deren Fronten ganz eindeutig aus dem letzten Jahrhundert stammten. Der bunte Überwurf, der das blassgrüne Sofa vor dem Kamin bedeckte, konnte nicht über die durchgesessene Sitzfläche hinwegtäuschen. Trotz seiner offenkundigen Abnutzungserscheinungen war das Häuschen bis in den letzten Winkel blitzsauber und mit lauter kleinen Annehmlichkeiten ausgestattet. Offenbar wurde es liebevoll gepflegt und instand gehalten von jemandem, der den Komfort von Wärmflaschen und Dosenöffnern zu schätzen wusste. Und der keinen Kaffee trank.
Eine halbe Stunde später parkte Natascha ihren Wagen vor dem örtlichen SuperValu, einem in Irland verbreiteten Supermarkt. Er befand sich in Grange, dem nächstgelegenen größeren Dorf. Dank des Navis hatte sie die kurvenreiche Strecke über schmale Nebenstraßen problemlos bewältigt. Von ihren ausführlichen Recherchen über die Gegend wusste sie, dass es von Grange aus nur ein Katzensprung bis zu einem herrlichen Sandstrand namens Streedagh Beach war. Einen Wegweiser nach Streedagh hatte sie unterwegs bereits entdeckt. Doch jetzt wollte sie erst einmal Kaffee kaufen.
Sie hatte schon bei ihren früheren Aufenthalten in Irland festgestellt, dass Lebensmittel ein wenig teurer waren als in Deutschland. Dennoch konnte sie dem Reiz des Neuen nicht widerstehen. Nach einer ausführlichen Erkundungstour durch den erstaunlich gut sortierten Laden nahm sie neben einem Glas löslichen Kaffee noch so luxuriöse Dinge wie Erdnussbutter, Frühstücksflocken mit Zimt- und Apfelgeschmack und eine Packung Hafermilch mit. Solange sie ihr Geld nicht täglich für Leckereien verprasste, sollten ein paar Extras hier und da sie nicht arm machen. Sie hatte noch nicht gefrühstückt und merkte, wie ihr beim Gedanken an ein Erdnussbuttersandwich das Wasser im Mund zusammenlief.
Als sie aus dem Supermarkt kam, wäre sie beinahe mit einem Mann zusammengestoßen, der anscheinend das Auto neben ihrem ansteuerte. Er trug lässige Outdoorklamotten und eine graue Strickmütze, unter der sich blonde Locken hervorschlängelten, und hatte wie sie den Arm voller Lebensmittel. Eine Sekunde, bevor sie ihn über den Haufen rannte – oder er sie –, blieb er abrupt stehen und grinste sie freundlich an. Er sagte etwas, das sie nicht verstand, weil ihr Gehirn noch nicht auf Englisch umgeschaltet hatte. Offenbar wollte er ihr den Vortritt lassen. Also lächelte sie nur verschämt zurück, wobei sie sich ziemlich dämlich vorkam, und presste ein leises »Thank you« hervor. Dann machte sie, dass sie zu ihrem Wagen kam. In Rekordgeschwindigkeit stieg sie ein, ließ ihre Einkäufe auf den Beifahrersitz fallen und schloss die Tür, alles in einer einzigen Bewegung. Puh! Wie peinlich. Sie schwor sich, in Zukunft besser aufzupassen.
In Deutschland wäre sie wahrscheinlich angeschnauzt worden, dass sie gefälligst nicht so dumm im Weg herumstehen sollte. Die Iren hingegen waren bemerkenswert freundlich, ohne dass es aufgesetzt wirkte; das war ihr schon bei anderen Gelegenheiten aufgefallen. Und wenn hier alle Männer in ihrem Alter so cool aussahen wie der Strickmützentyp, würde ihr einiges fürs Auge geboten werden. Nicht, dass sie auf Männerfang gewesen wäre – das zuallerletzt. Aber gucken war erlaubt. Ihr fiel ein, dass sie gelesen hatte, die Nordwestküste Irlands sei ein beliebtes Surfergebiet. Ja, das passte. Der Kerl, den sie eben beinahe umgerannt hätte, ging ohne Weiteres als Surfer durch.
Da es noch nicht mal neun Uhr war, beschloss Natascha spontan, Streedagh Beach einen Besuch abzustatten. Sobald sie ihren Wagen neben einer Handvoll anderer Autos auf einem sandigen Abschnitt direkt hinter einer Düne geparkt hatte und ausstieg, wusste sie sofort, dass sie diesen Ort lieben würde. Sie blickte sich um. Im Hintergrund ragten die Dartry Mountains auf, eine Bergkette, die bis in die benachbarte Grafschaft Leitrim reichte. Natascha machte mühelos den bekannten Tafelberg Benbulben aus, der ein weißes Nebelhäubchen trug.
Es hatte für den Moment zwar aufgehört zu regnen, doch die Wolken hingen tief, und die Luft war schwer von Feuchtigkeit. Sie zog ihre Beanie tief über die Ohren, um sich vor dem kühlen Wind zu schützen, schob die Hände in die Taschen ihrer wasserdichten Softshelljacke und stapfte los.
An diesem ersten Morgen in Irland stahl Streedagh Beach ihr Herz für immer. Mit seiner endlos anmutenden Weite und den dicht mit grünem und goldenem Strandhafer bewachsenen Dünen, die den Strand in voller Länge säumten, schien dieser Küstenstreifen direkt ihren Träumen entsprungen zu sein. Die Wellen rollten von weither heran und liefen mit leisem Rauschen auf dem feinen Sand aus. Sie erinnerte sich plötzlich daran, dass man ganze drei Kilometer bis zu einem Fleckchen namens Connor’s Island laufen konnte, das früher eine Insel gewesen war, doch wenn sie das täte, würde sie zu spät zu ihrer Verabredung mit Caitríona kommen. Also begnügte sie sich damit, ein wenig am Wasser entlangzubummeln und sich die Jackentaschen mit den hübschesten Muscheln und Schneckenhäusern vollzustopfen, die sie je gesehen hatte. Wenn sie das nächste Mal herkam, wollte sie mehr Zeit mitbringen. Sie hatte sich fest vorgenommen, einen Tag in der Woche für Ausflüge in die Umgebung zu reservieren. Aber da Streedagh nur ein paar Kilometer von ihrem Ferienhaus entfernt lag, konnte sie häufiger einen Abstecher machen, genau genommen sogar jedes Mal, wenn sie in Grange Einkäufe zu erledigen hatte. Sie freute sich schon auf den Sommer, wenn sie im Meer baden konnte. Und dann blieb ihr ja noch der Strand ein paar hundert Meter vor ihrer Haustür, den sie bislang nicht zu Gesicht bekommen hatte. Sie schwor sich, ihn spätestens heute Abend bei einem Spaziergang ausgiebig zu inspizieren.
Zurück im Ferienhaus blieb ihr gerade noch Zeit, ihre Einkäufe wegzuräumen und eine Tasse Kaffee zu trinken. Beim ersten Schluck verzog sie das Gesicht. Nun gut, dass löslicher Kaffee kein kulinarischer Hochgenuss war, hatte sie vorher gewusst. Sie würde sich schon an den Geschmack gewöhnen. Ihre Sucht ließ ihr keine andere Wahl.
Anstelle eines Frühstücks verspeiste sie rasch ein paar Toffeebonbons, um etwas im Magen zu haben, als auch schon Caitríona auf den Hof fuhr. Beim Anblick des betagten roten Kleinwagens unbestimmbarer Marke musste Natascha breit grinsen. Das würde also ihr Gefährt für die kommenden Monate sein. Hauptsache, es gab nicht mitten in der Nacht auf einer abgelegenen Landstraße den Geist auf. Sie war sich nicht sicher, ob ihre Nerven das aushalten würden.
»Hi Natascha! Wie geht’s, wie steht’s?« Caitríona beugte sich aus dem Seitenfenster und winkte ihr voller Tatendrang zu. Dass sie etwas über den ungewohnten Namen stolperte, schien sie nicht im Geringsten zu stören. »Entschuldige, dass ich so spät dran bin, aber ich hatte einen spontanen Käufer für eins der Stutfohlen. Am besten fährst du einfach hinter mir her wie gestern auch. Wird schon schiefgehen.«
»Oh, klar. Kein Problem.« Natascha schloss die Haustür ab und eilte zu ihrem Auto. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass Caitríona sich verspätet hatte. In Irland war es mit der Pünktlichkeit ohnehin nicht sehr weit her, wie man munkelte, und sie befürchtete, dass sie sich rasch daran gewöhnen würde. War sie doch selbst alles andere als eine Pünktlichkeitsfanatikerin.
Die Übergabe des Mietwagens an der Station in Sligo verlief reibungslos. Caitríona schien den Inhaber zu kennen, denn die beiden unterhielten sich angeregt und verfielen dabei in einen so breiten Dialekt, dass Natascha nur die Hälfte verstand. Sie hätte jetzt schon liebend gern gewusst, ob sie am Ende ihres Aufenthalts in der Lage sein würde, das einheimische Englisch nicht nur zu verstehen, sondern es so mühelos zu sprechen, dass man sie nicht mehr sofort als Deutsche entlarvte.
Auf der Rückfahrt überließ Caitríona ihr das Steuer, damit sie sich an den Wagen gewöhnen konnte. Ihre Vermieterin war eine kräftige, resolute Frau mit krausen dunkelblonden Haaren, die sie am Hinterkopf zu einer festen Schnecke zusammengedreht trug. Ihr Auftreten schwankte zwischen energiegeladen und herrisch, und sie sprach und lachte stets mit der gleichen lauten Stimme. Natascha hatte sie auf Anhieb sympathisch gefunden, nicht zuletzt wegen ihres derben Humors. Ihr Alter war schwer zu bestimmen. Vermutlich war sie erst Ende dreißig, doch Wind und Wetter und harte körperliche Arbeit hatten bereits Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Als Schönheit konnte man sie nicht bezeichnen, doch sie versprühte eine Art herben Charme, dem man sich schwer entziehen konnte.
Im Innern des Wagens roch es nach Pferd, was nicht weiter verwunderlich war, denn Caitríona leitete ein Gestüt. Die Familie Byrne züchtete in der dritten Generation Connemaraponys, die in erster Linie im Springsport eingesetzt wurden, wie sie Natascha erzählt hatte. Der Hof befand sich gerade noch in Sichtweite von Nataschas Häuschen – wenn man aus der Eingangstür trat und sich nach rechts um die Hausecke wandte, konnte man in der Ferne hinter den Koppeln das schwarze Dach eines langgezogenen Gebäudes erkennen. Das war der Stall. Mit dem Auto war man in drei Minuten da; man musste lediglich ein Stück bergab fahren und in eine schmale Nebenstraße einbiegen, die direkt am Triquetra-Gestüt vorbeiführte.
Caitríona grinste, als sie sah, wie Natascha mit der Gangschaltung kämpfte. »Wir fahren ihn wirklich nicht oft. Ich habe ihn aber letzte Woche beim Tanken von Will durchchecken lassen, und ausgesaugt und gewaschen hat er ihn auch. War bitter nötig, meinte er, weil anscheinend ein Pferd drin geschlafen hat.« Sie lachte schallend. »Es war natürlich nur Fergus, das kleine Luder. Irgendjemand hatte das Fenster auf der Beifahrerseite offengelassen, und weil der Wagen ein paar Wochen in der Scheune neben den Rundballen stand, ist es niemandem aufgefallen.«
Natascha, die gerade festgestellt hatte, dass es keine Servolenkung gab, wollte wissen: »Wer ist Fergus?«
»Eine unserer Stallkatzen. Ich habe ihn auf frischer Tat ertappt, wie er es sich auf dem Rücksitz gemütlich gemacht hat.«
Pferde und Katzen, das war eine Mischung, die Natascha gefiel. Ihre Freundin Lenni besaß einen kleinen privaten Tierschutzhof am Rand von Hannover, und wann immer Natascha sie besuchte, genoss sie die ländliche Idylle und half bei der Pflege der zahlreichen Tiere, die wie in einer etwas zu groß geratenen WG friedlich unter einem Dach zusammenlebten.
Nachdem sie Sligo mit seinem wuseligen Verkehr hinter sich gelassen hatten, fühlte Natascha sich sicherer. Linksseitig zu fahren machte ihr nichts aus, nur bei mehreren Fahrspuren kam ihr Gehirn manchmal durcheinander. Sie hielt es deshalb für klüger, ein gemäßigtes Tempo einzuhalten. Dass ihr kleiner roter Flitzer eher ein Schleicher war, passte da ganz hervorragend. Sie merkte, dass sie bereits Muttergefühle für das Auto entwickelte, und das nach gerade mal zehn Minuten. Du lieber Himmel!
Caitríona schien wie selbstverständlich davon auszugehen, dass Natascha mit dem Wagen zurechtkommen würde. Sie legte ihr lediglich nahe, sie anzurufen, falls es Probleme geben sollte. »Und sag Bescheid, wenn etwas im Haus nicht in Ordnung ist, okay? Du kannst auch jederzeit vorbeikommen, wir wohnen ja nur ein paar Meter weiter. Wirst du gleich sehen, wenn du mich absetzt.«
Als sie kurze Zeit später in die Einfahrt zum Gestüt einbogen, parkten mindestens fünf Autos auf dem Hof, zwei davon mit Pferdeanhänger. Caitríona stieß einen genervten Seufzer aus. »Verflixt, wo kommen die denn schon wieder her? Sorry, meine Gute, aber das sieht nach Kundschaft aus. Ich hatte am Wochenende eine Anzeige geschaltet … Eigentlich wollte ich mit dir noch eine Tasse Tee trinken und dir alles zeigen. Lass uns das auf ein anderes Mal verschieben, ja? Du siehst, was hier los ist.«
Sie machte eine hilflose Geste, und Natascha winkte hastig ab. »Ach, das ist doch kein Problem. Wir holen das nach, wenn du mehr Zeit hast. Danke, Caitríona – für das Auto, und für alles andere auch.«
Ihre Vermieterin klopfte ihr wohlwollend auf den Arm und stieg ohne ein weiteres Wort aus. Natascha blickte ihr nach, wie sie in ihrer etwas zu großen Wachsjacke energisch in Richtung Stall stapfte. Dann setzte sie den Wagen in einem Bogen zurück, um vorwärts vom Hof fahren zu können, hielt aber noch einen Moment inne. Voller Neugier betrachtete sie das stattliche zweistöckige Wohnhaus aus grauem Stein, das von hohen Bäumen umringt war. Fensterrahmen und Haustür hatten die gleiche Farbe, ein kräftiges Dunkelblau. Sie sah die weißgetünchten Stallgebäude im Hintergrund, stabil eingezäunte Ausläufe für die Pferde und einen Sandplatz mit lauter bunten Hindernissen gleich neben der Scheune. Es gab sogar eine Reithalle, deren Tore offenstanden. Die Farm war ringsum von Weideland umgeben. Sie hätte wetten mögen, dass es bis an ihr Häuschen grenzte. Wahrscheinlich konnte man quer über die Wiesen zum Gestüt laufen, wenn man den Weg kannte.
Was für ein herrliches altes Anwesen! Sie freute sich schon darauf, von Caitríona herumgeführt zu werden. Als sie den Hof verließ und auf die Straße abbog, bemerkte sie zum ersten Mal das Schild neben der Einfahrt, auf dem das keltische Symbol des Trinity-Knotens – drei verbundene Kreisbögen – abgebildet war. Daneben stand in einer schön geschwungenen Schrift Triquetra Stud und darunter eine Telefonnummer.
Es war gerade mal Mittag, aber Natascha fühlte sich bereits ziemlich erschöpft von all den neuen Eindrücken, die seit dem Morgen nonstop auf sie einprasselten. Sie merkte, wie ihre Hände zitterten, als sie versuchte, die Tür zu ihrem Häuschen aufzuschließen. Erst mal was essen, dachte sie, und vor allem reichlich trinken.
Kurze Zeit später saß sie am Esstisch und verspeiste in aller Ruhe ein paar Sandwiches, die sie auf einem großen Teller mit Gurkenscheiben und Salatblättern angerichtet hatte. Sie leerte dazu genüsslich zwei Becher Kaffee und war ganz froh, für den Tag nichts weiter geplant zu haben. Die lange Anreise vom Vortag saß ihr noch in den Knochen, und sie brauchte eine Verschnaufpause.
Nachdem sie ihre Mahlzeit bis auf den letzten Krümel verputzt hatte, fühlte sie sich faul und vollgefressen und hatte keine Lust, überhaupt von ihrem Stuhl aufzustehen. Müßig daddelte sie auf ihrem Handy herum, verschickte Textnachrichten an Lenni und ihre Eltern und registrierte mit Erleichterung, dass das WLAN einwandfrei funktionierte. Bei der Suche nach einem passenden Ferienhaus war das ein Totschlagargument gewesen, denn ohne anständiges Internet war sie als Autorin verloren. Als sie das erste Mal telefoniert hatten, war Caitríona nicht müde geworden, ihr zu versichern, dass sie seit Kurzem Anschluss an das Glasfasernetz eines großen irischen Telekommunikationsanbieters hatten und ihre bis dato miserable Internetverbindung sich seitdem um hundert Prozent verbessert hatte. Natascha, die sich auf ihr Wort hatte verlassen müssen, war ein Stein vom Herzen gefallen, als sie am vorigen Abend festgestellt hatte, dass Caitríonas Beteuerungen der Wahrheit entsprachen. Dem Schreiben ihres ersten Romans – oder vielmehr des Rohentwurfs – stand somit nichts mehr im Wege.
Die folgenden Stunden verbrachte sie damit, endlich ihren Koffer auszupacken und ihre Habseligkeiten im ganzen Haus zu verteilen. Schließlich würde sie jetzt vier Monate lang hier wohnen und konnte sich nach Herzenslust ausbreiten. Lediglich für das zweite Schlafzimmer hatte sie keine Verwendung, deshalb degradierte sie es zur Abstellkammer für ihren Koffer und andere Dinge, die sie zurzeit nicht brauchte. Sie fand auch den richtigen Platz für sich und ihren Laptop, nämlich am Fenster im Wohnzimmer, unter dem ein rundes Tischchen mit zwei bequemen Sesseln stand. Hier würde sie stundenlang sitzen und schreiben können. Der Blick über den kleinen Hofplatz und die grünen Weiden war perfekt, um die Gedanken schweifen zu lassen.
Zwischendurch, als sie bemerkte, dass draußen die Sonne hinter den Wolken hervorlugte, trat sie mit dem wer weiß wievielten Becher Kaffee des Tages in der Hand vor die Tür. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie Gesellschaft bekommen hatte. Zwei Stuten, eine weiß, eine goldfarben, grasten mit ihren Fohlen auf der Weide am Haus. Sie mussten hergebracht worden sein, während sie drinnen beschäftigt gewesen war. Natascha zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass es Caitríonas Pferde waren. Sie trat an die Mauer heran, die ihr Grundstück von der Wiese trennte, und lockte die Tiere mit sanfter Stimme. Die Schimmelstute tat, als wäre sie taub, doch die Falbstute kam heran und ließ sich streicheln. Natascha entdeckte, dass sie bernsteinfarbene Augen hatte, was ungewöhnlich war und wunderschön aussah. Ihr Fohlen, ein kleiner brauner Hengst, taxierte die ihm fremde Frau scheu und versteckte sich schließlich hinter seiner Mutter. Natascha war schockverliebt in seine langen Wimpern und den schmalen weißen Strich auf seinem Nasenrücken.
Entzückt darüber, so liebenswerte neue Nachbarn zu haben, plauderte sie eine Weile mit den Pferden und beschloss dann, dem Meer noch einen Besuch abzustatten. Sie verspürte Lust auf einen gemütlichen Spaziergang und wollte herausfinden, wie weit es wirklich war von ihrem Haus bis zum Strand. Der Wind war abgeflaut, die Sonne schien nach wie vor, und Natascha beeilte sich, in ihre Laufschuhe zu schlüpfen. Sie wollte die Regenpause ausnutzen, weil man in Irland nie sicher sein konnte, wann der nächste Schauer fällig war.
Ihr Weg führte sie den Hügel hinauf und dann auf ebener Strecke geradeaus, vorbei an einzelnen Häusern und Höfen, an sattgrünen Wiesen mit grasendem Vieh und wild wuchernden Brombeerhecken am Straßenrand. Ein Stück vor ihr blitzte immer wieder das Blau des Atlantiks auf. Unwillkürlich beschleunigte sie ihren Schritt, von freudiger Erwartung erfüllt. Dann erweiterte sich der Fahrweg plötzlich zu einem kleinen Wendeplatz und endete vor einem Weidetor. Nur ein ausgetretener Pfad zu ihrer Rechten, der hinter einer Düne verschwand, ließ darauf schließen, dass es hier noch weiterging.
Sekunden später hatte sie die sandige Anhöhe erklommen. Angesichts des Bildes, das sich ihr bot, überkam sie ein Gefühl von Freude und Dankbarkeit. In den letzten Jahren, als sie Tiefschlag um Tiefschlag hatte einstecken müssen, hatten beide Empfindungen sich rar gemacht. Doch jetzt, jetzt war alles anders. Wie ein Blitz traf sie die Erkenntnis, dass die Zeit des Scheiterns hinter ihr lag. Sie hatte sich vier Monate Schreibzeit in einem Häuschen an der irischen Küste erarbeitet, ganz allein und aus eigener Kraft. Hatte in der Agentur Woche um Woche massenhaft Überstunden aufgebaut und jeden verfügbaren Cent gespart; sich sogar Geld von ihren Eltern geliehen, um die Reise finanzieren zu können. Als wollte das Universum sie für ihre Anstrengungen entschädigen, schenkte es ihr nun eine perfekte kleine Bucht mit mattgoldenem Sandstrand direkt vor ihrer Haustür. Kein Mensch war zu sehen, als sie langsam zum Wasser hinunterlief, das in der Sonne in einem nahezu unwirklichen Hellblau schimmerte.
Ungläubig schaute sie sich um. Nein, das war kein Traum. Natascha Weber, dreißig Jahre alt, geschieden und chronisch deprimiert, war eindeutig dabei, sich ihr Leben zurückzuerobern.
2
Am nächsten Morgen saß sie bereits um halb sieben konzentriert über ihren Laptop gebeugt und tippte. Sie war früh aufgestanden, weil die Geschichte, die sie auf digitales Papier bannen wollte, bis in ihre Träume vorgedrungen war. Kaum hatte sie die Augen geöffnet, als ihr Gehirn sie auch schon mit Satzfetzen und Dialogideen bombardiert hatte. Letzten Endes war sie hergekommen, um zu schreiben, und zu welcher nachtschlafenden Zeit auch immer die Muse sie küssen mochte, sie war ihre willige Sklavin. Geplottet hatte sie den Roman bereits daheim in Deutschland, und zwar über Monate hinweg bis ins Kleinste, um sich die Wartezeit bis zur Abreise zu verkürzen. Nach einigen Feinjustierungen hatte sie heute direkt mit dem ersten Kapitel loslegen können.
Nachdem die Scheidung von ihrem Ex-Mann Rafael rechtskräftig geworden war, hatte Natascha zwei Dinge getan, um nicht verrückt zu werden: Sie hatte wieder mit dem Schreiben begonnen, zum ersten Mal seit Jahren, und sie hatte Urlaub gebucht, ebenfalls zum ersten Mal seit Jahren. Als Teenager hatte sie von Irland geträumt, und weil ihr nichts Besseres eingefallen war, hatte sie für zehn Tage ein Haus am Wild Atlantic Way gemietet, ganz in der Nähe der berühmten Cliffs of Moher.
Irland hatte etwas in ihr verändert. Nach der Reise war sie nicht mehr dieselbe gewesen. Zurück in Deutschland hatte sie sich bald darauf an den Laptop gesetzt und wie im Fieber Seite um Seite ihres Schreibprogramms mit Wörtern gefüllt. In nicht mal drei Monaten war so ein Kurzroman entstanden. Beides, ihr erster Irlandurlaub und ihr erstes je fertiggestelltes Buchmanuskript, hatte ihr geholfen, dem leisen, aber allgegenwärtigen Gefühl von Sinnlosigkeit in ihrem Leben etwas Nachhaltiges entgegenzusetzen.
Hier in Maugherow wollte sie nun ihren ersten ›echten‹ Roman, eine Road-Novel, in Angriff nehmen. Es brannte ihr unter den Nägeln, die Story niederzuschreiben. Der gleiche Verlag, der ihren Kurzroman abgelehnt hatte, war voll des Lobes über ihren Schreibstil gewesen und hatte Interesse an zukünftigen Projekten signalisiert, sofern sie besser ins Programm passten. Die Aussicht auf die Zusammenarbeit mit einem großen Verlagshaus hatte Natascha in eine Art Glückstaumel versetzt. Doch zunächst war es bei der vagen Möglichkeit geblieben. Sie hatte sich an einigen Ideen ausprobiert, von denen keine einzige gezündet hatte. Erst Monate später hatte sie eines Abends zufällig eine Dokumentation im Fernsehen verfolgt, die ihr den Anstoß für die neue Geschichte lieferte, nach der sie gesucht hatte. Während sie die erste unvollständige Version des Plots auf Papier gekritzelt hatte, war ihr der Gedanke gekommen, das Manuskript in Irland zu schreiben. Wie ein Parasit hatte er sich in ihrem Gehirn eingenistet und partout nicht mehr ausziehen wollen.
An diesem Punkt waren die Dinge ins Rollen geraten. Natascha hatte ihr Exposé und eine in zwei Nächten verfasste Leseprobe an den Verlag geschickt, der ihr nur zehn Tage später einen Vertrag angeboten hatte. Ihre zukünftige Lektorin war begeistert gewesen, als sie von Nataschas geplantem Schreiburlaub in Irland erfahren hatte. Na ja, eigentlich sollte es kein Urlaub werden, sondern ein Sabbatical von ihrem Vollzeitjob. Was sich natürlich nicht so ohne Weiteres hatte bewerkstelligen lassen.
Nataschas Chef, Marian van Campe, Geschäftsführer bei Van Campe Kommunikation & Marketing, hatte den Enthusiasmus ihrer Lektorin nicht im Geringsten geteilt. Als Natascha mit ihrer Bitte bei ihm vorstellig geworden war, hatte er sie nur gequält angesehen und einen tiefen Seufzer ausgestoßen. ›Sabbatical? Nächstes Jahr? Gott steh mir bei. Du weißt, dass ich dir das genehmigen werde, aber glücklich machst du mich damit nicht gerade. Das wird ein widerliches Chaos, wenn du weg bist. Wahrscheinlich stellen die Mädels mir jeden Tag Vertreteranrufe durch und buchen mir Flüge mit irgendwelchen Billigairlines …‹ Er hatte wieder geseufzt und sich kummervoll die zu langen schwarzen Haare gerauft. Das war im vergangenen Dezember gewesen.
Ausnahmsweise war Natascha standhaft geblieben. Schließlich war sie nur zweite Assistentin der Geschäftsleitung und nicht unentbehrlich. Sollten die anderen, allen voran ihre Kollegin Kira als rechte Hand von Marian, ruhig mal von ihrem hohen Ross heruntersteigen und zusehen, wie sie ohne sie klarkamen. Sie hatte nur dieses eine Leben und eine Geschichte, die vielleicht alles verändern würde. Sie konnte und wollte sie nicht in den wenigen Stunden schreiben, die ihr nach Feierabend und am Wochenende blieben. Seit sie die Idee zu dem Buch in groben Zügen skizziert hatte, wusste sie, hier war ihr voller Einsatz gefragt, und dafür brauchte sie Zeit und mehr als nur einen kurzen Aufenthalt in dem Land, in dem der Roman sein Setting haben sollte. Es glich ohnehin einem Wunder, dass der Verlag ihr ein Dreivierteljahr bis zur Abgabe des Manuskripts gewährt hatte. Ihre Lektorin hatte es nüchtern, aber wahrheitsgemäß auf den Punkt gebracht: ›Es ist ein Debüt, da stehen wir nicht unter Zugzwang.‹
Als sie zum ersten Mal von der Tastatur aufsah, war es fast halb neun. Zeit für eine Pause. Sie hatte rund eintausend Wörter geschafft, das war ein guter Einstieg. Tatsächlich war sie so vertieft gewesen, dass ihr Kaffee in der Zwischenzeit eiskalt geworden war. Sie stand auf, um sich frischen aufzugießen. Spontan beschloss sie, sich nach draußen in die Sonne zu setzen. An der weiß verputzten Hauswand stand eine kleine, schon etwas verwitterte Sitzgarnitur mit nur zwei Stühlen. Sie überlegte, ob sie ihren Laptop mitnehmen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Sie wollte in Ruhe Kaffee trinken und ein paar Sonnenstrahlen tanken, um dann mit frischer Energie weiterzuschreiben. Natascha hatte schon vor einiger Zeit herausgefunden, wie wichtig es war, sich regelmäßig kleine Erholungseinheiten zu gönnen, ganz gleich, ob sie nun schrieb, in der Agentur arbeitete oder ihre Wohnung putzte. Selbstausbeutung lohnte sich auf lange Sicht einfach nicht.
Ihre neuen Nachbarn, die Pferde, standen immer noch auf der Weide, grasten jedoch ein gutes Stück von ihr entfernt. Natascha beobachtete sie, wärmte sich die Hände an ihrem Becher und genoss die Morgensonne in ihrem windstillen Eckchen. Der Hofplatz war fast trocken, was bedeutete, dass der letzte Schauer schon eine Weile zurücklag. Bis jetzt hatte sie Glück gehabt mit dem Wetter. Seit gestern Nachmittag war sie von längeren Regenphasen verschont geblieben.
Ein Auto näherte sich vom Fuß des Hügels und bog in die Weidezufahrt neben ihrem Grundstück ein. Es war ein silberfarbener, nicht sehr sauberer Pick-up, der ihr irgendwie bekannt vorkam. Der Motor wurde abgestellt, und ein Mann stieg aus. Er öffnete das Gatter und stapfte entlang der Mauer auf die Weide. Als er Natascha bemerkte, blieb er stehen und winkte ihr freundlich zu.
»Guten Morgen! Entschuldige, dass ich dich störe, ich will den Ponys nur rasch Wasser geben. Der Schlauch ist bei dir auf dem Hof angeschlossen. Wärst du so nett, den Hahn aufzudrehen?« Er wies zu einer Stelle in der äußersten Ecke des Grundstücks, an der ein Wasseranschluss aus dem Boden ragte. Ein langer Gartenschlauch war daran befestigt und über die Mauer gelegt worden.
»Ich … Guten Morgen. Natürlich. Eine Sekunde.« Natascha sprang auf und merkte, wie ihre Wangen glühten, während sie zum Wasserhahn eilte. Sie kannte diesen Mann. Genauer gesagt, erkannte sie die graue Strickmütze wieder, unter der blonde Haarspitzen hervorlugten, und das Lächeln hatte sie auch schon mal gesehen. Erst gestern, als sie auf dem Parkplatz vom SuperValu beinahe in ihn hineingerannt wäre.
Es war offensichtlich, dass er sich ebenfalls an sie erinnerte, denn sein Grinsen wurde eine Spur breiter, als sie näherkam. Seine oberen Schneidezähne standen in der Mitte ein klein wenig auseinander. Sie war überrascht, weil er höchstens so alt war wie sie selbst, eher jünger. Gestern hatte sie nicht so genau hingeguckt. Er hatte vereinzelte Sommersprossen im Gesicht und ziemlich helle Augen.
»Hi«, sagte er, als sie sich schließlich an der halbhohen Mauer gegenüberstanden und Natascha den Hahn aufdrehte. »Tut mir wirklich leid, dass ich hier so früh auftauche, aber ich muss gleich zur Arbeit, und die Stuten brauchen frisches Wasser. Du bist die Schriftstellerin aus Deutschland, richtig? Ich bin Caitríonas Bruder.«
Sie starrte ihn ungläubig an. Natürlich – Caitríona hatte in einem Nebensatz erwähnt, dass sie das Gestüt zusammen mit ihrem Vater und ihrem jüngeren Bruder betrieb. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war nicht von der Hand zu weisen.
»Oh … Okay, cool. Ich bin Natascha. Die … Schriftstellerin.«
»Na-ta-sha?« Er wiederholte den Namen ein wenig zögernd, wahrscheinlich, weil sie ihn deutsch ausgesprochen hatte, ohne zu überlegen.
»Genau. Natascha. Wie eine russische Prostituierte«, rutschte es ihr heraus. Ups. Sie konnte ihren Namen nicht leiden und machte sich oft und gern über ihn lustig. Es hatte ein bisschen was von einem Tic, weil es manchmal ohne ihr bewusstes Zutun geschah, doch sie fand auf diese Weise immer schnell heraus, ob ihr Gesprächspartner ein Freund von bissigem Humor war. Allerdings hatte sie noch nie ausprobiert, ob es auch auf Englisch funktionierte.
Anscheinend tat es das, denn ihr Gegenüber riss die Augen auf und prustete los. »Wie eine … Wow, das war böse. Du magst deinen Namen wohl nicht besonders, wie?«
»Nein.« Düster sah sie ihn an. »Er ist einfach nur bescheuert.«
»Oh, da kann ich mithalten. Ich heiße Fiachra. Klingt wie ein Husten und ist total oldschool. Nenn mich Fi, alles andere ertrage ich nicht.«
»Fi-?«
»-achra«, ergänzte er. »Den zweiten Teil vergisst du wieder, dann passt es.«
»Hm, hört sich eigentlich ganz gut an. Jedenfalls besser als Natascha.«
»Das finde ich nicht. Hast du einen Spitznamen?«
Oh Gott. Spitznamen waren das Schlimmste. Seit der Schulzeit schlug sie sich damit herum. Natti, Taschi, oder die Krönung: Naddel. Ihre Mutter rief sie Natschi. Wenn sie nicht mit Sicherheit gewusst hätte, dass es ein Kosename war, hätte sie sich ernsthaft gefragt, ob ihre Mutter sie hasste.
›Mama, warum musstest du mich ausgerechnet Natascha nennen? Warumwarumwarum?‹
›Weil es ein schöner Name ist.‹ Jedes Mal, wenn das Gespräch diese Wendung nahm, bekam die Stimme ihrer Mutter einen trotzigen Unterton. ›Ich mag ihn eben. Meine kleine Natschi.‹
Aber all das konnte sie Fi schlecht klarmachen. Da er auf eine Antwort wartete, meinte sie schließlich zögernd: »Keinen, der nicht sämtliche Menschenrechte verletzt.«
Sein Grinsen war wirklich klasse. Diese Zahnlücke!
»Was ist mit Nat?« Er sprach es natürlich englisch aus, Nät. »Das sind nur drei Buchstaben. N-a-t. Die sollten niemandem wehtun.«
Sie zögerte erneut. Ihr lag schon wieder ein Spruch auf der Zunge, doch sie schluckte ihn hinunter. Sie musste sich die sarkastischen Bemerkungen auf ihre eigenen Kosten abgewöhnen. Lenni sagte das auch immer. Außerdem hatte Fi recht. Nat war in Ordnung und ließ sie nicht gequält zusammenzucken wie die anderen Spitznamen des Grauens. In Irland würde sie damit gut zurechtkommen. Vielleicht würde sie ihn sogar als Pseudonym für ihr Buch benutzen.
»Stimmt. Damit werd ich’s mal versuchen, glaube ich.« Sie lächelte ihn zaghaft an. »Willst du Kaffee? Nachdem ich dich gestern fast umgerannt hätte und du mir jetzt auch noch einen brauchbaren Namen verpasst hast, bin ich dir was schuldig.«
Er strahlte, zog dann sein Handy aus der Hosentasche und kontrollierte die Uhrzeit. »Eigentlich bin ich spät dran, aber ja, Kaffee wäre super. Übrigens hatte ich bis eben gehofft, du hättest mich nicht wiedererkannt. Ich hatte nämlich ein schlechtes Gewissen wegen gestern. Du hättest mich gar nicht umrennen können, ich dich umgekehrt aber schon. Schließlich bist du nur halb so groß wie ich.«
Sie kniff die Augen zusammen. Ganz schön frech, der Kerl. »Nimmst du deinen Kaffee schwarz oder mit Zucker und Arsen?«
»Oh, äh, kein Arsen, danke. Heute bleibe ich bei Zucker.«
»Okay. Gute Wahl. Leider schmeckt er trotzdem nicht, es ist Instantkaffee aus dem Glas. Ich muss erst eine Kaffeemaschine kaufen.«
Fi machte ein verwundertes Gesicht. »Steht in der Küche keine mehr? Hm, vielleicht hat Caitríona sie entsorgt. Aber dann hätte sie dir normalerweise eine neue hingestellt. Die alte Frau wird wohl langsam vergesslich … Tut mir leid. Ich besorge dir eine vernünftige Maschine, so schnell es geht.«
»Das musst du nicht. Ich kann selbst –«
»Denk nicht mal dran! Spätestens morgen früh bringe ich dir eine vorbei. Du hast ein voll eingerichtetes Ferienhaus gemietet und bezahlst dafür. Außerdem bist du Schriftstellerin, die leben doch von Kaffee, oder?«
»Eigentlich bevorzuge ich Wodka, aber Kaffee kommt gleich danach, ja. Also … vielen Dank. Ich hole dir jetzt erst mal was von der löslichen Köstlichkeit.« Sie drehte sich um und ging zurück zum Haus, wobei sie sich nur allzu bewusst war, dass sie in Fleecejacke, schwarzen Leggings und dicken Socken in Plastikclogs nicht gerade wie eine Modeikone daherkam. Sie hatte sich nach dem Aufstehen und Zähneputzen nur rasch die Haare hochgesteckt, damit sie ihr nicht ständig ins Gesicht fielen, und sich dann gleich an den Laptop gesetzt. Besuch war so ziemlich das Letzte, womit sie um diese Uhrzeit gerechnet hätte. Doch es machte ihr Spaß, mit Fi zu quatschen. Er schien nett und unkompliziert zu sein und ihren Humor zu teilen. Dass sie so ungezwungen mit ihm herumalbern konnte und dabei nicht mal auf ihre englische Wortwahl achtete, war ungewöhnlich. Fremden gegenüber – vor allem, wenn sie deren Sprache nicht perfekt beherrschte – war sie sonst eher befangen.
Als sie mit zwei frisch gefüllten Bechern in der Hand nach draußen trat, drehte Fi gerade den Wasserhahn zu. Anscheinend war er über die Mauer gesprungen. Jetzt hüpfte er wieder hinauf und ließ die Beine baumeln. Er bedankte sich artig, als sie ihm den Kaffee reichte, und fragte dann scheinheilig: »Hast du mir auch einen Schuss von deinem Wodka reingetan?«
»Vielleicht beim nächsten Mal. Du musst noch fahren, wie ich sehe, und ich nicht. Zumindest nicht zwangsläufig.«
Er grinste und nahm einen Schluck aus seinem Becher. »Eamon – das ist mein Chef und bester Freund – würde auf jeden Fall staunen, wenn ich um diese Uhrzeit mit Schlagseite im Shop auftauche. Wahrscheinlich wäre er sogar etwas neidisch. Ich glaube manchmal, sein Leben könnte ein bisschen mehr Aufregung vertragen.«
»Was für ein Shop ist das, in dem du arbeitest?«
»Sagt dir die App WildGreen Bike & Hike etwas?«
»Nein, nie gehört.«
»Es ist eine GPS-gestützte Touren-App für Wanderer und Radfahrer, die den Nordwesten Irlands, vor allem den Wild Atlantic Way, erkunden wollen. Eamon hat sie entwickelt und programmiert. Sie verkauft sich ganz gut. Parallel dazu hat er vor zwei Jahren in Grange einen Laden aufgemacht, in dem wir jede Art von Zubehör für unsere Klientel verkaufen. Die Kunden, die die App nutzen, können bei uns auch Fahrräder mieten und sich persönlich beraten lassen. Für Einheimische bieten wir Verkauf und Instandhaltung von Rädern und Surfboards an. Das bringt uns über den Winter, wenn kaum Urlauber da sind. Dieses Jahr haben wir zum ersten Mal annähernd schwarze Zahlen geschrieben und mussten keine Nebenjobs annehmen.« Er lachte. »Wenn ich Glück habe, ist im Sommer sogar endlich mal wieder eine Woche Urlaub drin.«
»Wow.« Natascha – oder Nat, hier in Irland konnte sie Nat sein – war beeindruckt. Nicht nur von der Geschäftsidee, sondern auch von Fis Arbeitspensum. »Das hört sich ziemlich spannend an. Kann man bei euch auch Reittouren buchen?«
»Weil wir das Gestüt haben, meinst du? Vergiss es.« Seine heitere Miene verdüsterte sich. »Caitríona ist in der Hinsicht sturer als ein Esel. Sie will ihre teuren Sportponys, wie sie sie nennt, nicht für so was Profanes wie Wandern mit Pferden zur Verfügung stellen. Dabei verwette ich meine Surfboards darauf, dass die Ponys draußen im Gelände tausendmal mehr Spaß haben als bei Caits heiß geliebten Springturnieren. Und mehr Geld einbringen würde es auch. Aber egal. Ich will dich nicht mit unseren Familienstreitigkeiten langweilen.«
»Tust du nicht«, sagte Nat wahrheitsgemäß. Im Stillen dachte sie: Also surft er tatsächlich und sieht nicht nur so aus. Wie findet er dafür Zeit, wenn er seiner Schwester nebenbei noch mit den Pferden hilft?
»Was ist mit dir? Reitest du?«, unterbrach Fi ihre Gedanken.
Sie schüttelte den Kopf.
»Eine sehr gute Freundin von mir besitzt einen kleinen Tierschutzhof und auch ein paar Pferde. Ich weiß ein bisschen was darüber, wie man mit ihnen umgeht, und habe mal draufgesessen. Aber reiten, nein. Fahrradfahren kann ich aber«, fügte sie im Scherz hinzu.
In Fis hellen Augen blitzte es belustigt auf. Sie hatte erst gedacht, seine Augen wären blau, aber wenn sie vor ihm stand, konnte sie sehen, dass sie grün waren. Hellgrün.
»Das ist doch schon mal ein Anfang. Und was hat dich ausgerechnet hierher verschlagen? Ich meine, die Welt ist groß. Was treibt dich nach Maugherow?«, wollte er wissen.
»Ich, äh …« Mit dieser Frage brachte er sie ins Schlingern. Was sollte sie ihm sagen? Dass das Buch, das sie zu schreiben gedachte, zu großen Teilen in Irland spielte und sie das untrügliche Gefühl hatte, ihrer Protagonistin Joanna nur vor Ort wirklich nahekommen zu können? Oder dass sie in Deutschland schon länger festgesteckt hatte, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne? Dass sie endlich darüber hinwegkommen wollte, dass vor drei Jahren ihre Ehe gescheitert war? Jede dieser Antworten war zu privat, um sie mit einem Fremden zu teilen. Belügen wollte sie ihn allerdings ebenso wenig.
Schließlich erwiderte sie: »Ich musste mal raus. Weg von meinem Alltag und vor allem von meinem Job. Mutig sein. Ich liebe Irland und will hier mein erstes Buch schreiben. Maugherow ist der perfekte Ort dafür, abgeschieden und am Meer.«
Okay, das war gar nicht mal schlecht und nichts davon geflunkert.
Fi, dem ihr Zögern nicht entgangen war, musterte sie aufmerksam. »Du schreibst also gar nicht hauptberuflich?«
»Oh, nein. Ich stehe ja noch ganz am Anfang. Ich arbeite Vollzeit in einer Marketingagentur. Allerdings nicht bei den Kreativen, sondern nur im Sekretariat.«
»Verstehe. Und worüber schreibst du?«
Sie konnte nicht anders, sie musste grinsen. »Ich habe unter anderem vor, über das Land und die Leute zu schreiben, die ich hier so treffe. Vielleicht baue ich auch eine Leiche ein, wer weiß.«
Er verstand die Anspielung und lachte. »Okay, dann werde ich mich in Zukunft benehmen und nicht mehr so viele Fragen stellen. Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der Bücher schreibt, deshalb ist meine Neugier gerade mit mir durchgegangen, fürchte ich. Also, Nat, wir sehen uns. Ich muss jetzt zur Arbeit, sonst gibt Eamon eine Vermisstenanzeige auf. Danke für den Kaffee. Morgen früh muss ich wieder Wasser nachfüllen, spätestens dann kriegst du eine anständige Maschine.«
Er sprang von der Mauer herunter und drückte ihr den leeren Becher in die Hand. Plötzlich schüchtern, bot sie an: »Ich kann den Pferden doch auch Wasser geben. Dann musst du nicht extra herkommen. Ich meine, ich freue mich natürlich auf die Kaffeemaschine und, äh, deinen Besuch, aber du hättest vielleicht weniger, na ja, Stress?«
Sie verstummte und ärgerte sich, dass sie so herumstotterte. Hoffentlich fasste Fi ihr Gestammel nicht falsch auf und dachte, sie wollte ihn loswerden.
Doch er schien unverändert gut gelaunt. »Das ist echt nett von dir, aber ich muss sowieso kontrollieren, ob alle gesund und munter sind. Für die beiden Fohlen ist es das erste Mal, dass sie über Nacht draußen bleiben. Die wirklich kalten Nächte sind jetzt vorbei, und es soll noch wärmer werden in den nächsten Tagen. Trotzdem behalte ich die vier lieber im Auge, falls doch mal jemand krank wird oder sich verletzt. Das kann immer passieren.«
Er überlegte kurz und fügte dann hinzu: »Wenn dir je etwas auffallen sollte und ein Pferd sich komisch benimmt, ruf einfach Caitríona an oder komm zum Hof. Oder zu Eamon und mir in den Shop, wir haben die ganze Woche bis fünf Uhr nachmittags geöffnet.«
»Ich kenne mich in Grange leider noch nicht aus.«
»Das macht nichts, du kannst uns gar nicht verfehlen. Fahr einfach die Hauptstraße entlang. Du kriegst auch einen erstklassigen Kaffee aus dem Vollautomaten. Und eine Führung durch den Laden.«
»Okay. Darf ich auch einfach so vorbeikommen?«
»Natürlich! Vielleicht findest du bei uns ja Inspiration für dein Buch.« Fi zwinkerte ihr zu und lief mit großen Schritten zu seinem Wagen. Vermutlich war er mittlerweile wirklich spät dran. Als er losfuhr, drückte er auf die Hupe, und die Ponys, die sich gerade an dem frischen Wasser gütlich taten, stoben erschrocken davon. Nat kicherte in sich hinein und winkte. Dann war er fort.
Mit den beiden Bechern in der Hand ging sie langsam zurück zum Haus. Die Sonne hatte sich hinter einer Wolke verschanzt, und es sah aus, als würde es gleich regnen. Sie überlegte, ob sie sich an den Laptop setzen und weiterschreiben sollte, aber sie musste erst einmal darüber nachdenken, was in der letzten halben Stunde geschehen war. Außerdem knurrte ihr mittlerweile der Magen. Zeit, dass sie sich um Frühstück kümmerte.
Sie hatte nicht damit gerechnet, in ihrem selbst gewählten Schreibexil so schnell neue Bekanntschaften zu schließen. In ihrer Vorstellung hatte sie sich als Einsiedlerin gesehen, die die meiste Zeit für sich blieb und ihre einsame Hütte nur für notwendige Besorgungen verließ. Aber das war natürlich Quatsch. Sie musste den Byrne-Geschwistern dankbar sein, dass sie es ihr so leicht machten, Anschluss zu finden. Wie sollte sie sonst Land und Leute kennenlernen und eine halbwegs authentische Geschichte schreiben? Außerdem fand sie die beiden sympathisch. Und Fi war dazu noch ziemlich niedlich.
Sie erschrak ein bisschen über die Nüchternheit, mit der ihr Gehirn diese Feststellung traf. Was stimmte nicht mit ihr, dass ein auffallend hübscher Mann keine erkennbare Gefühlsregung in ihr auslöste, sondern lediglich eine sachliche Analyse seines guten Aussehens? Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was wirklich in ihr kaputtgegangen war, seit Rafael und sie sich getrennt hatten. Er war vor drei Jahren ausgezogen und hatte gleich nach dem Trennungsjahr die Scheidung in die Wege geleitet. Seitdem hatte sie sich nicht mehr verliebt. Nicht einmal flüchtig. War das noch normal?
Nachdem sie geheiratet hatten, war er nie wirklich verfügbar gewesen, weder emotional noch physisch. Er war stets auf dem Sprung gewesen, immer fluchtbereit; klärenden Gesprächen war er nach Möglichkeit ausgewichen. Irgendwann hatte sie aufgegeben, ihn für sich und ihre Ehe interessieren zu wollen, hatte stumm gelitten, ohne zu wissen, wie sie etwas ändern konnte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie bereits vor der Hochzeit das Gefühl gehabt, dass er seinen Antrag bereute. Später – sehr viel später – hatte er das auch offen zugegeben. Er hatte manchmal gewirkt wie ein Tier in der Falle. All die Leichtigkeit und der Spaß, den sie früher zusammen gehabt hatten – dahin, für immer verschwunden.
›Ich bin nicht für die Ehe gemacht‹, hatte er während einer der seltenen Gelegenheiten, bei denen sie sich ausgesprochen hatten, behauptet. ›Ich dachte, es würde mir gefallen, aber es ist das genaue Gegenteil. Ich fühle mich gefangen. Und das hat nichts mit dir zu tun.‹
Und dennoch hatte sie sich die Schuld gegeben, dass er so empfand. Dass ihre Beziehung nicht mehr funktionierte, nicht auf dieser Basis. Und so waren sie unaufhaltsam auf das Ende zugesteuert. Gerade mal fünfzehn Monate nach der Hochzeit hatte Rafael ihr verkündet, dass er sich scheiden lassen wollte. So sehr es sie verletzt hatte und so tief sie danach auch gefallen war, hatte sie doch gewusst, dass sie ihn nicht würde umstimmen können. Und hatte ihn gehen lassen. Doch das bedeutete nicht, dass ihr vermeintliches Versagen nicht weiterhin an ihr nagte.
Nat wandte den Kopf und blickte aus dem Fenster über der Küchenspüle. Die Falb- und die Schimmelstute – sie hatte vergessen, Fi nach den Namen der Pferde zu fragen – zogen gerade mit ihren Fohlen auf die Koppel hinaus auf der Suche nach dem frischesten Gras. Tiere hatten den entscheidenden Vorteil, dass sie sich nicht den Kopf über das Gestern oder das Morgen zerbrachen. Sie beneidete diese vier um ihren Seelenfrieden.
Dann beschloss sie, für den Rest des Tages keinen Gedanken mehr an ihren Ex-Mann und ihre gescheiterte Ehe zu verschwenden. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie damit nur sinnlos Energie verpulverte, zumal sie auf manche Fragen vermutlich niemals eine Antwort finden würde. Glücklicherweise war mittlerweile ausreichend Zeit vergangen, sodass sie eine gewisse Distanz gewonnen hatte. Wenn sie aus alter Gewohnheit ins Grübeln verfiel und ihr inneres Gleichgewicht zu verlieren drohte, rief sie sich gern ein Zitat des Schriftstellers Jack Kerouac ins Gedächtnis, das ebenso poetisch schön wie zutreffend war:
I saw that my life was a vast glowing empty page and
I could do anything I wanted 1
Es half auch dieses Mal und verpasste ihr den gewohnten Schub Mut und gute Laune. Wie so oft verspürte sie Erleichterung, dass jene dunkle Phase hinter ihr lag und mit ihrem jetzigen Leben nichts mehr zu tun hatte.
Mit dem festen Vorsatz, die Dinge auf sich zukommen zu lassen und für alles offen zu bleiben, griff sie nach ihrer Schüssel mit Frühstücksflocken und ihrem frisch gefüllten Kaffeebecher und tappte ins Wohnzimmer. Mal sehen, dachte sie in einem Anflug von Übermut, als sie ihren Laptop öffnete, ob ich dem alten Jack nicht ein bisschen Konkurrenz machen kann.
Nat schrieb bis in den Nachmittag hinein und war danach zu nichts mehr zu gebrauchen. Als sie sich kurz auf die Couch legte, um auszuruhen, schlief sie ein und wachte erst eine Stunde später wieder auf. Müde und desorientiert hockte sie eine Weile auf der Sofakante, ehe sie beschloss, sich draußen die Spinnweben aus dem Kopf pusten zu lassen.
Während ihres gemütlichen Spaziergangs, der sie diesmal vom Meer weg über die Nebenstraßen der Halbinsel führte, stieß sie auf einige zauberhafte Cottages, die sie immer wieder stehenbleiben und ihr Handy zücken ließen, um ein Foto zu machen. Im Gegensatz zu den vielen neuen Häusern, die hier auf dem Land überall aus dem Boden schossen und ihr ebenso modern wie reizlos erschienen, wirkten einige der alten, liebevoll restaurierten Häuschen wie aus der Zeit gefallen.
Nats Lieblingshaus befand sich nur wenige hundert Meter von ihrer eigenen Unterkunft entfernt: ein niedriges, weiß getünchtes Cottage mit tiefgezogenem Schindeldach und rot gestrichenen Fensterrahmen sowie einer zweiteiligen Haustür in der gleichen Farbe. Es stand in einem Garten voller Obstbäume, der von einer alten Natursteinmauer eingefasst war. Zwei Pferde, ein braunes und ein weißes, grasten direkt am Haus, was das idyllische Bild komplett machte. Im Vorbeigehen sah Nat, wie eine ältere Frau weiter hinten im Garten arbeitete und ihr freundlich zuwinkte. Lächelnd winkte sie zurück. Hier auf dem Land grüßten die Einheimischen jeden, egal ob es sich um Urlauber oder Bekannte handelte, und Nat wäre sich furchtbar unhöflich vorgekommen, wenn sie sich dem verweigert hätte.
Als sie kurz vor dem Dunkelwerden nach Hause kam, stand vor der Eingangstür ein großer Karton. In ihm befand sich eine funkelnagelneue Kaffeepadmaschine und dazu ein Megapack Kaffeepads. In Irland hießen sie Pods, wie auf der Verpackung zu lesen war.
Sie freute sich wie ein kleines Kind, als sie die Maschine auspackte. Feierlich stellte sie sie auf die Küchenanrichte, schloss sie an und ließ ein paarmal heißes Wasser durchlaufen. Dann machte sie sich den ersten Kaffee in ihrem Lieblingsbecher, der die Aufschrift You, me & the sea trug. Er schmeckte köstlich nach all dem Instantzeug, das sie seit dem Vortag konsumiert hatte. Flüchtig fragte sie sich, wo Fi die Maschine so schnell hergezaubert hatte. Sie würde ihm einen extragroßen Caffè Crema spendieren, wenn er am nächsten Morgen das Wasser für die Pferde auffüllte.
3
Ob es daran lag, dass sie verschlief oder Fi diesmal früher dran war – sie verpasste ihn jedenfalls. Als sie um kurz vor halb neun zum ersten Mal den Kopf nach draußen steckte, war die Wasserwanne für die Pferde bereits bis unter den Rand gefüllt, und die Ponys grasten weit hinten auf dem Land. Sie hatte so tief geschlafen, dass sie weder Möwen noch Autos gehört hatte. Allerdings hatte sie auch erst um ein Uhr nachts das Licht ausgemacht, nachdem sie zuvor wie im Rausch fast dreitausend Wörter in ihren Laptop getippt hatte. Jetzt fühlte sie sich irgendwie verkatert und beschloss, es langsam angehen zu lassen.
Sie bekam Fi erst am darauffolgenden Tag, einem Samstag, wieder zu Gesicht. Weil das Wetter so herrlich war, saß sie schon kurz nach Sonnenaufgang in eine Decke gewickelt vor dem Haus, trank ihren Kaffee und genoss die Stille. Rings um sie her erwachte die Natur. Ein paar Krähen hockten auf der Stromleitung entlang der Straße und schienen sie zu beobachten, Schafe blökten ganz in der Nähe, und auf dem Gras lag fingerdick der Tau und glitzerte in der Morgensonne. Es hatte die halbe Nacht geregnet, und der Himmel wirkte wie reingewaschen. Noch war es empfindlich kühl, doch Nat merkte, wie die Sonne zunehmend an Kraft gewann. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Hauswand, um noch ein bisschen zu dösen, als ein leiser Pfiff sie zusammenzucken ließ.
Es war Fi, diesmal nicht im Auto, sondern mit dem Fahrrad unterwegs. Er hatte ein Surfboard unter den Arm geklemmt, stand vor dem Tor und musterte sie mit einem spöttischen Grinsen.
»Morgen, Nat. Hast du draußen übernachtet? Bisschen kalt noch dafür, oder?« Er wartete ihre Antwort gar nicht ab, sondern fuhr fort: »Ich bin auf dem Weg zum Strand. Samstagfrüh treffen wir uns immer zum Surfen. Willst du mitkommen? Die Wellenvorhersage für heute sieht ganz gut aus.«
»Guten Morgen. Dir ist aber klar, dass ich nicht surfe, oder?«
»Macht nichts, du kannst ja zugucken. Dann lernst du gleich die lokale Surfelite kennen.«
»Hey, ich komme gerade aus dem Bett und müsste mir erst was anziehen. So schnell geht das alles nicht um diese Uhrzeit.«
Er riss in gespieltem Erstaunen die Augen auf und lachte. »Was, du hast gar nichts an unter der Decke? Es könnte interessant werden, wenn du dich so am Strand zeigst …«
Sie sah sich nach etwas um, das sie nach ihm werfen konnte, hatte aber nichts außer ihrem Kaffeepott zur Hand. Also begnügte sie sich damit, ihm die Zunge herauszustrecken wie eine Vierjährige. »Hau ab! Ich komme nach – vielleicht.«
Er rührte sich nicht von der Stelle. »Versprichst du’s?«
»Nein. Ich brauche noch mindestens einen Kaffee, bis ich überhaupt eine Entscheidung treffen kann. Trinkst du einen mit? Den schulde ich dir mindestens für die schnelle Lieferung der Kaffeemaschine.«
»Gefällt sie dir?«
»Ich bete sie an! Vielen Dank noch mal. Jetzt kann ich pausenlos meiner Sucht frönen, ohne mich bei jeder Tasse zu schütteln.«
»Das freut mich. Caitríona hatte sie schon vor Wochen bestellt und dann einfach im Abstellraum vergessen. Ich komme bei Gelegenheit mal auf einen Kaffee vorbei, aber nun muss ich los. Ich bin wie immer spät dran. In zwei Stunden muss ich schon wieder im Shop sein.«
»Soll ich den Ponys Wasser geben?«
»Das wollte ich auf dem Rückweg machen. Sieh du lieber zu, dass du dir was über den Hintern ziehst. Sonst ist der Tag vorbei, und du verpasst den ganzen Spaß.« Er schaffte es, trotz des sperrigen Boards unter dem Arm das Shaka-Zeichen der Surfer zu machen, und trat in die Pedale. Zehn Sekunden später war er hinter der Anhöhe verschwunden.
»Freches Stück«, murmelte Nat und musste gleichzeitig grinsen. Fis locker-flockige Art wirkte wie ein Gute-Laune-Booster, sie konnte es nicht leugnen. Heute hatte sie ihn zum ersten Mal ohne seine Strickmütze gesehen – ein interessanter Anblick, wie sie fand. Er hatte typisches Surferhaar; knapp schulterlang, am Ansatz mittelblond und die Längen von der Sonne aufgehellt. Seine Naturlocken waren beneidenswert. Schon als Kind hatte Nat sich anstelle ihrer dicken glatten Mähne Haare gewünscht, die sich wenigstens ansatzweise kräuselten, doch keine Chance. Sogar die Dauerwelle, für die sie als Fünfzehnjährige beim Friseur ihr ganzes Erspartes ausgegeben hatte, war nach vierundzwanzig Stunden der Schwerkraft zum Opfer gefallen.
Seufzend quälte sie sich aus dem Stuhl hoch, um unter die Dusche zu gehen. Zwanzig Minuten später war sie unterwegs zu der kleinen Bucht am Ende der Straße, in Regenjacke, Kapuzenpulli, Jeans und Sneakers, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Auf dem Wendeplatz vor dem Weidetor standen zwei VW-Busse älteren Modells und einige Fahrräder. Anscheinend waren die einheimischen Surfer früh auf den Beinen, um die besten Wellen zu erwischen. Nat warf einen Blick auf ihr Handy: viertel nach sieben. Puh!
Am Strand war kaum noch jemand, dafür war auf dem Wasser umso mehr los. Sie setzte sich ein Stück unterhalb der Dünen in den steinigen Sand, lehnte den Rücken an einen Felsen und beobachtete das Treiben. Die meisten Surfer saßen oder lagen weit draußen
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Texte: Lurleen Kleinewig
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Tag der Veröffentlichung: 20.01.2022
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