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Leseprobe

Silberstrandsommer

Ein Ostsee-Roman

Lurleen Kleinewig

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Maike.

 

 

 

 

 

1

 

 

»Ach, komm schon, Jula, jetzt mach keine Szene. Du hast doch selbst gemerkt, dass die Luft raus ist.« Gero sah sie Beifall heischend an, als erwartete er auch noch Zustimmung von ihr.

Sie standen sich in der schäbigen, aber gemütlichen Küche ihrer gemeinsamen Wohnung gegenüber wie Schauspieler in einer Theateraufführung. Nur dass das Stück in diesem Fall einer billigen Schmierenkomödie glich, randvoll mit Klischees und abgedroschenen Phrasen.

Jula war wie erstarrt. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. Ihr Herz machte einen Satz bis in den Hals hinauf, steckte kurz fest und rutschte dann wieder in ihre Brust zurück, um dort wild gegen ihre Rippen zu hämmern. Ihre Stimme überschlug sich fast.

»Ich soll keine Szene machen? Du eröffnest mir, dass du mich nach sieben Jahren Beziehung gegen eine deiner … deiner Trällertussis eintauschst, und ich soll mich hinsetzen und mir die Nägel lackieren, oder wie? Schon klar. Meine Fresse, Gero. Warum rufst du sie nicht gleich an? Dann kann sie herkommen, und wir trinken Sekt und quatschen über deine sexuellen Vorlieben, wie Mädchen das so tun. Vielleicht kann ich von einer Achtzehnjährigen noch was lernen.«

Jetzt wurde sie sarkastisch. Sarkasmus war ihre letzte Zuflucht vor Gebrüll und Tränenflut. Sie stand ganz oben an einem steilen, glitschigen Abhang und geriet allmählich ins Rutschen. Es war ein langer, langer Weg nach unten, und wer wusste, was sie erwartete, wenn sie erst im Tal angekommen war.

»Und im Übrigen«, setzte sie hinzu, mühsam um Fassung und Worte ringend, »habe ich nicht gemerkt, dass die Luft raus ist. Vielleicht war ich zu sehr mit Arbeiten und Geldverdienen beschäftigt, um das mitzukriegen!«

Immerhin hatte Gero den Anstand, ein betretenes Gesicht zu machen. Das mit dem Geldverdienen nahm sie nämlich seit jeher wesentlich ernster als er, und so war sie auch diejenige, die die meisten Rechnungen bezahlte. Während er im Proberaum mit seinen Bandkollegen an neuen Songs tüftelte und seinem großen Traum vom Rockstarleben nachhing, riss sie sich an mindestens sechs Tagen die Woche bei zwei Jobs den Allerwertesten auf. Hätte er an den Wochenenden nicht regelmäßig Auftritte mit einer gut gebuchten Coverband an Land ziehen können, wäre sie mehr oder weniger die Alleinverdienerin in ihrer kleinen Familie gewesen. So konnten sie sich wenigstens die Miete teilen.

Das würde sich jetzt ändern. Gero war so gut wie weg, und sie musste zusehen, dass sie weiterhin den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn Henri bestritt. Bei dem Gedanken daran, wie sie das in Zukunft bewerkstelligen sollte, fiel ihr Magen ins Bodenlose, wie ein Fahrstuhl, dessen Halteseile unvermittelt nachgaben.

»Was ist mit Henri? Hat er jetzt genauso ausgedient wie ich? Wie soll er das begreifen?«

Gero blickte sie herablassend an. »Jula. Ich bin nicht sein Vater.«

Das war der Funke, der das Pulverfass zur Explosion brachte. Jula packte den Stuhl, dessen Lehne sie krampfhaft umklammert hatte, und schleuderte ihn in Geros Richtung. »Ach, ist das so? Das fällt dir ja früh ein. Verschwinde bloß zu deiner Bumsbiene, du herztoter Zombie!«, brüllte sie wutentbrannt. Das Weinen kroch ihre Kehle hinauf und würgte sie, doch noch war ihr Zorn größer. »Da kannst du auch bleiben. Lass dich hier nicht wieder blicken, sonst ist ein Stuhlbein im Hintern dein kleinstes Problem!«

In Geros dunklen Augen flammte es unheilvoll auf, und er schien zu überlegen, ob er den Fehdehandschuh aufheben sollte. Klugerweise entschied er sich dagegen. Seine demonstrativ zur Schau getragene Selbstbeherrschung machte Jula rasend. »Ich komme in ein paar Tagen wieder, wenn du dich beruhigt hast. Vielleicht können wir uns dann vernünftig unterhalten. Ich rede auch noch mit Henri.«

»Einen Dreck wirst du!«, fauchte sie. »Ich werde es ihm sagen. Ob er danach noch mit dir sprechen will, entscheidet er selbst.«

Geros Gesicht verriet nichts von dem, was er dachte. Er hob den Rucksack mit seinen Sachen auf, die er klammheimlich hatte zusammenpacken wollen, um sie bei seiner neuen Freundin zu deponieren. Dumm nur, dass Jula ihn dabei erwischt hatte. Wäre sie nicht morgens auf halbem Weg zum Einkaufen noch einmal umgedreht, weil sie ihr Geld auf dem Küchentisch hatte liegen lassen, wäre die Wahrheit vermutlich nicht so bald ans Licht gekommen. Gero hatte erst Farbe bekannt, als sie ihn dazu gezwungen hatte.

Jetzt nickte er ihr zu wie einer Fremden und wandte sich zum Gehen. »Wir sehen uns.«

Als die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fiel, ging Jula in die Knie und umklammerte ihren Kopf mit beiden Händen. Minutenlang kauerte sie auf dem Küchenfußboden und weinte wie von Sinnen. Die Schluchzer schüttelten sie durch, bis sie kaum noch Luft bekam, und Verzweiflung rollte über sie hinweg wie eine gigantische Welle. Das war es also. Aus und vorbei. Ihre Beziehung war zu Ende, und sie blieb allein zurück mit ihrem neunjährigen Kind, das nie einen anderen Vater gekannt hatte als Gero. Was den allerdings nicht mehr sonderlich zu berühren schien – seine blutjunge Backgroundsängerin war ihm offensichtlich wichtiger geworden als sein Ziehsohn oder sie selbst. Wie hatte das passieren können, und wie lange ging das schon so? Was hatte sie sonst noch verpasst, während sie damit beschäftigt gewesen war, sie alle drei durchzubringen? Warum war das Leben so sinn- und grundlos beschissen?

Okay. Okay. Sie musste durchatmen. Versuchen, ihre Gedanken zu sortieren, damit sie sich einen Plan zurechtlegen konnte. Es gab kein Netz, keinen doppelten Boden für Henri und sie. Niemand würde einspringen, wenn sie, Jula, zusammenbrach und schlappmachte. Henri war voll und ganz auf ihre Stärke angewiesen; dieselbe Stärke, mit der sie immer alles zusammengehalten hatte – bis jetzt. Im Stillen dankte sie dem Universum dafür, dass die Sommerferien noch nicht begonnen hatten und Henri in der Schule war. Wäre er Zeuge der Szene mit Gero geworden, hätte das die Situation nur weiter verschärft. Bevor er nach Hause kam, musste sie sich beruhigt haben und für den Rest des Tages normal funktionieren. Sobald er im Bett war … Nun, dann würde sie weitersehen.

Sie schaffte es unter Aufbietung all ihrer Kräfte, den Anschein von Normalität zu wahren, als Henri gegen drei Uhr nachmittags fröhlich zur Tür hereinplatzte. Er stürzte sich mit dem üblichen Bärenhunger auf sein spätes Mittagessen, das diesmal aus Pfannkuchen bestand. Sie waren das Einzige, was Jula sich in ihrem inneren Ausnahmezustand zuzubereiten getraut hatte.

»Hast du Hausaufgaben auf?«, fragte sie ihren Sohn beiläufig, während sie so tat, als würde sie den Herd und die Arbeitsfläche sauber wischen. In Wirklichkeit war es ihr scheißegal, ob alles voll mit Fettspritzern war. Sie musste ihre Hände beschäftigen und sich ablenken, damit sie nicht losheulte.

Der Neunjährige sah kauend zu ihr auf. Der Blick seiner blauen Augen unter den langen hellblonden Haarsträhnen war argwöhnisch. »Nur ein bisschen Mathe, und das ist voll leicht. Kann ich danach mit Jan Longboard fahren?«

Mathe und Longboarden waren Dinge, die Henri liebte. Jula war insgeheim erleichtert, dass er den Rest des Nachmittags wie meistens draußen mit seinem Freund verbringen wollte. So würde er hoffentlich nicht merken, dass etwas nicht stimmte. Es war verdammt schwierig, Henri hinters Licht zu führen. Er besaß ein ausgeprägtes Gespür für ihre Stimmungen und ließ sich nichts vormachen. Sie würde es ihm ohnehin bald sagen müssen, aber erst wollte sie ihre Gefühle wieder einigermaßen unter Kontrolle bringen und sich ihre Worte in Ruhe zurechtlegen. Dafür brauchte sie einen klaren Kopf, und den hatte sie heute nicht. Vor allem musste sie schleunigst herausfinden, wie es ab jetzt weitergehen sollte. Das war das größte Problem, das es zu lösen galt, denn ohne Gero würde sie die Wohnung nicht halten können. Außerdem wäre Henri an den Wochenenden, wenn sie tagsüber arbeiten musste, unbeaufsichtigt.

»Klar. Sei aber um sieben wieder zu Hause, okay?«

»Mhm.«

Nachdem Henri seine Matheaufgaben mit der ihm eigenen Hingabe erledigt hatte und mit seinem alten, zerkratzten Longboard unter dem Arm nach draußen verschwunden war, sank Jula auf das durchgesessene Sofa im Wohnzimmer und schlug die Hände vors Gesicht. Ihren freien Tag hatte sie sich weiß Gott anders vorgestellt. Geros Geständnis hatte sie völlig unvorbereitet getroffen, und sie fragte sich die ganze Zeit, ob sie es hätte kommen sehen müssen. Sicher, sie war in den letzten Monaten oft übermüdet gewesen von zu viel Arbeit und hatte wenig wahrgenommen von dem, was Gero so trieb. Sie wusste, dass er plante, gemeinsam mit einem Freund ein Tonstudio zu eröffnen – zumindest behauptete er das –, und sie hatte seine ständige Abwesenheit diesem Umstand zugeschrieben. Ihr Sexleben war schon vor einer Weile mehr oder weniger eingeschlafen – na ja, zumindest was ihren gemeinsamen Sex anging. Gero hatte sich ja offenbar an anderer Stelle ausgiebig ausgetobt.

In dieser Nacht lag sie zusammengerollt wie ein Embryo unter der Bettdecke, hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlungen und versuchte verzweifelt, ihr Schluchzen zu unterdrücken, damit Henri nicht aufwachte. Sie hatte ihm erzählt, dass Gero für ein paar Tage hatte verreisen müssen. Ihr Sohn war an Geros unruhiges Berufsmusikerdasein gewöhnt und fragte nicht weiter nach. Sie selbst konnte den Gedanken kaum ertragen, dass ihr langjähriger Lebensgefährte in Wahrheit bei seiner neuen Freundin übernachtete und womöglich gerade die gleichen Dinge mit dieser Frau im Bett anstellte wie früher mit ihr.

Sie biss die Zähne zusammen und spürte heiße Tränen über ihre Wangen rinnen. Irgendwie musste sie es aushalten, den Schmerz und die Erniedrigung. Ein Zurück gab es nicht. Durch Geros Betrug war die Tür zu ihrem alten Leben für immer verschlossen. Selbst wenn sie ihm hätte verzeihen können, würde sie niemals vergessen, dass er sie und in gewissem Sinne auch Henri eiskalt hintergangen hatte, und sie bezweifelte, dass das eine brauchbare Grundlage für einen zweiten Versuch darstellte. Sogar in diesem einsamen, von Trauer erfüllten Augenblick, in dem sie sich insgeheim nichts sehnlicher wünschte, als dass er durch die Tür kommen und sie in die Arme nehmen würde, wurde ihr mit bedrückender Deutlichkeit klar, dass Geros und ihre Beziehung ein für alle Mal Geschichte war.

Sie hatten sich vor gut sieben Jahren auf einem Heavy-Metal-Festival kennengelernt, bei dem Jula hinter der Bühne im Cateringteam gearbeitet hatte. Henri war damals erst zwei gewesen und Jula vierundzwanzig. Geros Band hatte an jenem glühend heißen Sommertag zu einer undankbaren Uhrzeit im Nachmittagsprogramm gespielt, und Jula war der Sänger mit den dunklen Augen und dem hübschen, trotzigen Mund sofort aufgefallen, als er und seine Musikerkollegen sich nach dem Auftritt ums Büfett geschart hatten. Seinen interessierten Blicken nach zu urteilen war auch sie von ihm nicht unbemerkt geblieben, und später hatte er sie draußen vor dem Cateringzelt abgepasst und nach ihrer Telefonnummer gefragt.

Sie wurden nur wenige Stunden später ein Paar, denn während ihre gemeinsame Lieblingsband den letzten Song des Abends performte, hatte Gero sie im Schatten des Bühnenaufgangs geküsst. Schon nach drei Monaten waren sie zusammengezogen, in ihre jetzige Wohnung in Geros Heimatstadt. Ihn hatte nie gestört, dass Jula bereits einen Sohn hatte, und auch sonst war das Zusammenleben mit ihm unkompliziert – wenn auch etwas chaotisch – gewesen. Sie waren am Anfang häufig zu Festivals gefahren, entweder mit Geros Band oder nur als Zuschauer, Klein-Henri immer mit dabei. Überhaupt hatten sie in den ersten Jahren ihrer Beziehung ein paar verrückte, wundervolle Dinge angestellt: spontane Wochenendtrips ins Grüne, wo sie in einem billigen Zweimannzelt mitten auf einer Kuhweide kampiert hatten, oder nächtliche Ausflüge in die benachbarte Großstadt, wo Gero auf die eigenwillige Idee gekommen war, ein Fahrrad ›auszuleihen‹ und mit der beschwipsten Jula auf dem Gepäckträger von einem Klub zum nächsten zu radeln.

Jula selbst hätte nicht zu sagen vermocht, wann ihnen die Unbeschwertheit abhandengekommen war. Nach mehreren Besetzungswechseln ging Geros Band irgendwann die Luft aus. Selbst unter anderem Namen und mit einem neuen Management ließ der große Erfolg auf sich warten. Jula geriet währenddessen mehr und mehr unter Druck, Geld verdienen zu müssen, und arbeitete phasenweise fast ohne Pause, damit sie über die Runden kamen. Für sie als gelernte Buchhändlerin gab es in einer Kleinstadt praktisch keine Jobangebote, und eine Arbeitsstelle im weiteren Umkreis scheiterte von vornherein an den Benzinkosten und der nicht vorhandenen Betreuung für Henri. Sie hätten natürlich in die nahe Großstadt ziehen können, aber das wollte sie ihrem Sohn nicht antun. So jobbte sie, was das Zeug hielt, und jonglierte zu Spitzenzeiten mit drei Stellen gleichzeitig.

Mittlerweile arbeitete sie dreißig Stunden die Woche fest in einem esoterisch angehauchten Laden namens Tee & Tarot und an den Wochenenden zusätzlich tagsüber im Stadtcafé, wo sie vor allem Frühstücks- und Kaffeegäste bediente. Mit Glück sprang bei dem Ganzen ein freier Tag in der Woche heraus, meistens der Montag, wenn im Tee & Tarot wenig los war und ihr gutmütiger, aber notorisch unorganisierter Chef Mathieu ohne sie zurechtkam. Mathieu war auch derjenige, den sie morgen früh als Erstes fragen würde, ob er bereit war, ihr mehr Stunden zu geben. Sie würde jeden Cent brauchen, wenn sie nach einer neuen Bleibe für Henri und sich suchte. Was auch immer Gero vorhatte, er konnte sich ihre jetzige Wohnung allein genauso wenig leisten wie sie. Wohnraum war knapp und teuer, wenn man in der Peripherie einer Großstadt lebte, selbst wenn es sich dabei nur um ein unattraktives Kaff im südlichen Randgebiet von Niedersachsen handelte.

 

»Ach, Jula.« Mathieu sah sie unglücklich an. »Es tut mir wirklich leid, aber ich dachte, du wüsstest, wie es um den Laden steht. Vielleicht schaffen wir es noch bis zum Ende des Jahres, aber ehrlich gesagt glaube ich, dass wir zum ersten Oktober schon schließen müssen. Ich hätte in den nächsten Tagen sowieso mit dir darüber gesprochen, damit du dir rechtzeitig was Neues suchen kannst.«

»Was Neues?« Jula lachte leise auf. Es klang bitterer, als sie beabsichtigt hatte. Schließlich konnte Mathieu nichts dafür, dass sie dermaßen in der Scheiße steckte und gerade noch ein Stückchen tiefer einsank. »Du hast Humor. In diesem Kuhdorf sind anständig bezahlte Jobs ungefähr so leicht zu finden wie ein Diamant mit zehn Karat, aber das weißt du ja selber.«

Mathieu seufzte. »Immerhin hast du noch deine Stelle im Café. Das ist besser als nichts.«

Als wenn wir davon auch nur ansatzweise leben könnten, dachte Jula. Doch prompt regte sich ihr Gewissen. Es ging hier nicht in erster Linie um sie. Mathieu würde nicht nur seine berufliche Existenz verlieren; der schrullige Laden war überdies seit vielen Jahren sein Ein und Alles. Besonders gut war er nie gelaufen, aber er hatte Mathieu und Jula als seiner einzigen Angestellten immerhin ein bescheidenes Einkommen gesichert. Doch damit war es nun vorbei. So liebenswert verpeilt Mathieu auch sein mochte, er gab Tee & Tarot sicherlich nicht leichtfertig auf. Das Wasser musste ihm bis zum Hals stehen.

»Was wirst du machen, wenn hier Schluss ist?«, erkundigte Jula sich vorsichtig.

Ihr Chef zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich bleibt mir fürs Erste nur der Gang zur Arbeitsagentur. Ich bin dreiundfünfzig und seit über zwanzig Jahren selbstständiger Esoterikfuzzi mit einem Faible für erstklassigen Tee. Wo sollte ich mit diesen bemerkenswerten Fähigkeiten unterkommen? Ich denke nicht, dass ich meine Tage als Parkplatzwächter beschließen möchte. Vielleicht mache ich eine Hotline auf und lege den Kunden am Telefon die Karten.«

Er verdrehte die Augen und zündete sich die wer-weiß-wievielte Zigarette des Tages an. Da er an seinem Stammplatz am offenen Fenster des winzigen Hinterzimmers saß, das Jula und er als Küche und Aufenthaltsraum nutzten, wurden hauptsächlich die Vögel draußen von seiner Kettenraucherei belästigt. Vorn im Laden roch es ebenso penetrant wie angenehm nach Räucherstäbchen und diversen Teesorten, und Jula flüchtete zurück in den Verkaufsraum, um die verheerende Nachricht, dass sie bald ihren Hauptjob los sein würde, zu verdauen.

Solange sie mit ihrer Arbeit beschäftigt war, gelang es ihr irgendwie, auf Autopilot zu schalten und die Fassung zu bewahren. Als sie jedoch gegen ein Uhr Feierabend machte und sich in ihren VW-Bus setzte, um nach Hause zu fahren, überkam sie der Schock wie ein Tsunami. Sie begann am ganzen Leib zu zittern und brach schließlich in Tränen aus. Den Kopf auf das Lenkrad gelegt, schluchzte sie herzzerreißend und konnte sich nicht beruhigen. Sie hatte das Gefühl, dass alles den Bach runterging. Die zweite Hiobsbotschaft innerhalb von gerade einmal vierundzwanzig Stunden war mehr, als sie verkraften konnte. Was sollte sie jetzt bloß tun?

Irgendwann hob sie ihr tränenüberströmtes Gesicht, um in ihrer Umhängetasche nach einem Taschentuch zu suchen. Das ganze Lenkrad war nass geweint. Geräuschvoll putzte sie sich die Nase und bemerkte dabei, dass ihr Handy blinkte. In der wilden Hoffnung, es wäre ein Anruf von Gero, starrte sie auf das Display, doch es war eine WhatsApp-Nachricht von ihrer alten Freundin Mikke, die wissen wollte, wie es ihr ging. War das Gedankenübertragung? Wenn sie wüsste!

Mikke und sie kannten sich seit Julas zehntem Lebensjahr. Sie hatten sich auf einem Ponyhof in der Lüneburger Heide getroffen, wo sie die ersten Reiterferien ihres Lebens verbracht hatten, und dieses unvergessliche Abenteuer hatte sie so eng zusammengeschweißt, dass sie über die Jahre in Kontakt geblieben waren. Mikke war mittlerweile verheiratet, hatte zwei Söhne in Henris Alter und lebte in einem Dorf an der Ostsee. Jula hatte sie zuletzt gesehen, als Henri noch klein gewesen war. Sie texteten sich regelmäßig und telefonierten ab und zu, und es gab Zeiten, da verspürte Jula einen Anflug von Neid auf Mikkes solides Leben. Sie arbeitete halbtags im Sekretariat einer Grundschule, besaß zusammen mit ihrem Mann ein kleines Bauernhaus mit einer Ferienwohnung im Dachgeschoss und hielt ihre drei Pferde in der angrenzenden Scheune. Jula fand die Vorstellung von einem eigenen Hof in unmittelbarer Nähe der Ostsee ungeheuer idyllisch, und jedes Mal, wenn Mikke ihr Fotos schickte, fühlte sie eine vage Sehnsucht nach endlosen Sommertagen am Meer in sich aufsteigen, an denen das Leben so sorgenfrei vor sich hinplätscherte wie die Wellen am Strand.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, tippte Jula auf Mikkes Nummer. Sie hatte das dringende Bedürfnis, jemandem ihr Herz auszuschütten, und Mikke konnte sie sich bedenkenlos anvertrauen. Ihre alte Freundin wusste so ziemlich alles über sie und würde sie nicht verurteilen. Wenn jemand ihr jetzt einen guten Rat geben konnte, dann sie.

 

Als Jula mit einer knappen Stunde Verspätung die Wohnungstür aufschloss und in den schmalen Flur stolperte, noch ganz aufgewühlt von den Dingen, die sie mit Mikke am Telefon besprochen hatte, saß Henri schon am Küchentisch und daddelte lustlos auf seinem uralten Tablet herum.

»Du kommst zu spät«, beklagte er sich und starrte seine Mutter vorwurfsvoll an. »Gibt es heute nichts zu essen?«

»Doch, natürlich, mein Kleiner.« Jula warf ihre Tasche auf einen Stuhl und knallte einen Topf auf den Herd. Spaghetti, beschloss sie, mit Tomatensoße aus dem Glas. Einmal wird er das überleben. »Tut mir leid, dass du warten musstest. Ich hatte … Ich musste noch einen wichtigen Anruf erledigen, deshalb hat es länger gedauert.«

Henri sah sie unverwandt an. Sein von langen Sommernachmittagen im Freien gebräuntes Kindergesicht mit den wachen Augen und den Sommersprossen wirkte ernst. »Ist irgendwas passiert?«

Oh Gott, dachte Jula. Jetzt schon? Scheiße. Ich brauche noch mehr Zeit, ich …

Doch dann drehte sie den Herd wieder ab und setzte sich zu ihm. Sie hatte es sich zu einem Grundsatz gemacht, immer ehrlich zu ihrem Sohn zu sein und ihm auch unschöne Wahrheiten nicht vorzuenthalten. Nur weil er ein Kind war, bedeutete das nicht, dass sie ihn anlügen musste. Die Frage war nur: Wie brachte sie ihm das ganze Ausmaß dieses Schlamassels möglichst schonend bei? Und vor allem die Konsequenzen, die sie nun daraus ziehen musste?

»Sag mal«, begann sie vorsichtig, »was würdest du davon halten, wenn wir die Sommerferien an der Ostsee verbringen?«

»An der Ostsee?«, echote Henri. »Wo denn da?«

»Na ja, du erinnerst dich doch an meine Freundin Mikke, oder? Die mit den Pferden.«

Henri nickte.

»Ich habe gerade mit ihr telefoniert. Wir würden sie besuchen und ein paar Tage bei ihr wohnen. Aber für den Rest der Ferien würden wir dann … zelten. Auf einem Campingplatz am, ähh, Meer«, schob sie hastig hinterher, um das Ganze für Henri reizvoller zu machen.

»Kann ich denn da auch skaten?«

»Natürlich. Dein Board nimmst du mit. Vielleicht kannst du sogar bei einem Surfkurs mitmachen.«

Henris Augen leuchteten auf. Er wünschte sich schon lange nichts sehnlicher, als surfen zu lernen. Wenn das Wetter zu schlecht war, um draußen herumzustromern, verbrachte er oft Stunden damit, sich Surfvideos auf YouTube anzuschauen. »Cool. Und wie lange bleiben wir da?«

Jula schluckte trocken. »Die ganzen Ferien. Und wahrscheinlich sogar länger. Es könnte sein, dass wir – dass wir nicht hierher zurückkommen.«

Henri horchte auf, und Jula konnte sehen, dass ihm langsam dämmerte, was sie ihm zu sagen versuchte.

»Kommt Gero auch mit?« Seine Stimme klang piepsig, und der Blick, mit dem er sie musterte, war eindeutig ängstlich.

Jula, die sich vor dieser Frage am meisten gefürchtet hatte, krümmte sich innerlich. Am liebsten hätte sie ihren Sohn an sich gedrückt und ihm beteuert, dass alles gut werden würde, doch sie ahnte, dass dies der falsche Moment für Versprechungen war. Im Geiste schwor sie Gero ewige Rache, weil er Henri so etwas antat. Und ihr. Dann atmete sie tief ein und wieder aus und sagte: »Nein. Gero kommt nicht mit.«

 

2

 

 

»Herrgott, Jula, so ein elender Mist aber auch!« Mikkes aufgebrachte Stimme drang aus dem Smartphone, und einen Augenblick lang fühlte Jula sich von ihrer ehrlichen Anteilnahme getröstet. »Ich fasse es nicht, dass er das getan hat. Wenn ich den in die Finger kriege … Was ist denn bloß in ihn gefahren? Ist das schon die Midlife-Crisis, oder was?«

»Ich kann es dir nicht sagen.« Jula hörte selbst, wie verzagt sie klang. »Aber es scheint ihm ernst zu sein mit diesem Trällermariechen. Ihr Techtelmechtel läuft mit Sicherheit schon eine ganze Weile, auch wenn er sich gestern geweigert hat, es zuzugeben. Das Schlimmste ist, ich weiß einfach nicht, was ich jetzt tun soll. Mathieu macht den Laden in ein paar Monaten dicht, und das bedeutet, ich habe weder einen vernünftigen Job noch eine bezahlbare Wohnung an der Hand. Beides ist hier absolute Mangelware. Ich stecke bis zum Hals im Dreck.«

»Was wohnst du auch in so einem dämlichen Kaff in der Mitte von Nirgendwo«, knurrte Mikke. »Das habe ich nie verstanden. Ich möchte da nicht tot über der Hecke hängen! Und lass mich raten – die Wahrscheinlichkeit, dass du Gero und seiner Lolita alle naselang über den Weg läufst, liegt bei hundert Prozent, richtig?«

Jula schniefte. Bei dem Gedanken kamen ihr erneut die Tränen. »Richtig.«

»Jula. Tu dir das nicht an, okay? Tu euch das nicht an. Ihr müsst da weg, das ist keine Zukunft. Pack deine Siebensachen zusammen und komm hierher. Zu mir. Henri hat doch bald Sommerferien.«

»In gut zwei Wochen, ja.«

»Na also. Du brauchst jetzt erst mal einen Tapetenwechsel. Am Ende der Ferien siehst du weiter. Wenn du nicht bleiben willst, ist das völlig in Ordnung, aber ich versichere dir, einen annehmbaren Saisonjob findest du hier allemal. Und wer weiß, vielleicht kommt der miese Drecksack Gero schon bald auf Knien wieder angekrochen … Aber das spielt jetzt keine Rolle. Du musst an dich und dein Kind denken. Wir melden Henri vorsichtshalber schon mal bei uns in der Schule an. Er käme nach den Ferien wahrscheinlich sogar mit Tebbe in eine Klasse.«

»Moment, langsam. Dafür ist es doch viel zu spät …«

»Ist es nicht. Ich kümmere mich darum, keine Sorge. Du brauchst nichts zu tun, außer euch zwei hierherzubeamen. Fährst du noch diesen VW-Camper von damals, als ihr den Europatrip geplant hattet?«

»Ob du es glaubst oder nicht, in der Ratterkiste sitze ich gerade.« Jula seufzte und wischte sich über die Augen.

»Ha, perfekt! Pack noch ein Zelt ein, und ihr seid für den Sommer gerüstet. Der Campingplatz ist quasi vor meiner Haustür. Die ersten Nächte könnt ihr natürlich bei mir schlafen. Ich würde euch liebend gern sofort in der Ferienwohnung einquartieren, nur ist die blöderweise bis Ende Oktober ausgebucht. Ich habe vereinzelt Lücken von ein paar Tagen, das hilft euch nicht weiter. Aber spätestens ab November musst du dir keine Sorgen mehr wegen einer Bleibe machen. Dann könnt ihr die Wohnung nutzen, solange ihr wollt. Marten frage ich erst gar nicht, er wird nichts dagegen haben.«

Marten war Mikkes Mann, groß und stark wie ein Bär und eine Seele von Mensch. Jula hatte ihn erst bei Mikkes Hochzeit kennengelernt und auf Anhieb sympathisch gefunden.

»Aber … Aber was mache ich mit unserer Wohnung hier? Ich kann doch nicht einfach die Tür hinter mir zuknallen und abhauen.«

»Nicht?«, konterte Mikke trocken. »Im Ernst, gerade hast du mir noch erzählt, dass du dir die Bude allein gar nicht leisten kannst. Und Monsieur Gero ja offenbar noch weniger. Du – oder vielmehr ihr – werdet sie demnach sowieso kündigen müssen. Es sei denn, er plant, seine Neue dort einziehen zu lassen. Vielleicht hat die ja Geld. Das kann dir aber egal sein. Ist nicht mehr deine Baustelle. Steht irgendwas von Wert in der Wohnung?«

Jula lachte leise. »Schön wär’s. Aber es war ja nie wirklich Kohle da, insofern sind die meisten Möbel nach all den Jahren nur noch gut für den Sperrmüll. Ich würde sowieso nichts davon behalten wollen. Jetzt nicht mehr.«

Sie schauderte.

 

Bruchstücke ihres Gesprächs mit Mikke kreisten in Julas Kopf, während sie Henri so kindgerecht wie möglich zu erklären versuchte, dass Gero und sie sich getrennt hatten. Das war bei Weitem der schwierigste Teil. Nicht der mögliche Orts- oder Schulwechsel, nicht der Abschied von seinen Freunden – nein, das hier ging viel, viel tiefer. Gero war zwar nicht Henris leiblicher Vater, aber der einzige, der für ihn existierte, und nun musste er ihn loslassen. Es war das Schlimmste, was Jula ihrem Sohn jemals hatte begreiflich machen müssen, und sie hasste Gero mit jeder Sekunde mehr für seinen Verrat. Als etwas anderes konnte sie es nicht sehen.

Henri hörte ihr ungläubig zu und stellte lauter Fragen, die mit ›Warum‹ anfingen. Jula gab sich Mühe, ihm so neutral wie möglich zu antworten und ihre eigenen Gefühle herauszuhalten, doch es war offensichtlich, dass die Neuigkeit ihn verstörte. Als er unvermittelt aufstehen und aus der Küche laufen wollte, hielt sie ihn zurück, und das war der Punkt, an dem das Ganze kippte. Henri schrie, trat und schlug um sich, bis er schließlich in Julas Armen erschlaffte und in Tränen ausbrach. An seine Mutter geklammert, schluchzte er laut und jämmerlich, dass Jula glaubte, ihr Herz müsste vor Mitleid zerspringen. Sie legte sich mit ihm in seinem Zimmer aufs Bett, und während ihr unglückliches Kind sich allmählich in den Schlaf weinte, flossen ihre eigenen Tränen stumm und unaufhörlich. Nie, nie wieder würde sie zulassen, dass ein anderer Mensch ihrem Sohn derart wehtat, das schwor sie sich ein ums andere Mal. Lieber würde sie in Zukunft allein bleiben, wenn das der einzige Weg war, ihn vor dem furchtbaren Schmerz des Verlassenwerdens zu bewahren.

Als Gero drei Tage später auf Julas widerwillige Einladung hin zu ihr in die Wohnung kam, war sie vorbereitet. Es war Samstagnachmittag, und sie hatte Henri zu seinem Freund Jan geschickt, bei dem er auch übernachten würde. Da er sich vehement weigerte, Gero noch einmal zu treffen, erschien ihr das zu diesem Zeitpunkt als die beste Lösung.

Gero entging nicht, dass er nur von Jula empfangen wurde.

»Hältst du Henri jetzt absichtlich von mir fern?«, fragte er ungläubig, und sein beleidigter Gesichtsausdruck reizte Jula bis aufs Blut. Doch sie riss sich zusammen. Sie würde sich nicht aus der Reserve locken lassen, egal was passierte. Sie musste knallhart verhandeln, wenn sie das bekommen wollte, was sie brauchte, um mit Henri neu anfangen zu können. In den vergangenen zweiundsiebzig Stunden hatte sie fast nichts anderes getan, als über Mikkes Vorschläge nachzudenken, und nach einer schlaflosen Nacht hatte sie heute früh einen Entschluss gefasst.

»Ich halte niemanden fern«, gab sie kühl zurück. »Henri will dich nicht sehen, das ist alles.«

»Was hast du ihm erzählt?«

»Keine Sorge, ich habe mir keine Gruselgeschichten über dich ausgedacht, falls du das denkst. Die Wahrheit hat völlig genügt.«

Gero seufzte. »Was willst du von mir hören, Jula?«

»Nichts. Rein gar nichts. Du hast deine Entscheidung mehr als deutlich gemacht. Mir geht es nur noch darum, was wir mit dieser Wohnung und … unseren gemeinsamen Sachen anfangen.«

Gero starrte sie an. Sie wusste, dass sie einen wenig verführerischen Anblick bot – fahle Haut, bläuliche Schatten unter den Augen, der dunkle zerfranste Bob mit dem zu langen Pony strähnig herunterhängend. Ja, auch sie hatte einen Spiegel im Badezimmer, in den sie ab und an blickte, auch wenn sie es momentan lieber vermied.

»Hat das nicht noch etwas Zeit?«

»Nein, hat es nicht. Sobald Henri Sommerferien hat, fahren wir zu Mikke an die Ostsee. Das ist in zwei Wochen. Bis dahin möchte ich hier alles geregelt haben. Ich glaube nicht, dass wir … zurückkommen.«

»Was heißt das, ihr kommt nicht zurück?«

»Das heißt, dass Henri und ich weggehen und noch mal neu anfangen. Ob das nun an der See sein wird oder anderswo, kann ich jetzt noch nicht sagen.«

»Hey, nun mal langsam. Ist das nicht ein bisschen überstürzt? Ich meine, wie stellst du dir das vor? Du kannst doch nicht von heute auf morgen alle Zelte abbrechen und verschwinden.« Seinem fassungslosen Blick nach zu urteilen hatte er mit einer solchen Nachricht nicht gerechnet.

»Worauf soll ich warten, Gero?«, fragte sie mit erzwungener Ruhe. »Du hast mich verlassen. Mathieu schließt demnächst seinen Laden. Was sollen Henri und ich hier noch? Ich werde nicht tatenlos rumsitzen und zugucken, wie mir das Geld ausgeht. Ehrlich gesagt möchte ich dir in Zukunft auch nicht ständig über den Weg laufen, und das wird sich in diesem Kaff nicht vermeiden lassen. Also räumen wir das Feld. Was die Wohnung angeht, habe ich mir etwas überlegt und möchte dir einen Deal vorschlagen.«

Sie holte tief Luft und hätte beinahe losgelacht, weil Gero mit einem Mal geradezu panisch dreinschaute. »Jetzt guck nicht so! Du kannst alles in der Wohnung haben, die Möbel, die Küche, den Fernseher. Auch die Wohnung selbst, wenn du willst. Keine Tricks, keine Ausnahmen. Dafür kriege ich neben Henris und meinen persönlichen Sachen den Bus und die Campingausrüstung, die wir damals für unseren geplanten Roadtrip gekauft haben. Der ja nie stattgefunden hat. Aber jetzt brauche ich den Kram, weil Henri und ich den Sommer über campen werden. So ist zumindest der Plan. Also, was sagst du?«

»Du willst den Bus?«, war alles, was Gero hervorbrachte. Er war kreidebleich geworden, wie Jula mit einer gewissen Genugtuung bemerkte. So hatte er sich das Ganze wohl nicht vorgestellt.

»Ja, den will ich«, erwiderte sie fest. »Du fährst doch sowieso fast immer den Kombi von deinem Bruder, weil dir der Camper zu lahm und zu sperrig ist.«

»Mag sein, aber mir geht das echt zu schnell. Lass mir wenigstens ein paar Tage Bedenkzeit.«

»Nein. Wir klären es jetzt.« Sie trat ganz nah an ihn heran. »Du hast das hier angestoßen, Gero«, sagte sie leise, aber bestimmt. »Nicht ich. Jetzt setz dich gefälligst auch mit den Konsequenzen auseinander.«

Er sah sie lange an. Sein kantiges Gesicht unter den dichten dunklen Haaren spiegelte die unterschiedlichsten Gefühle wider – Verwirrung, Ärger, Bestürzung und auch einen Anflug von Trauer. Jula zwang sich tapfer, seinem Blick standzuhalten. Sie durfte jetzt nicht schwach werden, ihm nicht zeigen, wie sehr allein seine Nähe ihr das Herz zerriss. Am liebsten hätte sie die Hand ausgestreckt und ihn berührt, doch sie wagte es nicht.

Für einen kurzen, flüchtigen Moment schien es ihr, als würde er sich besinnen und alles rückgängig machen wollen, damit sie wieder eine Familie sein konnten. Aber der Augenblick verstrich, und schließlich sagte er mit kaum merklichem Zögern in der Stimme: »In Ordnung. Der Deal gilt.«

 

»Was machst du da, Mama?«

Jula antwortete nicht sofort. Unschlüssig drehte sie den Elektrorasierer, der eigentlich Gero gehörte, in den Händen. »Wenn ich das wüsste«, murmelte sie mehr zu sich selbst. Laut sagte sie: »Willst du mir helfen?«

Henri, der seine Mutter durch die offene Badezimmertür auf dem Boden sitzen und in einer Schachtel hatte kramen sehen, kam neugierig hereingetapst. »Wobei denn?«

»Ich will mir die Haare abrasieren. Sie sollen ganz kurz sein, damit sie mich im Urlaub nicht so lange aufhalten.« Sie hatte beschlossen, Henri gegenüber nur noch von ›Urlaub‹ zu sprechen, wenn von ihrem Ostseetrip die Rede war. Das klang fröhlich und unbeschwert und nicht so sehr nach der Reise ins Ungewisse, die es in Wirklichkeit war. Was ihr Haar anging, hatte sie ihm ebenfalls nur die halbe Wahrheit gesagt. Natürlich war es raspelkurz am praktischsten, vor allem aber wollte sie mit ihrem halblangen Bob auch die Vergangenheit loswerden. Nicht mehr Geros Püppchen sein, oder was auch immer er früher in ihr gesehen haben mochte. Sie seufzte unterdrückt. So viel zu ihrem Grundsatz, ihren Sohn nicht anzulügen.

Henri ahnte nichts von ihren düsteren Gedanken und quietschte vor Vergnügen. »So kurz

Sie hielt ihm drei verschiedene Scheraufsätze hin. »Such dir eine Länge aus. Es muss nur eine Zwei vorn stehen, der Rest ist mir egal.«

Nachdem Henri alle drei Aufsätze gewissenhaft geprüft hatte, wie es seine Art war, drückte er Jula einen in die Hand und wies auf die aufgeprägte Zahl.

»Vierundzwanzig Millimeter«, verkündete er.

»Okay.« Jula drückte den Plastikaufsatz auf den Rasierer und steckte das dazugehörige Kabel in die Steckdose. »Erst müssen wir ihn laden. Dann schere ich mir den Kopf, und hinterher guckst du nach, ob ich irgendeine Stelle vergessen habe.«

Oh Gott. Sie hatte sich zuletzt mit Anfang zwanzig während ihrer Piercing-Phase die Haare abrasiert. Was, wenn sie mit einunddreißig und Stoppeln einfach nur bescheuert aussah?

Zum Glück erwies sich ihre Sorge als unbegründet. Als sie fertig war und ihr Haar rundum eine gleichmäßige Länge – oder vielmehr Kürze – aufwies, stieß Henri einen tiefen Seufzer der Zufriedenheit aus. »Saucool, Mama!«

Jula betrachtete sich eingehend im Spiegel und fuhr mit der flachen Hand über ihren Kopf. Es fühlte sich angenehm an und vor allem nicht zu kurz. Ihre grüngrauen Augen mit den dunklen Wimpern wirkten größer als sonst, und ihre Wangenknochen traten geradezu spektakulär hervor.

»Wie bei Dolph Lundgren«, entfuhr es ihr. Plötzlich musste sie kichern. Henri, der keine Ahnung hatte, wer Dolph Lundgren war, kicherte mit.

Sie machte sich nichts vor. Ihr hohlwangiges, bambiäugiges Aussehen hing vor allem damit zusammen, dass sie ein paar Kilo abgenommen hatte, seit Gero fort war. Tagsüber war sie pausenlos mit Arbeiten, Packen und Aussortieren beschäftigt und fiel abends wie tot ins Bett. Dummerweise wachte sie beinahe jede Nacht ungefähr um die gleiche Uhrzeit auf und konnte nicht mehr einschlafen. Manchmal kroch Henri zu ihr unter die Decke, weil ihn Albträume plagten. Während er rasch wieder einschlief, wie ein Äffchen an seine Mutter geklammert, quälte sie sich mit nicht enden wollenden Ängsten und Zweifeln und vergoss bittere Tränen, weil Gero ihr trotz allem unsagbar fehlte. Der Schmerz höhlte sie gleichsam von innen her aus, sodass sie manchmal den Eindruck hatte, nur eine leere Hülle von ihr läge noch im Bett, und ihre Seele hätte sich längst aufgelöst wie Nebel in der Sonne. Es war ein schreckliches Gefühl, als würde sie langsam verschwinden.

Wenn sie morgens aufstand, war sie wie gerädert und ihr Magen so fest verschnürt wie ein Paket. Oft wusste sie nicht, woher sie die Kraft nehmen sollte, einen weiteren Tag zu überstehen. Nur für Henri verließ sie überhaupt das Bett. In diesem Zustand bekam sie gerade einmal Kaffee herunter. Erst gegen Mittag, wenn ihr Magen vernehmlich knurrte, konnte sie ein wenig essen, doch ein falscher Gedanke genügte, um die Schnur wieder stramm zu ziehen.

Wie sich herausstellte, war es kein Problem, den Job im Stadtcafé zu kündigen, weil es dort für jede freie Stelle mindestens drei Bewerberinnen gab. Mit dem Tee & Tarot sah es hingegen anders aus. Mathieu zeigte zwar Verständnis dafür, dass sie angesichts der düsteren Zukunftsaussichten ihre Zelte so kurzfristig abbrechen wollte, doch sie merkte, wie sehr ihn die Vorstellung überforderte, bald mit der Abwicklung des Geschäfts allein dazustehen. Jula hatte ihn viel zu gern, um ihn und den Laden einfach sich selbst zu überlassen, zumal er sich großzügigerweise dazu bereit erklärt hatte, einige ihrer Sachen einzulagern, die nicht mehr in den Camper passten. Außerdem hatte sie zurzeit keinerlei Verwendung für Henris und ihre Winterklamotten oder für die Tonnen von Büchern, die sie ihr Eigen nannte. Obwohl sie eisern alles aussortierte, was sie nicht zwingend brauchte, machte sie bei ihren Büchern eine Ausnahme. Auf dem Dachboden von Mathieus Hexenhäuschen würden sie staubsicher verpackt auf sie warten, bis sie sie holen kam – wann auch immer das sein mochte.

Im Gegenzug half sie ihrem Chef dabei, eine Zwischeninventur zu machen und den Laden auszumisten, auch wenn sich ihre Abreise dadurch um ein paar Tage verzögerte. Tees und Süßigkeiten, die ihr Mindesthaltbarkeitsdatum fast erreicht hatten, wurden in hübschen Körbchen im Sonderangebot verkauft, ebenso wie die notorischen Ladenhüter unter Mathieus Astro-Utensilien. Außerdem dekorierte Jula das Schaufenster neu mit den schönsten Traumfängern und Windspielen, die sie im Sortiment finden konnte.

»Ruf mich an, wenn du im Herbst Hilfe brauchst«, sagte sie am Nachmittag vor der Abfahrt zu Mathieu, nachdem sie den letzten Karton im Schweiße ihres Angesichts auf den brüllend heißen Dachboden seines Hauses verfrachtet hatte. »Oder zum Jahresende. Dann setze ich mich in den Bus und komme. Von wo auch immer das sein wird.«

»Oh, ich denke, du wirst am Meer deine neue Heimat finden, Herzchen«, orakelte ihr einstmaliger Chef weise. »Du bist ein Wassermädchen, das habe ich im Gefühl. Vielleicht komme ich dich mal besuchen.« Er drückte ihr ein brandneues Tarotdeck mit wundervollen Zeichnungen in die Hand, das er erst kürzlich hereinbekommen hatte. »Damit du nicht vergisst, wie es geht.«

Jula war ebenso sprachlos wie entzückt. »Niemals«, versicherte sie ihm. »Hab tausend Dank – für alles! Und halt mich auf dem Laufenden, hörst du?«

Sie umarmten sich, und als Jula in dem VW-Bus davonratterte und seine hagere Gestalt im Rückspiegel immer kleiner werden sah, dachte sie bei sich, wie froh sie war, dass Mathieu zumindest das Hexenhäuschen sein Eigen nennen konnte. Seine Mutter hatte es ihm vor vielen Jahren vererbt, und wenn es auch klein und verwinkelt sein mochte, so war es immerhin vollständig abbezahlt. Mathieu würde hier in Frieden leben können, selbst wenn das Tee & Tarot in der Stadt endgültig seine Türen schloss.

Als Jula nach Hause kam, musste sie den Bus noch fertig packen. Verschwitzt und schlecht gelaunt verstaute sie Taschen mit Kleidung, Schuhen und Spielzeug, brachte Geschirr und Lebensmittel sicher unter und versuchte, ihren quengeligen Sohn nicht anzupampen, obwohl er ihr permanent vor den Füßen herumlief. Sie verbot sich, auch nur eine Sekunde lang darüber nachzudenken, was sie hier tat. Sie ahnte dunkel, dass sie sonst heulend zusammenbrechen würde. So konzentrierte sie sich darauf, möglichst schnell fertig zu werden, um unter die kalte Dusche zu kommen. Dann rasch etwas essen und schlafen – wenn sie es denn konnte.

»Hey«, erklang Geros Stimme hinter ihr. »Was hast du mit deinen Haaren angestellt?«

Jula fuhr zusammen. Sie war so ins Packen vertieft gewesen, dass sie ihren Ex-Freund – Gott, war er jetzt wirklich ihr Ex? – nicht hatte kommen hören. Ehe sie es verhindern konnte, entdeckte ihn auch Henri, der gerade aus der Haustür trat.

»Hallo Gero!«, schrie er entzückt und rannte ein paar Schritte auf ihn zu, bis ihm wieder einfiel, dass Gero ja nicht mehr zur Familie gehörte. Abrupt blieb er stehen, und sein Lächeln erstarb. Düster musterte er seinen Ziehvater und schien nicht recht zu wissen, wie er sich verhalten sollte.

Gero tat, als hätte er nichts gemerkt. »Hallo mein Großer. Wie geht’s dir?«

»Nicht so gut. Und Mama auch nicht«, antwortete Henri laut und deutlich. Jula schloss eine Sekunde lang die Augen. Und sie hatte sich eingebildet, sie hätte ihre wahren Gefühle gut verborgen.

Gero schwieg. Jula sah ihm an, dass er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte. Dennoch machte Henri in seiner kindlichen Unschuld einen letzten Versuch. »Wir fahren morgen in den Urlaub. Kannst du nicht mitkommen?«

»Nein«, sagte Gero sanft, »das wird nicht gehen. Aber wenn du willst, besuche ich dich mal.«

Henri schüttelte heftig den Kopf. »Wenn du morgen nicht mitkommst, brauchst du mich nicht zu besuchen!«

Mit diesen Worten drehte er sich um und rannte zurück ins Haus.

Jula lehnte sich gegen das Heck des Campers. Sie fühlte sich mutlos und zu Tode erschöpft. So verbissen sie der Frage auch auszuweichen versuchte, sie kannte längst die Antwort – sie hatte keine Ahnung, was sie hier tat. Ihrem Sohn möglicherweise antat. Wenn sie die Wohnung aufgab, waren sie quasi obdachlos. Aber was waren die Alternativen? Zu bleiben, von Arbeitslosengeld zu leben und Henri nichts bieten zu können? Zeugin von Geros neuem Glück zu werden und darüber langsam zu verbittern? Nur über ihre Leiche. An der Ostsee hatten sie zumindest Mikke und das Meer, und mit etwas Glück würde sie bald einen brauchbaren Saisonjob ergattern. Später konnte sie sich dann eine feste Stelle suchen. Das war weitaus mehr, als sie erwartete, wenn sie hierblieb.

Gero unterbrach ihre Gedanken. »Du wirst mir fehlen, Jula«, sagte er leise. »Pass auf dich auf.«

Hatte er die ganze Zeit schon so dicht vor ihr gestanden und sie auf diese Weise angesehen?

Als er sacht ihr Kinn anhob und sie auf die altvertraute Weise küsste, wurde sie weich, und die Tränen begannen zu fließen. Sie verfluchte sich innerlich für ihre Schwäche und wusste, sie sollte ihn von sich stoßen, doch sie konnte nicht, sie konnte es einfach nicht. Sie stand nur da und ließ es geschehen, zutiefst verwirrt und lächerlich glücklich, bis Gero von ihr abließ.

»Du schaffst das, Jula«, flüsterte er, und sie fuhr zurück, als hätte er ihr eine Ohrfeige verpasst. Augenblicklich war ihr Kopf wieder klar. Sie war so eine Idiotin. Hatte sie wirklich geglaubt, er würde noch etwas für sie empfinden? Sie tat ihm leid, und er mochte sie, aber mehr war es nicht. Natürlich nicht. Er hatte sie betrogen und trieb es weiterhin mit dieser fremden Frau, verdammt noch mal!

»Was bleibt mir denn anderes übrig?«, fuhr sie ihn an und trat einen Schritt zurück, um Abstand zwischen sie beide zu bringen. »Bist du hergekommen, um mir das zu sagen?«

»Ich bin hergekommen, weil ich dich noch mal sehen wollte«, sagte er ruhig. »Und Henri.«

»Das hast du ja jetzt«, erwiderte sie müde. »Geh wieder zu deiner Freundin. Wir kommen schon klar.«

»Daran zweifle ich nicht. Trotzdem tut es mir leid. Ich wollte dich nie in Schwierigkeiten bringen. Oder unglücklich machen.«

»Gero. Es ist mir völlig egal, was du wolltest oder nicht. Geh jetzt einfach, okay? Es ist zu spät für dieses Blabla. Das Kind liegt im Brunnen und ist ersoffen!«

»Es ist kein Blabla, Jula. Ruf mich wenigstens mal an und erzähl mir, wie es läuft. Übrigens, du siehst heiß aus mit kurzen Haaren.«

»Ach, verpiss dich.«

 

Am nächsten Morgen brachen sie in aller Frühe auf. Während Henri es sich in seinem Kindersitz bequem machte, bewaffnet mit Kuscheldecke, Kissen, Tablet und Ohrstöpseln, drehte Jula noch einmal eine Runde durch die Wohnung. Ihr Herz lag schwer wie Blei in ihrer Brust, als sie durch die Räume lief und nachschaute, ob sie etwas vergessen hatte. Gero würde hier heute Abend fürs Erste wieder einziehen. Er hatte eingewilligt, dass ihr Name aus dem Mietvertrag gestrichen wurde. Damit war sie frei. Was er in Zukunft plante, wusste sie nicht und wollte es auch nicht wissen.

Sie konnte nicht behaupten, dass sie diese Wohnung je geliebt hätte. Es war nur eine Etagenwohnung mit drei Zimmern, knapp achtzig Quadratmeter groß, im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses, das ebenso unscheinbar war wie die Straße und die Kleinstadt, in der es stand. Aber für Gero, Henri und sie waren die etwas düster wirkenden Räume während der gut sieben Jahre, in denen sie hier gelebt hatten, stets ein Zuhause gewesen. Nun, da ihre kleine Familie nicht mehr existierte, hatte auch die Wohnung jeglichen Charme verloren. Selbst an diesem hellen Sommermorgen wirkte sie auf Jula nur mehr wie ein dunkles, schäbiges Loch, in dem die Möbel verloren herumstanden. Keine Spur mehr von dem gemütlichen Nest, das sie sich einst geschaffen hatten. Nein, hier hatten ihr Sohn und sie nichts mehr zu suchen. Sie unterdrückte ein Schaudern und wischte sich entschlossen die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie sich zum Gehen wandte. Ihren Schlüssel warf sie unten neben der Haustür in den Briefkasten. Den Gedanken, dass damit ein Lebensabschnitt endete, wollte sie vorerst lieber nicht zu nah an sich heranlassen.

Sie brauchten rund fünf Stunden für die Strecke zu Mikke. Zweimal machten sie Pause, damit Jula einen Kaffee trinken und Henri eine Runde auf seinem Longboard über den Parkplatz drehen konnte. Kurz vor Hamburg steckten sie im Stau fest, der sich erst nach einer knappen halben Stunde aufzulösen begann. Die Sonne schien von einem knallblauen Himmel, sie hatten die Klimaanlage und das Radio aufgedreht und hörten einen Sender mit Rockmusik, und als Jula auf Höhe von Lübeck einen Blick zu Henri hinüberwarf, war er eingeschlafen, einen friedlichen Ausdruck auf dem sommersprossigen Gesichtchen. Einen Moment lang erfasste sie Zuversicht, dass alles gut werden würde. Wenn nur ihr Kind die letzten Wochen vergessen und einen unbeschwerten Sommer verbringen könnte, wäre das mehr als genug.

Als sie das Ortsschild von Klein-Meeren passierten, wo Mikke lebte, war Henri wieder wach. Jula deutete nach links. »Guck mal«, sagte sie lächelnd zu ihrem Sohn. »Die Ostsee.«

3

 

 

»Willkommen, ihr beiden! Endlich seid ihr da.« Mikke zog Jula und Henri in eine feste Umarmung, kaum dass sie aus dem Auto gestiegen waren. Henri schien spontan Gefallen zu finden an der ihm fremden Frau mit dem erdbeerblonden Pferdeschwanz und den Lachfältchen um die Augen. Das sah Jula an seinem Blick. Als sie Mikke zuletzt getroffen hatten, war er noch zu klein gewesen, um sich an sie erinnern zu können.

Jula fand, dass ihre Freundin sich seit damals kaum verändert hatte. Mit ihrer herzlichen, zupackenden Art schob sie ihre Gäste sogleich in Richtung Haustür, wo sich zwei flachsblonde Jungen in Henris Alter herumdrückten. Es waren Mikkes Söhne Nils und Tebbe.

»Hey, ihr beiden, steht da nicht so neugierig rum und glotzt, das ist unhöflich! Ihr könnt schon mal die Tassen nach draußen bringen, der Tee ist gleich fertig«, wies sie die Brüder an. An Jula gewandt, raunte sie: »Die Jungs zeigen Henri nachher den Hof und die Pferde, dann können wir in Ruhe quatschen. Aber erst mal trinken wir alle zusammen eine Tasse Tee. Du siehst aus, als könntest du auch ein Stück Kuchen vertragen. Wie viel hast du abgenommen?«

Jula hob die Schultern. »Keine Ahnung. Ein paar Kilo vielleicht?«

Mikke schüttelte besorgt den Kopf. »Nimm es mir nicht übel, aber du wirkst wie der Tod auf Latschen. Wir müssen dich ein bisschen aufpäppeln. Du legst jetzt ein paar Tage schön die Füße hoch und tust zur Abwechslung mal gar nichts, außer Sonne zu tanken und am Meer spazieren zu gehen.«

»Das geht nicht«, wehrte Jula ab. »Ich muss schleunigst einen Job finden. Mein Geld reicht nicht sehr lange.«

»Nun fahr mal runter, du Duracell-Hase. Ein paar Wochen wirst du schon auskommen, oder? Hier oben brauchst du nicht viel. Wir versorgen euch liebend gern mit. Wie willst du denn arbeiten, wenn alle deine Kraftreserven aufgebraucht sind?«

Bald saßen sie zu fünft auf Mikkes Terrasse mit Blick in den üppig blühenden Bauerngarten und ließen sich selbst gebackenen Erdbeerkuchen schmecken.

»Der ist sogar veganisch«, verkündete Tebbe stolz.

Jula verbiss sich das Lachen.

»Das heißt ›vegan‹, du Blödi«, verbesserte Nils seinen jüngeren Bruder herablassend.

Mikke zwinkerte Jula zu. »Ich weiß doch, dass du das ganze Zeug vom Tier nicht magst. Seit ich deine Rezepte für Apfelstreusel und Zimtschnecken nachgebacken habe, schmeckt mir Kuchen ohne Ei irgendwie besser. Außerdem ist er bekömmlicher, finde ich. Ist das die Kraft der Suggestion?«

»Kann schon sein. Wobei ich ja fest davon überzeugt bin, dass man als Pflanzenfresser mehr Energie hat, weil das Essen nicht so schwer verdaulich ist.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, musste sie gähnen. Mit einem Mal merkte sie, wie müde sie war nach der langen Fahrt.

Mikke warf ihr einen spöttischen Blick zu und kicherte. »Mehr Energie, so, so …« Zu ihren Söhnen sagte sie: »Wenn ihr fertig seid, könnt ihr mit Henri zu den Pferden gehen und runter an den Strand. Niemand schwimmt im Meer, ohne dass Papa oder ich dabei sind, aber das wisst ihr ja.«

Tebbe wandte sich Henri zu, der bisher nicht viel geredet hatte. Fremden gegenüber verhielt er sich abwartend. »Hast du ein Fahrrad?«

»Nein, aber ein Longboard.«

»Was ist das?«

»So was wie ein Skateboard, nur länger.«

»Cool! Darf ich mal damit fahren?«

»Klar. Ist ganz einfach.«

Die beiden standen vom Tisch auf und stoben ohne ein weiteres Wort davon. Nils trödelte noch ein bisschen herum, ehe er sich ihnen anschloss.

»Ich passe schon auf, dass sie keinen Quatsch anstellen«, versicherte er den Frauen treuherzig mit der ganzen Überlegenheit seiner knapp dreizehn Jahre. Jula musste schon wieder lachen.

»Danke, mein Großer«, erwiderte Mikke trocken.

Sie wartete, bis die Gartenpforte hinter ihm ins Schloss gekracht war, ehe sie aufstand und ins Haus ging. Eine Minute später kam sie mit einer Flasche zurück, in der sich eine geheimnisvolle dunkle Flüssigkeit befand. Jula las das Etikett. ›Johannisbeerlikör‹, stand in Schönschrift darauf. Sie schlug in gespieltem Entsetzen die Hände vors Gesicht. »Was hast du vor, willst du mich am helllichten Tag abfüllen? Wahrscheinlich kippe ich nach einem Fingerhut voll vom Stuhl!«

»Das ist der Plan, gute Frau.« Mikke goss seelenruhig Likör in zwei Schnapsgläser. »Du kannst dich jederzeit ins Bett legen, egal um welche Uhrzeit. Hier musst du nicht funktionieren. Um Henri kümmern wir uns schon.«

»Ach, Mikke.« Jula sah ihre Freundin gerührt an. »Du hast keine Ahnung, wie gut es tut, das zu hören. Aber ich würde kein Auge zukriegen, dazu bin ich viel zu überdreht.«

»Okay, dann machen wir es anders. Ich koche uns zu dem Schnaps einen Kaffee, damit du wieder wach wirst, und du erzählst mir das Drama mit Gero noch mal von Anfang an. Später hilfst du mir mit der Stallarbeit, und wenn du dann noch nicht genug hast, scheuche ich dich zu einem Spaziergang ans Meer. Danach fällst du ganz sicher platt ins Bett.«

»Klingt fantastisch, abgesehen von dem Teil mit Gero.« Jula merkte selbst, wie sich ihr Gesicht bei der Erwähnung seines Namens verdüsterte, und auch Mikke sah es.

Rasch sagte sie: »Ach, das hat Zeit. Wir reden darüber, wann immer du möchtest, es muss ja nicht sofort sein. Heute machen wir uns einfach einen schönen Nachmittag. Was hältst du davon, wenn wir noch rasch euer Gepäck ins Gästezimmer bringen, bevor wir die Treppe nicht mehr hochkommen? Mein Likörchen knallt nämlich ganz schön rein.«

Ihre Bemerkung entlockte Jula ein Grinsen. Sie gingen nach vorn auf den mit Kies bestreuten Vorplatz, und Jula kramte im Bus nach der Reisetasche, die sie für das erste Wochenende bei Mikke gepackt hatte. Sie enthielt nur Unterwäsche, ein paar T-Shirts, kurze Hosen und ein dünnes Kleid, dazu Badesachen, Nachtzeug und den Kulturbeutel für Henri und sie.

»Na, viel ist das ja nicht«, meinte Mikke mit Blick auf die nicht sehr große Tasche, bevor sie das Innere des VW inspizierte. »Alle Achtung, hier drinnen hast du jeden Zentimeter ausgenutzt, wie? Ich bin beeindruckt.«

Jula zuckte mit den Schultern. »Das ist unser gesamter Hausrat, wenn du so willst. Ein paar Sachen habe ich bei meinem ehemaligen Chef Mathieu zwischengelagert, aber alles Wichtige befindet sich in diesem Auto.«

Gero und sie hatten den VW-Bus, einen T4-Camper, vor gut drei Jahren von ihrem Ersparten

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Lurleen Kleinewig
Bildmaterialien: ©Shutterstock.com (VAlekStudio, jakkapan, Anna NovaLova, Felix Lipov, Melada Photo, dugdax, YamabikaY)
Cover: Wolkenart.com – Marie-Katharina Becker, www.wolkenart.com
Lektorat: Martha Wilhelm – www.textwinkel.de
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 20.04.2021
ISBN: 978-3-96714-142-9

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