„Rooaaahr“, der Motor des Jeeps heult auf. Reifen graben sich in den Sand. Unendliche Weichheit, kaum grip. Wie ein 100-Meter-Läufer vor dem Start. Keine Spur zu sehen. Versuche abzuschätzen, in welchem Winkel ich angreifen soll, wieder und wieder. Vollgas, Anlauf. Ich muss los. Adrenalin pumpt durch meinen Körper. Jage die Düne hinauf, was die Kiste hergibt, dann, Spiel mit dem Gaspedal, sich einfühlen in die Oberfläche. Nur nicht Momentum verlieren jetzt, muss den Dünenkamm erreichen. Ich weiß, wie schmal er ist und wie es auf der anderen Seite weitergeht. Wäre mein Aus. „Never against gravity“, hämmert es mir in den Ohren. Der kleinste Fahrfehler würde mich – zumindest den Wrangler kosten – wenn nicht noch mehr. Fast geschafft, ja, ja, ja. Mit letzter Kraft erreiche ich die Schnittstelle und werde mit grandiosem Ausblick belohnt. Nein, jetzt nicht ablenken lassen. Die Spur ist schmal, sehr schmal. Ein Tänzeln in Zentimeterarbeit auf der Kante. Balance halten. Erinnert mich immer ans Leben. Bin in Übung.
Endlich habe ich den Platz erreicht, wo ich gefahrlos stehenbleiben kann, ohne abzurutschen oder zu tief zu sinken. Diese unendliche Weite. Die Dünenlandschaft erhebt sich auf weit über 100 Meter. Die Sicht ist enorm. Die vielfältigen Farben des Sandes überwältigen mich immer wieder. Die Temperaturanzeige misst 48 Grad. Ich steige aus und setze mich aufs Dach. Das Gefühl noch höher zu wollen überkommt mich. Dem Himmel so nahe fühle ich mich hier. Langsam beruhigt sich mein Herzschlag. Immer wieder ist es eine Herausforderung mit offenem Ende. Seit 8 Stunden bin ich unterwegs, bald wird es dunkel. Dann ist kein Weiterkommen mehr möglich. Die Erschöpfung werde ich erst spüren, wenn ich angekommen bin. Ich möchte noch heute das Lager erreichen. Mit der Vorfreude auf ein Wiedersehen klettere ich zurück auf den Fahrersitz.Langsam geht es bergab, mit äußerster Vorsicht suche ich einen Weg für uns und denke dabei an so Vieles. Die Weite der Wahiba vor Augen, bahne ich mich schrittweise weiter. Wenn alles gut geht, bin ich in einer halben Stunde am Ziel. Wie wird es wohl sein?
Wie eine Fata Morgana tauchen verschwommen am Horizont Zelte auf. Mittlerweile sind wieder Spuren zu sehen. Kamelherden. Ich weiß, ich bin fast da. Die Fahrt ist jetzt mehr ein Tanz über feinsandige Hügel. Ein leichtes Rauf und Runter, wellengleich. Vor der letzten Düne, die das Camp schützt, stoppe ich. Zu Fuß bin ich gegangen, zu Fuß werde ich wiederkommen. Ich rücke den Turban zurecht, ziehe die Enden vor Mund und Nase.An den Augen wird er mich erkennen. Wird er?Die Familie bereitet das Essen auf dem offenen Feuer. Niemand blickt erstaunt auf, als ich den Zeltkreis betrete. Nur einer erhebt sich langsam. Schlafwandlerisch bewegen wir uns aufeinander zu. Seine dunklen Augen leuchten in der Dämmerung und er breitet die Arme aus. Nase an Nase. Der Bruderkuss, den er mir in Freundschaft anbietet. Welch wohltuende Wärme. „Amir, ich bin zurück“, hauche ich glücklich. „Ich wußte“, erwidert er leise. Sanft führt er mich Richtung Feuer. „Komm in unsere Mitte, dort ist dein Platz. Du hast gefunden, erzähle“. Und mit einem Mal löse ich mich in Tränen auf. Er hält mich. Und ich erzähle.
Nacht und Dunkelheit brechen in der Wüste schlagartig ein. Das Feuer wirft Schatten. Und wärmt. Schnell geht die Temperatur nach unten. Deine geliebte Oud in Händen spielst du meine Melodie. Ich erinnere mich an die Nacht, als deine Schwester für mich sang. Wie viele Jahre sind vergangen? Du spielst, ich erzähle. Vom wilden Leben, von der Suche nach meiner Liebe, vom Verlangen irgendwo anzukommen. Aber wo? Dein Rhythmus begleitet meine Worte. Dein Blick ruht auf und in mir. Ich komme nicht an ihm vorbei. Ich will es auch gar nicht. Wir erkennen uns wieder und wieder.
Meine Abenteuer auf See belustigen dich. Das Robinson Crusoe Dasein auf der Pazifikinsel willst du genau geschildert, jeden Tag jenes Jahres. Obwohl die Tage 365 mal gleich verliefen. Und trotzdem nie einsam waren. Wissend lächelst du. „Wir gehen dahin, wo sich die Welten vereinigen“, sagst du. „Mit dir will ich das Meer suchen.“ Ich nicke nur stumm. Wüste und Meer. Wieviel Heimat habe ich? In deinem Zelt liegt ein Teppich für mich bereit. Noch bevor mein Kopf den Boden berührt, schlafe ich mich aus der Wirklichkeit heraus. Du wachst und hältst meine Hand.
Am nächsten Morgen brechen wir früh auf. Proviant und Wasser für eine Woche sind bereits verstaut. Die Kamele stehen bereit und warten geduldig. Mit Geschenken für die zwei Stämme, die wir besuchen sollen auf dem Weg zum Ozean, werden wir ausgestattet. Die Familie hat entschieden. Feinstes, handgeschmiedetes Silber. Abu Amir legt mir meinen Schmuck an. „Ich habe ihn für dich aufgehoben, Tochter“, sein aufrichtiger Blick trifft mich. Langsam verlassen wir das Lager. Ich folge dir in deine Richtung. Die Stille und Weite, die ich so vermisst habe, fangen mich wieder ein. Und alles steht in Beziehung zueinander.
Die Wirkung der Zeit ist eine Andere. Ich kann nicht sagen, ob Minuten oder Stunden bereits vergangen sind. Ich werde überholt von allem, was jemals Bedeutung hatte. Die Entschleunigung des Geschehens liegt im schaukelnden Tritt der Tiere.Die Faszination hat mich wieder. Die Wüste ist kein leeres Haus. Millionen von Bewohnern bevölkern sie und treiben hier ihren Überlebenskampf. Sie , sie lebt in einer unfassbaren Klarheit. Hier ist die Zeit klug. Weil sie keine Rolle spielen muß. Keinen Wert besitzt. Gebrochene Sekunden setzen sich zu einem Augenblick zusammen. Er kommt erst, oder er war schon. Oder, er ist? Es hat keine Bedeutung.
Schweigend reiten wir nebeneinander her. Nur ab und zu reichen wir uns gegenseitig den Wasserschlauch. In diesem Schweigen liegen Jahre der Übereinkunft und des Verstehens. Woher kommt nur dieses Gefühl? Als ob wir im Schweigen die Sprache für unsere Welt von morgen erschaffen. Der Sand knirscht und in der Ferne erkenne ich die Oase. Es wird tatsächlich schon wieder dunkel, und ich habe es nicht bemerkt. Nach diesem einen Tag spüre ich, wie ich es endlich wieder zulassen kann, mich einzulassen. In meine innere Landschaft. Meiner Wüste Lebendigkeit.
„Solange man lebt ist es ein Lernen“. Du richtest diese Worte an mich, als wir im Lager ankommen. Der erste Satz, den du zu mir gesprochen hast. Mein Denken läuft in Furchen dahin. Aus Erschlagenheit bestehe ich, im kräftigen Geschmack der Erinnerung. Libellenflug in der Oase.
Nach vielen Begrüßungsritualen bekommen wir Wasser, viel Wasser, um uns zu Reinigen. Ein Ritual, nicht nur ein bloßes Säubern. Die Oase hat eine Quelle, einen Brunnen. Faszination Grundwasser in der Wüste. Seit Jahrhunderten ein beliebter Platz. Es bedeutet Reichtum. Ein Großteil des Stammes lebt tatsächlich hier. Eine Art von „Sesshaftigkeit“. Dein Onkel begrüßt uns mit Tee und Datteln. Trotz aller Müdigkeit fühle ich mich hellwach. Es ist eine Freude, sie alle wiederzusehen. Geschenke werden ausgetauscht. Die Frau deines Cousins überreicht mir ein bunt gewebtes Tuch mit den Worten: „Weder Sand noch Wasser werden den Schutz durchdringen.“ Ich verstehe nicht, du hingegen nickst wissend.
Später am Feuer. „Erzähl von deinem Vertrauen“, forderst du mich auf. Verletzlichkeit in meinem Blick. Die Jahre des Zweifelns vor meinem Auge. Meine Sprache ist die der Gefangenen. Langsam öffnen sich Ketten. „Ich fiel auf den Meeresgrund, erstickend an Erwartung. Klammernd an Versprechungen. Amir, erst als ich die Muschel fand, ging es in Klarheit über. Ihn zu tragen wurde leicht, mich zu tragen wurde Sinn. Im Vergessen liegt keine Dankbarkeit, keine Tugend. Vergessen tötet. Und so wurde die Reise unsere, das Erleben ein Gemeinsames. Das Bild der Wasserfarben brannte sich ein zum Sinnbild meiner Tage. Je mehr ich mir vertraute, desto weniger brauchte ich es in ihm zu suchen. Denn ich wurde sicher, selbst wenn ich ihn nie mehr sehen würde, so ist er bei mir.“ Die Sätze stolperten aus mir und setzten sich vor mir zusammen. Fragend blicke ich dich an, um Verständnis bittend? Wieder erwartend? Du nickst zustimmend. „Hast du ihm Sterne gepflückt?“ „Ja, jeden Einzelnen!“ Und wieder strecke ich meine Hand aus. Der Abstand bestimmt keine Entfernung. „النار يخرج من الخشب، ولكن من حروق الحب إلى الأبد..“ „Das Feuer des Holzes erlischt, aber das der Liebe brennt ewig.“ Du sprichst in mich. Mit geschlossenen Augen führst du mich ins Zelt, in mich. Dem Sand hinterlassen wir die Glut.
Nach kurzem, tiefem Schlaf erwachte ich in deinen Armen. Umschlungen vom Eins-Sein. Leise schleiche ich nach draußen, um unter den Sternen zu liegen. Wie sehr habe ich diesen Himmel vermisst. Hier nur spüre ich diese vollkommene Freiheit. Mehr als irgendwo. Die Glut war zu Asche geworden. Deine Stimme plötzlich hinter mir: „Das Leben gleicht dem Feuer. Es beginnt mit Rauch und endet mit Asche. Wie groß die Flamme ist, entscheidest du.“ In meiner Wüste lodert sie hoch. Hier bin ich mir Freund, und hebe die Verneinung des Lebens auf. Die Freude kann sich niederlassen. Undenkbares gewinnt Gestalt. So denke ich und empfinde mich. Über meine Liebe sprichst du, als wanderst du meine Gedanken entlang. Du ahnst mehr, als ich jemals wissen könnte. Welche Weisheit liegt im Atem deines Lebens? „Beschränke dich nicht im Sein, mein Herz. Lebe alles, was in dir an Liebe ist, vertraue der Flamme und schenke ihr deine Freiheit.“ Durchdringend der Blick deiner dunklen Augen. Vollgefüllt mit Ruhe und Liebe. Mühelos erreichen meine Worte die Lippen. Ich erzähle wieder von Einsamkeit und Sehnsucht und Freuden. Von der täglichen Hoffnung auf Nachricht von ihm. Wieder und wieder erlebe ich alles. Es ist, als ob ich es tatsächlich abschließen müsste, um endlich vollständig in mich einzutauchen. Und du, du hörst nur aufmerksam zu.
Früh brennt die Sonne vom Himmel. Ein schneller Wechsel von Dunkelheit zu Licht. Wir müssen los, wollen wir heute noch das nächste Ziel erreichen. Beim Aufbruch herrscht aufgeregte Stimmung. Alle sprechen durcheinander. Ich verstehe nicht, doch ich vertraue. Ein weiteres Kamel wird beladen mit Teppichen, Decken, Proviant und Wasser. Unendlich viel Wasser. Du bindest mir mein neues Tuch als Turban. Und das erste Mal erkenne ich Besorgnis in deinen Augen und einen veränderten Tonfall in deiner Stimme. Du verbindest unsere drei Kamele mit Seilen. Ich verabschiede mich noch, aber du drängst zum Aufbruch. „Komm, die Zeit wartet nicht auf uns. Nicht heute. Bleib dicht neben mir.“ Die Stille fängt uns ein, als wir die Oase verlassen.
Der Rhythmus ist heute ein anderer. Selbst die Schrittfolge der Tiere lässt einen Unterschied erkennen. Ich möchte dieses friedvolle Schweigen zwischen uns nicht brechen. Und doch, es ängstigt mich, dass du dich nicht erklärst. Auch früher hast du mir jede Gefahr erzählt, ihr mit deinen Worten die Macht genommen. Die Ahnung, was wir vor uns haben, schleicht umher. Es muss andere Ausmaße haben, sonst...! „Amir, sag mir endlich, was kommt auf uns zu!“. Sorge im Blick erwiderst du: „Die Alten sagen, der Sandsturm, der aufzieht, wird das Gesicht des Jahrhunderts sein. Viele haben wir erlebt, diesen müssen wir überleben.“ Nach diesen Worten ist mir bewusst, was dich so verändert hat. Noch nie hast du so ernst gesprochen. „Warum blieben wir nicht in der Oase?“ frage ich zweifelnd. „Mein Herz, sie wird als erstes vernichtet werden. Sie bietet keinerlei Schutz. Auch die Familie ist unterwegs.“ Ein banges Gefühl beschleicht mich. Du...und Angst? Das kann nicht sein. Der Mensch, der Eins ist mit der Natur, mit sich, mit der ganzen Welt? Lächelnd fragst du, „dachtest du, mir sei Angst fremd? Mein Herz, sie ist mir treuer Gefährte ein Leben lang und wir sind uns Freund. Sie ist mir Berater und Verbündeter. Sieh deine Angst an. Versuche sie nicht zu beherrschen, du musst keine Macht ausüben. Lass sie in dir fließen und sie wird dir Schutz, weil Warnung sein.“
Deine Worte dringen in mich, breiten sich aus und alles fließt. Ich vertraue. Wie aus dem Nichts der erste Windhauch. Nur zart, der Himmel noch blau. Ich blicke mich um. Die Gefahr kommt aus dem Norden. Gelb-oranger Himmel verfolgt uns, langsam. „Wir haben noch eine halbe Stunde, um uns vorzubereiten. Komm, ich führe dich.“ Die Angst, die ich empfinde, schmerzt nicht. Stört nicht. Ist da, nur einfach da, lebt in mir, mit mir. Ich vertraue.
Langsam kommen wir voran. Oder kommt es mir nur so vor? Ich denke mich in dich. Auch wenn ich wenig von deinem Orientierungssinn habe, weiß ich, wohin du jetzt versuchst zu gehen. Es gibt hier eine Felsformation, mitten in ewigem Sand. Wir waren schon einmal dort, um Schutz zu suchen. Damals, auf dem Weg zur Küste. Mit deiner Nichte, um sie zu einem Arzt zu bringen. Sie starb auf dem Weg. Sie starb in unseren Armen. An einer Blinddarmentzündung. Acht Jahre war Mariam damals. Wir haben es nicht geschafft. Der Sandsturm kostete Zeit, viel Zeit. Er hat sie umgebracht. Kein Einzelfall. Romantisierung des Wüstenlebens. Fehlanzeige. Ich darf nicht zu tief eintauchen in die Vergangenheit. Sie raubt jede Energie. Nein. Aber, wie kann ich?
Endlich tauchen die Felsen vor uns auf. Die Farbe des Himmels hat sich auf bedrohliche Weise verändert. Wie die Farbe deiner Augen. Tiefschwarz sind sie nun. Durchdringend bis ins Unendliche. Wieder und wieder prüfst du den aufkommenden Wind. Deutest die Spuren, die der Sand zeichnet. Verfolgst Abdrücke von allen Tierspuren. Welche Richtung nehmen sie. Für dich ist die Wüste ein Buch, das du auswendig kennst, liest und interpretierst. Ich vertraue. Nah am Fuß des Felsens bereitest du ein Lager aus Teppichen. Alle Tücher liegen bereit. Die Kamele bilden die Außenseite dieses Dreiecks. Sie gehorchen dir aufs Wort und legen sich zentimetergenau so, wie du sie dirigierst. Es geht jetzt um Minuten. Du schnallst dir und mir Wasserschläuche um. Du hüllst mich in Tücher. Jetzt schon bekomme ich kaum Luft. Um den Kopf schlingst du mir das neue Tuch. Erst jetzt bemerke ich, wie fein es gewebt ist. Erst jetzt verstehe ich. Mittlerweile ist die Lautstärke des Sturmes eine Gewalt. Wir schützen uns, du schützt mich. Wir decken über uns, was wir haben. Halten uns. Die Naturgewalt ist grandios. Wenn nicht so beängstigend würde ich sie gerne festhalten. So wie dich. In deinem Arm die Sicherheit. Vielleicht. Der Himmel – dunkelorange – es passiert wie aus dem Nichts. Es passiert.
Mit einer unglaublichen Härte trifft uns der Sturm. Ineinander verkeilt liegen wir möglichst flach zwischen den Tieren. Aus Sand wird Stein. Es ist kaum zu glauben mit welcher Wucht die Schläge kommen und alles mit sich reißen. Ein aufrecht stehender Mensch könnte dem nicht trotzen. Unsere einzige Chance sind tatsächlich die Kamele, die in einer schier unfassbaren, stoischen Gleichgültigkeit alles über sich ergehen lassen. Einzig die Köpfe sind gesenkt und dem Wind abgewandt. Wie oft waren sie uns schon Freund und Retter. Als Transporttiere, zum Wärmen in kalten Wüstennächten, ja, als Windschutz, als Bollwerk gegen die Naturgewalten. Dankbar fühle ich die mächtigen warmen Körper um uns herum. Ohrenbetäubender Lärm. Wir sind komplett bedeckt von Decken und Teppichen Nicht ein Zentimeter Haut ist frei. Die Wucht des Sandes würde Wunden schlagen.
An diese Wunden denke ich. Wie ich tausend Nadelstiche mein Leben lang erduldet habe. Ohne den Schutz, den ich heute um mich habe. Schutz, den ich durch deine allgegenwärtige aufrichtige Freundschaft und Liebe verspüre. Schutz, den ich mir heute selbst geben kann durch meine Liebe. Dem Entdecken meiner eigenen Stärke, die in mir ruht. Immer da war, verschüttet wohl über die vielen Jahre. Aber nicht verloren. Nein, ich bin nicht verloren. Ich genüge, dir und mir. Ihm habe ich nie genügt.
Wie lange wird das Toben noch dauern? Du hältst mich und lässt nicht eine Sekunde meinen Körper aus deinen Armen. Mir wird immer schwerer. Der Sand muss uns mittlerweile vollkommen bedecken. Ich bekomme wenig Luft, deine Hand beruhigt mich. Du bist wie verteilt um mich, schaffst einen Schutzraum. Deine Kraft ist unendlich und wieder spüre ich nur – Vertrauen. Die Angst fließt aus mir. Wie du sagtest.
Leise höre ich ein Flüstern an meinem Ohr. Ich weiß nicht, woher es kommt. Ich weiß nicht, wo ich bin. Bin ich? Alles dreht sich um mich. Ich sehne mich nach Sauerstoff. Die Stille ist schwer. Jetzt erinnere ich mich. Du befreist uns von allen Decken und Tüchern. Es scheint eine unheimliche Kraftanstrengung zu sein. Von den Tieren sieht man so gut wie gar nichts mehr. Alles unter Sand begraben. Du gräbst uns förmlich aus und das Blau des Himmels sticht mir in die Augen. Die Luft ist von unheimlicher Klarheit und ich sauge sie ein. Vorbei. Wasser läuft über mein Gesicht, meine Lippen, die sich gierig öffnen. Ich habe keine Kraft selbst zu trinken. Du flößt mir Leben ein.
Ich bin zurück auf dem Meeresgrund. Das Wasser brennt in meinen Augen. Die Lungenflügel zum Bersten. Aber ich kann nicht auftauchen, ohne die Muschel. Ich werde nicht, weil ich sie finden muß. Jetzt tief einatmen und es wäre vorbei. Ich will nicht.
Langsam richtest du mich auf. Der Sand türmt sich um uns und soweit das Auge reicht. Neue Formationen wurden geschaffen. Von dieser Unberührtheit geht eine gewaltige Faszination aus. Wie frisch gefallener Schnee, den man nicht berühren möchte, weil er sonst die Reinheit und Schönheit verliert. Ich fühle Leichtigkeit in mir. Als ob der Sturm alles mit sich fortgerissen hätte. Vielleicht hat er es tatsächlich? Oder du hast? Mir fehlt im Augenblick jede Urteilsfähigkeit. Kraft verloren oder gewonnen? Perspektivwechsel. Ich erkenne Erleichterung in deinem Blick. Liebevoll gibst du mir immer noch Wasser. Wäschst mir Gesicht und Augen. Obwohl du selbst kaum etwas siehst. Ich will mich nur noch fallen lassen. Am Ende ist der Sturm. Nun auf die Stimme des inneren Sturmes hören, ihr folgen? Erschöpft lege ich mich auf die Teppiche. Wieder hallt die Stille in meinen Ohren. Ich leere mich in dich.
Zwei Tage bleiben wir. Richten uns so gut es geht ein. Wie ein Nestbau kommt es mir vor. Die Erschöpfung ist dir anzusehen. Unser Wasservorrat ist genug. Jetzt ist die Zeit unser Verbündeter. Langsam löst sich dein Schweigen. Vorsichtig bist du mit deinen Fragen. Achtsam, was sie in mir auslösen. Meine Antworten, ein Fluss des Erzählens.
Zurück gehe ich durch die Jahre des Lernens und Begreifens. Ich tauche ein in die alte Welt des Kummers und der Sorge. Der vielen Ängste und der Enttäuschungen. Nächte auf dem Boot. Durchlebe die Tage der Liebe am Strand. „Warum hast du ihn gehenlassen, damals?“ fragtest du. Wie sollte ich halten, was sich auflöst.? In sich selbst, ohne Schuld? „Zu gehen, war für ihn einfacher, als jeden Tag mit der Angst zu leben, mich zu verlieren.“ Wieder die Erinnerung. Der Tag, als ich fast ertrank. „Der Moment, als er wusste, ich würde überleben, war unser letzter gemeinsamer Augenblick. Ja, er musste sich lösen. Seine Gefühle lähmten ihn. Die Angst davor, übermächtig. Lange brauchte ich, um zu verstehen. Immer wieder tauchte ich zum Meeresgrund. Hinab zu dem Grund seines Seins. Bis ich fand. Und verstand.“ „Und heute“, fragst du leise, „was ist im Heute?“ Zärtlich blicke ich in deine warmen Augen. „Heute, Amir, ist er bei mir. Ich spüre und ich atme ihn. Ich habe ihm alles auf dem Dachboden hinterlassen. Er wird den Weg finden. Ich glaube.“
Am dritten Tag ziehen wir weiter und erreichen nach einem Tagesritt den Ozean in der Abenddämmerung. Der Ausblick nach der letzten Düne ist grandios. Wieder spüre ich die Vereinigung der Elemente. Dankbar ergebe ich mich den Wellen und lasse mich treiben in meiner Leichtigkeit. Du bereitest ein Lager und machst Feuer. Im Schein sehe ich neben dir eine Gestalt. Ja, ich sehe, wie ich noch nie sah. Du nimmst meine Hand und führst mich zu meinem Platz. Schwerelos ist mir, neben dir.
Texte: Susan de Mar
Tag der Veröffentlichung: 08.10.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die Liebe zur Wüste, zum Meer, zu den Menschen, zu dir, zu mir, zur Liebe.