Carmilla DeWinter
Albenzauber
Roman
Impressum
© 2017 bei der Autorin
herausgegeben von:
Carmilla DeWinter - Texte
Schwalbenstraße 19
75181 Pforzheim
http://carmilladewinter.com
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.de
Bildrechte: © Falcona - shutterstock.com
ISBN der Printausgabe: 978-3-743162-61-7
Vorher
Wäre Nives die Königin gewesen, sie hätte sich heute Nacht gewiss nicht heimelig in ihr Bett gekuschelt. Der jüngere Prinz hatte nämlich schon kurz nach dem Festmahl angefangen zu schreien und wollte sich nicht beruhigen, egal, wie viel Windöl Nives auf dem Bauch des armen Würmchens verrieb.
Zu allem Überfluss ließ der Schalldämpfungszauber schon wieder nach. Wenn sie ihn nicht mit neuer Kraft versorgte, würde Cirs Gebrüll den ganzen Palast wecken.
Sie wuschelte dem Kleinen durch die dunklen Locken und ging zur Kammertür. Verflucht sollte König Ferox’ Vorliebe für exotische Nahrungsmittel sein. Warum auch Feigen kochen oder trocknen, wo sie roh doch viel hübscher aussahen? Selbst, wenn sie dafür ein halbes Jahr unter einem Frischhaltesiegel herumlagen.
Und wie immer musste Nives die ganze Nacht am Kinderbett ausharren und mit ihren paar Heilkräften gegen eine Kolik kämpfen. Als Mutter hätte sie in einem solchen Fall gewiss nicht zur Ruhe gefunden.
Wenigstens war Leon, der Ältere, schon beinahe erwachsen und damit aus dem Gröbsten heraus.
Sie legte eine Hand auf den Bergkristall in der Nische neben der Tür. Auch nach so vielen Jahren musste sie sich überwinden, das Ding anzufassen. Sobald sie Macht in das Zaubersiegel darin strömen ließ, fühlte es sich an, als müsste sie durch dichte Spinnweben greifen.
Ferox hatte den Stein nach den ersten durchwachten Nächten mit Leon für ein Messer aus Stahlsilber – Albensilber, ha – bei einem menschlichen Magus gekauft. Es war ein schlechtes Siegel, aber der König wollte nicht vor einem anderen Alb zugeben, dass das Geschrei seines Sohnes ihn störte.
Draußen splitterte Holz, Metall schepperte, dann zitterte der Boden, als hätte jemand eine schwere Tür zugeschlagen.
Nives’ Nackenhaare stellten sich auf. Etwas zog ihr den Boden unter den Füßen weg, eine Vision von ungewohnter Klarheit ließ sie schwindeln, als stünde sie an der Kante über einem Steilhang. Ein Fläschchen mit Schlafmittel, das den Besitzer wechselte, Krieger in den Hallen, Solanus Gannes grinsend auf dem Thron, während seine Tochter Noctuola sich in seinem Schatten die Hände rieb.
Hatte er doch nach all den Drohungen und Unstimmigkeiten der letzten Tage Ernst gemacht. Als wäre es eine persönliche Beleidigung, dass Leon Noctuola nicht zu heiraten wünschte.
Wieso hatten die Magoi König Ferox nicht gewarnt? Im Palast gab es eine ganze Schule für zauberisch begabte Alben, da musste doch eines dieser eingebildeten Wesen eine Vorahnung erhalten haben.
Nives atmete tief ein und öffnete die Zimmertür. Spähte den Gang entlang. Bewaffnete in Gannes-Farben, ein Dutzend mindestens; die Tür zu den Gemächern des Königs und der Königin stand offen, gerade versuchten einige von ihnen, in Leons Zimmer einzubrechen. Der arme Junge musste Todesängste leiden.
Eine einfache Kinderfrau wie sie hatte keine Aussichten, auch nur einen dieser Männer von Cirs Kammer fernzuhalten. Noch etwas sah sie: die Gewissheit ihres eigenen Todes, wenn sie blieb.
Ihr Herz klopfte laut wie die Schläge gegen die Tür weiter unten im Gang. Gleichzeitig schien die Zeit stillzustehen.
Dann wirbelte Nives herum, packte den Winzling samt Decke und stürmte in die andere Richtung, von den Kriegern weg.
Ein Ruf, „haltet sie“; schwere Schritte und klirrende Rüstungen folgten ihr den sanften Anstieg des Gangs nach oben. Endlich der Durchbruch zu der Terrasse, auf der die Frauen bei Hofe im Sommer so gern saßen und nähten. Eisige Nachtluft schlug Nives entgegen, nahm ihr den Atem.
Cir hörte auf zu brüllen.
Die kurze Treppe in den Garten, entlang der kahlen Rosenbüsche, von da aus durch die Hecke. Äste kratzten über Nives’ Gesicht, rissen an ihrem Morgenmantel. Jetzt immer weiter den Berg hinunter, rutschend auf der dünnen Schneedecke. Elende Hauspantoffeln. Einmal fiel sie, landete schmerzhaft auf ihrem Hinterteil.
Hundegebell. Aber wozu? Ihre Spur war ein dunkler Streifen auf den weißgepuderten Wiesen, und Nives rannte. Den nächsten Hang hinauf, über die gerodete Kuppe. Die kalte Luft brannte in ihren Lungen, ihre Beine wurden schwer. Beim nächsten Schritt würde sie gewiss tot zusammenbrechen, doch da kamen die zwei Felsnadeln in Sicht. Sie zwängte sich hindurch.
Hier draußen war es viel kälter, ein paar Flocken rieselten vom Himmel, und der Schnee lag schenkelhoch. Weiter unten, da, wo keine Wärme aus dem Bann hindrang, würde es doppelt so viel sein.
Cir wimmerte.
„Sch“, machte Nives. Was nun? Im Tiefschnee wären ihre Spuren stundenlang gut zu verfolgen. Selbst wenn sie hier vorwärts käme, wäre zumindest der Kleine erfroren, bevor sie den Schutz des Waldes erreichte.
Es blieb Nives nichts anderes übrig, als sich in einer Kunst zu versuchen, die sie jahrelang nicht mehr geübt hatte. Seit Leon keine Aufsicht mehr brauchte.
Also verschnürte sie Cir, so gut es eben ging, und sammelte sich. Griff durch die schimmernde Grenze nach dem Adler.
Schließlich packte sie mit ihren Klauen den Prinzen in seinem Bündel und hob sich mit zwei kräftigen Flügelschlägen in die Luft.
Nach Süden, wo es nicht ganz so kalt war.
1
Weil Nives geahnt hatte, dass Besuch kommen würde, saß sie zum Spinnen neben der Tür der Hütte, obwohl es hier auf der Ostseite nachmittags noch unangenehm frisch war.
Blanda, die den Leinenfaden in Auftrag gegeben hatte, für die Aussteuer ihrer Tochter, würde es wohl kaum sein – Nives hatte ihr gesagt, dass sie nicht vor übermorgen mit so einer Menge Garn rechnen konnte.
Vielleicht brauchte jemand Heilkräuter, Nives’ zweite Spezialität neben den feinsten Fäden im Umkreis von einer Tagesreise.
Doch unter den Bäumen hervor trat schließlich ein drahtiger Mann, der sich auf einen Stock stützte. Obwohl ein Filzhut sein Gesicht verbarg, hätte Nives dieses Humpeln überall wiedererkannt. Vincenzo? Seltsam, denn Cir war erst vor einer knappen Stunde von dessen Hof zurückgekehrt, wo er beim Dachdecken geholfen hatte.
In Rufweite, viel zu weit weg, blieb Vincenzo stehen. Nives legte die Spindel beiseite und winkte ihn näher heran.
Er machte drei Schritte, nahm den Hut ab, drehte ihn in den Händen. Seine Haare leuchteten weiß in der Sonne. Nives blinzelte. Irgendwann in den letzten siebzehn Jahren war ihr Wohltäter alt geworden, und sie hatte es nicht bemerkt.
„Setz dich her.“ Auf der Bank war genug Platz für drei.
Vincenzo schluckte und tat wie gebeten. Er nahm das äußerste Ende, wirkte zusammengesunken. Nives kam sich groß gegen ihn vor, und das war, trotz seines kurzen Wuchses, neu.
„Kann ich dir etwas anbieten? Wasser, Wein?“
Er schüttelte den Kopf. „Dein Enkel ist unterwegs?“
Nives nickte. Alle hier glaubten, dass Cir ihr Enkel war, wegen ihrer weißen Haare. Sie hatte es nie für nötig erachtet, die Einschätzung zu berichtigen. Dabei hatte sie schon immer weiße Haare gehabt, genau wie ihre Mutter. Und wenn sie ihrem letzten Blick in einen Spiegel trauen konnte, hatte sie kaum mehr Falten als vor ihrer Flucht.
„Er sieht nach den Fallen.“
„Hm.“
„Hat er etwas angestellt?“
„Nein.“ Vincenzo strich sich eine Strähne aus der Stirn. „Noch nicht.“
„Ach?“
„Die Eltern sorgen sich um ihre Töchter, die jungen Männer um ihre Bräute.“
Wie einseitig sie hier immer dachten. Um junge Männer sorgten sich nur Nives und Vincenzo.
„Blicke folgen ihm. Es ist besser, wenn Cirrus nicht mehr allein ins Dorf kommt.“
Nives seufzte. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis irgendwem auffiel, dass der Lausbub mit den blauen Augen alt genug war, um jemanden mit dem Albenzauber zu verführen.
Nicht, dass Nives Cir so etwas zutraute, und außerdem hatte er es bei seinem Aussehen gewiss nicht nötig.
„Ich würde ihn zwar gerne behalten …“
Aber sein jüngster Sohn hatte schon Narben, weil er den restlichen Halbwüchsigen nicht passte. Wenn sich die Familie noch weiter unbeliebt machte, waren die Folgen kaum abzuschätzen.
Vincenzo knetete seinen Hut. „Du verstehst das doch, Nives?“
Sie unterdrückte einen zweiten Seufzer. „Ja. Ja, ich verstehe, dass ihr besorgt seid.“ Aber, bei den Ahnen, wie sollten Nives und Cir ohne dieses Einkommen leben? Der Junge brauchte Stiefel für den Winter und sie einen neuen Mantel.
„Du wirst es ihm erklären?“
„Ich werde es versuchen.“ Sie legte den Kopf schräg. „Was ist mit den Hühnern?“ Vincenzo hatte Cir zusätzlich zwei Legehennen und einen Hahn versprochen, für zwei Monate Arbeit auf dem Hof.
Davon war erst einer um.
„Ich – ihr bekommt die Viecher, sobald er den Stall fertig hat. Es tut mir leid. Er ist ein netter Kerl, aber …“
„Kein Mann, den Eltern sich für ihre Tochter wünschen“, sagte Nives. „Ich weiß. Nicht einmal, wenn er ein Mensch wäre.“
Es musste wohl noch verbitterter geklungen haben, als sie es gemeint hatte, denn Vincenzo langte über die Bank und drückte ihre Hand. Dann stand er auf und ging grußlos davon, wieder dem Wald zu.
Nives sah ihm nach. Damals hatte er sie ohne Fragen aufgenommen, als sie frühmorgens an die Tür seines Hofes geklopft hatte. Er hatte dafür gestritten, dass sie und Cir hier in der Hütte bleiben konnten, als alle im Dorf die strige fortjagen wollten.
Mit der Zeit hatten die Leute sich beruhigt, Cir hatte mit ihren Kindern gespielt, aber dennoch.
„Sie hätten uns am liebsten los“, meinte Cir.
Da stand er, mit seiner Beute zu Füßen. Ein schwarzes Eichhorn. Der Balg würde einiges einbringen, und das Fleisch war gut für ein Abendessen.
Nives schalt sich für den Gedanken. Es gab Wichtigeres als das Einkommen, das man mit schönen Pelzen erzielen konnte. „Seit wann bist du zurück?“
„Lange genug“, sagte Cir. „Nonna …“
Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag klopfte Nives neben sich auf die Bank. Cir war blitzschnell bei ihr und drückte sein Gesicht in ihre Schulter.
„Es tut mir leid.“ Sie schlang einen Arm um ihn, wuschelte durch seine Haare. Gerade lang genug, um seine Ohren zu verbergen, und damit immer noch länger, als es die Männer in Centerre bevorzugten. Daheim könnte er seine Locken wachsen lassen und mit Indigo die blauen Reflexe betonen. Vielleicht hätte er sogar einen Ring in den Ohren, wie Leon damals. Aber hier draußen war es keine gute Idee, auf seine Andersartigkeit hinzuweisen.
„Ich will heim“, sagte Cir nach einer Weile.
Nives starrte die Bäume an. Am Anfang hatte sie einen Versuch mit Fliegenpilzen unternommen, aber in der Vision doch nur bestätigt gesehen, was sie schon längst geahnt hatte: In jener Nacht war die gesamte Königsfamilie gestorben – außer Cir.
Somit war Cir Thronerbe, aber Solanus Gannes würde seinen Anspruch kaum abtreten, denn seine Mutter war eine Salvan gewesen, eine von Ferox’ Großtanten. Bei dem Staatsstreich hatte sie noch kein Jahr unter den Ahnen geweilt.
Obwohl Nives keine Vorstellung davon hatte, wie man vorgehen könnte, ohne Blut zu vergießen, sagte sie: „Irgendwann finden wir einen Weg.“
„Das versprichst du mir, seit ich denken kann.“
„Manche Dinge brauchen ihre Zeit.“
Cir machte sich los und starrte sie an, die Augen voller Vorwürfe.
„Wir sind dort genauso wenig willkommen wie hier.“ Sie waren in der einen wie der anderen Welt fehl am Platz, und im Gegensatz zu den Fahrenden konnten sie nicht einmal die Straße ihre Heimat nennen. „Hab Geduld.“
Cir schnaubte und packte das tote Eichhorn, bevor er sich um die Hausecke verzog.
xxx
Die langsam ersterbende Glut des Herdfeuers warf Schatten an die Wände. Aus den flackernden Schemen schienen Cir jene bösen Geister anzublicken, welche die Menschen so fürchteten.
Wie immer hatte seine Nonna vor dem Lichtlöschen noch eine Geschichte erzählt – passenderweise von einem vertriebenen Albenkönig längst vergangener Zeiten und dessen Geduld – und war dann ziemlich bald eingeschlafen. Sie konnte an den unmöglichsten Orten zu den unmöglichsten Zeiten schlafen. Eine Eigenschaft, die Krieger und Kinderfrauen gemeinsam hatten, behauptete sie.
Wieso blieb sie so ruhig? Sie musste die Drohung hinter Vincenzos höflicher Bitte genauso gehört haben wie Cir. Vermutlich würden die Bauern ihn fortjagen oder zu Brei prügeln, wenn er einem Mädchen auch nur Komplimente machte.
War es zu viel verlangt, irgendwo leben zu können, wo man nicht nur geduldet wurde?
Cir wollte jedenfalls nicht warten, bis irgendwer ihm die Schuld an einem Unglück zuschob.
Er stand auf und ging nach draußen. Sein Atem malte kleine Wolken in die Nachtluft.
Selbst wenn er eine Garantie bekäme, dass er in Pascanova bleiben könnte, würde er nicht hier bleiben wollen, nur mit Nives als Gesellschaft. Über die Jahre hatte seine Nonna den einen oder anderen Antrag bekommen und jeden ausgeschlagen. Sie ließ sich nie darüber aus, ob sie es wegen des Verbots tat, sich mit Menschen zu vereinigen, oder aus dem gleichen Grund, aus dem Cir hier niemanden fand, um herumzuprobieren: Menschen rochen falsch.
Irgendetwas musste passieren, aber Nives schien nicht geneigt, die trügerische Sicherheit ihrer Hütte zu verlassen. Lieber hieß sie Cir einen Hühnerstall bauen. An manchen Tagen schwärmte sie ihm von eigenen Ziegen vor. Vor Jahren schon hatte sie sich in der Armut eingerichtet und mit ihrer Verbannung abgefunden. Trotzdem machte sie ihm den Mund wässrig mit Beschreibungen ihrer verlorenen Heimat und hatte ihm seinen Stammbaum oft genug aufgesagt, dass er ihn auswendig konnte. Er war der jüngste Spross einer langen Linie von Königen.
Dabei hätte Cir nicht viel dagegen gehabt, Bauer zu sein statt Prinz, aber das doch lieber irgendwo, wo er ohne Angst leben konnte. Wo er nicht als wunderlicher Einsiedler sterben würde.
Er schüttelte sich, tastete nach der schimmernden Grenze, die direkt unter seiner Haut lag und hinter der alle seine möglichen Formen schliefen. Langte hinein, hielt die Luft an, als die Verwandlung ihn durch das Schlupfloch zwängte. Schließlich blinzelte er mit Eulenaugen in die nunmehr schwarz-weiße Nacht und schwang sich in die Luft.
Als in einer größeren Stadt im Tal die Glocke an einem Tempel Mitternacht verkündete, setzte er sich in eine Kiefer, um zu schlafen.
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Ein Sonnenstrahl, der durch einen Spalt in der Bretterwand fiel, kitzelte Nives’ Nase so sehr, dass sie niesen musste.
Es war erstaunlich kalt in der Hütte für einen Frühlingsmorgen. Sie setzte sich auf und – Cir lag nicht in seinem Bett.
Vielleicht war er austreten. Oder sich anderweitig erleichtern. Nives zuckte mit der Nase. Es wäre ein ungewöhnlicher Zeitpunkt, aber wer wusste, was das gestrige Gerede vom Heiraten mit dem Jungen angestellt hatte.
Nun. Die Aussicht auf ein warmes Frühstück würde ihn beizeiten wieder ins Haus locken.
Nives zog sich ihr Kleid über und stand auf, um das Feuer im Herd zu schüren.
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Cir erwachte mit dem Sonnenaufgang. Das grelle Licht störte seine Eulenaugen, also konzentrierte er sich: Ein Milan. Groß genug, um die meisten Jäger abzuschrecken, und für lange Strecken ausgelegt.
Etwa eine Stunde später überflog er die Grenze nach Friedlant. Selbst hier oben in der Luft spürte er die Siegel, mit der diese Menschen sich vor Eindringlingen schützten. Wie das kehlige Knurren eines gefährlichen, aber eingesperrten Hundes.
Vor ihm überschatteten die schneebedeckten Zwillingsgipfel aus Thurs- und Wetterhorn alle Berge in Sichtweite. Die Friedländer unterhielten am südlichen Hang eine Festung, Wolkenburg. Östlich davon erstreckte sich unwegsames Gelände, beschützt von einer baumhohen Steilwand, dem Wall. Auf das Gebiet innerhalb dieser Verwerfung erhoben weder Friedlant noch ein centerrischer Fürst noch die Kitai Anspruch. Ein weites Netz von Tälern, in welche die Menschen niemals auch nur einen Fuß setzten. Im höchstgelegenen davon, weit über der Baumgrenze, befanden sich, laut Nives, zwei Felsnadeln. Das Tor.
Cir drehte nach rechts ab, eine Gruppe von Reitern kam in Sicht, zwei davon in gelben Mänteln. Welche vom Sonnenorden, wenn man den Erzählungen trauen durfte: Die gefürchteten Kampfzauberer des friedländischen Königs. Es gab Witze, dass sie nur deswegen so gut im Kämpfen waren, weil ihr Eid ihnen verbat, es mit anderen zu treiben, und sich deswegen unglaublich viel Frust aufstaute.
Aber wie die zwei so auf ihren Pferden saßen, sahen sie weder besonders frustriert noch gefährlich aus. In Centerre hätte man den Dunkelhaarigen wegen seines Zopfs für unterwürfig gehalten und als Perversen verspottet.
Weit unter Cir kreiste außerdem ein schwarzer Vogel, der eine gewisse Ähnlichkeit mit den Krähen in Pascanova aufwies.
Er ging in den Sinkflug, um den seltenen Gast genauer zu betrachten. Das Tier – es musste ein Rabe sein – ließ sich ein paar Mal umrunden, ohne zu erschrecken. Cir fand sich aus beunruhigend verständigen Augen gemustert.
Am Ende war das hier noch ein anderer Alb?
Doch dann pfiff einer der Reiter. Der Rabe krächzte, legte die Flügel an und fiel wie ein Stein.
Ein Rabe als Haustier? Manche Menschen waren seltsamer, als Cir angenommen hatte.
Mit ein paar Flügelschlägen ließ er die Reiter hinter sich und fand sehr bald die verschwiegenen Täler.
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Als der Rabe auf Heilikas ausgestrecktem Arm landete, plusterte er sich auf. Damit schien er mitteilen zu wollen, dass er keine Angst vor einem Rotmilan hatte.
„Ich weiß, dass du genauso groß bist, Rabe“, sagte Heilika.
Hinter ihr schnaufte jemand seinen Spott.
„Trotzdem ist er besser bewaffnet als du“, fuhr sie fort.
Der Rabe schüttelte sich und schwang sich wieder in die Luft. Sie folgte ihm mit ihren Blicken. Manchmal beneidete sie ihn um diese Freiheit.
Ein Pferd wurde schneller und schob sich neben Heilikas Wallach. Es war wohl zu viel verlangt, einfach in Ruhe ihre erste Patrouille hier in Wolkenburg reiten zu können.
Berengar, den die Befehlshaberin ihr als zweiten Ritter in diesem Trupp zugeteilt hatte, grinste sie breit an. „Ich dachte, die anderen wollen mich veralbern. Aber das Vieh heißt tatsächlich Rabe.“
Heilika zuckte mit den Achseln. „Er hört auf nichts Anderes.“ Die Götter wussten, dass sie es mit einem guten Dutzend Namen versucht hatte.
„Hunde und Pferde kann man umerziehen“, sagte Ritter Berengar. „Da kann es doch mit einem blöden Vogel nicht so schwierig sein.“
Blöd? Dieser aufgeblasene Wicht würde noch staunen. „Wenn Ihr meint.“
„Es braucht einfach ein bisschen Willensstärke.“
„Tatsächlich.“ Noch so einer, der seine Verachtung für das vermeintlich schwächere Geschlecht nicht allzu gut verbarg. Vor hilfloser Wut begannen Heilikas Wangen zu glühen. „Ihr wart letzten Sommer nicht dabei, nehme ich an.“
Berengar warf sich in die Brust. „Leider nicht. Die Leute hier nehmen es übel, wenn wir den Wall nicht bewachen. Aber Eure Vorgeschichte mit den zwei Tucken ist bis hierher in den Süden gedrungen.“
Heilikas Hände ballten sich zu Fäusten, bis das Leder ihrer Handschuhe knarrte. Sie sollte, nach allem, Tankred und Alea nicht mehr beschützen wollen, aber wie konnte man nur von irgendeinem Menschen so abwertend sprechen? „Habt Ihr Angst vor den Eiern, die diese Tucken bewiesen haben?“
Berengar öffnete seinen Mund und schloss ihn wieder.
„Wie dem auch sei“, fuhr sie fort, denn sie wollte seine Verteidigung gewiss nicht hören, „der da ist ein Rest des Kampfs mit dem Schwarzkünstler.“ Sie nickte in Richtung des Schattens am Himmel. „Und wie Ihr wisst, erfordert Zauberei das Gegenteil eines schwachen Willens.“
Berengar starrte sie eine Weile an, und sie starrte zurück.
Schließlich verriet er sein Unwohlsein, indem er seinen Zopf richtete. „Ihr habt mehr Haare auf den Zähnen als auf dem Kopf.“
Wenigstens war es eine halbwegs einfallsreiche Bemerkung über Heilikas jungenhafte Frisur. „Im Gegensatz zu anderen behaarten Zähnen haben meine Rückendeckung.“ Sie wandte den Blick nicht ab. Ritter Berengar musste genau wie sie spüren, dass sie mehr Zauberkraft zur Verfügung hatte als er.
Mit einer Grimasse ließ er sich zurückfallen.
Aus reiner Gewohnheit vergewisserte Heilika sich, dass der Rabe ihnen folgte, und unterdrückte ein Seufzen. Wenn es so weiterging, würde sie auch hier in Wolkenburg keinen Anschluss finden.
Sie versuchte, das Grimmen in ihrem Bauch nicht zu beachten. Letzten Sommer hatte sie geglaubt, ihre Verbannung an die Grenze würde leicht zu ertragen sein, und sie war voller Zuversicht zu ihrem ersten Posten in der Heidmark geritten. Aber ihr Ruf war ihr vorausgeeilt. Eigenwillig. Zweifache Verräterin. Und dazu kam die Tatsache, dass sie einfach ihren Mund nicht mehr halten konnte. Es war ihr mittlerweile körperlich unmöglich, ruhig zuzuhören, wenn irgendwer abfällige Bemerkungen über Frauen und … Männerfreunde machte.
In seinem letzten Brief hatte Tankred sich als einen Perversen bezeichnet und schien es lustig zu finden, aber das gab weder Heilika noch irgendwem sonst das Recht, ihn zu beleidigen.
Bei den Göttern. Sie vermisste diesen eigensüchtigen Kerl mehr, als es ratsam war.
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Das Frühstück stand schon längst auf dem Tisch, und Cir war immer noch nicht zurück.
Nives hatte zweimal nach ihm gerufen, aber offenbar befand er sich außer Hörweite. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Zudem hatte er das Werkzeug dagelassen, das er immer mitnahm, wenn er nach den Fallen sah.
Schließlich stellte Nives das Frühstück warm und ging wieder nach draußen. Sie sammelte sich, bis die Welt ihre Farbe verlor. Dann kräuselte sie ihre feuchte Hundenase und nahm die Witterung auf.
Die Spur führte bis zur Mitte der Lichtung. Dort endete sie in einer Wolke aus Raubvogeldüften.
Also war Cir davongeflogen? Aber wohin?
Ihr fröstelte, sie verwandelte sich zurück und verschränkte die Arme vor dem Bauch. Nicht auszudenken, was einem einsamen Jungen alles zustoßen konnte.
Vor ihrem inneren Auge sirrte ein Pfeil vorbei.
Nives schüttelte den Kopf. Nein, nein, das wollte sie nicht glauben. Die Ahnen hatten bis jetzt ihre schützende Hand über ihn gehalten, da musste dieser unüberlegte Ausflug – ha – auch noch gut gehen.
Nives würde im Dorf fragen. Im besten Fall hatte Cir ein Liebchen dort und war mit diesem angesichts der schlechten Nachrichten durchgebrannt. Besser, er hatte etwas Verbotenes getan, als dass sein Leben in Gefahr war.
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Cir erreichte das Tor kurz vor Mittag. Es lag oberhalb der Baumgrenze in einem Geröllfeld. Auf der Südseite der einen Felsnadel trotzte ein einsamer Heidelbeerstrauch dem Wetter.
Die Luft zwischen den beiden Steinen flirrte und gab nur undeutlich den Blick auf den Hang dahinter frei.
Cir starrte den Übergang eine Weile lang an. Jetzt, wo er hier war, schien es ihm gar nicht mehr so verlockend, die verschwiegenen Täler zu sehen. Was, wenn er sich verlief oder entdeckt wurde? Nives hatte ihm eingeschärft, dass innerhalb des Banns Verwandlungen unmöglich waren.
Dann schüttelte er den Kopf. Feiglinge erreichten nie etwas. Wenn er jetzt nicht ging, würde er bis zum Ende seines Lebens in einer ärmlichen Hütte leben, mit Nives als einziger Gesellschaft.
Der Zauber kribbelte auf Cirs Haut, als er sich dem Tor näherte, rieselte tiefer, wie Wasser durch Kies, und versperrte die Grenze zwischen Cirs jetziger und all seinen möglichen Formen.
Unangenehm und hinderlich wie ein Stein im Stiefel. Er schloss die Augen, um den letzten Schritt zu machen.
Doch ein Hauch von Sommer schlug ihm entgegen, das Kribbeln legte sich, also sah er sich um und fand sich auf einer Wiese stehen. Es war warm wie in einem geschützten Tal. Hahnenfuß und Ehrenpreis blühten. In einiger Entfernung grasten Bergschafe und schenkten Cir keine Beachtung.
Gegen einen Findling lehnte ein Junge mit langen, blonden Haaren und schlief. Ein Hirte, aber keiner wie in Pascanova. Die Hirtenjungen dort liefen im Sommer barfuß, mit wadenlangen Unterhosen und einfachen Tuniken herum. So wie Cir auch.
Dieser Hirtenjunge besaß Stiefel, die er neben sich abgestellt hatte, und trug über einem Hemd, das passte und keine Risse hatte, eine blau-gelb gesteifte Weste.
Cir war in seinem ganzen Leben noch nie so gut angezogen gewesen.
Er schüttelte den Kopf und folgte einem dünnen Pfad, der sich den Berg hoch schlängelte, weg von dem Jungen und der Herde Schafe.
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Nives’ Hoffnung auf einfache Antworten schien vergeblich. Im Dorf war kein bisschen Aufregung zu spüren. Vincenzo und seine zwei älteren Söhne deckten das Dach der Scheune neu, als Nives seinen Hof erreichte. Er winkte ihr zu, sie winkte zurück, verbiss sich einen Tadel. In seinem Alter und mit seinem Fuß sollte Vincenzo nicht mehr dort oben herumklettern und hatte bis gestern wohl auch darauf verzichtet.
Bis er Cir entlassen hatte.
Nives verbat sich solche Gedanken und umrundete den Hof. Im Garten auf der geschützten Südseite summten die Bienen, und Rosalia, Vincenzos Frau, jätete Unkraut.
„Entschuldige.“
Rosalia sah auf und zuckte mit der Nase, als verbreite Nives einen schlechten Geruch.
„Habt ihr Cir gesehen?“
„Nicht, seit er gestern Nachmittag heimgegangen ist“, sagte Rosalia.
„Bist du sicher?“
Rosalia runzelte die Stirn. „Ich bin alt, aber noch nicht blind.“ Damit wandte sie sich wieder ihrem Unkraut zu.
Nives starrte sie eine Weile an. Den gebeugten Rücken, die Falten in ihrem Gesicht, die lockere Haut an ihrem Hals, die drahtigen grauen Haare, die unter ihrem Kopftuch hervorblitzten.
Die Frauen im Dorf mussten grauenvoll neidisch auf Nives sein. Es war keine Frage, dass sie auch einmal so aussehen würde, aber bis dahin war es noch lang. Dreißig, mit etwas Unterstützung von den Ahnen auch vierzig Jahre. Nicht, dass ihr Aussehen ihr mehr einbrachte als unerwünschte Komplimente.
Nives schüttelte den Kopf und trottete weiter den Hang hinunter. Vielleicht wusste Alberto etwas. Der Wirt hatte ein gutes Ohr für Gerüchte.
Doch Alberto war nicht da, nur sein erwachsener Sohn, Ignazio, wischte in der düsteren Schankstube die Tische ab. In einer Ecke lagen die Trümmer zweier Stühle neben einem Haufen zusammengekehrter Scherben. Es roch durchdringend nach altem Wein. Vor Nives’ innerem Auge flackerten Schatten, die mit Krügen aufeinander eindroschen, einer ging zu Boden.
Als Ignazio sie bemerkte, hielt er inne und starrte sie an. Seit ihrem letzten Besuch hier hatte er sich eine weitere Delle in seiner Nase zugelegt.
„Du bekommst hier nichts zu trinken.“
Wie zu erwarten. Nives strich sich einige lose Haare aus der Stirn, bemühte sich um ein besänftigendes Lächeln. Vielleicht war Alberto schon wieder auf den Beinen. „Ich möchte nicht stören. Ist dein Vater zu sprechen?“
„Der pflegt seine Beule.“ Ignazio wandte sich wieder dem Tisch zu und zog ein Messer, um einen herausstehenden Splitter wegzuschaben.
„Ich könnte nach ihm sehen.“
„Ich will keine striga in meinem Haus.“
Nives zuckte zusammen, wider besseres Wissen. Ignazio grinste. Jetzt sah er noch eher aus wie jemand, der für Geld Leute zusammenschlug.
„Ignazio …“ Nives versuchte ein weiteres gewinnendes Lächeln. Bei den Ahnen, dieser Kerl musste ihr einfach zuhören. Sie lehnte sich gegen seinen geistigen Widerstand, bis sie fühlte, dass etwas nachgab. „Ich bin nicht hergekommen, um dich zu belästigen.“
Er runzelte die Stirn.
„Cir ist verschwunden, und ich dachte, dass du oder dein Vater mir vielleicht helfen könnt.“ Noch ein Lächeln. „Ihr wisst immer alles, was im Dorf vorgeht.“
Der junge Mann blinzelte, als müsste er plötzliche Müdigkeit vertreiben. „Ich hab nichts über Cir gehört. Ein paar Mädchen himmeln ihn an. Aber soweit ich weiß, hat es noch keine geschafft, ihm mehr als einen Kuss zu stehlen.“ Dabei wackelte Ignazio mit den Brauen.
Aber es war nicht die Auskunft, die Nives zu hören gehofft hatte. „Dann ist also niemand anderes heute Nacht verschwunden?“
„Nein.“
Sie seufzte. „Und es gibt kein einziges Gerücht, dass Cir nicht vielleicht doch …“
Ein Kopfschütteln. „Es tut mir leid. Die Mädchen haben sich an ihm immer die Zähne ausgebissen. Wie die Männer an dir.“
Hm. So höflich auf einmal. Nives lächelte ihn zum Dank an, und er hob einen Mundwinkel. „Du hast mir sehr geholfen.“ Auch wenn Nives mit den Auskünften wenig anfangen konnte. Cir war weggelaufen, und sie hatte nicht einmal eine Vorstellung davon, wo sie zu suchen anfangen sollte. Vermutlich blieb ihr nichts übrig, als auf ihn zu warten, die Ahnen um Hilfe zu bitten und sich solange von den Sorgen abzulenken. „Soll ich wirklich nicht nach deinem Vater sehen?“
Ignazio wurde rot und sah zu Boden. „Das würdest du tun, Nives?“
Alberto hatte einige blaue Flecken, ein dickes Knie und eine Platzwunde am Kopf, die jemand sehr ordentlich verbunden hatte. Eine Magd hielt in der Kammer Wache. Albertos Geliebte, die er nicht heiratete, weil sie ihm wegen ihrer größeren Zauberkräfte die Rolle des Familienoberhaupts abspenstig machen könnte.
„Viel kann ich nicht ausrichten. Er sollte sein Bein schonen“, sagte Nives. „Einen Tag mindestens noch. Macht ihm Wickel aus Beinwell oder Arnika. Beides wächst bei Rosalia im Garten, wenn ihr selbst keinen habt.“
Ignazio und die Magd nickten dazu.
„Wenn ihr die Wunde sauber haltet, besteht kein Grund zur Sorge.“
„Das werden wir tun“, sagte Ignazio.
Sie lächelte ihn an, und wieder sah er weg. Man könnte meinen, er wäre von seiner eigenen Höflichkeit eingeschüchtert. „Ich hege keinen Zweifel, dass er bei euch in den besten Händen ist. Aber falls es Schwierigkeiten gibt, dürft ihr mich jederzeit rufen.“
Beide murmelten ein Dankeschön, doch Ignazio streckte die Finger nach ihr aus, als wollte er ihre Hand küssen – ein wenig übertrieben für ihren geringen Beitrag.
Nives verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zu ihrer Hütte.
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Cir hatte mit dem Pfad den Bergrücken überquert und sich erst einmal setzen müssen. Etwa eine halbe Meile nördlich ragte nackter Fels aus grünen Weiden, als hätte jemand einen riesenhaften Bauklotz halb eingegraben. Zahlreiche Fenster und Galerien ließen ahnen, wie durchlöchert er war. Altanida, der Palast, von dem Nives Cir immer vorgeschwärmt hatte. Groß genug, um Pascanova fünfmal darin unterzubringen.
Nach Südosten hin öffnete sich ein Tal, ein See wie ein Auge glänzte unter dem wolkenlosen Himmel. An seinem Ufer wuchsen Obstbäume und Weinreben in ordentlichen Reihen. Weiter oben gab es Felder, Korn und Gemüse. Auf halber Höhe schmiegten sich weitläufige Bergdörfer aus Steinhäusern an die Hänge. Cir entdeckte fünf davon, aber wahrscheinlich lagen in den Seitentälern noch mehr. Er hatte sich wenige Namen gemerkt, aber Nives hatte von mehr als fünf Ortschaften berichtet.
Wo es zu steil für Äcker war, grasten Schafe, Ziegen und eine Handvoll Esel, aber keine Pferde und Rinder. Wie seine Nonna gesagt hatte.
Am besten schaute er sich erst einmal vorsichtig um. Cir bog nach Süden ab, ging über die Wiese zum Waldrand.
Unter den Bäumen fand Cir frühe Walderdbeeren, an denen er sich satt aß, bevor er sich der Siedlung weiter unten näherte. Er blieb im Schatten, sodass seine farblose Kleidung hoffentlich vor dem Hintergrund verschwand, und suchte sich einen guten Platz, um das Dorf zu beobachten. Tatsächlich kamen Leute aus den Häusern, sobald die Sonne ihren höchsten Punkt überschritten hatte. Frauen in den Gewändern von wohlhabenden Leuten – bodenlang, gefärbt und mit kunstvollen Schnürungen – arbeiteten in den Gärten. Ein paar mehr, einfacher gekleidet, Dienstmägde wohl, breiteten weiße Laken auf einer Wiese zum Bleichen aus. Aus einer Schmiede hallten Hammerschläge, Zimmermänner mit langen Zöpfen werkelten an dem Fachwerk für eine Scheune. Kinder spielten auf der Straße – hier trugen sogar die kleinen Jungs Hosen und Schuhe.
Unter diesen Leuten würde Cir auffallen wie eine blaue Kuh in Pascanova und vermutlich noch mehr Misstrauen erregen.
So viel zu heimlichen Erkundungen.
Er setzte sich und lehnte sich gegen eine Kiefer. Hätte er doch Nives überredet mitzukommen. Aber jetzt schon zurückkriechen? Lieber ließ er sie noch ein wenig schmoren.
Cir schreckte hoch, weil etwas knackte. Er blinzelte und fand sich entlang eines Schwertes in kühle blaue Augen starren.
Der Mann, dem sowohl das Schwert als auch die Augen gehörten, grinste. „Keine Bewegung, Bürschchen.“
Das musste ihm nicht eigens mitgeteilt werden, obwohl er liebend gern davonrennen wollte. „Gewiss nicht. Herr.“
Wie hatte er nur einschlafen können und sich erwischen lassen? Noch dazu von einem Trupp breitschultriger Männer, die schwarz lackierte Rüstungen ohne Helme, aber mit zu vielen sichtbaren Messern trugen. An den wollenen Schals, die ihre Hälse schützten, prangten drei blaue, gestickte Wellen: die Gannes-Farben. Nives hatte viel Zeit darauf verwendet ihm einzuschärfen, wie die aussahen.
„Wie heißt du?“, fragte der Mann mit dem Schwert.
„Cir.“
„Und woher kommst du?“
Auf die Schnelle fiel Cir kein einziger Name der Dörfer hier ein. Hätte er da bloß so gut aufgepasst wie bei seinem Stammbaum. „Von draußen“, sagte er also wahrheitsgemäß. „Aus Centerre.“
„Draußen.“ Der Krieger legte den Kopf schräg. „Wie bist du den Menschen entkommen?“
Cir hob die Brauen. „Wieso sollte ich den Menschen entkommen sein?“
„Du siehst aus wie ein servus.“
Ein Sklave? Dabei gab es im Fürstentum Laudico seit Jahrzehnten keine Sklaven mehr. „Ich bin kein Sklave“, sagte Cir. „Ich bin ein Findelkind.“ Halb erwartete er, dass die Lüge enttarnt wurde. Jeder musste hören, dass er das Sprechen von einem anderen Alben und nicht von einem Centerrer gelernt hatte. Außerdem hätte er ohne einen entsprechenden Hinweis gar nicht hergefunden.
„Und du willst mir ernsthaft erzählen, dass Menschen dich aufgezogen haben, nur um dich gehen zu lassen?“
Also gut. Offensichtlich hatte der Mann ein paar Schwierigkeiten mit der Logik. Cir versuchte ein verlegenes Lächeln. „Sie haben mich davongejagt. Sie hatten Angst um den Verstand ihrer jungen Leute.“
Der Krieger lachte und nahm endlich das Schwert weg. „Hast du ihnen nicht verraten, dass sie stinken? Steh auf. Wir müssen dich durchsuchen und dann der Königin vorführen. Es gibt keine Vorschriften für Zuwanderer.“
Cir nickte und kam auf die Füße. Einer der anderen Soldaten tastete ihn ab, nahm Cirs Messer an sich. Kurz betrachtete er die Bronzeklinge, als verstünde er etwas vom Schmieden.
Nonna würde ihm ordentlich den Kopf waschen, wenn er ohne dieses teure Stück heimkam.
„Los jetzt.“
Sie folgten dem Waldrand nach Norden, wo Altanida nun weniger einem Bauklotz ähnelte als einem Turm, aus dessen dunklen Fenstern sich jederzeit Ungeheuer auf ihn stürzen könnten.
Cir beobachtete die anderen. Er war gar nicht so klein, im Vergleich zu ihnen, vielleicht eine Handbreit weniger. Nives hatte ihm bestätigt, dass er noch wachsen würde, im Gegensatz zu Menschen im gleichen Alter.
Allerdings schienen die Wächter alle doppelt so schwer wie Cir und hatten Schultern wie Holzfäller. Ihre dunkle Uniform tat das ihrige, sie unheimlich wirken zu lassen. Bis auf zwei, die mit einem doppelt geschwungenen Bogen bewaffnet waren, trugen alle Schwerter. Und Cir besaß nicht einmal mehr sein Messer.
Trotzdem musste er schauen, dass er ihnen entkam. Die Königin, damit hatten die Soldaten gewiss Noctuola Gannes gemeint. Diese Tochter eines Thronräubers konnte sicherlich eine Verbindung zwischen einem Findelkind namens Cir und dem verschwundenen Prinzen Cirrus Salvan ziehen. Noch dazu, wenn Cir laut Nives das Ebenbild seines Vaters war.
Sie erreichten den Pfad, der zum Tor führte.
Cir sah sich um, tat so, als würde er straucheln, rollte sich unter dem Griff des Mannes weg, der links neben ihm ging, kam auf die Füße und rannte. Wenn er nur erst hinter der Kuppe wäre.
„Stehenbleiben“, rief einer. „Stehenbleiben oder ich schieße!“
Cir sah sich nicht um, lief, lief, schlug Haken.
Ein Pfeil sirrte an ihm vorbei, gleich darauf ein zweiter.
Hinter dem Bergrücken, wo die Schafe weideten, war er genauso wenig sicher. Ein dritter Pfeil streifte seinen rechten Arm, hinterließ eine Spur wie Feuer. Er stolperte beinahe, ließ sich fallen, kullerte den Hang hinunter.
Nach der nächsten Biegung traf Cir wieder auf den Pfad, rappelte sich hoch und rannte weiter.
Ein letzter Pfeil zischte an seinem linken Ohr vorbei, dann klirrten nur noch die Rüstungen der Krieger.
Der Hirtenjunge, der jetzt auf dem Findling saß, sah mit großen Augen zu, wie Cir vor den Soldaten floh, aber er tat nichts, um ihn aufzuhalten, als er sich zwischen die Felsnadeln zwängte.
Auf der anderen Seite lag das Tal im Schatten, die kühle Luft war wie Balsam für das Brennen, das der Pfeil hinterlassen hatte. Cir sammelte sich, schob den Schmerz in seinem Arm beiseite, holte den Milan hervor und warf sich in die Lüfte.
xxx
Mitten in der Nacht polterte etwas gegen die Tür von Nives’ Hütte. Sie schreckte hoch, schüttelte den Kopf gegen den Schmerz in ihrem Nacken – sie war im Sitzen auf der Bank eingeschlafen. Die Lampe brannte noch, dabei konnte sie es sich nicht leisten, Öl zu verschwenden.
Als sei dem Besuch die Kraft ausgegangen, kratzte etwas wie eine Katze, die auf Einlass hoffte.
Nives stand auf, schielte nach dem Schürhaken – eine Sonderanfertigung aus Bronze – und ließ ihn dann doch an seiner gewohnten Stelle.
Der Pfeil aus ihrer Vision hatte getroffen.
Cir lag auf dem Boden, als hätte ihn jemand gegen die Hütte geworfen, die Haare klebten ihm nass am Kopf, obwohl es nicht geregnet hatte. Er blinzelte und starrte aus glasigen Augen zu Nives hoch, schien sie aber nicht zu erkennen.
Sie ging in die Knie und griff ihn unter den Achseln, zerrte ihn ins Licht vor dem Herd. Er half nicht mit, also hatte sie keine Hoffnung, ihn ins Bett zu befördern.
Das Kind glühte. Die Tunika hatte am rechten Oberarm einen blutigen Fleck um einen kurzen Riss.
Nives biss sich auf die Unterlippe und ging ans Werk. Erst ein Tuch mit kühlem Wasser auf die Stirn, Feuer im Herd schüren, Branntwein und Verbände suchen.
Als sie sich wieder neben Cir kniete, war er eingeschlafen.
Nicht zum ersten Mal wusste sie den losen Schnitt von Tuniken zu schätzen. Sie konnte den Ärmel hochschieben und sich die Wunde besehen, ohne den Stoff zerschneiden zu müssen.
Der dünne, blutige Streifen verschwand fast zwischen dicken Wasserblasen.
Eisenbrand. Hoffentlich handelte es sich wirklich nur um einen Kratzer, hoffentlich hatte der Pfeil den Muskel nicht verletzt, denn sonst würde Cir den Arm verlieren.
Kein Wunder, dass das Kind fieberte.
Wenn Nives den erwischte, der ihren Cir mit einer Eisenwaffe angegriffen hatte.
Sie rief sich zur Ordnung. Auf die Brandblasen kam ein weiteres mit kaltem Wasser getränktes Tuch. Sie machte Wadenwickel und deckte Cir zu.
Eisenbrand überforderte selbst starke albische Heiler, und ein Mensch wäre dagegen sowieso hilflos. Also setzte Nives in einem Topf eine Handvoll getrocknete Berberitzen und Holunderblüten auf und in einem zweiten Petersilie.
So wie früher, wenn er krank geworden war, weckte Nives Cir ein paar Mal, um ihm den Holunderaufguss einzuflößen. Er schien über die Störungen ungehalten und hätte vermutlich durchgeschlafen, was sie als gutes Zeichen wertete.
Als es draußen hell wurde, sank das Fieber etwas. Sie tränkte die Binde um die Brandblasen mit dem nunmehr kühlen Petersilienwasser gegen Juckreiz und kroch dann in ihr Bett.
„Nonna?“
Nives blinzelte Cir an. Er kauerte neben ihrem Bett, sah immer noch zum Fürchten aus, aber sein Blick war wieder klar.
Sie setzte sich und strich ihm mit einer Hand die Haare aus dem Gesicht. Immer noch zu warm. „Ich sollte dir Schläge mit einem Gürtel verpassen. Für den Schrecken, den du mir eingejagt hast.“
Cir lächelte. „Es tut mir leid.“
„Gut.“ Vergeben hatte sie ihm noch nicht. „Und jetzt ins Bett mit dir, du hast Fieber.“
Es musste ihm schlechter gehen, als sein Aussehen vermuten ließ, denn er kroch ohne Murren unter seine Decke.
Dafür stand Nives auf, zwang ihn, mehr von dem Holundersud zu trinken, und erneuerte den Verband auf seinem Arm.
„Wo warst du?“, fragte sie schließlich und setzte sich zu ihm.
„Daheim.“
Nives blinzelte.
„In den verschwiegenen Tälern.“ Er starrte zum Dachgebälk hoch und sah in diesem Moment so verloren aus, dass Nives ihn unmöglich dafür schelten konnte. „Es … sie bauen Wein an. Und sogar die kleinen Jungs haben Schuhe.“
Beinahe hätte Nives geseufzt. „Ich weiß“, sagte sie. „Es ist schön da.“ Aber das erklärte nicht die Wunde. „Du hast dich also dort umgesehen. Und dann?“
„Ein paar Wachen haben mich erwischt.“
Nives vergrub ihre Finger in der Decke. Wie gut, dass sie sich geschworen hatte, niemals Kinder zu schlagen. „Und weiter?“
Schweigend hörte sie sich den Rest der Geschichte an, obwohl sie es nicht glauben wollte.
Eisenwaffen in Albenhänden.
Unmöglich. Mit geeigneten Vorsichtsmaßnahmen konnte ein Alb durchaus mit Eisen umgehen, doch selbst mit dicken Handschuhen und langärmliger Kleidung wäre ihr unwohl. Aber Eisen gegen einen anderen Alb zu verwenden? Bei den Ahnen, das brauchte schon eine besondere Art Grausamkeit. Wenn kein Krieg war, gab es keinen Grund, andere Alben mit Eisen zu bekämpfen.
„Nonna?“
„Hm?“
„Du bist so still.“
„Ja. Ich – sie sollten nicht einfach so … Eisen, Kind. Du hattest nicht mal ein Messer, und sie haben dich mit Eisenwaffen angegriffen.“
Cir zog die Nase hoch. „Ist ein
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Carmilla DeWinter
Bildmaterialien: Irene Repp, falcona - shutterstock.com
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2017
ISBN: 978-3-7438-0728-0
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