Mal wieder sehe ich einem Schmetterling nach. Dieses Jahr scheint es echt viele davon zu geben, denn es ist eine Beschäftigung der ich schon seit Stunden nachgehe. Ich – übrigens Nikolas Berger, aber alle nennen mich nur Nikki – liege hier mitten im Park, auf der Wiese und beschäftige mich, wie schon gesagt, schon seit Stunden damit Schmetterlinge zu beobachten. Warum ich das tue? Das ist mir selber nicht so wirklich klar, möglicherweise weil sie so faszinierend, klein, magisch und überhaupt irgendwie anziehend sind, oder vielleicht auch nur weil ich das Gefühl habe das Tausende davon in meinem Bauch herum schwirren wenn ich ihn sehe.
Und wer sich jetzt noch fragt, ob ich nicht irgendwo anders sein müsste, um meine Zeit sinnvoller zu verbringen, hat hundert Punkte. In der Tat müsste ich jetzt brav, wie alle anderen in der Schule sitzen und normalerweise würde ich das sogar auch noch machen, aber leider ist mir ein kleiner, dummer Zwischenfall passiert. Mit ihm. Ein Zusammenstoß, also wirklich nichts Weltbewegendes. Wir beide waren irgendwie zu spät dran und sind in der Eile direkt ineinander gelaufen und prompt beide auf den Hintern geflogen. Naja, und weil er eben spät dran war ist er schnell aufgestanden, hat sich entschuldigt und weg war er. Direkt in meiner Parallelklasse verschwunden.
Doch während ihm und jedem anderem dieser kleine, dumme, unbedeutende Zwischenfall nichts ausmachen würde – oder wenn dann nur minimal peinlich wäre – ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Das erste Mal das er meine Existenz wahrgenommen hat – wenn auch ehr nebenbei – und dann sieht das so aus. Gott! Ich würde am liebsten von der nächsten Brücke springen, weil alles so blöd ist, doch wenn ich rational nachdenke – und ja, das kann ich auch – weiß ich eigentlich das er es gar nicht richtig für voll genommen hat. Klar, er kennt vermutlich nicht mal meinen Namen. Wahrscheinlich weiß er auch nicht das ich ein Typ aus seiner Parallelklasse bin. Wahrscheinlich hält er mich einfach für einen Spinner der doof auf den Gängen rumsteht...wenn er überhaupt nochmal daran denkt – was er vermutlich nicht tut. Er hat ja auch – zum Glück nicht – meine Reaktion gesehen. Diese wäre ihm auf alle Fälle im Gedächtnis geblieben.
Sobald ich nämlich sah, welcher Idiot mich umgerannt hat, sah ich auch, dass es gar kein Idiot war, sondern das gottgleiche Wesen, dem ich schon seit der Sechsten nachsabbere, das mich bisher aber nie auch nur eines einzigen Blickes gewürdigt hat. Der plötzliche Körperkontakt brachte mich komplett aus der Fassung. Ich wurde schon knallrot, wenn ich ihn nur sah und mein Herz könnte mit jedem Sportwagen der Welt mithalten, so schnell schlug es, doch als wäre das sonst nicht schon dumm genug, fiel ich dieses Mal ganz einfach in Ohnmacht. Ich hörte noch wie er die Tür zu seinem Unterrichtsraum – der nur ein paar Meter weiter war – zufiel und dann war es auch schon schwarz um mich herum.
Als ich wieder zu mir kam sah ich in das grimmig, misstrauische Gesicht unseres Hausmeisters, der mich schlechtgelaunt fragte, warum ich denn mitten im Gang schlafe, anstatt im Unterricht zu sitzen. Einen kurzen Schockmoment später fiel mir sogar wieder ein, warum ich 'mitten im Gang schlief' und lief schon wieder knallrot an und bekam Herzklopfen. Der Hausmeister starrte mich mit jeder Sekunde kritischer an und ich hätte ihm glatt gesagt er soll nicht so dämlich glotzen, sonst bleibt sein Gesicht nachher noch so hässlich – obwohl das sonst auch keine Augenweide ist – doch dafür war ich in diesem Moment einfach zu aufgewühlt. Ein schneller Blick auf mein Handy, sagte mir das ich eine halbe Stunde weggetreten war. Weil ich nicht wusste wie ich das meinem Lehrer erklären sollte und ob ich überhaupt nochmal einem aus der Schule ins Gesicht sehen kann, bin ich abgehauen. Auch, wenn das jetzt schon wieder ziemlich dumm von mir war, schließlich hat mich bis auf den griesgrämigen, alten Hausmeister ja niemand gesehen. Trotzdem! Alleine der Gedanke das ich morgen wieder zur Schule muss, jagt mir einen Schauer nach dem anderen den Rücken runter. Ich bin doch wirklich blöd, dumm, dämlich und überhaupt zu nichts zu gebrauchen!
Ich weiß nicht wie es mich hat so schlimm erwischen können, wo ich doch noch nicht einmal mit ihm geredet habe und er mich – wie ich höchst deprimiert festgestellt habe – noch nicht mal angesehen, geschweige denn meine bloße Existenz wahrgenommen hat. Zum Mäuse melken!!! Aber vielleicht sogar auch besser so, denn hätte er mal mit mir geredet wäre ich ihm im Gespräch wahrscheinlich weggestorben. Dumm. Dumm. Dumm! Warum kann ich nicht auch einer von den unzähligen Schmetterlingen sein, die hier umher flattern. So leicht, so unbeschwert und das schönste: Sie müssen sich um so einen Unsinn keine Gedanken machen. Andererseits, welcher Volltrottel fällt schon in Ohnmacht, nur weil sein Schwarm – Lebenstraum – ihn angerempelt hat? Niemand! Nur ich. Ich. Ich der Idiot. Wie aufbauend.
Plötzlich schreit mir 'Snow White's Poison Bite' entgegen und ich nehme meinen SMS-Ton wahr. Genervt darüber aus meinen – zwar sowieso ehr trübsinnigen – Gedanken gerissen worden zu sein, werfe ich einen bösen Blick auf mein Handy, in der Hoffnung so dem Verfasser dieser SMS die Pest an den Hals zu hexen. Man, bin ich heute mal wieder freundlich.
Der Störenfried ist kein geringerer als Jes – eigentlich Justin, aber er hasst es so genannt zu werden. Er ist mein bester Freund. Wieso, weiß ich auch nicht genau. Er hat sich einfach selbst irgendwann dazu erkoren – nicht das ihm jemand den Platz je streitig gemacht hätte und ich habe es ihm – warum auch immer – nie ausreden können. Vielleicht, weil er der einzige ist der es überhaupt mit mir aushält. Was solls. Ich starre also missmutig auf mein Handy – es ist bereits kurz nach vier – und lese was er da so an Buchstaben und Zeichen zusammengezimmert hat.
*Hey du~! ^.^ Schwing deinen Arsch mal rüber ins Mäcces!! :3*
Wie freundlich. Ist er ja immer. So wie ich. Also 'schwinge' ich meinen Arsch jetzt ins Mäcces – so wie befohlen.
Kaum das ich darin angekommen bin hängen mir auch schon 60 Kilo zusätzliches Gewicht an der Hüfte. Zwar bin ich – wenn ich mich mal ganz dezent umschaue – nicht der einzige dem es so geht, doch wohl aber der einzige der sein Gewicht wieder abnehmen kann – oder auch nicht. Jes hat nämlich sowohl seine Arme um meinen Hals, als auch seine Beine um meine Hüfte geschlungen und wie es ausschaut, hat er nicht vor mich so einfach wieder los zu lassen. Typisch. Eigentlich hätte ich das wissen müssen. Was solls. Daran kann ich jetzt sowieso nichts mehr ändern. Ich trete also weiter in den Laden und suche uns einen Platz. Gar nicht lange auf der Suche, sehe ich auch schon wo der Klammeraffe sein Zeug hingeschmissen hat – und nebenbei auch noch die eindeutigen, verstörten und seltsamen Blicke der anderen Gäste hier. Doch das ist mir egal – solange es nicht in der Schule ist, solange er es nicht sieht.
Scheiße! Jetzt muss ich schon wieder daran denken. Ich setze mich, mit Jes auf meinem Schoß, auf seinen Platz auf der Eckbank und Jes wäre nicht Jes, wenn er es nicht sofort bemerken würde, wenn ich mal für eine Sekunde zu tief einatme. Jes hat es sich quasi zur Lebensaufgabe gemacht mich auf jegliche Art zu durchleuchten, wobei das Gruselige ist das er mich manchmal besser versteht als ich mich selbst. Seine Arme in meinem Nacken lockern sich und für den Bruchteil einer Sekunde sieht er mir in die Augen und seufzt – so als wüsste er wie ich leide. Das kann er aber gar nicht und weiß es trotzdem – irgendwie – auch wenn er den Grund dafür tatsächlich nicht kennt.
Dann küsst er mich. Ganz unverblümt, direkt in der Öffentlichkeit, mitten auf den Mund. Das Getuschel um uns herum wird lauter, doch das stört uns jetzt nicht. Jes ist nie etwas peinlich und mir ist sowieso fast alles egal, das nicht mit ihm oder Jes zu tun hat. Ja, auch wenn ich mich vorhin noch beschwert habe, mag ich ihn doch und auf irgendeine Weise, brauche ich ihn sogar. Besonders jetzt. Jetzt wo mir die Tränen langsam über die Wangen fließen, die Jes geschickt wegwischt, ohne unseren Kuss zu lösen – der sich mittlerweile noch etwas vertieft hat.
Ich weiß es ist seltsam. Ich sagte das ich diesen Typen – wegen dem ich Ohnmächtig im Flur lag – liebe und jetzt knutsche ich hier mit 'meinem besten Freund' herum. Doch eigentlich kann ich mir die dummen Anführungsstriche auch sparen, denn Jes ist mein bester Freund. Nicht mehr und nicht weniger. Ich habe nicht solche Gefühle für ihn. Das weiß er und ich weiß das er es weiß und ebenfalls nicht das für mich empfindet, was so ein Kuss in der Regel auszudrücken vermag. Liebe. Er ist mir näher als ein Bruder es je könnte – hätte ich denn einen – dennoch lieben wir uns nicht. Nein, dieser Kuss ist seine Art meine Gefühle zu durchleuchten – was auch ganz gut funktioniert, wie nicht zu übersehen. Hinter uns schreien einige überdrehte Teenies: „Ihh! Schwuchteln! Arschficker!“, den üblichen Mist eben, doch das alles wird von uns ignoriert. Es ist nicht das erste mal das irgendwelche denken, sie müssten uns ihre Meinung mitteilen.
Jetzt gibt es nur uns. Und ihn. Er ist überall. Die Tränen laufen mir immer schneller über das Gesicht und irgendwann komme ich gegen ein Schluchzen einfach nicht mehr an. Jes löst den Kuss in immer kleineren Küsschen auf und seufzt schließlich wieder. Dann lehnt er sich einfach nur an meine Brust, die Arme immer noch um meinen Nacken und wartet – ohne ein Wort zu sagen – darauf das ich mich wieder etwas beruhige. Meinen Kopf lehne ich an seinen, so das man nicht unbedingt mein Gesicht sieht. Das muss nicht jeder sehen. Jes ist immerhin – außer ihm– der einzige bei dem ich Gefühle zeige – wenn auch in beiden Fällen ehr unfreiwillig. Jes' nähe zwingt mich förmlich ehrlich zu ihm zu sein. Ich kann ihn nicht anlügen und will es mittlerweile auch nicht mehr. Jes' nähe ist gleichzeitig beruhigend und tröstlich, auch wenn er nichts sagt. Oder besonders wenn er nichts sagt? Keine Ahnung. Hauptsache er ist da, denn Jes weiß immer genau das richtige. Nicht so wie ich, der ständig von tuten und blasen keine Ahnung hat. Jes ist toll.
Meine Tränen versiegen langsam wieder und auch das leichte Schluchzen legt sich. Jetzt will ich hier weg. Es soll niemand sehen wie schwach ich sein kann. Außer Jes. Jes kennt jede Seite von mir. Jede. Ich muss gar nichts sagen, da klettert er auch schon geschickt von meinem Schoß runter, nimmt mich bei der Hand und führt mich raus. Vor der Tür gibt er mir noch einen – einen kleineren – Kuss. Einen tröstenden. Einen der mir zuflüstert, dass alles wieder gut wird. Dann gehen wir – immer noch Hand in Hand – schweigend zu ihm nachhause. Seine Eltern kennen dieses Bild schon und auch für seine jüngere Schwester ist das nichts neues.
Jes und ich, wir kennen uns schon seit dem Kindergarten. Seit er mich das erste mal sah, ist er immer an meiner Seite. Schon im Kindergarten war ich ehr Einzelgänger – spielte immer allein. Doch als Jes in die Stadt zog, kam er einfach auf mich zu und nahm mir die Schaufel weg. Wir haben uns geprügelt. Naja, so wie man sich als vierjähriger eben Prügeln kann. Ich erinnere mich noch genau – die Erzieher fanden das alles andere als lustig. Seit dem ist er aber immer bei mir gewesen. Bis zur fünften Klasse – da ist er leider auf eine andere Schule gekommen.
Drinnen werden wir auch gleich von seiner Mutter begrüßt, die natürlich gehört hat, wie die Tür ins schloss fällt. Als sie uns sieht, nimmt sie Jes – wie auch mich – erst mal in den Arm. Das ist noch so eine von den schon bekannten Sachen, doch es stört nicht. Das machen liebevolle Mütter eben so. Dann schickt sie uns hoch in Jes' Zimmer und kommt wenige Minuten später mit einem Tablett voll mit Milch und Keksen nach. Wie Klassisch. Als sie das Tablett zwischen uns auf dem Bett abstellt, sieht sie mich, mit einem mitfühlenden und irgendwie wissenden Blick, an. Dann dreht sie sich um und verlässt das Zimmer wieder.
Es ist nicht das erste mal das ich diesen Blick bei ihr sehe und wie jedes mal, frage ich mich auch jetzt, wie viel sie wohl wirklich weiß. Vielleicht ist es das aber auch nur, was man die 'weibliche Intuition' nennt. Doch eins weiß ich. Jes hat diesen Blick auf alle Fälle von ihr – und er hat ihn intensiviert. Überhaupt kommt er sehr nach seiner Mutter, besonders vom Verhalten her. Sie kann gut mit Menschen umgehen. Man fühlt sich wohl in ihrer nähe, weil sie immer zu wissen scheint was man braucht um sich besser zu fühlen. Bei manchen ein Gespräch, bei manchen eine Umarmung und bei wieder anderen, einfaches Schweigen. Sie kann aber auch ganz anders. Wenn sie etwas will, dann weiß sie auch ganz genau wie sie es bekommt.
Bei Jes scheint das alles noch einen Ticken schärfer zu sein. Jes könnte alles haben – und jeden. Wirklich jeden. Ich kenne keinen der sich ihm entziehen könnte. Weder Junge, noch Mädchen. Weder Jung, noch Alt. Keiner. Jes kann einfach jeden um den Finger wickeln. Das gilt nicht nur bei Freundschaften – von denen er wirklich haufenweise hat. Jes ist außerdem so was wie der geborene Verführer. Ich kenne niemanden der ihn von der Bettkante schubsen würde. Und Jes, er weiß natürlich ganz genau um seine Wirkung, dennoch hebt er deswegen keineswegs ab – was wahrscheinlich auch einen Teil seinen Charmes ausmacht. Genau wie seine Mutter, weiß er genau wie er jeden dazu bekommt, das zu tun, was er will.
Jes ist mein bester Freund, das sagte ich ja bereits und ich sagte auch, das ich nicht wüsste, wieso. Vorhin hatte dieser Satz noch einen ganz blöden Nachgeschmack, doch ich hoffe jetzt ist es besser zu verstehen. Ich habe keine Ahnung, was er von mir will. Jes könnte jeden haben – jeden. Warum bin ich sein bester Freund? Sicher nicht weil ich so eine fröhliche, extrovertierte Persönlichkeit bin – ehr das Gegenteil davon. Aber so ist Jes nun mal. Man muss nicht alles verstehen was er tut, denn er versteht alles. Er ist einer von denen, die direkt durch die harte Schale in den weichen Kern sehen können. Davon gibt es nur wenige. Doch Jes kann das. So ist Jes eben. Weil er Jes ist. Mein Jes.
„ … ki, Nikki! Wach endlich auf!“
Jes. Jes? Verdammt! Wann bin ich eingeschlafen? Ich schrecke auf und stoße mir prompt den Kopf an der Wand, als ich versuche so schnell wie möglich aufzustehen. Offenbar bin ich auf der falschen Seite eingeschlafen. Jes neben mir lacht. Verdammt. Er lacht mich aus. Sehr freundlich. Das tut er aber nicht lange. Als ich mich wieder zurück in die Kissen fallen lasse, spüre ich seine Hand, ganz sanft, über meine – vom Stoß heiße – Stirn streichen. Dann gibt er mir einen Kuss darauf – damit es schnell wieder besser wird. Das sagt er zwar nicht, doch ich weiß es. Das hat er schon so bei mir gemacht als wir noch Kinder waren – also schon immer.
Dann küsst er mich nochmal. Diesmal wieder richtig. Ich seufzte in den Kuss hinein, ehe ich ihn erwidere und dann fällt mir – schlagartig – wieder ein warum ich überhaupt heute hier war. Wieder laufen mir Tränen über die Wange und wieder wischt er sie mir aus dem Gesicht. Doch dieses mal löst er den Kuss ehr auf als den anderen und ich muss gestehen das ich das blöd finde, denn ich muss gestehen – auch wenn es ziemlich bescheuert klingt – ich knutsche gern mit Jes rum. Es ist tröstend – und er kann das unglaublich gut. Und mit den Jahren ist das irgendwie unsere Art geworden unsere – oder ehr meine – Gefühle auszudrücken.
Kurz sieht er mir noch mal in die Augen.
„Ich weiß.“
Ich nicke daraufhin nur. Mir ist klar das er dadurch nicht wissen kann was passiert ist, aber er weiß wie ich mich fühle. Auch wenn es lächerlich ist, wegen dieser bescheuerten, kleinen Sache – die er sicher schon längst wieder aus seinem Gedächtnis gestrichen hat – so einen Aufstand zu machen. Jes wird es aber nicht einfach so abtun – wie andere es täten – weil er meine Gefühle ernst nimmt. Nur deshalb kann ich ihm überhaupt vom dem Mist erzählen, der in meinem Kopf rumgeht. Aber erst...
„Warum hast du mich geweckt?“, frage ich und merke dabei das meine Stimme ziemlich belegt durch das verdammte Heulen klingt. Scheiße!
„Mom hat Abendessen gemacht. Es ist schon Sechs, außerdem kannst du sonst nur nacher nicht wieder schlafen.“
„Scheiße!“
„Fluche nicht immer!“
„Verdammt, versuche nicht immer mich zu erziehen, du Idiot!“
„Blöder Spinner.“
Noch immer liegend strecke ich meine Hand aus und greife nach seinem Shirt. Einmal kräftig ziehen und er stützt sich auf dem Bett ab. Ich löse sie aus seinem Shirt und lege sie ihm in den Nacken – an den ich ja jetzt sehr gut ran komme. Ich ziehe ihn zu mir und küsse ihn nun meinerseits. Warum? Einfach so. Das gehört – irgendwie – dazu, sowie die Beleidigungen auch. Seit einfach schon immer. Wir haben halt unsere 'Traditionen'.
Ich spüre wie er in den Kuss grinst und lasse meine Hand aus seinem Nacken zu seiner Hand hinunter Wandern. Als er wenige Millimeter über meinen Lippen hängt, leckt er mir noch einmal kurz über diese und löst sich dann endgültig. Ich seufze und lasse mich von ihm Hochziehen. Hand in Hand kommen wir dann in die Küche.
Seine Schwester ist wieder Zuhause, aber der Vater muss noch Arbeiten. Ich setze mich neben sie auf die Eckbank und ziehe Jes an der Hand hinter mir her.
„Na, kleine. Alles gut?“
Ich wuschle ihr einmal quer über die mühsam zurecht gemachten Haare und sie sieht mich böse an. Dafür und das ich sie kleine genannt habe – das mag sie nämlich gar nicht.
„Sorry.“, meine ich lasch und grinse sie an.
Schon ist sie wieder lieb mit mir und hängt mir am Hals. Ich lege auch meine Arme um sie und drücke sie kurz. Wirklich kurz – zu mehr komme ich auch gar nicht, denn gleich darauf merke ich wie sich eine Brust an meinen Rücken drückt und das kann ja nur einer sein. Jemand anderes würde sich das auch gar nicht trauen.
Ja, in der Schule würde keiner auch nur im Traum auf diese Idee kommen. Dort halten sie mich alle für Seltsam, Komisch und/oder Gruselig. Je nach dem. Gut, zugegeben, dort schaue ich auch immer ziemlich finster drein, was aber – meiner Meinung nach – noch lange kein Grund für die ganze dämlichen Gerüchte ist. Es ist schon wirklich unglaublich was sich die Menschen nicht alles Ausdenken, nur weil man immer allein ist, grimmig schaut und – zugegebenermaßen – sehr unfreundlich ist.
Zum Glück habe ich hier dazu keinen Grund. Schon immer gehe ich hier ein und aus wie ich Lustig bin und – das Beste – ich weiß das ich hier immer Willkommen bin.
„Hey, Sue! Finger weg! Meins!“
Ich muss lächeln. So geht das immer bei den Beiden. Ich habe schon vor einer ganzen Weile aufgehört mich zu fragen warum ausgerechnet ich so 'anziehend' auf die Beiden wirke. Sue streckt Jes über meine Schulter hinweg die Zunge raus und Umarmt mich noch ein wenig fester.
„Nö!“, meint sie schlicht und auch die Mutter muss Lächeln.
Jes presst sich noch mehr an mich und fängt zudem auch noch an, an meinem Ohr zu Knabbern – weil er ganz genau weiß das ich dabei schwach werde – Unfair!
„Lasst doch mal den armen Nikki in Ruhe. Er bekommt schon gar keine Luft mehr.“
Tatsächlich lassen die Beiden daraufhin von mir ab – was aber wohl ehr weniger an ihren Worten oder meiner 'Luftnot' liegt, als daran das sie in diesem Moment das Essen auf den Tisch gestellt hat. Melissa – so heißt Jes' Mom übrigens – kann nämlich wunderbar kochen. Wer einmal was von ihr probiert hat wird danach von jedem Sterne-Restaurant enttäuscht werden – so meine bescheidene Prophezeiung. Noch schnell wünschen wir uns alle einen 'Guten Appetit', dann hört man die nächste Zeit nur noch Besteck über die Teller Kratzen.
Melissa war nach einer Portion satt, ich nach der zweiten und Sue – eigentlich Susanne – lieferte sich offenbar ein Ess – Fress – Duell mit ihrem Bruder. Ehrlich, die beiden können fressen wie die Scheunendrescher. Jedenfalls, nach ihrer dritten Portion ist für Sue Sense, wie sie selber sagt. Jes hingegen isst seelenruhig noch eine vierte Portion.
„Fresssack.“, murmele ich ehr in mich hinein, als das ich es sage, doch – Gott, oder wem auch immer sei dank – hört er es trotzdem und zieht einen perfekten Schmollmund dem keiner Wiederstehen kann. So auch ich nicht und es tut mir fast wieder Leid es gesagt zu haben, auch wenn es mir wirklich nur raus gerutscht ist und sowieso nicht so gemeint war – was er natürlich weiß, sich aber einen Spaß daraus macht mich zu Ärgern...
„Was~? Findest du mich etwa zu Fett? Bin ich dir nicht mehr Hübsch genug?“
Zu dem Schmollmund kommen noch große, runde – echt hübsche – Augen in denen sogar wirklich kleine Tränchen zu sehen sind. Jes ist wirklich ein begnadeter Schauspieler. Ich weiß genau, das jeder andere ihm die Show auf der Stelle abkaufen würde. Wieder seufze ich.
„Nun, keine Ahnung wer die je gesagt hat das du hübsch bist...und, jetzt wo du es erwähnst. Ich glaube wirklich das du zugenommen hast.“
Das alles sage ich natürlich mir einem völlig ernsten Gesichtsausdruck, doch so wie ich weiß das er einen Theatralischen Touch hat, weiß er das ich das im Leben nicht ernst meine. Das ist einfach unsere Art.
Sue – die eben noch viel zu voll war um sich zu rühren – sieht uns nun Neugierig an. Ja, sie weiß schon wie das immer mit uns ist – und es wird ihr wohl auch nie Langweilig dabei.
„Was~? Du Idiot! Wie kannst du nur? Blödmann! Idiot! Trottel! Spinn-!“
Mit einem Kuss beende ich das Ganze einfach. Jes schlägt noch ein paar mal gespielt gegen meine Brust, ehe er auch endlich seine Arme um mich legt und erwidert – während Melissa und Sue im Hintergrund Kichern und Lachen. Eben immer eine gute Show mit uns beiden.
Ich sagte ja schon das wir mit der Knutscherei nicht hinterm Berg halten, also auch nicht bei ihm Zuhause. Alle Wissen Bescheid. Ich löse den Kuss und lecke ihm kurz über die Ohrmuschel, ehe ich ihm zu flüstere was er hören will – und was selbstverständlich auch der Wahrheit entspricht.
„Jes, du weißt doch ganz genau das du nicht einfach nur Hübsch bist. Du bist wunderschön. Und du hast auch kein Gramm Fett zu viel, Verstanden?“
Kitschig, ich weiß, doch die Reaktion darauf ist es wert. Jes quietscht mir glücklich ins Ohr und kuschelt sich an mich. Alles in allem, einfach wie immer. Sogar ein Küsschen bekomme ich noch auf die Wange – wie Großzügig.
„Hach, du Idiot. Das weiß ich doch auch so.“, kichert er mir – frech wie immer – ins Ohr.
Idiot, Danke auch. Böse kann ich ihm dennoch nicht sein und sowieso ist das alles ja auch gar kein Ernst.
Ernst. Ja, es gibt viel ernstere Sachen um die ich mir Gedanken machen muss. Auch wenn Jes es immer wieder schafft mich irgendwie abzulenken, so schließt sich der Kreis doch irgendwann wieder. Aber Jes wäre ja nicht Jes wenn er meinen Stimmungsumschwung nicht sofort bemerken würde. Er nimmt mich an die Hand und zieht mich hinter sich her aus der Küche raus.
„Wir sind dann mal wieder oben.“, ruft er seiner Mutter noch im vorbeigehen zu – und schon sind wir oben. Allein in seinem Zimmer.
„Schieß los.“
Keine Frage wie 'Möchtest du reden?' oder 'Was ist passiert?'. Nein, das wäre nicht Jes. In solchen Situationen gibt er mir immer den Befehl zu reden, genau in dem Wissen das ich vor ihm sowieso nichts verheimlichen kann. Also Punkt. Aus. Ende. Und wenn ich doch mal – weshalb auch immer nicht reden wollen würde, würde er mich trotzdem irgendwie dazu bringen. Gegen Jes hab ich einfach keine Chance. Wieder ein Seufzen. Das passiert heute ziemlich oft. Also erzähle ich ihm von dem ganzen Mist – mit hochrotem Kopf und wild gestikulierend.
„Wir hatten Heute eine Raum Änderung, du weißt schon, wegen der doofen Decke die sie bei uns neu machen müssen, aber da ich das nicht wusste stand ich plötzlich allein in dem Raum. Da hatte es schon geklingelt und wir hatten den Höffer. Der reißt einen schon wegen einer Minute in Stücke, also wollte ich lieber nicht zwei daraus machen. Ich bin bin zum Vertretungsplan gerannt und dann gleich weiter in den Vertretungsraum, doch...naja...“
Meine Hände die während des Erzählens immer in der Luft waren, fallen jetzt kraftlos in meinen Schoß. Jes lächelt mich an. Sagt nichts, sieht mich nur weiter mit diesem bestimmten Blick an.
„...er. Er war auch zu spät. Wir sind direkt in einander gekracht und prompt beide auf dem Arsch gelandet. Jes, als ich erkannte wer das war...“, meine Stimme wird leiser, doch da muss ich jetzt durch.
„Jes, mein Kopf, mein Herz. Du weißt schon, aber noch viel schlimmer! Ich habe nur noch mitbekommen wie er in seinem Raum verschwand und...Verdammt! Jes! Ich bin verdammt nochmal, in Ohnmacht gefallen! Nach einer halben Stunde glotzt mich unser bescheuerter Hausmeister an und fragt noch so blöd 'warum ich denn mitten auf dem Gang schlafe'! Ist das zu fassen? Arsch!“
So, jetzt ist die verdammte Katze aus dem verdammten Sack. Und ich verdammter Vollidiot bin schon wieder rot im Gesicht und Tränen laufen mir darüber.
Gerade als ich mich in seinem riesigen Bett verkriechen möchte, macht er mir – wie so oft – einen Strich durch die Rechnung. Woher weiß er nur immer so genau wann ich was machen will? Jedenfalls habe ich wieder die vertrauten 60 Kilo auf meinem Schoß. Er leckt mir die Tränen von der Wange und küsst mich dann.
„Hey, Nikki. Die Welt dreht sich weiter. Keiner hat es mitbekommen. Tim wird es dir auch nicht übel nehmen, versprochen. Und du weißt doch das ich meine Versprechen immer halte. Vertrau mir.“
Und damit hat er mich schon. Es gibt keinen Menschen auf der Welt dem ich so sehr vertraue wie Jes. Zwar verbannt das nicht sämtliche meiner Horror-Vorstellungen, aber es beruhigt mich dennoch ungemein. Jes weiß das. Jes weiß alles.
Und dann – dann küsst er mich wieder. Diesmal ganz anders. Darin steckt nichts tröstendes. Dieser Kuss ist dazu da, das ich vergesse – er ist heiß. Unbeschreiblich heiß. So heiß das wir uns Minuten lang nicht nicht davon lösen können – im Gegenteil. Der Kuss wird fester. Das ist die ultimative Ablenkung, denn das was jetzt kommt bringt mich um den Verstand – bringt wohl jeden um den Verstand. Die Art wie Jes auf mir hockt, die Aufregung auf das was gleich kommen wird und natürlich auch die Luftnot, bringen mein Herz dazu gegen meine Brust zu Hämmern als wollte es aus dieser heraus springen.
Ich schäme mich nicht für das was wir tun, das ist eben unsere Art und das gehört ebenso zu uns wie alles andere. Warum sollten wir etwas nicht tun das sich doch so gut und richtig anfühlt? So gut und richtig wie meine Hände auf Jes' Arsch, die ihn noch näher an mich drücken – und Jes hat wirklich einen tollen Arsch! Oder so gut und richtig wie Jes' Finger, die in meinen Haaren fest vergraben, seinerseits versuchen mich ihm näher zu bringen. Zugegeben, kein Blatt Papier würde noch zwischen uns passen, doch was sollen wir schon dagegen tun? Warum sollten wir? Es ist zu schön! Mit Jes ist alles schön, weil mit Jes alles so einfach ist, so einfach wie Atmen – was uns allerdings beiden recht schwer fällt, im Moment.
Ein quieken von Jes rettet uns beide vor dem Erstickungstod – an dem ich aber nicht ganz unschuldig bin, weiß ich doch genau wie Jes jedes mal auf einen Kniff in seinen tollen Hintern reagiert. Ich muss grinsen. Mit Jes ist es so einfach, weil wir einfach alles von einander Wissen. Ich kann mir die halb beleidigte Schnute die er – höchstens eine Sekunde – zieht genau vorstellen. Länger könnte er die auch gar nicht aufrechterhalten, denn gleich nach dem – verdammt niedlichem – quieken folgt ein Stöhnen, als ich ihm spielerisch in den Hals beiße. Tja, ich weiß halt worauf er steht. Zufrieden mit mir legt Jes den Kopf zur Seite, sodass ich noch besser rankomme und ein wenig mache ich so auch noch weiter, ehe ich beschließe das sein Shirt nun eindeutig fehl am Platz ist. Weg damit!
Keine Ahnung ob Jes vielleicht eine Telepathische Verbindung zu mir hat, jedenfalls merkt er sofort worauf ich hinaus will, als ich meinen Griff nur Geringfügig ändere. Brav wie er manchmal sein kann, hebt er die Arme so das ich ihm problemlos das Oberteil über den Kopf ziehen kann. Viel Besser! Wieder ein Grinsen. Jes ist so schön – so schön das ich gar nicht anders kann, als ihm mit den Nägeln leicht über die Seiten zu kratzen und gleich darauf die Gänsehaut, die er bekommt, zu bewundern.
Doch natürlich lässt Jes mich nicht einfach machen – das wäre sehr untypisch für ihn – stattdessen bin ich, schneller als ich gucken kann, mein Oberteil auch los und werde von Jes nach hinten in die Kissen gedrückt. Der macht es sich erstmal so richtig bequem auf mir – und bringt dadurch mein Blut dazu sich nur noch schneller Richtung Mitte zu bewegen.
Er beugt sich zu mir runter, so dass unsere Lippen sich kaum berühren, weiß er doch genau wie sehr ich dieses 'nichts halbes und nichts ganzes'-Getue hasse. Gerade als ich ihm entgegen kommen will, liest er wieder meine Gedanken – unheimlich – und zieht seinen Kopf ein Stück zurück, sodass sie sich auch weiterhin nur geringfügig berühren. Ärgerlich! Aber er quält mich zum Glück nicht lange, und küsst mich endlich wieder richtig. Oh, und Jes' Küsse sind so gut! Ich könnte den ganzen Tag damit verbringen ihn zu küssen, doch Jes hat – wie eigentlich immer – andere Pläne.
Er löst den Kuss auf und fährt lieber mit seiner Zunge über meinen Hals, bis zu meinem Schlüsselbein, an dem er sich dann auch festsaugt. Schauer laufen über meinen Rücken und es kribbelt einfach überall. Jes richtet sich etwas auf und sieht mir eine Weile in die Augen – und zwar mit einem ziemlich verstohlenen Grinsen im Gesicht. Ich dagegen, kann schon gar nicht mehr richtig denken, alles was ich weiß ist Jes. Nichts weiter, nur Jes. Jes. Das ist jetzt ja auch das einzige was zählt. Was sonst? Nur Jes. Ich lege ihm eine Hand in den Nacken und ziehe ihn wieder zu mir runter. Ich brauche wieder ein Kuss! Jes kann so toll küssen.
Seine Hände scheinen überall gleichzeitig zu sein. An meinen Schultern, meinem Bauch, meiner Brust, meinem Hals und sein Hintern – sein verdammt geiler Hintern – kann einfach nicht still bleiben. Immer wieder reibt er seinen tollen Arsch an mir. Wie soll man da noch klar denken können? Gar nicht! Also spare ich mir die Mühe, packe ihn stattdessen einfach und drehe mich mit ihm um, sodass er nun unter mir liegt. Besser!
Da ich das Gewaltmonopol nun wieder übernommen habe, lasse ich als erstes unsere Hosen verschwinden und mache mich dann daran Jes erstmal ausgiebig zu berühren. Das leichte Kratzen über seine Haut beschert ihm immer wieder eine Gänsehaut. Wieder beiße ich sanft in seinen Hals, doch es bleibt nicht dabei. Ich ziehe eine geküsste Linie von seinem Hals bis zu seiner Brust. Es macht Spaß zu sehen, wie er jedes mal den Rücken ein wenig mehr durchdrückt wenn man ihm in die Brustwarzen kneift. Am Bauchnabel ist er kitzlig, es wäre gemein von mir das gerade jetzt zu bringen – und Jes würde es mir auf jeden Fall heimzahlen – also spare ich die Gegend aus.
Als ich kurz hoch, in Jes' Gesicht sehe, ist es sogar noch hübscher als sonst. Die Lippen sind vom küssen ganz rot, die Wangen ebenfalls, sein Atem geht schnell und der Blick den er hat ist der Wahnsinn. Spätestens bei diesem Anblick könnte ihm niemand mehr Wiederstehen. Ich kann es nicht anders sagen, Jes ist einfach verdammt sexy!
Ich fahre mit meinen Fingern seine Hüftknochen entlang, bis nach hinten zu seinem Hintern. Ganz Automatisch hebt er die Hüften ein Stück so das ich ihm die Shorts problemlos ausziehen kann. Wenn ich ihn jetzt so sehe, nackt und schutzlos – was er eigentlich keineswegs ist –, unter mir, muss ich zugeben das die Welt es doch eigentlich gar nicht so schlecht mit mir meint. Immerhin habe ich Jes. Meinen Jes.
Berührungsängste kennen wir nicht – untereinander schon gar nicht, immerhin hatten wir schon unser erstes Mal zusammen und danach noch viele andere Male. Mit Jes ist es was ganz besonderes, eben weil wir uns so gut kennen – es ist so einfach. Kein darauf achten, was dem anderen gefällt und was nicht, wie er es lieber mag, keine Unsicherheit, niemand der sich auch auf mich einstellen muss. Das ist mit Jes nicht nötig, wir kennen uns Auswendig und genau deshalb ist Sex mit Jes auch der Beste.
Ich senke meinen Kopf zu seiner Hüfte herunter – Jes ist ebenso erregt wie ich – und lecke erst der Länge nach an seinem Glied entlang, ehe ich es ganz in den Mund nehme. Wieder entkommt Jes ein Stöhnen, diesmal jedoch lauter. Seine Hände krallen sich in meine Haare und ich merke wie er sich mir entgegen bewegt.
Sobald ich spüre das er nicht mehr all zulange brauchen wird, entlasse ich ihn aus meinem Mund – was mir einige halbherzige Quengeleien einbringt – und ziehe mir jetzt auch selbst die Shorts aus. Süße Freiheit! Warum habe ich das nicht ehr getan? Und Jes' Protest, der wird ganz einfach in einem Kuss erstickt. Er legt mir seine Arme um den Nacken und kreuzt seine Beine um meine Hüfte, zieht mich auf diese Weise wieder näher zu sich.
Herrlich, wie sich seine Haut auf meiner anfühlt – als gäbe es nur noch uns auf der Welt. An nichts anderes will ich jetzt denken – kann ich jetzt denken, denn weiter bin ich nicht bei Verstand. Ich beginne damit ihn zu weiten und irgendwann, irgendwann bin ich dann endlich in ihm. Ich weiß gar nicht wohin mit meinen ganzen Gefühlen, die mich gleichzeitig schweben und fallen lassen. Alles was ich weiß ist Jes. Jes. Mein Jes. Ihn so unter mir zu sehen ist – trotz der vielen male – immer noch so unwirklich. Er ist so schön! Und er gehört in diesem Augenblick mir. Nur mir. Mein Jes.
Als wir dann gemeinsam den Höhepunkt erreichen, ist es als würde ich explodieren. Er ist so eng – unglaublich!
„Jungs! Jungs! Kommt schon! Aufwachen! Hey“
Verdammt! Wer stört denn jetzt schon wieder? Alles was ich will ist doch nur schlafen. Ist das zu viel verlangt? Ich bin auch ganz lieb, versprochen.
„Jungs! Wenn ihr jetzt nicht sofort aufsteht, dann … dann … werde ich euch die Haare schneiden!“
Haare schneiden? Bitte nicht. Ich bin gerade ganz zufrieden damit.
„Hmm … nein … bitte nicht … „
Das war nicht meine Stimme. Jes.
„ … nicht die Haare ...“, murrt er wieder und rollt sich zusammen. Ja, und nun merke ich auch das er genau auf mir liegt – Nackt natürlich – und ich ihn sogar immer noch im Arm halte. Toll, und so sieht seine Mutter uns jetzt. Naja, wie gesagt, sie weiß Bescheid, aber das heißt nicht das sie uns auch so sehen muss.
„Justin William Pagiz! Wenn ihr nicht sofort aufsteht, hole ich die Schere! Das ist mein voller Ernst!“
Ohoh, wenn sie schon den vollen Namen nennt, sind wir wirklich spät dran – aber ich will nicht! Ein seufzen entkommt mir. Sofort sind Jes' Lippen wieder auf meinen. Ohne Druck, ohne Forderung. Es ist einfach seine Art mir zu sagen 'Ich bin für dich da.'. Melissa verlässt den Raum wieder als sie das sieht – sie weiß genau das Jes jetzt wach ist. Wenn er erst mal anfängt sich um mich zu kümmern, wird er nicht einfach so wieder einschlafen.
Der Kuss war kurz – immerhin müssen wir uns beeilen, nicht umsonst hat Melissa seinen vollen Namen genannt. Es ist also Ernst. Jes weiß das so gut wie ich, also krabbelt er von mir runter und zieht mir die Decke weg. Gemein! Noch einmal drückt er mir ein kurzes Küsschen auf, ehe er mich an der Hand hoch und hinter sich her ins Badezimmer zieht – natürlich immer noch genauso Nackt wie wir am Abend zuvor eingeschlafen sind. Zum Glück hat er ein eigenes Bad mit direkter Verbindung zu seinem Zimmer.
Erst jetzt fällt mir auf wie klebrig ich mich – wegen des Schweißes – fühle. Jes geht es offenbar genauso den keine Sekunde später stehen wir schon zusammen unter der Dusche. Als er das Wasser anstellt, öffne ich zum ersten mal heute die Augen. Da steht er, direkt neben mir. Nackt. Ohne groß zu überlegen ziehe ich ihn einfach in eine Umarmung. Jes kichert kurz und löst sich dann wieder. Recht hat er, denn eigentlich müssen wir uns beeilen – so wie fast jeden Morgen, dennoch nehmen wir uns die Zeit uns einzuseifen und die Haare zu waschen – gegenseitig, natürlich. Das muss einfach sein. Das ist eben unsere Art.
Nach der Dusche spüre ich wie wieder etwas Leben in mich kommt. Ja, ich werde immer erst nach der Dusche richtig wach – davor, kann man mich voll vergessen. Jetzt noch schnell Abtrocknen und fertig machen – und das alles sollte möglichst mit Überschallgeschwindigkeit geschehen, sonst verpassen wir nämlich den Bus, der in Fünfzehn Minuten kommen wird. Also ziehen wir uns an und machen uns die Haare so schnell wir können.
Übrigens habe ich hier ein gutes viertel meines Kleiderschrankes gebunkert, so das ich sogar was anderes anziehen kann, als das von gestern. Auch Zahnbürste und anderen Kram habe ich hier rumstehen. Wie Zuhause eben. Bei Jes ist das genau so. Den Platz den meine Klamotten bei ihm im Schrank einnehmen, nehmen seine Klamotten bei mir ein. Doch irgendwie muss das sogar so sein, denn so oft wie wir zusammenhängen … Es ist eben einfacher nicht immer erst Nachhause zu müssen, nur um sein Zeug zu holen. Selbst unsere Eltern sind es gewohnt. Sie sind nicht mal überrascht, wenn einer von uns über Nacht nicht Nachhause kommt, aber wir sollen wenigstens Anrufen sobald es länger wird.
Jes schnappt sich wieder meine Hand und ich knalle fast gegen die Wand bei dem – geglückten – Versuch mir meine Tasche zu krallen, weil er so einen Affenzahn drauf hat.
„Hey! … “
Doch weiter komme ich nicht, weil ich mich besser aufs laufen konzentriere – obwohl so oder so jeder Einwand zwecklos gewesen wäre. Gegen Jes kommt keiner an. Auch ich nicht.
Egal, diesmal hat er Recht und wir müssen rennen. Mehr schlecht als recht stecken wir die Füße in die Schuhe, ohne uns auch nur zu bücken und verlassen das Haus. Schnell schnappt Jes sich noch die Schnitten die seine Mutter uns netterweise immer macht.
Zu unserem Glück ist die Haltestelle nur dreißig Meter von seinem Haus entfernt, dennoch müssen wir rennen, weil der Bus soeben gehalten hat. Als wir ankommen können wir nur knapp verhindern das sich die Tür noch schließt. Ziemlich knappe Sache.
Wir steigen ein und lassen uns erleichtert in die Sitze fallen, dann müssen wir als erstes unsere Schuhe richtig anziehen. Es grenzt beinahe an ein Wunder das wir diese beim laufen nicht verloren haben. Jes der vorhin beide Tüten genommen hatte gibt mir jetzt meine und ich stopfe sie in meine Tasche.
Da Jes neben mir sitzt lehnt er sich an. Er kuschelt sehr gerne – und das lebt er auch voll aus. Ich lege ihm einen Arm um die Schulter und gebe ihm einen Kuss auf die Schläfe, was so viel heißen soll wie 'Danke, das du da bist.', denn Jes ist einfach immer da. Immer.
„Weißt du doch.“, murmelt er darauf nur.
Nein, er hat jetzt nicht vor zu schlafen, das ist nur eine seiner Ruhe-Phasen. Man könnte sagen, er macht immer mal kleine Pausen von sich selbst. Bei diesem Gedanken muss ich lächeln. Er kann ja auch ziemlich anstrengend sein. Typisch Jes eben. Aber jetzt hat er ja auch Zeit dafür – Fünfzehn Minuten. Bis zu seiner Schule dauert es Zwanzig Minuten. Bis zu meiner eine halbe Stunde, aber wie immer werde ich ihn, fünf Minuten bevor er raus muss, an der Schulter rütteln. Das ist das Zeichen für ihn seine 'Pause' zu beenden, denn in seinem Trance ähnlichem Zustand vergisst er alles um sich herum und muss erst mal wieder in die Realität zurückgeholt werden.
Ich weiß noch wie ich einmal vergessen hatte ihn 'zurückzuholen'. Es war der erste Tag den wir auf die verschiedenen Schulen gingen und ich war so nervös und abgelenkt, das ich vergessen hatte ihn aus seiner Starre zu lösen – er war daraufhin bis zur Endstation durchgefahren. Er war wirklich wütend, aber zum Glück nicht lange. Er ist mir nie lange böse. Das kann er gar nicht. Konnte er noch nie. Und ich hatte ja auch ein ganz schlechtes Gewissen, sodass er nach drei Minuten Luft machen gleich wieder Mitleid mit mir bekam und mich tröstete. Seit dem Habe ich es nie wieder vergessen. Und was macht er, wenn er mal mit einem anderen Bus fahren muss? Tja, dann rufe ich ihn an. Man sieht, wir brauchen uns gegenseitig zum Überleben.
Jetzt sind die fünfzehn Minuten jedenfalls vorbei. Einmal kurz an der Schulter rütteln reich eigentlich vollkommen aus, doch da ich weiß das Jes ein Mensch ist der gerne Aufmerksamkeit bekommt – besonders meine, wo ich doch so schwer zu 'erobern' war – gebe ich ihm noch einmal ein Küsschen auf die Schläfe.
Obwohl das ein Bild ist das den Insassen des Busses beinahe täglich geboten wird, gibt es immer noch viele verstohlene Blicke. Etwa weil wir zwei Kerle sind? Und dann noch die Idioten, die sich dazu berufen fühlen uns mit ihren – ziemlich schwachen und dummen – Sprüchen zu nerven. In der Regel ignorieren wir die einfach, solange es nicht außer Kontrolle gerät.
Einige Male haben sich doch tatsächlich ein paar von den grölenden Schwachköpfen mit uns geprügelt – und verloren – nur weil wir geknutscht hatten. Ehrlich? Ich bin der Meinung, wen es stört der soll halt nicht hinsehen – ebenso wie ich nicht in jede Fresse schlag nur weil ich sie Sau hässlich finde. Das gleiche Prinzip – auch wenn es bei denen vielleicht einige Gehirnzellen aktivieren könnte.
Egal, Jes sieht mich jetzt jedenfalls an. Noch ein wenig müde, aber das bin ich ja auch. Kein Wunder, viel Schlaf hatten wir ja nicht.
„Schon?“
Ich nicke nur.
„Ich will aber nicht!“
„Na und? Ich will auch nicht, aber wir müssen trotzdem.“
Ja, schließlich interessiert es keinen, das man so früh noch überhaupt noch keine Informationen verarbeiten kann, weil sich das Hirn noch im Halbschlaf befindet. Von zehn bis vier – das wären doch mal Zeiten. Zwar immer noch ein bisschen früh, aber wir wollen ja auch nicht übertreiben. Schon wieder ein Kuss – ein kurzer, aber süßer.
„Hey Süßer, sei nicht so negativ. Du weißt doch was ich immer sage. “
Von wegen 'nicht so negativ', gleich muss ich in meine persönliche Hölle. Sollte ich etwa mit einem Lächeln in mein Verderben rennen? Vielleicht begegne ich sogar ihm. Und was dann? Ich kann ja schlecht schon wieder in Ohnmacht fallen. Das wäre peinlich – viel zu peinlich und noch eine Peinlichkeit kann ich mir wohl kaum leisten. Noch ein Kuss, diesmal länger.
Jes wusste mir schon immer die Angst zu nehmen. Auch gestern hat er sie mir genommen – sonst wäre ich heute bestimmt nicht in den verdammten Bus gestiegen. Dieser Kuss ist zur Beruhigung, denn ich kann nicht bestreiten, das ich wie auf glühenden Kohlen sitze. Er sagt mir das alles gut wird. Verspricht es.
Jes legt seine Arme um meinen Nachen und ich meine um seinen Rücken. Ein bisschen küssen wir und noch, dann hält der Bus an und Jes muss raus – während ich noch weitere zehn Minuten mit einigen von diesen Spinnern zubringen muss, doch auch diese gehen vorbei.
Es ist jedenfalls nicht weiter überraschend, das eben diese Spinner, die sich gerade noch lauthals beschwert hatten, kein Wort mehr darüber verlieren – sie trauen sich nicht. Ich glaube es schon erwähnt zu haben, mein Ruf an der Schule ist Unterirdisch und welchen mit so wenig Hirn wie denen, würde ich sogar zutrauen, an die dämlichsten und lächerlichsten Gerüchte zu glauben.
In einem davon stelle ich einen Auftragskiller dar – schon klar, ich habe, was die Schule angeht, nun wirklich keine sehr kuschelige Persönlichkeit, aber das? Bitte! Wie kommt man nur auf so was lächerliches? Ist ja jetzt auch unwichtig. Fakt ist einfach das jeder – wirklich jeder – an meiner Schuld denkt ich hätte was mit Jes. Das uns außerhalb der Schule – oder mich, innerhalb – noch nie jemand darauf angesprochen hat, zeigt doch schon deutlich was sie von mir als Person halten.
Als ich neu auf die Schule kam, hatte noch einige wenige den Mut gefunden mich anzusprechen – oder es zumindest zu versuchen, aber ich hatte nie reagiert und so hatte mich auch einer nach dem anderen in Ruhe gelassen. Bei Jes hat das nie Funktioniert, sodass ich mich irgendwann geschlagen geben musste, wenn ich nicht in der Nervenheilanstalt landen wollte. Glaubt mir – nichts ist schlimmer als ein Jes der Aufmerksamkeit will, wirklich nichts! Wenn er diese nicht bekommt, lässt er nicht locker – Jes bekommt immer seinen Willen, das musste ich auf die harte Tour lernen.
Ich weiß gar nicht mehr wie oft wir uns geprügelt hatte. Damals war es noch ganz schlimm. In der ersten Klasse wollte ich ihn immer noch los werden. Ich hatte ihn Phasenweise immer wieder an gemeckert, er solle mich in Ruhe lassen und sogar angeschrien, aber das hatte nie etwas gebracht. Es schien ihm sogar zu gefallen – klar, denn das ist ja auch eine Form von Aufmerksamkeit. Es gab aber auch Phasen in denen ich ihn vollkommen ignoriert hatte – und das war wirklich nicht leicht. Kein Blick, kein Ton, nichts das darauf hindeutete das ich überhaupt von seiner Existenz weiß. Für ihn war es die Hölle – und für mich auch, weil ich dann nämlich keine Sekunde mehr allein war. Er verfolgte mich in dieser Zeit – ohne Witz – bis zum Klo. Das muss man sich mal vorstellen, ich pinkle und er steht daneben und geht mir auf die Nerven. Ja, eigentlich war das für mich eine genauso große Strafe wie für ihn, so kam es auch das diese Phase immer mit einer Schlägerei geendet hatte.
Irgendwann haben diese Phasen aber nachgelassen und ehe ich mich versah, hatte ich ihn bereits so in mein Leben integriert, das ich – wenn er mal nicht da war – nichts mit mir anzufangen wusste. Er hat sich einfach – ganz frech und unverschämt, wie nur Jes sein kann – in meinen Herzen eingenistet. Jes. Jes ist nervig, laut, unverschämt und unmöglich, dennoch kann man ihn nur gern haben.
Jedes mal wenn ich ihn von der Schule abhole stehen Unmengen von Menschen um ihn herum, die sich alle mit ihm unterhalten wollen. Er zieht sie an, wie das Licht die Motten. Es ist unglaublich. Alle mögen ihn, doch wenn er mich sieht, lässt er sie ohne wenn und aber stehen. Für mich.
Er hat schon mal zu mir gesagt ich könnte auch mehr freunde haben, wenn ich wollte. Ich sollte nur ein wenig mehr aus mir heraus kommen.
'Nicht jeder will sich um jedes Wort aus deinem Mund mit dir Prügeln müssen.', hatte er mit einem grinsen zu mir gemeint. Er genießt es zwar das er meine ganze Aufmerksamkeit für sich hat, aber er macht sich doch Sorgen um mich, wegen der Schule.
'Es ist nicht gut für dich, wenn du immer so alleine bist. Du bist so ein toller und lieber Mensch, das solltest du den anderen ruhig mal zeigen. Bei der Miene, die du in der Schule immer aufsetzt ist es doch kein Wunder, das dich alle für einen Auftragskiller halten.' Auch wenn er das was er sagte nur allzu ernst meinte – und vermutlich immer noch so denkt – so musste er doch bei seinem letzten Satz selbst lachen.
Als er dann irgendwann aus mir herausgepresst hatte, das ich mich verliebt habe, hat er sich gefreut wie ein Schnitzel – irgendwas von wegen, ich würde jetzt mehr soziale Kontakte knüpfen. Schon klar, am besten noch zu dem Typen bei dessen Berührung ich in Ohnmacht falle. Super.
Ich bin halt nicht wie Jes. Ich kann nicht auf Menschen zugehen – ja, noch nicht mal entgegenkommen – selbst wenn ich wollen würde. Was nicht der Fall ist. Eigentlich brauche ich doch auch keinen anderen, außer Jes. Jes ist das Beste das mir je passieren konnte. Ich bin froh das ich Jes habe – mehr brauche ich nicht. Nur Jes. Meinen Jes.
Das ich mich verliebt habe ist der größte Mist der mir passieren konnte. Im ernst?! Was soll der Mist? Scheiß Herzklopfen, verdammtes rot werden, verfluchtes in Ohnmacht fallen! Ich kann nicht klar denken, nicht richtig atmen und schon gar nicht sprechen – was ich in der Schule sowieso so gut wie nie machen, sodass das zum Glück nicht auffällt. Ist doch alles Scheiße!
Nur weil der Kerl aussieht, als wäre er aus den besten Teilen der 'Sexiest Men Alive' zusammengeschustert worden, muss ich mich doch nicht benehmen wie ein pubertierender Affe – als den ich mich nicht sehen will – der nur auf scheiß Äußerlichkeiten achtet. Ehrlich? Ich weiß nichts von ihm! Nichts! Gerade mal seinen Namen. Welch tolle Grundlage! Zu meinem Leidwesen muss ich aber gestehen, das ich ihn nicht mal ansprechen kann ohne Herzklopfen zu bekommen – nicht das ich es schon mal versucht hätte, denn bei dem bloßen Gedanken daran werde ich rot. Ich bin so armselig! Wie gern würde ich diese verdammte Verliebtheit einfach abschalten – doch den Knopf dafür habe ich noch nicht gefunden. So eine Scheiße!
Und jetzt klingelt es auch noch – übrigens schon zum ende der ersten Stunde in die zehn Minuten Frühstückspause. Klasse, jetzt wird es wieder so schrecklich laut – ich hasse das. Alle reden durcheinander, in Lautstärken das es sogar noch am Ende des Flures gut zu hören sein müsste – wären die anderen Klassen nicht ebenso laut. Können die nicht ruhiger reden?
Gut, ich könnte einfach den Raum verlassen, wenn es mich doch so sehr stört – doch es ist in dem ganzen, verdammten Gebäude so laut. Außer in der Bibliothek, doch jetzt dahin zu gehen würde nicht wirklich viel bringen. Zehn Minuten lohnen sich dafür einfach nicht. Der Hinweg allein dauert schon drei Minuten und der Rückweg – logischerweise – auch. Das kommt daher, da die Bibliothek der am meisten entfernte Raum, von hier aus gesehen, ist. Und um ehrlich zu sein habe ich keine große Lust für vier Minuten einen Spaziergang durch die ganze Schule – oder ehr den Zoo, der Übergang ist fließend – zu unternehmen. Davon abgesehen werde ich jedes mal, wenn ich durch die Gänge wandere, von allen Seiten doof angeglotzt – ich bin eine echte Sensation an der Schule. Jeder kennt mich und jeder glaubt so einiges über mich zu Wissen.
Natürlich ist das alles totaler Quatsch. Ich denke ich würde es wissen, wäre ich wirklich ein Auftragskiller oder ein Waffenhändler oder aus dem Knast entlassen worden oder sonst irgendwas verrücktes. Ja, ob mans glaubt oder nicht, ich esse auch keine lebenden Hühner. Wirklich eine Theorie ist lächerlicher als die andere. Ich weiß gar nicht wie die alle auf so einen Mist kommen.
Vielleicht haben die ja alle zu viel Haarspray eingeatmet und jetzt ergibt selbst solch ein Unsinn in ihren holen Köpfen einen Sinn. Ich weiß, sehr nett – doch so bin ich nun mal. Wer mit mir befreundet sein will, der muss das akzeptieren – vielleicht ist das ja der Grund das keiner es mit mir aushält. Ich krieche eben niemandem in den Arsch. Ist das so schlimm? Aber eigentlich ist das ja auch egal, denn ich habe Jes. Meinen Jes.
Jes, der immer bei mir war. Jes, der mich immer aushält, der immer meine Launen erträgt. Jes, der immer so lange um meine Aufmerksamkeit gekämpft hatte bist er diese auch bekam. Einfach Jes. Mein Jes.
Wieder klingelt es. Jetzt haben wir Mathe. Toll – ich hasse Mathe, auch wenn ich gut darin bin. Überhaupt macht Schule mir – bist auf das soziale – keinerlei Probleme. Nicht das ich wirklich lernen würde oder irgend so ein Genie wäre – das ganz sicher nicht. Ich lerne einfach beim zuhören, auch wenn ich oft in Gedanken bin, so bekomme ich eben doch noch mit was die Lehrer sagen.
So nebenbei, nicht mal die Lehrer sprechen mich noch großartig an – natürlich nicht, weil sie denken das diese dämlichen Gerüchte stimmen könnten, sondern ehr deswegen, weil ich in den seltensten Fällen wirklich antworte. Es ist nicht mal böse gemeint, ich habe oft einfach nur keine Lust zu reden. Das ist alles.
Um ehrlich zu sein, habe ich, seit ich an dieser schule bin, noch kaum ein Wort mit überhaupt jemandem gewechselt. Wenn mich mal einer an der Schule hat reden hören, dann wird es mit großer Wahrscheinlichkeit etwas mit Jes zu tun gehabt haben.
Ich war noch nie ein redseliger Mensch, aber Jes hat es immer geschafft aus mir rauszuholen, was er Wissen wollte. Tja, und jetzt ist Jes, so gut wie, der einzige Mensch mit dem ich mir wirklich unterhalte – abgesehen von seiner Familie natürlich. Klar rede ich auch mit meiner, aber dennoch nicht so. Nicht das wir Zuhause irgendwelche Probleme hätten – das nun wirklich nicht. Es ist einfach so.
Mein Vater ist auch ein sehr ruhiger Mensch – wenn auch nicht ganz so extrem wie ich – der aber gerade deshalb ein guter Zuhörer ist und auch immer versucht bei Problemen zu helfen, auch wenn ich damit nie zu ihm gehe. Meine Mutter ist dagegen das genaue Gegenteil. Während mein Vater nicht gerade mit Gefühlen um sich wirft, explodieren sie bei ihr regelrecht. Alles kann man ihr vom Gesicht ablesen. Egal wo sie ist, sie versucht immer Freude und Glück zu verbreiten und aus jeder Situation das Beste zu machen – und dabei kann sie reden, ohne auch nur einmal Luft zu holen. Eine schrecklich nervtötende Eigenschaft, aber ich liebe sie trotzdem – meinen Vater natürlich auch.
Doch irgendwie war ich schon immer etwas distanzierter zu den Beiden. Manchmal denke ich, das ich Jes' Familie sogar näher stehe, als meiner. Eigentlich ziemlich schade – wo ich doch so tolle Eltern habe. Wie konnte ich da nur so werden wie ich bin? Sie haben mich doch gut erzogen – so sehe ich das zumindest. Ich weiß genau wie man sich verhalten sollte um einen guten Eindruck zu machen oder was höflich ist und was man besser lassen sollte. Das dumme ist nur, es hat mich nie interessiert – und tut es immer noch nicht.
Ich war selbst als Kind schon so – natürlich nicht so extrem, aber dennoch so. Meine Mom hat mir mal erzählt das, als ich in den Kindergarten kam die Erzieher dachten, ich könnte noch gar nicht sprechen, weil ich so still war – konnte ich natürlich doch, wollte nur nicht. Auch habe ich immer allein gespielt und wenn ein anderes Kind zu mir kam, bin ich aufgestanden und weggegangen – mit meinem Spielzeug natürlich.
Ich wurde oft geschimpft, weil ich die Regeln ignorierte. Ich nahm mir immer das Spielzeug das ich wollte und stand ohne zu fragen vom Tisch auf, wenn ich keine Lust hatte dort zu sitzen. Ich wusste das es sich nicht gehört und auch das ich dafür Ärger bekommen würde, aber das war mir egal. Alles war mir egal – andere Kinder, Erzieher, Strafen, ja, selbst meine Eltern. Wie gesagt, ich liebe sie, doch so eine richtig feste Bindung hatte ich wohl nie zu ihnen. Und dann kam Jes.
Meine ganze Welt wurde damals von ihm in Null Komma Nichts auf den Kopf gestellt. Ich erinnere mich daran noch, als ob es gestern gewesen wäre.
'Das ist Justin.' – schon damals hatte er bei seinem vollen Namen das Gesicht verzogen – 'Seit alle nett zu ihm und spielt zusammen.', hatte die Erzieherin gesagt.
Gleich nach dieser Vorstellung gingen wir alle auf den Hof, wo ich mich allein, mit Schaufel und Eimer bewaffnet in den Sandkasten setzte – so zumindest mein Plan.
Es war echt seltsam und ich weiß bis heute nicht wieso, aber er hat die anderen Kinder gar nicht richtig beachtet, sondern kam direkt auf mich zu. Als er fragte, ob er bei mir mitspielen dürfte hatte ich ihn Ignoriert und auch noch als er sich einfach dazu setzte. Er fragt nach meinem Namen und als ich nicht antwortete, nahm er mir die Schaufel weg. Satansbraten!
Das erneute klingeln sagt mir, das auch diese Stunde nun zu ende ist. Jetzt haben wir Hofpause, was bedeutet, das wir alle rausgeschmissen werden – ob wir wollen oder nicht, und dabei wird – leider – auch für mich keine Ausnahme gemacht.
Draußen ist es schrecklich – die vielen Menschen, der ganze Lärm. Scheiße! Warum müssen wir verdammt noch mal immer raus? Ich will nicht! Doch ich muss. Also packe ich – so langsam wie möglich – mein Zeug ein und verlasse als letzter den Raum. Die Gänge sind so voll, ich komme mir vor als würde mich jemand durch einen Fleischwolf ziehen.
Draußen angekommen, gehe ich gleich zu meinem Platz in der hintersten Ecke des Hofes – direkt neben den Fahrrädern steht eine kleine Bank, die sogar überdacht ist. Hier ist es erträglich. Zwar mindert es die Lautstärke nicht, doch wenigstens sehe ich von hier aus nicht alle – und natürlich auch umgekehrt.
Ich schließe die Augen. Das mache ich oft, weil ich mir dann vorstellen kann ich wäre irgendwo anders, irgendwo allein – trotz der Geräusche. Doch heute ist etwas anders. Nach zehn Minuten spüre ich, wie sich jemand neben mich setzt – das kommt eigentlich nie vor. Bin ich jetzt etwa in einem Paralleluniversum gelandet? Egal, einfach ignorieren – vielleicht verschwindet die Person dann wieder.
„Ähm … Du bist Nikki, oder?“
Scheiße! Ich kenne diese Stimme! Das ist die Stimme, wegen der ich regelmäßig mit einem riesen Ständer aufwache. Verdammt! Wieso spricht sie mit mir? Hilfe, mein Herz! Ich ahne es schon – gleich springt es aus meiner Brust, nur um möglichst nahe bei ihm sein zu können. Bestimmt bin ich auch schon wieder rot. Ob er es hört – mein Herz? Wäre ein Wunder, wenn nicht.
Scheiße! Scheiße! Scheiße! Mein Atem wird schneller und flacher. Wie kann man nur so Überreagieren, verdammt! Und das nur, weil man angesprochen wird. Scheiße! Ich kneife die Augen zusammen und halte den Kopf gesenkt – hoffe inständig, das er nicht mitbekommt, wie rot ich bin.
„Jedenfalls, wollte ich mich bei dir entschuldigen. Du weißt schon, weil ich dich einfach umgerannt habe und so …“
Scheiße! Scheiße! Scheiße! Hör einfach auf zu reden – bitte! Ich halte das nicht aus. Wieso nur schafft er es mich so aus der Fassung zu bringen? Und das, während er doch gar nichts macht. Scheiße!
„Nikki?“
Muss er auch noch dauernd meinen Namen sagen? Verdammt macht mich das an! Wie oft habe ich schon davon geträumt? Scheiße! Ich lasse die Augen weiterhin geschlossen – oder ehr angestrengt zusammengekniffen – und nicke. Ich hoffe das reicht ihm, damit er verschwindet. Ich weiß, ich sollte froh sein das ich jetzt seine Aufmerksamkeit habe, aber eigentlich wünsche ich mir im Moment nichts mehr als das er keine Ahnung von meiner Existenz hätte. Warum? Man muss sich doch nur mal meine Peinlich Reaktion ansehen, dann weiß man schon warum. Kann er nicht gehen? Er hat sich doch entschuldigt, was will er denn noch? Bitte, geh!
Ich will gar nicht wissen, wie lächerlich das ganze wirken muss. Der schweigsame Auftragskiller – haha – wie er, knallrot, mit gesenktem Kopf, in 'Gottes' Gegenwart sitzt – dabei hat er doch schon lange einen Freund! Welch ein Skandal! Scheiße! Nicht das naher noch mehr Menschen auf die – absolut dumme – Idee kommen, 'Hey, den können wir doch mal ansprechen.'. Scheiße!
„Hier.“
Endlich steht er auf und geht. Erleichtert atme ich aus. Warte, was? 'Hier.', hat er gesagt. Was 'Hier.'? Ich sehe neben mich auf die Bank und entdecke was er mit 'Hier.' gemeint haben könnte – einen kleinen zusammengefalteten Zettel unter einem kleinem Steinchen.
Hallo, Herzklopfen. Mit zitternden Fingern – und ja, verdammt, ich bin immer noch aufgeregt – nehme ich den Zettel an mich und Falte ihn langsam auseinander.
'Echt schade, dass du mich ignorierst, dabei wollte ich mich doch so gern richtig bei dir entschuldigen. Es tut mir so leid, was da gestern passiert ist. Es sah ziemlich schmerzhaft aus, wie du da hin geknallt bist. Ich konnte mich ja noch etwas abfangen. Jedenfalls, nur wenn du möchtest, könntest du mich ja mal anrufen. Ich könnte dir eine Pizza ausgeben, oder so. Oder ich bin dir einfach egal, dann lasse ich dich einfach in ruhe. Es tut mir wirklich leid. Tim. 015357369962.'
Scheiße! Dreck! Mist! Verdammt! Scheiße! Scheiße! Scheiße! Und was soll ich jetzt machen? Ich kann ihn doch unmöglich anrufen. Ich sollte den Zettel einfach weg werfen. Ja, genau das sollte ich machen. Doch ich kann nicht – Scheiße!
Es klingelt zum verdammten reingehen, also stecke ich mir den bescheuerten Zettel in meine Hosentasche. Scheiße! Warum musste er mich auch ansprechen? Kann er nicht auch schiss vor mir haben, wie alle anderen auch? Offenbar nicht – auch wenn mich das irgendwie freut, zeigt es doch das er nicht ganz so blöd sein kann, wie der Rest der Schule, ärgert es mich doch, dass er mich dadurch – verdammt nochmal – ansprechen konnte.
Und jetzt habe ich seine Nummer in meiner Hosentasche. Scheiße. Ich will nicht mehr. Das alles überfordert mich. Hat denn noch keiner bemerkt das ich sozial komplett unfähig bin? Scheiße. Ich kann das nicht. Jes!
Nein, eigentlich wäre es eine verdammt dumme Idee Jes davon zu erzählen, denn ich weiß genau was er sagen würde. 'Ist doch großartig! Schwing deinen Arsch und ruf ihn an. Ihr geht Pizza essen, lernt euch kennen und wenn er erst mal, wie nett du eigentlich bist, könnt ihr eine Beziehung aufbauen. Dann sind auch die dämlichen Gerüchte ganz schnell aus seinem Gedächtnis gelöscht.'
Ja, und dann würde er so lange drängen bis ich doch anrufe – nicht das ich dann noch eine Wahl hätte. Nicht bei Jes.
Ich kann mir nur zu gut vorstellen wie das ganze ablaufen würde, sollte er wirklich abnehmen. Ich würde seine Stimme hören und einfach erstarren, kein Wort heraus bekommen. Schrecklich. Grausam. Einfach Scheiße. Alles Scheiße! Welche Alternative hätte ich denn? Keine, So sieht es aus. Ich kann nur versuchen das ganze so lange wie möglich für mich zu behalten. Ich muss seufzen. Ich bin ja so eine Flasche!
Irgendwann – 13.15 Uhr, um genau zu sein – ist der Unterricht dann zu Ende. In der Zweiten Pause war nichts weiter passiert. Er hat mich keines Blickes mehr gewürdigt, sodass ich – ganz ruhig und ganz allein für mich – in Panik ausbrechen konnte. Ein Glück, das ich sehr gut darin bin, mir meine Gefühle nicht anmerken zu lassen.
Nur bei Jes hat das noch nie Funktioniert. Wenn ich mal die Beine falsch übereinander schlage habe ich schon verloren. Nicht nur die Schlacht – den gesamten Krieg. Klasse, und eben jener große Eroberer steht nun vor dem Schultor und grinst mich so überglücklich an wie immer.
Sobald ich aus der Schülermasse heraustrete – und er frei Bahn hat – rennt er los und springt mich an. So wie immer also. Und wie immer werden wir dabei genaustens beobachtet – besonders als Jes mir den Begrüßungs-Kuss gibt. Ja, es ist wirklich verwunderlich, wie nur alle denken können das wir ein Paar sind. Doch das ist auch egal, es geht keinen was an. Ich halte Jes – wie immer – am Hintern fest, damit er mir runterrutscht und Jes hat – auch wie immer – seine um meinen Nacken gelegt. Alles genau wie immer. Es gibt keinen Unterschied – keinen Grund für Panik.
Ich erwidere den Kuss, doch Jes löst ihn heute schneller als sonst – Scheiße! Hat er es etwa jetzt schon bemerkt? Er sieht mir in die Augen – Scheiße – dann sieht er sich um.
„Hey, meinetwegen könnt ihr ja gerne ein Photo schießen und das begutachten, aber müsst ihr wirklich hier runstehen und uns anglotzen? Man, bin ich im Zoo, oder was? Macht bloß das ihr weiter kommt!“
Ja, Jes kann es nicht ausstehen angestarrt, wenn ihm etwas auf der Zunge liegt – und er weiß genau, das ich ihn Umbringen würde, würde er es vor allen ansprechen. Das heißt, er hat es bemerkt. Und das schon in den ersten dreißig Sekunden – wenn überhaupt. Ganz toll. Scheiße! Welch ein schöner Tag heute.
Meine Mitschüler drehen sich um und gehen – die meisten jedenfalls. Einige aber, holen tatsächlich ihr Handy raus und machen ein Bild. Und Jes? Ja, Jes grinst brav in die Kamera und gibt mir sogar noch einen Kuss. Ein Haufen ungläubiger Gesichter starrt mir entgegen und ich meine etwas von 'Scheiße, das der Typ sich das traut.' zu hören. 'Idiot, die sind zusammen, das weiß doch jeder!' Das stimmt allerdings. Jeder glaubt es zu Wissen. Kommt der Typ vom Mond, oder was? Egal, ich habe jetzt die Schnauze voll, schließlich bin ich doch nicht hier um Model zu stehen, also laufe ich – immer noch mit Jes auf dem Arm – los – mitten durch die gaffende Schülermenge. Ich bekomme ihn eh nicht runter, wenn er nicht will. Scheiß gestarre.
Man sollte meinen, die hätten sich nach all den Jahren an den Anblick gewöhnt. Tja, Pustekuchen. Wir sind weiterhin eine Sensation. Gut, okay, ich habe noch nie gesehen das jemand anders so angesprungen wird – und dann auch noch ausgerechnet ich. Der, den sich niemand anzusprechen traut – der Auftragskiller. Dennoch nach fünf Jahren? Bitte!
Jes jedenfalls lehnt – als ich mich in Bewegung gesetzt habe – den Kopf an meine Schulter. Bis zur Haltestelle darf ich ihn so tragen, dann steigt er ab – auch wenn er jammert das 'es gerade so gemütlich war'. Zwei Minuten lang warten wir – Hand in Hand – auf den Bus. Er sagt kein Wort, obwohl er mich vorhin noch so angestrahlt hat.
Er hat gemerkt das etwas nicht stimmt und das hat ihm seine Laune – gut, zwar nicht verdorben, aber doch – gemindert. Scheiße.
„Du wolltest mir was sagen?“
Ich weiß, das er mir was sagen wollte, auch, wenn er jetzt den Kopf schüttelt und mich mit einem Blick ansieht der mir sagt 'Und was ist mit dir?'. Darauf antworte ich nicht.
„Jes, nun sag schon.“
Nichts. Gut, dann anders. Wir steigen in den Bus ein, der gerade vor uns zum halten kommt. Diesmal setzte ich mich ihm gegenüber. Ich beuge mich vor und küsse ihn. Er ist nicht überrascht. Er erwidert, dann merke ich wie er anfängt in den Kuss zu grinsen. Er erzählt mir alles. Wirklich alles. Manchmal muss ich ihm nur zeigen das ich Interesse an seinem Leben habe – und das habe ich wirklich, aber nur an seinem. Das der anderen Interessiert mich nicht. Ich löse den Kuss.
„Jes, nun sag schon. Ich will es wirklich wissen. Bitte.“, flüstere ich gegen seine Lippen.
Es ist nicht meine Art, um etwas zu bitten. Jes weiß das – um so mehr freut es ihn. Ich sage selten 'Bitte', ja, eigentlich nie – doch Jes ist bei mir eine generelle Ausnahme. Ich sehe wie er noch ein wenig breiter strahlt, ehe er mich nun wieder von sich aus küsst.
„Ich habe eine zwei in Mathe!“
Wow, ich kann es kaum fassen. Nicht das Jes dumm ist, oder so – nein. Eigentlich ist er ziemlich gut in der Schule, nur mit Mathe stand er schon immer auf Kriegsfuß. Das er jetzt eine zwei hat, ist eigentlich ein Grund zum Feiern. Ich umarme ihn ganz fest.
„Glückwunsch, Jes! Ich bin so stolz auf dich. Wie hast du das nur geschafft?“, flüstere ich ihm ins Ohr, während ich ihn immer noch umarme. Er kichert.
„Hab ich nur dir zu verdanken. Auch wenn ich es ziemlich hart fand, mir beim Lernen die ganz Schokolade wegzunehmen.“
Jetzt muss ich auch kichern. Um Jes in Mathe zu unterstützen – nicht völlig untergehen zu lassen – muss ich mir jedes mal was neues ausdenken – also nie zwei mal die selbe Methode hintereinander. Das funktioniert einfach nicht. Und überhaupt schafft er es immer, irgendwie abzulenken.
Bei Jes muss man eben auch mal streng durchgreifen – auch wenn er den Tränen nahe war als ich seine gesamte, geliebte Schokolade weggeschlossen habe. Das Ergebnis kann sich aber durchaus sehen lassen. Ich bin stolz auf ihn, auf uns. Dann lasse ich ihn los, da es in dieser Position langsam unbequem wird. Jes sieht es offenbar genauso, den, er verlagert seinen Hintern prompt neben mich und kuschelt sich wieder an. Da sage ich natürlich nicht nein.
Immer diese dummen Blicke – und kaum das ich das denke, streckt Jes einigen meiner Mitschüler die Zunge raus. So ein frecher. Ich muss kichern. Durch Jes' Erfolg hat sich meine Laune wirklich gehoben. Die Blicke der Mitschüler – Hohlköpfe – werden immer ungläubiger. Man! Ob die es nun glauben oder nicht, ich bin auch nur ein Mensch und sogar ich habe Gefühle – auch wenn ich sie, zugegebener maßen, selten zeige.
Jes kichert auch und kuschelt sich weiter an mich. Mit Jes ist alles viel leichter. Warum konnte ich mich nicht in Jes verlieben – wenn es denn schon sein musste? Nur blöd, das mich keiner danach gefragt hat, was ich will. Scheiß Amor – kann mit seinen bescheuerten Pfeilen nicht umgehen! Scheiße. Toller Themenwechsel.
Natürlich bemerkt Jes es sofort und macht sich auch gleich wieder Gedanken. Er sieht kurz zu mir hoch, doch ich schüttle nur dem Kopf und gebe ihm einen Kuss aufs Haar. Er kuschelt sich noch ein wenig enger an mich und schließt die Augen. Als der Bus an meiner Haltestelle hält, beschließe ich auszusteigen. Jes kommt ohne murren mit.
So wie ich bei ihm Zuhause bin, so ist er auch bei mir. Ja, unsere Mütter waschen sogar die Wäsche des anderen mit – und können diese auch nur noch an der Größe unterscheiden, da ihnen jedes Stück mittlerweile so bekannt vorkommt.
Als ich gerade den Schlüssel in das Schloss stecken will, wird die Tür von innen aufgerissen und meine Mutter strahlt uns an. Ich hatte ganz vergessen das sie heute Zuhause ist. Egal.
„Willkommen, Jungs. Ihr habt perfektes Timing. Ich bin gerade mir dem Essen fertig.“, werden wir auch gleich begrüßt.
„Hi, Mom.“
„Guten Tag, Jessica.“
Dann werden wir erst mal beide von ihr in den Arm genommen – als hätten wir uns eine Woche nicht gesehen. Dann lässt sie uns glücklicherweise eintreten und wir dürfen Schuhe ausziehen. Sobald das geschehen ist – sie lässt uns keine Zeit zum flüchten – zieht sie uns in die Küche, wo wir auch gleich auf unsere Plätze verwiesen werden. Ein 'Danke, Mom. Ich habe heute keinen Hunger.' gibt es in diesem Haus nicht.
Meine Mutter liebt es andere zu bekochen – überhaupt liebt sie alles, was damit zutun hat, das sie Menschen um sich rum hat. Von Beruf ist sie Lehrerin – an einer sonder Schule. Passend, nicht? Da hat man viel mit Menschen zu tun. Man muss sich sehr viel mit den Kindern beschäftigen, aber auch viel Kontakt mit den Eltern halten. Meine Mutter liebt ihren Beruf über alles.
Ich finde das schön für sie. So nervt sie mich weniger, als sie es sonst tun würde. Meine Mutter und ich – wir könnten nicht unterschiedlicher sein. Doch ihr Essen schmeckt klasse. Nicht ganz so gut, wie das von Melissa, aber die ist ja auch Sterne-Köchin. Und nur bei ihr esse ich zwei Portionen. Sonst bin ich kein großer Esser und mit einem Teller völlig zufriedengestellt. Jes hingegen isst immer mindestens drei Portionen. Das meine Mutter sich darüber freut wie ein Schnitzel, muss ich bestimmt nicht extra erwähnen.
Nachdem Jes seine Ess – Fress – Orgie beendet hat, können wir endlich hochgehen. Dort möchte ich mich als erstes daranmachen meine Hausaufgaben zu machen – nun ja, möchte ist vielleicht nicht so ganz das richtige Wort, doch ich will mich Jes nicht jetzt schon stellen müssen.
Tja, weit gefehlt. Ich mache so gut wie nie Hausaufgaben und falls doch mal, dann sicher nicht gleich nach dem nachhause kommen. Und Jes? Ist doch eigentlich klar, das er mein 'Ablenkungsmanöver' sofort durchschaut hat. Ja, sobald ich mich – mit dem Matheheft bewaffnet – auf mein Bett gesetzt habe, wird mir dieses auch gleich entrissen und – wie könnte es anders sein – Jes sitzt dafür auf meinem Schoß. Er sieht mir tief in die Augen.
„Schieß los.“, sagt er wie immer, doch ich will es ihm nicht sagen.
Nein, das stimmt so nicht ganz. Ich will es ihn schon sagen, aber ich will mich danach nicht mehr damit auseinandersetzen – was unweigerlich folgen würde. Also schüttle ich den Kopf – Jes hält ihn fest. Verdammt, was soll ich denn machen? Ich stehe zwischen zwei verdammten Stühlen. Ich will es ihm sagen. Wir sagen uns einfach alles, aber wenn ich das mache – nun, ich weiß genau, wie es dann weitergehen würde – und das kann ich nicht.
„Verstehe.“
Das dumme an der ganzen Sache ist, das Jes – leider viel zu gut – weiß wie er etwas aus mit heraus bekommt. Allein schon dieser traurig-enttäuschte Tonfall. Das macht mich Wahnsinnig. Ja, selbst wenn ich genau weiß, dass das seine Taktik ist, kann ich einfach nicht anders als ein schlechtes Gewissen haben. Ich habe selten ein schlechtes Gewissen – weil mich auch selten etwas berührt. Bei vielem kann ich sagen 'Ist doch egal.', 'Geht mich nichts an.' oder 'Daran kann ich auch nichts ändern.' – doch wenn es um Jes geht, trifft nichts davon zu. Jes ist mir nicht egal. Jes geht mich was an. Er weiß das genau – und er nutzt das gnadenlos aus. Er hat mich einfach in der Hand. Ja, ich hänge, sozusagen, an seinen Fäden. Jes ist wirklich gnadenlos.
So wie er mich jetzt schon wieder ansieht! Scheiße! Sein Blick scheint mir regelrecht zuzuflüstern 'Vertraust du mir denn nicht?' und 'Ich will dir doch nur helfen'. Und wirklich – ich will es ihm sagen, aber ich kann nicht. Auch wenn es an sich etwas positives ist, es geht einfach nicht.
„Nikki, ich weiß das heute etwas passiert ist. Ich sehe es dir an der Nasenspitze an. Natürlich musst du nicht darüber reden, wenn du nicht willst, es ist nur … wir sagen uns doch sonst immer alles und wenn du jetzt nicht darüber reden willst, muss ich annehmen das es etwas ganz schlimmes ist. Ich mache mir doch nur Sorgen.“
Ich weiß, das es keineswegs gelogen ist – aber auf alle Fälle eine hoffnungslose Übertreibung. Und auch wenn ich das alles weiß – der bedrückte Gesichtsausdruck, die weinerlich Stimme, die geknickte Körperhaltung, wie er sich jetzt, schon fast schluchzend, an meine Brust lehnt – macht mich fertig. Scheiße! Jes! Arsch!
Er weiß genau das ich dem nichts entgegenzusetzen habe. Wie berechnend! Scheiße. Ich seufze.
Kapitulation. Ich erzähle Jes alles – und sehe genau wie bei jedem meiner Worte, sein verdammtes grinsen breiter wird. Scheiße! Wo habe ich mich da nur wieder reingeritten? Doch es ist nicht meine Schuld das ich nichts vor Jes verbergen kann!
Ja, gut – das ist lächerlich. Doch er durchschaut mich einfach immer! Als könnte er meine Gedanken lesen. Gruselig. Wie kommt er nur dazu? Wie kann es sein das er mich so gut kennt? Scheiße. Ich sehe das grauen genau vor mir – wie es geschickt von meinem Schoß klettert.
Das macht er immer, wenn er mich zu etwas überreden will. Verdammt! Dreck! Mist! Ich habe es doch von Anfang an gewusst – er hat nur geschauspielert, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Damit ich dann etwas tue das ich sonst nie freiwillig – nüchtern – machen würde. Scheiße. Jes.
Jes ist der einzige Mensch, der das kann – und zu meinem Leidwesen, weiß er das ganz genau. Verdammt! Ich Idiot hätte es ihm nie sagen dürfen. Scheiße! Doch in gewisser Hinsicht hatte ich keine andere Wahl. Bei Jes habe ich nie eine Wahl. Gegen Jes kann ich mich einfach nicht währen. Jes war einfach da – und es gibt nichts das ich dagegen tun kann, oder will.
Verdammt! Er hat sich einfach rein gedrängt – in meine Welt, mein Leben, meine Gedanken und mein Herz. Nicht einmal hat er mich gefragt was ich davon halte – nicht, das ich ihn jetzt noch loswerden wollte. Will ich nicht – mehr. Ich mag Jes und irgendwie brauche ich ihn sogar.
Doch ich kann es einfach nicht über mich bringen ihn anzurufen. Mein Herz würde mir bis zum Hals schlagen, ich würde rot – wie eine Ampel – leuchten und garantiert kein Wort herausbekommen. Und er? Ja, er würde vermutlich denken das es sich um einen Telephonstreich handelt und einfach wieder auflegen. Und falls er sich doch – wie auch immer – denken könnte das ich es bin, würde er mich vermutlich für noch seltsamer, als ohnehin schon, halten. Klasse Aussichten.
Allein bei dem Gedanken daran, läuft es mir kalt den Rücken runter und ich habe das Gefühl kotzen zu müssen.
„Ich werde dich nicht zwingen, Nikki.“
Er kichert und ich starre ihn an. Wie bitte?! Jes. Jes? Jes! Das kann doch wohl nicht wahr sein! Ich verliere fast den Verstand und er sagt das er mich nicht zwingen wird! Halt, eigentlich ist das doch was gutes. Meine größte Angst, von Jes überredet zu werden – gezwungen – zu werden, kann sich jetzt ganz einfach in Luft auflösen.
„Wie … ?“
Ich wollte fragen, was genau er damit meint – doch ich kam nicht dazu, denn Jes kichern wurde zu einem gigantischen Grinsen. Typisch Jes.
„Och, bitte. Nikki, schon als ich nach der Frage deinen verschreckten Gesichtsausdruck sah, wusste ich was du denkst.“
„Und warum … ?“
„Na, weil ich dein Minenspiel sehen wollte. Ist doch klar, oder? Wenn du so in Gedanken bist, kann man dir echt alle Gefühle vom Gesicht ablesen. Erst total verschreckt – wie so ein Reh, dann panisch und wütend, zwischendurch so grimmig-abwesend, dass du bestimmt an mich und an früher gedacht hast und ganz zum Schluss so geknickt. Nur deshalb habe ich dich auch aus den Gedanken gerissen. Ich mag es nicht, wenn du so traurig aussiehst. Und weil dein überraschtes 'What the Fuck!'-Gesicht zu geil ist.“
Zum Schluss kugelt er sich nur so vor lachen – und ich komme mir mal wieder, wie der letzte Trottel vor. Was diesmal ja auch zutrifft. Klasse. Scheiße. Was mache ich mir auch jetzt schon Gedanken um Dinge die noch gar nicht passiert sind? Doch das ist trotzdem kein Grund mich auszulachen – oder doch?
Nein! Arg, Verdammt! Und sein Lachen wird immer lauter … hoffentlich erstickt er daran!
„Das willst du dich nicht wirklich. Was würdest du sonst ohne mich machen?“
Scheiße! Ich sagte doch, er kann Gedanken lesen! Scheiße. Scheiße. Scheiße! Vor lauter Lachen hat er schon Tränen in den Augen und hält sich den Bauch – der ihm sicher schon weh tut. Mistkerl.
„Und woher … ?“
'… hast du das jetzt schon wieder gewusst?', wollte ich eigentlich sagen – doch schon wieder wurde ich einfach unterbrochen.
„Todesblick.“
Verfluchtes Grinsen! Am liebsten würde ich ihm jetzt den Hals umdrehen – auch wenn ich ihn danach vermissen würde. Egal.
„Aber jetzt mal im ernst, Nikki. Ich sagte das ich dich nicht zwingen werde, doch meine Meinung dazu wirst du dir schon anhören müssen.“
Scheiße!
„Ich denke wir sollten jetzt wirklich Hausaufgaben machen. Du weißt doch wie lange du immer für Mathe brauchst.“
Ich weiß – lächerlicher Versuch, dennoch ein Versuch. Scheiße!
„Nikki.“
Ja, ich höre schon den Unterton. Den Unterton der mir sagt, ich soll die Klappe halten und zuhören. Typisch Jes. Jes. Verdammt, Jes!
„Ich bin der Meinung das du ihn anrufen sollst.“
Heftig schüttle ich den Kopf – ich will das gar nicht hören! Doch wie immer Habe ich keine Wahl.
„Mensch, Nikki. Wie lange bist du jetzt schon in den Typen verknallt? Seit vier Jahren? Fünf? Meinst du nicht, dass das langsam mal reicht? Du hast noch nicht einmal mit ihm gesprochen und jetzt hast du sogar seine Nummer. Glaub mir, Tim ist echt nett. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Ich weiß wie nervös du jedes mal wirst, wenn du ihn siehst und was für eine Belastung das für dich ist, aber denkst du nicht das gerade das ein Grund wäre, ihn anzurufen? Wenn du erst mal Gelegenheit hattest ihn näher kennen zu lernen, dann wird es dir sicher auch leichter fallen mit ihm umzugehen. Ich weiß nicht ob er Schwul ist – zumindest hatte er, soweit ich weiß, nur Freundinnen – aber das kann man mit Sicherheit ja nicht so sagen. Nikki, wenn es dir leichter fallen würde, würde ich auch mitkommen, zu dem Treffen. Du willst ihn doch auch endlich kennenlernen, oder?“
Dumme Frage. Natürlich will ich ihn endlich kennenlernen, doch wie soll ich das machen, wenn ich in seiner verdammten Gegenwart, kein verdammtes Wort rauskriege? Ja, sogar noch schlimmer – wenn ich bei seiner Berührung in Ohnmacht falle.
„Verdammt, Jes! Kannst du dir das vorstellen? Ich rufe ihn an und bekomme kein Wort heraus. Sollte er dann – überraschenderweise – doch merken das ich es bin und sich – noch überraschender – mit mir treffen wollen, wird er danach sicher nicht nochmal so ein Bedürfnis verspüren. Wenn er mich sieht, wie ich mit flachem, schnellem Atem vor ihm stehe – knallrot – und er dann auch noch mein rasendes Herz hört oder ich – noch schlimmer – in Ohnmacht falle, weil er mir die Hand gibt – Unvergesslich, sicher. Aber keinesfalls eine Wiederholung wert. Ja, so würde es laufen!“
„Aber das weißt du doch gar nicht so genau. Immer malst du gleich den Teufel an die Wand, Nikki. Das muss doch nicht sein. Mach doch mal was spontan.“
„Ich bin spontan in Ohnmacht gefallen, nochmal verzichte ich gern darauf, danke! Ich bin doch keine Jungfrau in Nöten, die in Ohnmacht fällt, sobald sie ihren Prinzen sieht …“
„Nikki, es hat dich doch auch keiner als Prinzessin bezeichnet. Ich denke einfach das es dir helfen würde. Du sollst ja nicht gleich mit ihm kuscheln, meinetwegen reichst du ihm auch nicht die Hand, aber wenigstens treffen solltest du dich mit ihm. Dann wirst du sehen das er auch nur ein normaler Mensch ist, ein ganz normaler – oder aber du wirst wenigstens wissen, warum du bei ihm Atemnot bekommst. Ist das nicht schon was wert?“
„Aber Jes … nein … doch … Ich weiß auch nicht. Natürlich wäre es toll, doch ich kann das einfach nicht. Ich kann ihn ja nicht mal ansehen, was soll ich denn da sagen? Er wird mich nur für einen noch größeren Idioten halten, als so schon.“
Ich bin völlig verzweifelt. Ich weiß das es echt geil wäre, aber ich kann trotzdem nicht. Wenn ich nur knallrot und stumm, wie ein Fisch, dastehe und mir wünsche einfach nur tot umzufallen, wird er sicherlich auch nicht viel mir mir anzufangen wissen.
„Was wäre das schlimmste, das passieren könnte?“
„Wie?“
„Was wäre das schlimmste das passieren könnte? Er könnte dich auslachen, auch wenn ich das ausschließe, da er ja ein schlechtes Gewissen hat. Es liegt aber immerhin im Bereich des möglichen. Oder er könnte dich ignorieren, was aber insofern nichts an der jetzigen Lage ändern würde. Alles wäre wie immer. Was könnte sonst noch passieren?“
Gut, ich muss zugeben, wenn ich realistisch bleiben will, fällt mir da auch nichts anderes mehr ein. Was spricht also noch dagegen, mich vor meiner großen Liebe absolut zum Affen zu machen – also, das heiß, noch mehr als so schon. Ich seufze. Scheiße. Jes.
„Ich …“, weiß ehrlich gesagt nicht was ich sagen soll.
Allein schon die Vorstellung, ihm noch einmal so nahe zu sein, lässt meinen Mund so trocken wie die Sahara werden und mein Herz verwechselt sich mit einem Ferrari-Motor. Klasse. Verdammt. Scheiße!
„Gut.“
Scheiße. Warte, was?! Was habe ich da eben gesagt? Bin ich nun endgültig übergeschnappt? Ich glaube die Leitung, die mein Gehirn mir meinem Mund verbindet, ist kaputt. Verdammt! Scheiße! Scheiße! Scheiße! Jes. Jes? Jes!
Zurücknehmen kann ich es jetzt nicht mehr – nicht wenn ich sehe wie dieses verdammte, mir im Augenblick so verhasste grinsen, immer größer wird. Ich bin Machtlos. Das war ich schon seit ich es ihm erzählt habe. Er hat nur mit mir gespielt. Ich hatte nie eine Chance gegen ihn. Verdammt, Jes! Jes ist der einzige Mensch, der mich sogar an den Ohren noch zu einem Treffen schleifen könnte, wenn er denn will – und er will. Ich bin mir ganz sicher das er will.
Verdammt. Ich hole tief Luft. Keine Chance, keine Wahl, kein Fluchtweg. Jes. Ich bin ihm völlig ausgeliefert. Das war ich schon immer. Scheiße. Die angehaltene Luft wird mir förmlich aus den Lungen gepresst, als Jes sich auf mich schmeißt.
Ein Kuss besiegelt mein Verderben. Scheiße. Fast wie im Märchen. Doch leider nur fast, sonst hätte mein verdammtes Leben wenigstens ein Happy End, auf das ich mich nach der ganzen Blamage freuen könnte. Scheiße. Doch leider ist es kein Märchen – ganz und gar nicht. Ich werde als alte, einsame – nun gut, vielleicht keine Jungfer – aber dennoch alt und einsam sterben. Alt und einsam. Ganz tolle Aussichten. Scheiße. Warum immer ich, Scheiße. Jes! Alles Jes' Schuld! Verdammt!
„Nun schau doch nicht so grimmig. Du tust ja so, als ob die Welt untergehen würde.“
Scheiße. Wieder kichert er vor sich hin. Warum? Es kann mir doch keiner verübeln, wenn ich ihn mit Leichenmiene ansehe, bei dem was er mir antut. Oder?
„Doch! Und jetzt hör auf so dämlich zu kichern!“
Woraufhin er natürlich keineswegs aufhört zu kichern – nein, das wäre auch zu schön gewesen, zu einfach – sondern kichert nur noch mehr. Scheiße. Jes. Warum immer ich? Scheiße.
„Und jetzt?“
Ganz unschuldig, mit großen, runden Augen, sieht er mich fragend an. Klar, jetzt hat er sein Ziel ja auch erreicht. Gut, dann kann ich ihn jetzt auch etwas Ärgern, wenn auch nicht annähernd so sehr wie er mich. Ich glaube, das würde ich auch gar nicht schaffen.
Jes. Jes nimmt sich die Dinge nicht so zu Herzen wie ich. Scheiße. Doch andererseits kann ich darüber doch ganz froh sein, nicht das ich bei jedem Bisschen in Tränen ausbreche – oder mir überhaupt etwas anmerken lasse – aber ich mache mir Gedanken. Viele Gedanken. Auch, wenn man es mir nicht ansieht. Wenn mir jemand was vorwirft, tue ich so, als würde es mich nicht kümmern, aber in Wirklichkeit, lässt es mich nicht mehr los. Ich frage mich, ob es stimmt und ob ich es ändern sollte – zerbreche mir so, auch mal nächtelang, den Kopf.
Nicht so wie Jes. Jes. Er denkt vielleicht drei Minuten darüber nach, holt dann eine zweite – meist meine – Meinung ein und wendet sich dann wieder anderen Dingen zu. Ich kann so was nicht. Warum? Scheiße. Alles Scheiße.
„Hey, bist du noch da?“
Ich schiebe Jes Hände weg, die mir vor dem Gesicht herum fuchteln. Verdammt, es ist wirklich eine dumme Angewohnheit öfter – oder auch immer – in Gedanken abzudriften, Doch was soll ich dagegen machen? Scheiße! Und das verdammte Grinsen schon wieder. Doch diesmal kann ich es ihm aus dem Gesicht wischen.
„Ja, voll und ganz.“
Ich grinse ihn jetzt auch an.
„Wir wollten doch Hausaufgaben machen. Ich bin mir sicher du hast wieder Mathe auf, richtig?“
Ja, das gönne ich mir mal. Er hasst Mathe. Mathe ist sein schlimmster Feind. In solchen Momenten liebe ich Mathe. Nicht, dass ich es wirklich mag – es ist mir vielmehr egal. Ihm nicht. Sein Gesicht – das ist zu göttlich! Als wäre ihm alles daraus gefallen – besonders dieses verdammte Grinsen. Yeah!
„Was schaust du denn so erschrocken? Stimmt was nicht?“
Und manchmal bin ich auch einfach nur ein wenig böse – aber es macht so viel Spaß. Dadurch kann ich fast vergessen, wofür ich mich hier gerade räche. Fast, Scheiße. Egal. Dazu später.
„Och, du verdammter …! Nikki, wieso tust du mir das nur an? Gut, ich weiß wieso, aber du spielst nicht mit fairen Mitteln. Das wollte ich nur mal klarstellen! Mathe muss ich sowieso machen. Das weißt du Arsch doch. Da kann ich mir echt nichts leisten.“
Stimmt. In Mathe steht er echt schlecht. Noch eine sechs und er steht fünf. Klar, könnte er leicht ausgleichen, dennoch sieht eine fünf auf dem Zeugnis echt dumm aus. Ich nicke. Wieder hat er mich. Scheiße, gegen Jes komme ich echt nicht an. Und diesmal sogar ganz ohne Manipulation. Großartig.
„Ach, Jes. Du weißt doch das ich dir helfe.“
Und schon strahlt er mich wieder an und fällt mir erneut um den Hals. Jes. Ja, mein Jes. Schon ist er wieder oben auf. Nichts kann Jes lange fesseln. Ich schiebe ihn wieder von mir – nicht nur um wieder Luft zu holen, was mit Jes um den Hals manchmal gar nicht so leicht ist – aber wir hatten immerhin was vor.
Ein Blick reicht aus und seine Mine verdüstert sich wieder etwas – dennoch, ohne groß zu murren, hebt er seinen Hintern von meinem Schoß und setzt sich brav an meinen Schreibtisch. Ich stehe auf und mache mich erst mal daran, mein Mathe-Heft aus der Ecke zu holen, in die es Jes vorhin geschmissen hat und dann packe ich unsere Taschen aus. Ja, unsere. Mein lieber Jes, der macht das nämlich nicht allein – selten zumindest.
Auf seine absolut Mitleid erregende und unschuldige Farge hin – ob wir nicht zuerst die anderen Hausaufgaben machen könnten, weil wir sonst von Mathe so müde sind, dass wir nicht mehr klar denken können – muss ich natürlich zustimmen. Wie könnte ich anders? Jes' bestem Welpenblick, kann keiner widerstehen und ich kann Jes sowieso nichts abschlagen – leider.
Freudig grinsend nickt er schnell, bevor ich es mir doch noch anders überlege. Ich gebe ihm sein Zeug und setze mich mit meinem auf mein Bett. Den Schreibtisch benutze ich eigentlich nie. Der ist – sozusagen – ehr für Jes. Ihm ist es bis heute unbegreiflich, wie ich es schaffe alles ordentlich zu erledigen, wenn ich dabei nur im Bett rumlungere – mit einem Kissen auf dem Schoß und einem Block darauf. Ganz einfach.
Jes, hingegen braucht einen Tisch – und wehe auf diesem ist keine Ordnung. Naja, ich habe ihm gesagt, wenn es ihm so wichtig ist, soll er sich selbst darum kümmern. Wer hätte gedacht das er das auch tatsächlich tut? Wahrscheinlich keiner, der schon mal sein Zimmer betreten hat, denn darin sieht es – ähnlich wie bei mir – aus als hätte eine Bombe eingeschlagen. Zumindest laut den Aussagen unserer Mütter. Ich würde aber behaupten, dass es bei Jes noch einen ticken schlimmer ist. Bis auf die Schreibtische eben. Die sind, in beiden Zimmern – wegen Jes höchstpersönlich – , fast schon auf Hochglanz poliert. Da ist er sehr pedantisch.
Nach einer Stunde – in der wir wirklich sehr konzentriert, wirklich nur unsere Aufgaben gemacht haben – bin ich so gut wie fertig. Nur noch schnell Mathe machen, doch eigentlich ist das kaum der Rede wert. Bei Jes ist es offensichtlich auch bald soweit. Ich sehe schon wie er langsam unruhiger wird.
Nach zehn Minuten bin ich endgültig mit allem durch und schon ein kleiner Blick zu Jes reicht aus um zu sehen, dass es bei ihm auch jeden Moment soweit ist. Er rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum, schlägt mit seinem Stift auf den Tisch und fährt sich andauernd mit der Hand durch die Haare, die deswegen auch schon ganz wüst aussehen – und das, wo er doch sonst immer so auf sein Aussehen achtet.
Kurz sehe ich mir das Spektakel noch an und grinse – auch, wenn es gar nicht lustig ist. Ich weiß das Jes' Mathe Probleme echt brutal sind, deshalb bekomme ich auch schnell Mitleid mit ihm. Ich stehe auf, gehe zu ihm hin und umarme ihn – da er mir den Rücken zugedreht hat – von hinten. Sofort merke ich, wie er sich – zumindest etwas – entspannt und erleichtert ausatmet.
„Dann zeig mal her welchen Monstern du dich heute wieder stellen musst.“, hauche ich ihm ins Ohr und stelle zufrieden fest, dass er eine leichte Gänsehaut hat, als ich ihn auch noch leicht am Nacken küsse. Brav – wie er, so gut wie nur, bei Mathe ist – nimmt er sein Heft und Buch hervor.Was ich da sehe lässt mich seufzen – überrascht mich aber nicht. Sie haben schon wieder eine halbe Seite auf. Jeden Tag. Es ist nicht sonderlich schwer, nur eben viel.
Wie ich in Jes' Heft gesehen hatte, erklärt Herr Scholz sehr gut – jeden Schritt einzeln. Die Aufgaben dienen bei ihm weniger zur Folter der Schüler, als wirklich zur Übung. Allerdings scheint er dabei – wie fast alle Lehrer – zu vergessen, dass er nicht der einzige ist, der die Macht besitzt unsere kostbare Freizeit zu fordern.Fatal für die Schüler – dennoch, er gibt nie Hausaufgaben übers Wochenende.
Ich lasse Jes los und ziehe den Hocker – der immer für mich unterm Schreibtisch steht – hervor. Sobald ich mich neben Jes gesetzt habe, schaut er mich mit einem Blick an, der mir sagt, dass er bereits jetzt nicht mehr kann – doch er muss. Und das weiß er auch. Also ist er brav still und hört zu wie ich ihm die erste Aufgabe näher bringe – oder es zumindest versuche. Zwischen Jes und Mathe herrscht Krieg – bitterer Krieg, der schon so einige Opfer gefordert hat. Die armen Noten. Immer scheint Jes unterlegen – auch jetzt seufzt er nur und schüttelt langsam den Kopf.
„Ich weiß, Jes.“
„Ja.“
„Gut, dann sag mir was unter der Wurzel rauskommt.“
„9?“
„Nicht ganz. Schau, da hast du das Quadrieren vergessen.“
„Oh man, so ein Scheiß!“
„Ich weiß, Jes.“
„12?“
„Genau. Jetzt noch die Wurzel ziehen.“
„ 3, 464101 …“
„Du kannst nach der zweiten Stelle runden.“
„3, 46.“
„Richtig!“
Stolz nicke ich. Ja, für Jes war das schon ein riesen Schritt. Ich erkläre ihm auch die anderen Schritte und er gibt sich wirklich Mühe es zu verstehen – tut er immer. Und es ist ja auch nicht so, als ob er blöd wäre, oder so – er merkt es sich einfach nicht, obwohl alle Aufgaben ähnlich sind. Jedes Mal muss ich es ihm von neuem Erklären.
Nach fünf Aufgaben, bekommt er eine fast alleine hin – dann ist das auch wieder vorbei. Keine Ahnung, wie das geht. Anderes – wie Biologie, Chemie, Physik – sind für ihn kein Problem. Die merkt er sich einfach – sogar ohne groß lernen. Doch Mathe, das ist sein schlimmster Alptraum – das war aber schon immer so.
Zwei Stunden und siebenunddreißig Minuten später, sind wir dann endlich mit allem fertig. Jes schmeißt sich sogleich in meine Arme, sodass ich aufpassen muss nicht vom Hocker zu fallen. Jes ist jetzt völlig erledigt.
Das ist er immer nach Mathe, doch wer kann ihm das schon verübeln? Ich werde davon auch immer ganz schläfrig. Also stehe ich, mit Jes auf dem Arm auf und lege ihn ins Bett – mich selbst gleich dazu. Nicht das ich noch eine Wahl hätte. Ich könnte fliehen – aber mich nicht verstecken.
Jes will jetzt kuscheln. Das will er nach Mathe immer. Er sagt, das Mathe ein so liebloses Fach sei, dass es ihm schon beim bloßen Gedanken, kalt den Rücken runterläuft. Deshalb braucht er danach jedes mal so viel Liebe und Zuneigung – damit er weiß das er nicht von der Bestie verschlungen wurde.
Seltsamer Gedanke, oder? Jedenfalls drückt er sich, sobald ich neben ihm liege, an mich und legt seinen Kopf auf meine Brust. Ich fahre ihm mit einer Hand erst durch die – von vorhin noch ein wenig – zerzausten Haare, ehe ich dann dazu übergehe ihn im Nacken zu kraulen. Das mag er – so sehr, dass er kurz darauf eingeschlafen ist. Und ich mit ihm.
Als ich aufwache haben wir genau drei Uhr – wie ich durch eine, sehr umständliche, Drehung meines Kopfes feststelle. Jes hat sich mittlerweile komplett auf mich gerollt und mein Arm ist auch eingeschlafen. Klasse.
Scheiße – es hatte schließlich einen Grund, weshalb ich mitten in der Nacht aufgewacht bin. Ich muss verdammt noch mal auf Toilette und das Jes nun mal genau auf mir liegt, macht die Sache für mich keineswegs leichter.
Ich versuche ihn so vorsichtig wie möglich von mir zu schieben, doch Jes hat – ganz offensichtlich – nicht vor seine Position aufzugeben. Ist dem Herrn wohl zu bequem. Scheiße. Ich muss wirklich pinkeln! Allerdings, wenn ich Jes jetzt wecke, werde ich in naher Zukunft gar keine Bedürfnisse mehr haben. Scheiße.
Der eingeschlafene Arm, macht es mir da nicht leichter. Jes murrt etwas und hält sich noch fester. Scheiße. Scheiße. Scheiße! Ich versuche ihn von mir runter zu schieben. Warum passiert so was immer mir? Warum habe ich immer soviel Scheiße im Leben?
Bei meinem zweiten Versuch dreht sich Jes doch dann tatsächlich etwas von mit runter – aber dummerweise genau so, dass sein Bein auf meiner Blase liegt. Ich glaube ich laufe gleich über! Scheiße! Bevor er wieder anstallten machen kann, sich an mich zu kuscheln, springe ich aus dem Bett.
Ich kann mir bildlich vorstellen, wie eine Staubwolke hinter mir entsteht – so schnell renne ich ins Bad. Als ich – erleichtert – wieder rauskomme, sehe ich Jes schon im Bett sitzen. Scheiße – doch er streckt nur seine Arme nach mir aus. Was ist denn mit dem los?
Normalerweise würde er jetzt total ausflippen und mich an meckern, warum ich ihn geweckt hätte und das er jetzt unmöglich wieder einschlafen kann. Seltsam. Ich gehe langsam – misstrauisch – auf ihn zu und frage mich, ob das nicht vielleicht nur eine neue Strategie ist. Mich zum Beispiel einfach zu erwürgen, wenn ich nahe genug bin – doch das tut er nicht.
Als ich nahe genug bin schlingt er lediglich seine Arme um meinen Nacken und lässt sich dann wieder in die Kissen fallen. Ich falle gleich hinterher – direkt auf ihn drauf – da er mich ja immer noch festhält. Im nächsten Moment merke ich woher der Wind weht.
Vorher ist mir das nicht aufgefallen, da ich ja mit anderen Dingen beschäftigt war, aber jetzt merke ich es. Ganz deutlich. Den Grund, warum Jes mich nicht erwürgt hat. Er hat eine Morgenlatte. Und ich darf das wieder ausbaden. Klasse. Naja, eigentlich wirklich Klasse.
Jes ist offenbar der Ansicht, ich hätte genug geschlafen, denn er küsst sich langsam an meinem Hals entlang – nicht das ich dagegen irgendwas einwenden könnte. Ich fange seine Lippen mit meinen ein und wir küssen uns – lange, innig, leidenschaftlich. Seine Hände krallen sich in meinen Hinters, während ich ihm über die Seiten streiche.
Es dauert nicht lange, da haben sich unsere Klamotten schon, wie von selbst, überall verteilt und wir sind völlig Nackt. Ich merke, wie ich auch immer erregter werde – Jes unter mir. Einfach geil! Ich in ihm – unbeschreiblich!
Der Sex mit Jes ist wundervoll. So … einfach? Ich glaube, das ist nicht das richtige Wort. Er ist unkompliziert, vertraut – einfach eben. Ich weiß genau, was er braucht, was er mag und was er nicht leiden kann. Ich weiß wo er kitzlig ist und wie er es am liebsten hat.
Das alles weiß ich einfach – ohne das er es mir je gesagt hat. Und Jes kennt mich ebenso gut. Das macht es so einfach. Wir müssen nicht aufpassen, was gefällt und was nicht – wir wissen es. Jedes mal, wenn ich mit einem anderen geschlafen habe, war es viel komplizierter.
Ich musste auf den anderen achten, mich deshalb mehr beherrschen, sehen was ihm gefiel. Jedes mal – und bei jedem anders. Anders als bei Jes, wo ich mich richtig fallen lassen kann. Und ihm geht es da genauso.
Sex mit Jes ist wundervoll. So einfach. Weil wir einfach alles voneinander wissen, alles schon zusammen gemacht haben. Den ersten Kuss, das erste Mal – alles.
Gemeinsam erreichen wir unseren Höhepunkt und schlafen danach gleich wieder ein. Diesmal liege ich auf ihm, doch das stört ihn nicht – im Gegenteil. Er schlingt noch seine Arme um mich. Die eine kommt auf meinem Rücken zum liegen, die andere mitten auf meinem Hintern. Das macht er gern – mir an den Hintern gehen. Dann driften wir endgültig weg – ins Traumland.
Das nächste das ich mitbekomme, ist meine Mom, wie sie wütend und mit dem Wecker in der Hand vor uns steht. Als sie sieht das wir – oder besser ich – wach sind, hält sie mir den Wecker vor die Nase.
Scheiße! Schon wieder halb sieben. Ich reiße ihr den Wecker aus der Hand und sie zieht fluchend davon. Vermutlich hat sie den erst jetzt aus gemacht. Das heißt er ist ihr eine halbe Stunde auf die Nerven gegangen, ehe sie aufgestanden ist. Scheiße.
Worüber denke ich da bitte nach? Ich habe keine Zeit für so was! Als ich aufspringe, wird auch Jes endlich wach – klar, es ist ja kalt ohne mich. Sobald ich sehe, wie er den Mund zum meckern, aufmacht, werfe ich ihn einfach ein 'halb sieben' an den Kopf und er versteht.
Schnell stellen wir uns unter die Dusche. Abtrocknen, Zähneputzen, Haare machen – das alles geht heute mal wieder im Schnelldurchlauf. Jes. Alles nur wegen Jes. Jes und seinem Ständer. Scheiße. Wir ziehen uns an, rennen nach unten und schlüpfen – wie immer – notdürftig in unsere Schuhe. Jes schnappt sich die Brote von meiner Mutter und wie immer rennen wir zum Bus. Ja, wie immer. Verdammt.
Wir kommen gerade noch rechtzeitig an – ein Glück! Und dann müssen wir uns – auch wie immer – im Bus erst mal richtig Anziehen. Jes gibt mir mein Brot und ich stopfe es – genau wie er – in meine eh viel zu volle Tasche. Man sollte meinen, da alles wie immer ist, hätte ich mich schon längst an die Hektik gewöhnt. Leider ist das nicht so und eine halbe Stunde früher aufzustehen schaffen wir nur im seltensten Fall.
„Gibst du mir mal dein Handy?“
Ohne ein Wort bekommt er es und gibt mir dafür seines. Ganz ohne Worte. So was funktioniert bei uns. Wir verstehen uns immer. Alles wie immer. Nur warum sitzt mir heute so ein unangenehmes Gefühl im Nacken? Ganz so als würde heute etwas passieren – etwas schlimmes. Mir ist richtig schlecht.
„Man, wie kommt es eigentlich das du immer noch so viel Geld hast und ich nicht? Das ist doch unfair!“
„Das Leben ist nun mal nicht fair. Gewöhne dich daran.“
Und davon abgesehen, weiß er ganz genau wie unsere unterschiedlichen Kontostände zustande kommen.
Ich schreibe ja mit keinem – außer ihm. Gut, ich kenne auch kaum einen außer ihm. Wenn er dann immer nichts, oder nur wenig, drauf hat, nimmt er meins. Sonst würden die fünfzehn Euro bei mir wahrscheinlich ein halbes Jahr reichen – wenn nicht noch länger.
Diesmal muss ich zuerst aussteigen. Ich stecke Jes' Handy in meine Tasche und verlasse dann den Bus. Das ist nichts ungewöhnliches. Alle seine Freunde haben meine Nummer, weil wir öfter tauschen. Wenn ich mal rangehe, kommt meist nur ein 'Schon klar.'. Alle wissen Bescheid. Dann rufen sie eben auf mein Handy an. So einfach.
Alles ist einfach mit Jes – wenn man seine Regeln kennt und mit seiner Art die Welt zu sehen umgehen kann. Ich bin der einzige auf den das zutrifft. Zwar ist Jes mit vielen – wirklich vielen – anderen gut befreundet, aber ich weiß das keiner von denen mir das Wasser reichen kann.
Fast könnte man sagen, ich würde eifersüchtig, sobald mir jemand versucht Konkurrenz zu machen – und ziemlich eingebildet klingt es auch noch – doch es stimmt nicht. Wirklich nicht. Ich kann es nur nicht leiden, wenn jemand denkt, er wüsste was über Jes.
Mädchen wie Jungs. Alle gleich schlimm. Ich habe kein Problem damit, wenn Jes mit anderen schläft. Mache ich auch – immerhin sind wir nicht zusammen – doch ich hasse es, wenn sich jemand einbildet, er könnte es zu einer Beziehung mir Jes bringen.
Es geht mir nicht darum ihn für mich zu haben. Ich will einfach nur nicht das er verletzt wird. Nicht das ich ihn vor Liebe schützen könnte – aber doch vor unwürdigen Anbetern. Wenn es einer, oder auch eine, schafft mich zu überzeugen, würde ich ihn sogar zum Altar begleiten.
Ich habe es nicht jedes mal geschafft – einige sind irgendwie durchgerutscht – deshalb hatte Jes auch schon öfter feste Beziehungen. Das er jedes mal unter einer Trennung leidet – egal von wem diese nun ausging – hält ihn nicht davon ab, sich in immer neue zu stürzen. Dummkopf! Dabei will ich doch nur das Beste für ihn. Er soll keine Tränen für dumme Menschen verschwenden, die ihn ja doch nicht verdient haben.
Jes ist was besonderes! Und bis sein Prinz, oder seine Prinzessin, kommt, bin ich – sozusagen – sein Drache. So! Jes. Ja, und Jes weiß das ganz genau. Da ist nichts mit versteckten Drohungen. Wenn ich mit Jes unterwegs bin – also fast immer, wenn ich unterwegs bin – und jemand doch tatsächlich so dumm ist, den warnenden Blick zu ignorieren, kann es durchaus passieren das ich ihn direkt vor Jes runterputze.
Ich weiß, dass ihm meine armen 'Opfer' leid tun, doch ich weiß auch, dass er mir deshalb nie ernsthaft böse war. Gemecker, Zickereien, Predigen – doch nie war er ernsthaft böse. Das ist eben Jes. Mein Jes. Und das bleibt er auch so lange bis 'Mister, oder Missis, Deckel zum Topf' endlich den Arsch herbewegt, mich überzeugt und Jes' Herz im Sturm erobert. Klar, wenn Jes nicht will, kann Mr. Perfect gleich wieder abschieben. Punkt!
Das er eines Tages kommt, dessen bin ich mir ganz sicher. Ich bin nämlich einer von den ganz dummen, die noch an die ganz große Liebe glauben. Die, mit der man sein Leben verbringen möchte, mit der man Alt werden will und ohne die man nicht mehr leben kann. Ich seufze.
Es ist Zeit Jes zu 'wecken', also rufe ich ihn schnell an. Er will nicht, aber das spielt keine Rolle. Ich muss, er muss, jeder muss – also sag ich ihm er soll sich nicht so anstellen und lege auf, sobald ich sicher bin das er keine Runde drehen wird. Dann kann ich mich wieder ganz meinen Gedanken widmen.
Das ich mich nun trotzdem verliebt habe und nicht weiß, ob das alles zutrifft, stimmt mich da nicht um. Apropos, da steht mein Problem schon … und es sieht mich an. Verdammt! Was soll das? Sonst hatte er mich doch auch nie angesehen. Scheiße!
Mein Herz schlägt schon wieder viel zu schnell und mein Kopf fühlt sich viel zu heiß an. Scheiße! Scheiße! Scheiße! Ich schaue auf den Weg unter meinen Füßen, während ich zielgerichtet ins Gebäude marschiere – und dabei prompt jemanden umrenne. Scheiße.
Es ist einer von diesen kleinen, bebrillten Strebern, der mich verängstigt anschaut – als hätte ich echt schon mal was gemacht.
„Sorry.“, murre ich nur undeutlich in seine Richtung und ziehe den kleinen schnell auf die Beine.
Hoffentlich hat der nicht gesehen wie rot ich bin. Scheiße. Alles Scheiße! Die ganze Welt ist Scheiße! Verdammt!
Drinnen angekommen – ohne noch weitere Unfälle zu verursachen – verkrieche ich mich in einem leerstehendem Klassenzimmer und hoffe bis zum Klingeln das sich ein Loch im Boden für mich auftut. Tut es leider nicht und so bin ich gezwungen mich zum Unterricht zu schleppen. Scheiße.
Das sieht in etwa so aus, als dass ich bis zum Klassenraum renne, vor der Tür aber stehen bleibe, nochmal tief Luft hole und betont cool reingehe – als sei es selbstverständlich das ich zu spät komme. Ist es aber nicht – wie mein Lehrer gleich wieder unter Beweis stellt.
„Sie sind zu spät!“
Ich zucke nur mit den Schultern und nicke.
„Haben Sie nichts dazu zu sagen?“
„Sie haben vollkommen Recht. Ich bin zu spät.“
Doch weil man es Lehrern nie Recht machen kann – und ich ziemlich gelangweilt aussehe – fühlt er sich mächtig auf den Schlips getreten. Klasse.
Ich höre einige kichern. Ja, ich weiß das mich durchaus einige für cool halten und beeindruckt sind von der Art wie ich mich verhalte. Idioten. Sollen die doch lieber mal eine eigene Persönlichkeit entwickeln.
„Nikolas Berger! Sofort vor die Tür! Ich werde nach dem Unterricht nochmal mit ihnen über ihr ungebührliches Verhalten sprechen müssen!“
Und wenn der Chef das sagt, muss ich folgen. Ohne ein Wort zu verlieren, drehe ich mich auf dem Absatz um und verlasse den Raum wieder. Vor der Tür angekommen lasse ich mich erst mal an der danebenstehenden Wand runtergleiten bis ich sitze.
Jetzt habe ich wenigstens ein bisschen Ruhe. Ich hole einen Block und einen Stift aus meiner Tasche. Wenn mir langweilig ist zeichne ich immer. Es kommen zwar keine Kunstwerke raus, aber sie helfen mir immerhin die Zeit zu vertreiben.
Nach zwanzig Minuten höre ich, wie es im Klassenraum immer lauter wird, bis unser Lehrer schließlich den lautesten Schrei ausstößt. Dann ist ruhe – kurz. Wieder entbrennt eine Diskussion. Ich verstehe nicht worum es geht, doch kurz darauf geht die Tür auf. Ich hoffe gar nicht erst, dass ich rein geholt werde – und habe verdammt recht damit.
Ein Mädchen kommt raus. Offenbar wurde sie – wie ich – aus den heiligen Hallen verbannt. Wie schrecklich! Ich verdrehe die Augen – und sehe dabei das es Marlene ist. Das ist wirklich schrecklich. Noch schlimmer wird es aber, als sie sich neben mich setzt. Scheiße!
Sie ist eine von diesen hirnlosen Modepüppchen, die alle denken, sie wären was ganz besonderes, während sie sich alle Kopieren bis zum geht nicht mehr. Massenware nennt man so was. Ist zumindest Billig.
Das schlimmste ist aber, dass sie zu denen gehört, die mich anhimmeln, weil ich ja so cool bin. Scheiße. Das blöde Weib ist schon seit der siebten hinter mir her. Als ich Jes mal von der erzählt habe, hat er mich ausgelacht. Wie nett. Scheiße.
„Wie kann der uns nur so behandeln? Das kann der doch nicht machen! Arsch! Was fällt dem eigentlich ein?“
Versuchen wir es mal mit ignorieren – vielleicht habe ich ja mal Glück.
„Hast du nichts dazu zu sagen? Ich werde dich nicht verpetzen, keine Sorge. Ich bin doch selbst sauer auf den. Übrigens fand ich es echt cool, wie du das vorhin zu dem gesagt hast. Das Gesicht, einfach genial!“
Wieder verdrehe ich die Augen. Was soll ich darauf antworten? Hmm, am liebsten würde ich ihr einfach ins Gesicht schlagen. Ob das überhaupt bis zu ihr durchkommt, bei dem ganzen Make-Up? Gelangweilt schaue ich sie an. Ich habe ja so ein Glück heute. Warum bin ich nicht im Bett geblieben? Und das ungute Gefühl das ich im Bus hatte – eine Warnung, die ich besser nicht überhört hätte. Scheiße. Jetzt ist es zu spät. Scheiße. Ich nicke ihr einfach zu. Hoffentlich reicht ihr das.
„Du bist immer so gelassen. Wie machst du das nur? Du bist der absolut coolste Typ der Schule und …“
Und sie redet noch weiter – viel weiter. Scheiße. Zumindest erwartet sie keine Antworten mehr von mir. Großartig. Hin und wieder nicke ich an der – hoffentlich – richtigen Stelle und höre ihr gar nicht mehr weiter zu.
Da ist das Unheil auch schon geschehen. Scheiße. Ich verstehe überhaupt nicht was sie von mir will, als sie mir plötzlich und ohne jeden Grund am Arm hängt. Scheiße! Was soll das?
„ … warte mal. Du bist doch mit diesem Kerl zusammen, oder? Du weißt schon, der, der dich immer anspringt. Dieser Verrückte. Oder bist du so einer der zweigleisig fährt? Aber eine Beziehung zwischen zwei Kerlen kann ja auch nicht gut gehen, ist ja nichts richtiges. Weißt du, Nikki, mich kannst du auch in den Arsch-“
Mit jedem Wort das sie sagt, redet sie sich immer weiter in ihn verderben – doch ich glaube jetzt zu verstehen, warum sie da hängt, wo sie eben hängt. Verdammt! Sie hat bestimmt nach einem Date – oder – noch schlimmer – nach einer Beziehung gefragt. Ich stehe auf. Sie sieht ganz überrascht zu mir hoch und scheint nicht zu verstehen in welcher Situation sie sich befindet. Sie steht ebenfalls auf und harkt sich wieder bei mir unter.
„Was? Willst du es etwa jetzt gleich besorgt haben?“
WAS?! Oh, Scheiße! Spricht sie etwas von Sex? Sex mit … ihr? Scheiße! Ich habe doch nicht wirklich dazu genickt, oder? Bitte sag mir doch jemand dass das ein schlechter Witz ist. Scheiße! Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich sie an bis ich mich wieder gefasst habe.
Die scheiß Schlampe lacht nur und presst ihre hoch geschnallten Titten – die ich eh hässlich finde – noch mehr an mich. Mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken mit der zu schlafen. Ich reiße mich los und plötzlich sieht sie mich ganz geschockt an.
Drei endlose Sekunden dauert es ehe ich kapiert habe was eben passiert ist. Ich habe ihr eine Ohrfeige gegeben – ihre Wange ist noch ganz rot. Scheiße!
„Marlene, das tut mir leid! Ich wollte das nicht! Bitte, verzeih mir!“
Mit diesen Worten reiße ich die Tür zum Klassenzimmer auf.
„Verzeihung, mir ist furchtbar schlecht. Ich gehe nachhause.“
Auf eine Antwort warte ich nicht, denn es war keine Lüge. Mir ist wirklich verdammt schlecht. Diese Übelkeit habe ich schon seit heute Morgen, doch nun überfällt sie mich geradezu. Scheiße! Was habe ich getan? Scheiße!
Ich renne in die Jungentoilette und muss mich tatsächlich übergeben, sobald ich das Waschbecken erreicht habe. Scheiße. Scheiße. Scheiße! Wer hätte das gedacht? Mir ist so verdammt schlecht, ich fühle mich ganz wacklig auf den Beinen und so schwach. Als ich in den Spiegel sehe, blickt lediglich ein Gespenst zurück – denke ich zumindest im ersten Moment, denn ich bin unglaublich blass. Scheiße.
Das kann doch nicht nur ein schlechter Tag sein. Ich fühle mich ehr so, als würde man mich für jeden Kleinen Fehler bestrafen, den ich je im Leben begangen habe. Mir ist so schlecht! Ich muss mich gleich nochmal übergeben. Und eben weil ich heute für alles bestraft werde, kommt genau in diesem Augenblick er rein. Scheiße. Er hat mich genau im Blick und kommt auf mich zu. Verdammt, ich will nicht das er mir beim kotzen zusieht! Das darf er nicht – das will ich nicht.
Ich drehe mich um und sehe nur sein Gesicht. Mein Herz, mein Atem, alles spielt verrückt – doch nicht wie sonst. Ich falle, aber ich bemerke es erst als ich den Boden schon direkt vor meinem Gesicht habe. Meine Beine sind einfach eingeknickt. Scheiße. Alles wird schwarz.
Als ich wieder zu mir komme, ist alles weiß. Weiße Wände, weiße Decke, weiße Bettwäsche, selbst die Person, die im Bett neben mir liegt ist weiß. Als gehöre sie zum Inventar – aber daran will ich lieber nicht denken. Immerhin ist mir klar geworden, wo ich bin. Im Krankenhaus.
Scheiße. Was zum Teufel mache ich hier? Angestrengt versuche ich mich zu erinnern, was geschehen ist, doch alles liegt wie im Nabel. Scheiße. So in Gedanken hätte ich beinahe die Tür überhört.
Langsam – denn mir ist irgendwie ein wenig schwindlig – drehe ich mich um und sehe ihn mit einem Kaffeebecher in der Hand. Schlagartig fällt mir alles wieder ein. Die Geschehnisse und die Übelkeit – die sich auch gleich Luft machen will. Aus Reflex beuge ich mich über den Bettrand und übergebe mich. Direkt vor ihm – schon wieder. Scheiße. Wie soll ich nur damit leben?
Zumindest etwas gutes ist passiert. Irgend ein guter, weiser Mensch hat direkt neben das Bett eine Schüssel gestellt – die ich glücklicherweise sogar getroffen habe. Wenigstens das. Scheiße. Alles Scheiße. Ich kann ihm jetzt doch nie wieder in die Augen sehen – auch wenn ich das, ganz genau genommen, vorher auch schon nicht konnte – aber jetzt hat dies auch noch einen anderen Grund. Scheiße! Verdammte Scheiße! Was mache ich jetzt?
„Ist es jetzt ein wenig besser?“
Scheiße! Er spricht – mit mir! Was soll ich jetzt machen? Meine Atmung wird schneller, flacher – aber nicht wie sonst, wenn ich in seiner Nähe bin. Ich hyperventiliere! Scheiße! Scheiße! Scheiße!
Verdammt! Mit der Reaktion hat er wohl nicht gerechnet. Ich kann ihn nur weiter Anstarren. Ich habe das Gefühl zu ersticken. Er fasst sich. Ich sehe wie er plötzlich eine Tüte in der Hand hat und mir diese auf Mund und Nase drückt. Mit der anderen Hand streicht r über meinen Rücken auf und ab.
„Psst. Es wird alles wieder gut. Du bist im Krankenhaus. Psst“, versucht er es mit beruhigender Stimme – und das funktioniert sogar.
Zwar muss ich aufpassen, nicht in Ohnmacht zu fallen, da er mich tatsächlich berührt, aber das fällt mir im Moment nicht sonderlich schwer. Die Übelkeit, die Kopfschmerzen und die Todesangst von eben, machen als Türsteher einen sehr guten Dienst.
Im Moment bin ich einfach zu schwach für Liebes-Anfälle. Er setzt sich zu mir ans Bett, nimmt die Tüte beiseite und streicht mir weiter über den Rücken. Ohne das ich ihn Frage, beginnt er zu erzählen.
„Du hast eine echt schlimme Grippe erwischt, meinte der Arzt. Deshalb musstest du dich in der Schule auch übergeben und gerade als ich die Toilette betreten hatte, bist du einfach in dir zusammengesackt. Ich konnte dich grade noch so auffangen, leider hast du dir trotzdem den Kopf gestoßen. Tut mir Leid. Ich war dann ehrlicherweise ziemlich überfordert. Du hast am Kopf geblutet und wolltest einfach nicht wieder aufwachen, also habe ich einen Krankenwagen gerufen. Du bist so blass …“
Er sieht mich an – sieht mich einfach nur an. Seine Hand streicht von meinen Rücken hoch zu meiner Wange. Er murmelt etwas vor sich hin, doch das verstehe ich nicht. Eigentlich verstehe ich überhaupt nichts. Scheiße.
Ich lasse mich nach hinten in die Kissen sinken – seine Hand ist noch kurze Zeit in der Luft, genau an der Stelle, wo sie meine Wange berührte, so als ob er sie immer noch spürt. Verrückt. Hätte mir das heute Morgen einer gesagt – den hätte ich sofort einweisen lassen. Auch jetzt – wo es doch wahr ist – kann ich es immer noch nicht richtig fassen.
Da sitzt er also – der Typ, dem ich seit der sechsten Klasse hinterher renne – und kümmert sich um mich. Scheiße. Was mache ich denn jetzt? Ich sollte es genießen, doch irgendwie geht das nicht. Viel zu irreal wirkt die gesamte Situation auf mich.
Ich sehe ihn einfach nur an. Nichts weiter tut ich – einfach ansehen. Er sieht zurück. Eine ganze Weile – bis er sich langsam unwohl zu fühlen scheint. Zum ersten mal – seit ich ihn das erste mal gesehen habe – habe ich mich in seiner Gegenwart völlig unter Kontrolle. Ich fühle mich völlig ruhig – als würde ich einfach darüberstehen, als würde mich diese Situation gar nicht betreffen.
Kein rot werden, keine Atemnot, kein Herzrasen – was ist nur los mit mir? Wenn die Schmerzen nicht wären, wäre alles perfekt. Langsam schließe ich die Augen. Ich bin so unbeteiligt. Die Schmerzen dumpfen ab. Ich höre seine Stimme – aber ich verstehe keines seiner Worte. Was ist los?
Ich schwebe.
Als ich diesmal wieder aufwache ist alles schwarz. Mein Kopf pocht ganz dumpf – es nervt, lässt sich aber aushalten. Ich sehe ein Licht – gehe darauf zu. Es will einfach nicht näher kommen. Was jetzt? Ich renne – schneller, immer schneller und schneller. Ich schaue zu Boden – ein gepflasterter Weg.
Wo bin ich? Ich kann nicht anhalten. Die Landschaft fliegt an mir vorbei. Ich versuche wieder anzuhalten – es funktioniert nicht. Ich habe Angst vor dem Fall – große Angst. Was soll ich nur machen? Ich mache immer größere Schritte – hoffe dadurch langsamer werden zu können. Ich schaffe es nicht. Ich bin verloren. Meine Beine scheinen nicht mehr mir zu gehören.
Was wird nun geschehen? Werde ich Fallen? Oder immer weiter rennen? Ich weiß es nicht. Ich habe Angst. Eine Stimme flüstert mir zu.
„Hab keine Angst. Alles wird gut. Ich bin da. Ich bin immer für dich da. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich halte dich, wenn du fällst.“
Wessen Stimme ist das? Ich kenne diese Stimme – doch ich erkenne sie nicht. Wer spricht zu mir? Wessen Arme sind das, die sich da so sanft um meinen Körper legen? Meine Beine bewegen sich langsamer. Ich stehe.
Wer umarmt mich da? Ich sehe niemanden. Wie kann das sein?
Ich reiße die Augen auf. Mein Herz rast. Wieder bin ich im Dunkeln, doch dieses Mal ist es anders – ganz anders. Ich liege. Mir ist schlecht. Mir ist heiß. Das ist real. Kein Traum – so wie eben. Ich bin wieder im hier und jetzt.
Doch wo ist das hier und jetzt? Und wie spät ist es da? Ich suche nach meinem Wecker, der sonst immer auf meinem Nachttisch steht – diesmal jedoch nicht da ist. Kurz darauf fällt mir auch ein, warum mein Wecker nicht da steht, wo er immer steht. Ich liege nicht da wo ich immer liege. Der Wecker hat seinen Posten nicht verlassen – ich hingegen schon. Ich bin im Krankenhaus. Allein. Mitten in der Nacht. Scheiße.
Ich stehe auf – will den Lichtschalter suchen – doch sobald mein ganzes Gewicht auf meinen Beinen ruht, knicken diese einfach weg. Ich falle. Scheiße. Mir tut der Kopf weh. An meiner Schläfe wird es ganz warm. Ich bin müde.
Die Tür geht auf. Es wird hell im Zimmer. Ich schließe die Augen. Zu hell. Eine aufgeregte Stimme neben mir, fragt mich, ob alles in Ordnung ist. Ich ignoriere sie – versuche einfach aufzustehen. Ich will wieder in das Bett – das so gar nicht wie das meine ist, oder das von Jes. Scheiße.
Wo ist Jes? Warum ist er nicht bei mir? Warum bin ich allein? Allein hier? Scheiße. Jes. Ich will zu Jes. Ich will diesen beschissenen Tag einfach nur vergessen. Scheiße. Die Person mit der Stimme – wie bin ich doch wieder kreativ – nimmt meinen Arm und legt ihn über ihre Schulter.
Sie ist also gewillt mir zu helfen. Großartig. Ich will ihre Hilfe nicht. Ich brauche keine anderen Menschen. Die, die ich um mich herum habe, sind mehr als genug. Ich versuche mich loszureißen – und falle dabei wieder um. Scheiße.
„Verdammt!“, höre ich die Stimme plötzlich rufen.
Eine Mädchenstimme. Meine Wange wird mit einem mal furchtbar heiß. Ich kann nur vermuten, dass sie mir soeben eine gescheuert hat, weil ich momentan eh nur spartanisch mitbekommen was um mich rum vorgeht.
Ich öffne die Augen – langsam. Es blendet. Scheiße. Doch ich versuche es weiter – auch wenn ich immer müder werde. Das ist mir alles zu viel. Ich will hier weg. Einfach weg. Nachhause. Zu Jes. Oder zu Jes nachhause. Egal, ich will nur hier weg.
Die Augen nun offen, sehe ich ein Mädchen, das mit Tränen in den Augen vor mir steht. Wütend sieht sie mich an. Was habe ich ihr denn getan? Und was macht sie bitte, mitten in der Nacht, ganz allein im Krankenhaus?
„Nun lass mich dir doch helfen, du Esel!“
Verstehe. Und wie will sie mir helfen? Ich sehe sie weiter an. Die braunen, langen Haare hat sie hinten in einem Zopf zusammengebunden und ihre Klamotten, sind alles weiße Krankenhausklamotten. Vermutlich eine Schülerin. Vermutlich eine ganz frische Schülerin, wenn ich mir die Reaktion so ansehe.
„Was ist?“, fährt sie mich mit scharfem Ton an.
Ich habe keine Lust ihr zu antworten – oder überhaupt jetzt zu sprechen. Davon würde ich nur schlechte Laune bekommen. Solange ich nichts sage, ist es so als würde ich in einer Blase schweben – emotionslos.
Warum das so ist, weiß ich auch nicht. Fakt ist, das war schon immer so. Ich sehe sie einfach weiter an – war immerhin schon schwer genug, die Augen zu öffnen. Ich bin so müde. Jes. Wieder greift das Mädchen nach meinem Arm und legt ihn sich über die Schulter.
Wann hat sie sich denn neben mich gekniet? Egal, ich entreiße ihr meinen Arm energisch wieder und starre sie weiter an. Diesmal finster, nicht mehr gleichgültig.
„Idiot!“, bekomme ich an den Kopf geworfen.
Ich versuche nochmal aufzustehen. Fast habe ich es geschafft, als meine Beine wieder nachgeben. Gerade noch rechtzeitig stützt mich das Mädchen. Als ich wieder sicher zu stehen glaube, will ich mich wieder los machen, doch diesmal hält sie mich fest und bugsiert mich zum Bett.
Widerstand ist zwecklos. Ich bin zu schwach. Mir ist zu schlecht. Scheiße. Ich muss wieder kotzen. Keine Ahnung wo sie die nun wieder her hat oder woher sie wusste das ich kotzen würde – aber sie hält mir gerade noch rechtzeitig eine Kotztüte hin.
Da ich nichts im Magen habe wird aus dem Kotzen, allerdings ehr ein Spucken und Würgen. Mit Magensäure. Lecker. Scheiße. Das Mädchen erhebt sich von der Bettkante – auf die sie sich mit mir gesetzt hat – und verschwindet aus dem Raum. Endlich allein.
Doch zu früh gefreut. Keine zwei Minuten später – nach meinem besonderen Zeitgefühl zumindest – kommt sie wieder. Mit einem erste Hilfe Koffer – großartig. Scheiße. Sie setzt sich wieder neben mich – mit dem Koffer auf dem Schoß – und streckt mir ihre Hand hin.
Eine kleine, gelbe Tablette befindet sich darin. Fragend – misstrauisch – sehe ich sie an.
„Gegen deine Übelkeit, du Esel! Glaubst du ich will dich vergiften?“
So wie die drauf ist, würde ich der das sogar zutrauen – doch das sage ich ihr lieber nicht.
Meine Wange tut immer noch weh – passt hervorragend zu den phantastischen Kopfschmerzen. Ich sehe abwechselnd in ihr Gesicht und auf ihre Hand. Klar, verhalte ich mich wie ein Trottel. Ich meine, ich bin hier im Krankenhaus – da werde ich schon nicht vergiftet werden – glaube ich.
Aber ich tue mich schwer damit, Fremden zu vertrauen – besonders, wenn diese schon gewalttätig gegen mich vorgegangen sind. Ja, ich weiß selbst das ich daran nicht gänzlich unschuldig war. Ich Trottel! Scheiße. Alles Scheiße. Jes.
Seufzend nehme ich die Tablette und spüle sie mit einem Glas Wasser – das sie vermutlich aus dem Ärmel gezaubert hat – herunter. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie den Koffer öffnet und fachmännisch darin herumwühlt bis sie – soweit ich das beurteilen kann – alles nötige gefunden hat. Wofür auch immer.
Gleich darauf wird mir klar wofür. Um mich zu foltern – ich meine – um mich zu verarzten, natürlich. Scheiße. Jes. Mit großen Augen sehe ich sie an, wie sie Desinfektionsmittel auf ein Wattepad sprüht und mir damit gefährlich nahe kommt.
„Bleib doch mal still sitzen, du Esel!“, keift sie mich wieder an.
Überraschenderweise habe ich gar nicht mitbekommen, wie ich mich immer weiter von ihr weg gelehnt habe.
Jetzt merke ich es aber, da mir diese Position – jetzt wo ich mir dieser auch bewusst bin – doch sehr im Rücken zieht. Das ist mir zu anstrengend, also lasse ich mich nach hinten fallen. Keine gute Idee, wie ich gleich darauf bemerke.
Die verdammte Wand und mein bescheuerter Kopf müssen ja auch kollidieren. Habe ich heute nicht schon genug mitgemacht? So eine Scheiße. Scheiße. Scheiße. Scheiße.
„Au! Verdammt!“
Wenigstens sagt sie diesmal nichts dazu. Dafür kommt sie aber wieder näher – mit diesem verdammten Wattepad. Das wird brennen. Das will ich nicht. Ich habe doch schon genug zu leiden. Das muss nicht auch noch sein – egal, ob ich mich wie ein Kleinkind anstelle.
Ich weiche wieder aus, diesmal sogar bewusst. Da ich allerdings weiß, das aufstehen keine Option ist und mein Kopf irgendwann so tief, wie nur möglich, in der Matratze steckt, gibt es schon bald kein entkommen mehr – und sie will mir ja nur helfen. Das ich nicht lache! Die ist böse!
Doch eine Flucht kommt leider nicht in Frage, also muss ich die Wattepad-Tortur über mich ergehen lassen. Wie voraus gesagt, brennt das Zeug höllisch. So eine Scheiße. Verdammte Scheiße. Jes. Ja, Jes. Der würde mich jetzt vermutlich auslachen. 'Wenn du dich schon wieder so anstellen kannst, kann es dir ja nicht allzu schlecht gehen.', würde er sagen. Das weiß ich. Ich kann es förmlich hören. Scheiße. Jes. Verdammt.
„War doch gar nicht so schlimm, oder?“
Pha! Wenn die wüsste! Ich sterbe hier fast und die meint auch noch, es wäre nicht so schlimm gewesen. Blöde Kuh! Mit einem – in meinem Zustand, sehr eindrucksvollen – Todesblick, sehe ich sie an.
Und sie? Verdammt, die Schnepfe ignoriert das einfach! Scheiße. Gerade als ich ihr ein nett gemeintes 'Verreck doch!' an den Kopf werfen will, kommt alles wieder hoch. Scheiße. Das heißt nichts – nichts kommt mir hoch, weil ich nichts im Magen habe. Scheiße.
Da liege ich jetzt also – in total verquerter Stellung im Bett und würge vor mich hin. Scheiße. Mir geht es wirklich so richtig Scheiße. Ab und an kommt mit dem Würgen auch noch etwas Magensäure mit hoch.
Die verteilt sich jetzt schön auf dem Boden. Ich will sterben. Das ist so demütigend. Das Mädchen springt vom Bett und verschwindet wieder irgendwo hin. Und ich? Ich bin wieder allein. Allein mit meiner wunderbaren, grünen Kotzlache. Klasse. Scheiße. Alles Scheiße.
Verdammte Scheiße. Jes. Ich will zu Jes. Einfach zu Jes. Noch immer würgend und spuckend bemerke ich, wie das Mädchen wieder in mein Zimmer kommt. Was, ist es so toll mir beim Kotzen zu zusehen?
Offenbar, denn sie hält mir wieder eine Tüte vor die Nase und beginnt damit das andere wegzuwischen. Eklig – und peinlich! Es soll mich doch keiner sehen, wenn ich so schwach bin. Doch wären kann ich mich, bei aller Liebe, nicht mehr – nicht in diesem Zustand.
Was hatte sie vorhin noch gesagt? Eine Tablette gegen Übelkeit? Das ich nicht lache! Wahrscheinlich, war die ehr dafür, dass es mir noch schlechter geht. Dieses Monster!
„Starr mich nicht die ganze Zeit so blöd an!“
Von wegen, ich starre blöd. Was fällt der eigentlich ein? Dumme Kuh! Doch anstatt ihr zu antworten, kommt mir nur wieder Galle über die Lippen. Scheiße. Mir ist so schlecht und mein Kopf pocht auch ununterbrochen. Ich bin so müde. Was soll ich nur machen?
„Ziege!“, kommt mir noch als letztes kraftlos über die Lippen, ehe mir die Augen zufallen.
„Volltrottel!“, meckert sie gleich wesentlich deutlicher zurück.
Doch anstatt mich jetzt in Frieden schlafen zu lassen, schüttelt und rüttelt sie an mit herum. Erst leicht, dann – als ich versuche sie zu ignorieren – immer stärker.
„Hey! Los beweg dich! Ich will ja nicht meckern wenn du schlafen willst, aber so kann ich dich auf keinen Fall liegen lassen.“
'Doch' schießt mir sofort durch den Kopf, aber ich will einfach nichts mehr machen. Keinen Muskel bewegen, nicht Sprechen, nichts – gar nichts. Nur ein Brummen bekommt sie. Ich bin so erledigt, dass das schon fast zu viel für mich ist. Aber – wie könnte es auch anders sein – zeigt sie keinen Funken Mitleid.
Sie zieht und zerrt so lange an der Decke herum, bis diese unter mir vorkommt. Das es mich dabei kalt erwischt, merkt sie scheinbar gar nicht – oder ignoriert es. Ich persönlich tippe ja auf letzteres. Jedenfalls geht mein griff sofort wieder mit der Tüte zum Mund.
Welch eine Anstrengung, wo ich doch nur schlafen will. Das beste ist aber, das gerade als ich denke 'Es ist vorbei.', es eben nicht vorbei ist. Grausame Hexe! Man könnte jetzt denken, 'Was will sie jetzt noch machen, außer vielleicht die Decke über mich legen?'. Tja, offenbar gefällt der werten Dame nicht, wie ich liege.
Von meiner Seite her, kann sie keine Hilfe erwarten, das weiß sie – aber das sie so weit geht hätte ich nicht gedacht. Einfach unglaublich! Mit scheinbaren Leibeskräften zieht und schiebt, drückt und rückt sie so lange an mir herum bis sie zufrieden ist.
Gefühlte Stunden also – in denen ich mehr als nur einmal beinahe aus dem Bett gefallen wäre, wenn ich mich nicht immer im letzten Augenblick doch noch irgendwie abgefangen hätte. Dass das an den Kräften zerrt ist klar, aber wäre ich Madames Wunsch nicht nach gekommen, läge ich jetzt auf dem Boden.
Keine schöne Alternative und meine Kopfschmerzen würden mir danken, doch nun bin ich endgültig so erledigt, dass mich nichts mehr im Diesseits hält. Ich bin zu müde, zu erledigt, zu schwach um noch irgendetwas zu machen. Im Nachhinein betrachtet wäre es wesentlich leichter gewesen sich ihr einfach zu fügen, aber nein, ich müsste ja unbedingt so stur sein.
Jetzt tut mir wirklich alles weh – mein Kopf, mein Bauch, meine Muskeln, mir ist schlecht – aber das ist jetzt alles egal. Es dunkelt ab, wird dumpf, alles halb so schlimm. Ein letztes 'Du Esel!', vernehme ich noch, bevor ich endgültig ins Traumland übergehe, doch darauf antworte ich nicht mehr, nehme es einfach in stummen Einverständnis hin.
Ich bin ein sturer Esel, nicht wahr, Jes? Du sagst es mir jedenfalls oft genug. Jes. Wo bist du, Jes? Warum bist du nicht hier, Jes? Scheiße. Jes. Scheiße.
Als ich wieder aufwache, höre ich als erstes, wie die Vorhänge aufgezogen werden und es daraufhin viel zu hell im Zimmer wird. Ich drehe mich auf die andere Seite und lege mir einen Arm über die Augen, in der Hoffnung so noch ein wenig schlafen zu können.
Doch natürlich – wie könnte es auch anders sein – wenn ich etwas möchte tritt das Gegenteil ein. Ganz toll – und genau deshalb werde ich ehr unsanft an der Schulter gerüttelt.
„Herr Berger, sie müssen aufwachen. Es ist schon sechs Uhr, Zeit zum Waschen.“
Sechs Uhr? Scheiße. Ich will schlafen. Wer steht denn bitte schon freiwillig um sechs Uhr auf? Und überhaupt 'Herr Berger.'? Gestern klang das noch ganz anders.
„Herr Berger, aufwachen! Wir haben auch noch anderes zu tun, als sie zu Wecken.“
Ignorieren wird mich hier also auch nicht weit bringen – wobei mir das, nach gestern, eigentlich hätte klar sein müssen. Müde, wie ich bin, nehme ich also langsam den Arm runter und setze mich vorsichtig auf.
Mein Kopf bringt mich um, aber mir ist zum Glück nicht mehr übel. Langsam öffne ich die Augen, was gar nicht so leicht ist, denn hier drin ist es viel zu hell. Jeder Strahl der auf meine Netzhaut trifft löst wahre Donnerschläge in meinem Kopf aus.
Als ich es dann endlich geschafft habe, erschrecke ich mich fast zu Tode – dadurch schlägt mein Herz viel zu schnell und mir wird wieder schwindlig – Scheiße. Was da vor mir steht, ist keineswegs das grausame Mädchen, dass mich mitten in der Nacht mehrfach beinahe aus dem Bett geworfen hätte.
„Ganz ruhig, Herr Berger. Sie sind hier im Krankenhaus. Wissen sie das noch? Schön langsam Atmen.“
Hält die mich für bescheuert? Ich habe mich nur fast zu Tode erschreckt, weil plötzlich ein Wal vor meinem Gesicht hing – anstatt der verrückten, die ich erwartet hatte – und auch jetzt noch ist mir die fette Schwester viel zu nahe.
Deshalb – und weil mir schwindlig ist – lasse ich mich wieder in die Kissen fallen.
„Verwirrtheitszustand, vermutlich infolge der Kopfverletzung.“, höre ich sie zu sich selbst sagen, während sie das aufschreibt.
„Was?!“, entfährt es mir.
Ich bin doch nicht verwirrt! Zumindest nicht so, dass es bedenklich wäre. Wer würde sich denn nicht erschrecken, wenn das erste, dass man nach dem aufwachen sieht, das Gesicht einer völlig fremden Person wäre, die viel zu weit in die Privatsphäre eingedrungen ist? Jeder, oder?
„Ah, Herr Berger. Ich hatte schon befürchtet ihr Sprachzentrum sei beeinträchtigt worden.“
Naja, man könnte wohl sagen, ihr Anblick habe mich im ersten Moment paralysiert – aber das hat reichlich wenig mit meinem Kopf zu tun.
Doch das sollte ich ihr besser nicht so sagen – schließlich haben mich die Schwestern hier quasi in der Hand. Ich lese ihr Schild.
„Entschuldigen sie bitte, Schwester Claudia. Ich bin des öfteren nach dem Aufwachen etwas verwirrt, dass hat also wirklich nichts mit meinem Sturz zu tun, an den ich mich auch noch erinnere. Ich brauchte nur eben einen Moment um richtig wach zu werden. Verstehen sie bitte, dass ich nicht oft in einer, mir völlig fremden, Umgebung aufwache und deshalb kurz überlegen musste, was passiert war. Ich bin es auch nicht gewohnt, gleich darauf in ein fremdes Gesicht zu blicken, weshalb ich mich zugegebener maßen gerade sehr erschrocken habe.“
Ja, ich kann auch richtig nett sein, wenn ich will – oder auch nicht. Ich will nicht nett sein, aber wer weiß was die mit mir machen würde. Mich fressen – vermutlich. Jedenfalls hoffe ich, dieser Text hat sich für mich weitestgehend gelohnt.
„Ich verstehe. Gut, Herr Berger, würden sie sich bitte so weit entkleiden, wie sie können. Bei dem Rest helfe ich ihnen dann.“
Eins, zwei, drei Sekunden lang, kann ich nichts sagen, dann rutscht mir, wie von allein, ein 'Wie bitte?' heraus. Will der Wal mich jetzt etwa vergewaltigen, oder was?
„Es ist Zeit zum Waschen. Wir müssen uns jetzt wirklich beeilen, die Zeit läuft.“
Oh, nein! Das ist jetzt nicht ihr ernst, oder? Bitte sag jemand dass das ein Witz ist! Die Alte will doch nicht wirklich, dass ich mich vor der Nackig mache! Nein. Nein! Nein!!
„Das wird nicht nötig sein, Schwester Claudia. Ich bin in der Lage mich selbstständig zu Waschen. Wären sie nur so freundlich mir zu sagen wo sich das Bad befindet?“
„Sind sie sich sicher? Ich habe den Sturzbericht dieser Nacht schon gelesen.“
„Ganz sicher. Sie brauchen sich da um mich wirklich keine Sorgen zu machen, dennoch, wenn sie darauf bestehen, würde ich gerne jemanden anrufen, der kommt um auf mich aufzupassen und zur Not auch Hilfe holt. Wobei ich ehrlich gesagt nicht davon ausgehe, dass das nötig sein wird.“
Sie atmet kurz durch, sieht auf ihre Uhr und nickt dann langsam.
„Ich hoffe ihnen ist klar, dass das alles auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit gehen kann und ich mich erst mal persönlich davon überzeugen muss, dass diese Person tatsächlich in der Lage ist sie zu stützen.“
Ich nicke ihr zu.
„In Ordnung, Herr Berger. Ihre Sachen liegen im Schrank und das Bad befindet sich hinter dieser Tür. Denken sie bitte daran von beiden Seiten abzuschließen.“
Wieder nicke ich, dann verlässt der Wal endlich das Zimmer. Ich will nach Jes' Handy, in meiner Tasche greifen um eben diesen anzurufen, dann erst begreife ich wirklich was die Schwester sagte. 'Ihre Sachen liegen im Schrank.'. Scheiße.
Diesmal ganz bewusst sehe ich an mir runter – und bereue es auch gleich wieder. Scheiße. Meine Sachen liegen im Schrank. Das bedeutet, es sind nicht meine Sachen, die ich im Moment trage. Logisch – eigentlich – denn ich besitze keine hässlichen Krankenhaushemden, die man hinten zubindet. Und das wiederum bedeutet, dass mich jemand umgezogen hat. Vermutlich als ich bewusstlos war.
Scheiße. Scheiße. Scheiße! Wenigstens habe ich meine Boxer noch an. Kann es noch schlimmer werden? Ja! Das Handy ist in meiner Hosentasche, die sich – unglaublicher weise – an meiner Hose befindet, die im Schrank liegt. Ganz toll. Und jetzt? Jes. Verdammt. Jes.
Alles hilft nichts – ich muss aufstehen. Tief hole ich Luft und bete innerlich – wobei ich nie besonders religiös war – dass es nicht so ausgeht, wie Gestern. Ich setze mich also wieder auf, wobei mir auch diesmal etwas schwindlig wird. Zum Glück ist es nicht so schlimm wie Gestern.
Ich lasse ein Bein nach dem anderen aus dem Bett gleiten. Natürlich, wird genau in diesem Moment die Tür aufgerissen. Klopfen? Was ist Klopfen? Meine Mutter kennt so was nicht – denn genau diese steht, zusammen mit meinem Vater, in der Tür.
Doch nicht lange. In wenigen Sekunden – die mir nicht reichen, um mich von dem Schock zu erholen – ist meine Mutter schon bei mir und nimmt mich in den Arm. Beide setzen sich neben mich, links und rechts, aufs Bett.
Wie zum Teufel, kommen die Beiden auf die Idee mich , kurz nach sechs Uhr morgens hier, im Krankenhaus, zu besuchen? Wer hat die überhaupt um die Zeit hier rein gelassen? Was ist mit Besuchszeiten? Scheiße. Alles Scheiße. Jes.
„Mensch, Kind. Was machst du nur immer? Wie konntest du dir denn so eine Grippe einfangen? Warum hast du nicht gesagt, dass es dir nicht gut geht?“
Sie zieht mich näher zu sich und ich lehne mich gegen ihre Schulter. Selbst mein Vater, streicht mir durch das Haar.
„Junge, wir machen uns doch Sorgen.“
Ja, das weiß ich doch. Meine Eltern sind sehr liebevoll und kümmern sich rührend um mich – ganz besonders, wenn ich Krank bin.
„Nikki, was glaubst du eigentlich, wie es uns ging, als das Krankenhaus angerufen hat und sagte, unser Sohn sei mit dem Krankenwagen von der Schule abgeholt worden? Wir sahen schon das aller schlimmste vor uns und sind dann sofort ins Krankenhaus gefahren. Zum Glück haben die uns gleich gesagt, dass das ganze nicht so ernst ist. Welch eine Erleichterung! Ach, und sag mal, wer war eigentlich der Junge, der die ganze Zeit bei dir im Zimmer saß?“
Während ihrer Erzählung hatte sie mich immer weiter an sich gedrückt und mittlerweile fällt mir das atmen relativ schwer. Meine Mom in rage ist schon ein hartes Pflaster – besonders, da mir der letzte Satz die röte ins Gesicht treibt.
Selbstverständlich entgeht ihr das nicht. Geradezu verschwörerisch – was absolut lächerlich ist, da sie meinem Vater sowieso alles erzählt – beugt sie sich näher zu meinem Ohr und fragt mich leise.
„Nun sag schon. Er war es, oder? Einen hübschen Jungen hast du dir da ausgesucht und er saß die ganze Zeit bei dir, bis Jes kam.“
Ich schüttele den Kopf – wollte widersprechen. Wie konnte ich nur so dumm sein und denken, mein Einwand würde akzeptiert werden?
„Wenn du es mir nicht sagen willst, frage ich eben Jes.“, bestimmt sie.
Ich bin machtlos, schutzlos, den Beiden eiskalt ausgeliefert. Jes und meine Mutter verstehen sich, für meinen Geschmack, manchmal etwas zu gut. Ich weiß genau, dass sie ihn fragen würde und ich weiß leider auch genau, dass er es ihr sagen würde. Schöne Scheiße.
Wie kommt es eigentlich, dass ich bei jedem, mit dem ich zu tun habe, machtlos bin? Oder anders. Gegen Jes bin ich machtlos, der Rest weiß nur zu gut, wie er diesen Umstand für sich nutzen kann – und das ich eigentlich gar nicht so schlecht und böse bin, wie ich immer vorgebe – nicht das ich das auch jemals laut zugeben würde.
So oder so muss ich mich meinem Schicksal stellen, also nicke ich jetzt brav. Würde sie Jes fragen, käme noch die Sache mit der Nummer raus – und das will ich ganz sicher nicht. Zwei gegen mich, wäre ja noch schöner. Das wäre fatal. Scheiße. Einfach nur Scheiße.
Dabei fällt mir ein, es gibt doch einen Grund, weshalb ich hier sitze.
„Mom, könntest du mir bitte das Handy holen? Es müsste im Schrank sein, in einer der Hosentaschen.“
Und schon bin ich aus ihrem Anakonda-Griff befreit.
„Also wirklich, Nikki. Wie kann man nur so viel Müll in den Taschen haben?“
Ich verdrehe die Augen. Klar, dass das jetzt wieder kommt.
„Ich könnte mir ja auch eine Handtasche zulegen.“, meine ich sarkastisch und verdrehe dabei wieder die Augen.
Wenigstens würden die in der Schule mich dann nicht mehr für einen Auftragskiller halten – denke ich – dennoch, auf das Gelächter kann ich gut verzichten.
So wie auf das meiner Mutter und selbst mein Vater muss bei der Vorstellung schmunzeln.
„Eine in rosa würde dir sicher stehen.“
Ja, meine Mom ist wiedermal eine von den ganz lustigen. Jetzt hat sie immerhin das Handy gefunden und gibt es mir.
Das kleine leuchtende Display reißt meine Kopfschmerzen, geradezu, wieder in den Vordergrund und auch der Schwindel macht sich wieder bemerkbar. Zu meiner großen Erleichterung muss ich nicht lange nach der Nummer suchen, da ich gleich der erste in seiner Kurzwahlliste bin.
Drei mal lasse ich es Klingeln, dann lege ich wieder auf. Was anderes hätte sein aktueller Kontostand, von 45 Cent, wohl auch kaum verkraftet. Das ich ihn soeben geweckt haben müsste, wird mir erst klar als ich die Uhrzeit auf dem Handy sehe. 6.24 Uhr. Er bringt mich um.
Jes verschläft jeden Tag. Würde seine Mom nicht jeden Morgen halb sieben nochmal nachsehen, würde er vermutlich erst gegen vier in der Schule eintreffen – die dann natürlich schon aus ist.
Als Jes' Handy in meiner Hand anfängt zu Klingeln, befürchte ich einen kurzen Moment schon, er wird versuchen mir durch das Handy den Kopf abzureißen – doch dann erinnere ich mich wieder weshalb ich angerufen habe. Er wird sich viel zu große Sorgen machen, als das er mich jetzt anschreien würde.
Dabei muss ich glatt Lächeln. Kaum habe ich abgenommen, komme ich nicht mal dazu 'Hallo.' zu sagen, weil Jes sich sofort Luft macht.
*Nikki! Nikki! Bist du verrückt? Wie kommst du dazu mir so einen Schrecken einzujagen? Bist du noch ganz bei Trost? Wie geht es dir? Gut, hoffe ich! Oh, Nikki! Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht! Du hast Gestern nur geschlafen. Ich bin fast gestorben! Die haben mich doch eiskalt rausgeschmissen! Glaubst du das? 'Bitte kommen sie Morgen wieder.' Verdammte-*
„Jes. Jes, kannst du bitte einfach kommen, Jes? Nach der Schule, ja?“
*Sicher.*
Dann lege ich einfach auf. Keine Ahnung woher das auf einmal kommt, aber plötzlich ist mein verlangen Jes zu sehen so groß, dass ich einen riesigen Klumpen im Magen habe, wenn ich nur daran denke, wie lange es noch dauert, bis ich ihn endlich sehen kann.
Ganz erschrocken sehe ich meine Mom an, als sie mir über den Rücken streicht. Ich hatte ganz vergessen das sie noch da sind. Jes. Jes ist einfach meine Welt, da bleibt kaum noch platz für anderes, dennoch bin ich ganz froh, dass sie da sind.
Ich möchte jetzt nicht allein sein. Meine Mom merkt das. Sie merkt immer, wenn etwas nicht stimmt. Ob alle Mütter so sind? Egal, es zählt nur, dass es eben so ist.
„Was ist den los, Junge?“, fragt mein Dad.
Nach außen hin, ist er eigentlich genau so ein Gefühls-Krüppel, wie ich es bin, dennoch ist er genau so intuitiv, wie meine Mom. Ich weiß nicht wie sie das immer machen. Überhaupt ist, sich in andere hineinzuversetzen, für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Sie sind dadurch oft ziemlich anstrengend, aber gerade jetzt ist es gar nicht mal so schlecht.
Auf seine Frage hin, schüttele ich nur den Kopf und lehne mich dann an meine Mom – die mich auch gleich wieder in den Arm nimmt. Mein Vater rückt näher heran und nimmt uns dann Beide seinerseits in den Arm. Eine große, glückliche Familie, riesiges Gruppenkuscheln – eigentlich ja nicht so meins, aber im Moment genau richtig. Da fällt mir was ein.
„Warum seit ihr eigentlich hier?“
Meine Mom löst sich ein wenig von mir und auch mein Vater nimmt wieder etwas Abstand.
„Willst du uns etwa los werden?“
Nicht das sie das ernsthaft in Erwägung ziehen würde, aber offensichtlich hat sie das Gefühl, dass es mal gesagt werden müsste. Ihre Augen lachen – sie versucht das ganze ins lächerliche zu ziehen, damit ich nicht mehr so traurig bin.
Mir ist nicht wirklich danach, darauf einzugehen. Ich schüttele wieder den Kopf, doch ich versuche zumindest ein kleines Lächeln. Es ist anstrengend und ich bekomme davon schlechte Laune, aber ich reiße mich zusammen. Sie haben sich doch solche Sorgen um mich gemacht, da bringt mich ein wenig Lächeln nicht um.
„Wir haben gedacht, wir besuchen dich bevor wir auf Arbeit müssen. Du glaubst nicht wie schlecht ich heute geschlafen habe und dein Vater hat sich auch nur hin und her gewetzt. Wir mussten einfach sehen wie es dir heute geht, ansonsten würden wir Beide einfach den ganzen Tag an nichts anderes mehr denken können.“
Ich nicke. Von Beiden Seiten bekomme ich einen kleinen Kuss – mal beiseite lassend, dass ich dafür eigentlich viel zu alt bin – und erde von meiner Mutter wieder in eine Anakonda-Umarmung gezogen.
Bis es so gegen sieben ist, unterhalten wir uns noch – wobei meine Mutter es sich nicht nehmen lässt, mich noch fünf mal nach meinem Befinden zu Fragen und mich auch immer wieder zu umarmen, selbst mein Vater macht mit – dann müssen sie los und ich bleibe ganz allein zurück. Ganz Allein.
Wirklich, ganz allein. Bald, nachdem meine Eltern gegangen waren, kamen zwei Schwestern rein und fuhren meinen Bettnachbarn aus dem Raum. Nun steht ein frisch gemachtes Bett neben mir. Ich lasse mich wieder in mein – sehr plattes und unbequemes – Kissen fallen und seufze in den Raum. Allein.
Und was jetzt? Ich nehme mir wieder Jes' Handy und blättere mich durch einige Bilder von uns – wobei ich auf den meisten davon doch recht verstimmt schaue. Ich hasse Photos. Dann sind da noch einige auf denen ich schlafe, esse und zeichne.
Wann hat er die denn gemacht? Nicht das sie schlecht sind. Nein, Jes kann phantastisch Photographieren – und ich sehe ja auch nicht gerade schlecht aus. Gut, das klang jetzt eingebildet. Bald lege ich das Handy jedoch wieder weg. Das kleine Display bereitet mir schon wieder Kopfschmerzen.
Ich verschränke die Arme hinter dem Kopf und schließe die Augen. Einfach ein wenig Entspannen – viel anderes kann man hier ja auch nicht tun. Doch, aus dem Entspannen wird wohl schneller als gedacht, Schlaf, denn ich habe wieder einen langen und unruhigen Traum.
Ich schrecke auf, als ich höre wie die Tür laut gegen die Wand kracht. Ich komme nicht dazu mich zu erinnern worum es in diesem Traum ging, denn schon hängt Jes mir wieder um den Hals – nicht das ich ihn wirklich erkennen konnte, aber sonst traut sich das ja keiner. Nur Jes. Mein Jes.
Schneller als ich mich fangen konnte, ist er durch den – nicht sehr großen – Raum gestürmt, auf mein Bett gesprungen und hat sich auf mich geschmissen. Ja, das macht wirklich nur Jes. Alle Luft entweicht aus meinen Lungen und für einen kurzen Moment denke ich wirklich, ich sterbe, aber ich bin froh ihn zu sehen. Unglaublich froh. Jes. Wie kommt er her? Habe ich wirklich so lange geschlafen?
„Nikki! Nikki! Wie geht es dir? Ich bin so froh das du wach bist! Gestern hast du nur geschlafen und ich wollte dich nicht wecken.Tim war da, aber er ging und die verdammten Schwestern haben mich einfach rausgeschmissen! Glaubst du das? Mich! Warum bist du so still? Nun, sag schon, wie geht es dir?“
Ohne einmal Luft zu holen. Er sagt das alles ohne einmal Luft zu holen. Fast bin ich beeindruckt – fast.
„Gut, ich-“
„Ich bin ja so froh! Dir ist auch nicht mehr schlecht? Musst du Kotzen? Tut dir der Kopf weh? Ich hab gehört-“
„Jes. Jes. Alles gut, wirklich. Mir tut der Kopf noch weh und ich ersticke in naher Zukunft, aber sonnst, alles bestens.“
Ich kann mir ein lächeln nicht verkneifen, als ich merke, wie er sofort seine Arme etwas lockert. Und auch wenn er weiterhin auf mir liegt, fällt mir das Atmen doch gleich etwas leichter. Jes hat sich wirklich große Sorgen um mich gemacht.
„Wirklich? Alles gut? Nikki, du hast doch eine Grippe, oder habe ich da was falsch verstanden? Wie kann es dir da jetzt schon wieder gut gehen?“
„Ja, ich weiß auch nicht. Die haben mir bestimmt irgendwas gegeben.“
Ich zucke unbestimmt mir den Schultern. Eigentlich ist das ja auch egal, hauptsache es geht mir besser.
„Wie geht es dir eigentlich? Kein Schwindel? Keine Übelkeit? Nichts?“
Wir waren immerhin die ganze Zeit zusammen, doch er schüttelt nur den Kopf.
„Wie kommst du darauf?“
„Na, es ist doch unfair, wenn nur ich Krank bin. Meinst du nicht?“
Und schon lacht er. Sogar einen kleinen Kuss bekomme ich auf die Wange.
„Wie sagst du immer so schön? 'Das Leben ist unfair. Gewöhne dich daran.'. Doch im ernst, ich bin halt einfach nicht so schwächlich wie du. Mich kippt nichts so schnell aus den Latschen.“
Angeber! Dafür bekommt er von mir gleich einen Pickser in die Seite, weshalb er sich auch sofort von mir rollt – und dabei fast aus dem Bett fällt. Jetzt bin ich es der lacht. Jaja, von wegen, ihn kippt nichts so schnell aus den Latschen. Das Lachen tut gut. Mir Jes ist alles gleich viel leichter – besser. Einfach unkomplizierter. Ich setzte mich auf – jetzt geht das ja – und entdecke die Uhr an der Wand gegenüber. Warum sehe ich die erst jetzt? Aber viel wichtiger ist …
„Warum bist du um die Zeit hier? Du solltest doch in der Schule sein.“
Jes schaut zu mir hoch und ich sehe sofort, dass ihm meine Frage weniger gefällt.
„Nun, wir hatten eher Schluss.“, sagt er mir einer solch unsicheren Stimme, dass es sich eher nach einer Frage, als nach einer Antwort anhört.
Jes kann sehr überzeugend sein, wenn es darauf ankommt – aber das tut es jetzt nicht und sowieso lügt er mich nicht gerne an. Das eben war nur ein – ziemlich unglücklicher – versuch, dass, was jetzt kommt ein wenig hinauszuzögern.
„Klar, du willst mir erzählen, ihr hattet heute viertel nach neun Schluss? Und das an einer Schule, an der es noch nicht einmal Hitzefrei gibt?“
Ertappt! Nicht das ich das nicht auch vorher schon bemerkt hätte, aber nun springt mir sein ertappter Blick geradezu entgegen. Er duckst noch ein wenig rum.
„Ja?“
Darauf brauche ich gar nicht antworten, ein Blick reicht schon – und eigentlich hätten wir uns das ganze auch sparen können, immerhin kennen wir uns für so was viel zu gut.
„Gut, aber denkst du ernsthaft, ich könnte ruhig auf meinem Hintern sitzen bleiben und lernen, während du im Krankenhaus liegst?!“
Ich verdrehe die Augen. Er tut so, als ob ich davon hätte sterben können. Ich sehe ihn an und mein Blick scheint ihm wohl Antwort genug zu sein.
Naja, nicht das er sich dadurch von irgendwas hätte abhalten lassen. Er schaut mich zwar ein wenig reumütig an, doch ich sehe sofort, dass das nur geschauspielert ist. Ich seufze – und habe somit schon verloren. Ich weiß das. Jes weiß das.
Schon habe ich ihn wieder auf meinem Schoß sitzen – also eigentlich alles wie immer. Sein Hintern auf meinem Schoß und seine Arme um meinen Hals. Jes. Typisch Jes.
„Aber Deutsch hast du doch wenigstens mitgeschrieben, oder?“
Klassenarbeit Interpretation. Welch ein Glück, dass Deutsch mit eines seiner besten Fächer ist.
„Man, Nikki. Was glaubst du, warum ich erst jetzt hier bin?“
Ja, eigentlich hätte ich mir die Frage wirklich sparen können. Hätte ich heute Morgen nicht angerufen, wäre er vielleicht wirklich erst nach der Schule vorbei gekommen. Doch so? Bestimmt wollte er nach meiner bitte sofort los. Typisch Jes. Mein Jes. Jes, auf den ich mich immer verlassen kann.
Ich lege meine Arme um ihn und ziehe ihn noch ein wenig mehr an meine Brust. Hoffentlich hat er nicht zu viel Flüchtigkeitsfehler gemacht – ich kenne ihn doch. Jes kümmert sich immer um mich. Wahrscheinlich ist der einzige Grund, dass er mitgeschrieben hat der, dass ich ihn sofort wieder rausgeschmissen hätte, hätte er es nicht getan. Doch so – Jes ist gut in der Schule und ich brauche ihn gerade viel dringender.
Jetzt überfällt es mich wieder – dieses Gefühl Jes unbedingt bei mir haben zu müssen. Doch jetzt ist er da. Jetzt wird alles gut. Jes ist hier – bei mir. Mit dem Kopf auf meiner Schulter, gibt er mir einen sanften Kuss auf den Hals – doch dabei bleibt es nicht.
Bald schon setzt er seine Zunge ein – leckt mir über den Hals, saugt daran. Er fragt nicht was los ist – er erkundet es. Auf seine Weise – unsere Weise. Ich wüsste auch gar nicht, wie ich ihm dieses Gefühl hätte mit Worten erklären sollen.
Ich drehe leicht meinen Kopf in seine Richtung – er versteht. So wie er mich immer versteht. Er küsst mich wieder, diesmal auf den Mund – nicht leidenschaftlich oder fordernd, sondern leicht, sanft. Leicht und sanft, wie alles mit Jes ist. Bei Jes bin ich ich. Kein anderer. Nur ich. Jes ist wundervoll. Jes ist immer für mich da. Mein Jes. Er ist mein Jes.
„So-“
Das 'So-', kam eindeutig von keinem von uns – wir waren ja anderweitig beschäftigt. Überrascht schauen wir beide auf, zur Tür – und in dieser steht – unglücklicherweise – der Wal. Juhu! Meine Freude ist grenzenlos.
Scheiße. Die fehlt mir gerade noch. Ich verdrehe die Augen. Dieser Blick – als hätte sie noch nie gesehen wie sich jemand küsst. Oder liegt es daran das wir zwei Jungs sind? Klar sind wir gegaffe gewohnt, dennoch – dumme, blöde Kuh!
Auch Jes scheint die Unterbrechung nicht wirklich zu gefallen und als der Wal dann auch noch blöde glotzend in er Tür stehen bleibt, habt er offenbar genug und küsst mich wieder – nicht das ich was dagegen hätte.
Ich kann förmlich hören, wie ihre Gehirnwindungen explodieren, als sie sich – sobald sie sich gefasst hat – auf dem Absatz rumdreht und so schnell, wie nur möglich, auf ihren fetten Trampelbeinen davon geht – stampft. Jes scheint ihren Abgang auch gehört zu haben – oder er hat einfach nur die Erschütterungen mitbekommen – und fängt laut an zu lachen.
„Alter, hast du das Gesicht gesehen?“
Nein, ehrlich gesagt habe ich das nicht , doch ich kann es mir auch so nur zu gut vorstellen – immerhin hat sich ihre Fratze für immer in meine Alpträume eingebrannt.
Ich muss schmunzeln. Wenn ich mir ihr Gesicht schon vorstelle, weiß ich weshalb Jes so lacht. Jes. Wenn er so lacht, ist es fast als gäbe es nur uns auf der Welt. Ich küsse ihn wieder. Jes zu küssen ist schön. Einfach, unkompliziert, doch jedes mal was ganz besonderes.
Noch kichert er ein wenig in den Kuss, doch das legt sich schnell wieder. Jes. Seine sanften Lippen sind genau das, was ich jetzt brauche. Jes ist für mich besser als jedes Beruhigungsmittel. Mit Jes ist alles gut. Mit Jes kann mir einfach nichts passieren.
Doch Gott kann mich offenbar nicht ausstehen – oder er macht sich einfach nur einen Spaß daraus mich leiden zu lassen – jedenfalls steht jetzt schon wieder jemand im Zimmer. Na, wenigstens ist es nicht wieder der Wal. Und sie – wer auch immer sie ist – scheint noch nicht mal versteinert zu sein und das obwohl sie uns beim küssen 'erwischt' hat. Unglaublich!
Als könnte Jes meine Gedanken lesen – und ich schwöre, manchmal kann er das – gibt er mir mit der Faust einen leichten stoß gegen den Oberarm. Wie vermutlich von ihm beabsichtigt, hat er durch diese Geste, meine volle Aufmerksamkeit wieder auf sich gelenkt. Die nutzt er um mir – ins Ohr flüsternd mitzuteilen – das ich nicht so Gemein sein soll – und dass obwohl ich kein Wort gesagt habe. Gruselig.
Das brummen, dass er daraufhin von mir bekommt, bringt ihn schon wieder zum Kichern. Bin ich echt so lustig? Naja, Jes kann über alles lachen. Jes.
„Herr Berger, es tut mir Leid, wenn ich sie störe. Ich wollte ihnen nur mitteilen, dass wir sie heute gegen Mittag entlassen werden.“
Und sie kann sogar reden. Warte – was? Entlassen? Das ist ja großartig! Und schon liegen wir uns wieder in den Armen – also Jes und ich, nicht ich und die Schwester. Diese kommt jedoch auf uns zu. Will sie etwa mit kuscheln? Unwahrscheinlich.
Dennoch steht sie jetzt vor uns und sieht mich erwartungsvoll an. Was will sie? Jes. Jes kichert – schon wieder. Scheiße. Hab ich was verpasst? Jes gibt mir mit dem Ellenbogen einen stoß in die Seite. Ich sehe ihn an.
„Nun nimm schon.“
Nehmen? Was nehmen? Ich sehe ihn weiter an. Was wollen die Beiden denn von mir?
„Volltrottel.“
Na, danke auch. Wieder ein kichern, dann sehe ich wie Jes die Hand ausstreckt und eine Packung Tabletten von der Schwester entgegen nimmt. Oh, scheint so, als wäre ich noch nicht ganz bei mir. Überhaupt habe ich gerade das Gefühl zu schweben.
Jes. Bei Jes bin ich sicher. Bei Jes brauche ich mich um nichts zu kümmern. Jes. Wie schön das er bei mir ist – immer.
„Herr Berger, haben sie das verstanden?“
Was? Ich habe nicht mal mitbekommen, dass sie mit mir gesprochen hat. Scheiße. Das muss wirklich aufhören. Jes.
„Entschuldigung, könnten sie das nochmal wiederholen, bitte?“
Jes kichert schon wieder. Idiot! Kann der heute nichts anderes? Jes. Scheiße.
„Ich sagte, dass sie diese Tabletten drei mal Täglich nehmen sollen, am besten mir viel Wasser. Die sind gegen ihre Übelkeit. Die selben, die sie auch Gestern Nacht bekommen haben. Dazu dürfen sie, bei bedarf, auch Aspirin nehmen. Diese sind ebenfalls in der Packung. Außerdem sollten sie Bettruhe halten, da sie noch sehr schwach sind. Eine Entschuldigung, sowie Befreiung für diese und die nächste Woche bekommen sie vorne am Empfang. Wir bitten sie auch darum, sich in drei Tagen nochmal hier zu melden, damit ihr Kopf nochmal untersucht werden kann.“
Und wieder kichert Jes vor sich hin. Mal im ernst, was ist heute nur los mit ihm? Ist er, bevor er zu mir kam, am Pillenschrank vorbei? Das ist doch nicht mehr normal – oder bilde ich mir das ein?
„Hörst du Nikki, endlich haben die erkannt, dass bei dir im Kopf was nicht stimmt.“, kichert er weiter.
Haha, sehr witzig – doch die Schwester sieht das offenbar nicht so locker.
„Junger Mann, wie können sie so etwas nur behaupten? Ihr Freund befindet sich momentan in einem sehr empfindlichen Stadium. Da können sie nicht einfach rücksichtslos auf seinen Gefühlen rumtrampeln. Bedenken sie doch, wie er sich dabei fühlen muss.Außerdem dient diese nachträgliche Untersuchung nur der Ausschließung einer Gehirnerschütterung, immerhin ist er zwei mal auf den Kopf gefallen!“
Mit Händen in die Hüften gestemmt und wütendem Gesichtsausdruck sieht sie Jes an. Und Jes? Nein, diesmal kichert er nicht. Er lacht laut los. Ich muss zugeben, es sieht wirklich lustig auch, wie der Schwester bei Jes' Reaktion alles aus dem Gesicht fällt. Ich würde sogar mitlachen, wenn nicht Kopfschmerzen das verhindern würden. Wütend – und sogar schon rot im Gesicht – sieht die Schwester nun mich an.
„Also, Herr Berger, ich verabschiede mich schon mal, für den Fall das wir uns nicht noch mal sehen.“
Mit diesen Worten dreht sie sich um und verlässt so schnell wie möglich das Zimmer.
„Noch ein wenig schneller und die wäre aus dem Zimmer geflogen. Man könnte fast den Eindruck bekommen, sie hätte genug von mir. “, kichert Jes neben mir wieder.
Ich kann nur nicken.
Jes. Endlich allein. Jes. Mein Jes. Jes. Ich sehe ihn an. Er küsst mich. Ich schwöre, manchmal kann Jes Gedanken lesen. Jes ist so sanft. Jes ist so gut. Bei Jes bin ich sicher. Jes ist wundervoll. Wie könnte ich ihn ihn? Jes. Mein Jes. Er löst den Kuss.
„Hey, was ist los?“
Die Art, wie er mit mir spricht. Die Art, wie er mir in die Augen sieht. Die Art, wie er mir seine Arme in den Nacken legt. Jes. Mein Jes.
Scheiße. Er löst eine Hand und wischt mir mit dieser über die Wange. Was soll das? Wieso macht er das? Egal. Er küsst mich wieder. Ich schwebe – irgendwie. Ich verstehe mich nicht. Was ist los mit mir? Jes. Mein Jes. Solange er da ist, wird alles gut.
Er drückt mich nach hinten. Bis ich in den Kissen liege. Und er auf mir. Jes. Mein Jes. Dann löst er den Kuss erneut. Das muss ich nicht verstehen, aber ich muss auch nicht immer verstehen was er macht. Hauptsache ist, das er es weiß. Das ist das wichtigste. Jes weiß was zu tun ist – weiß er immer. Alles andere ist unwichtig.
Jes. Jes. Mein Jes. Ich brauche ihn. Er sieht mir in die Augen. Diesmal länger. Dann löst er die Arme aus meinem Nacken und legt sie stattdessen, wie seinen Kopf, auf meine Brust. Jes. Eine ganze Weile liegen wir so da, ohne das einer von uns sich bewegt. Dann fahre ich mir meiner Hand durch seine Haare, über seinen Rücken, seinen Hintern.
„Eigentlich solltest du gar nicht so nah bei mir sein, sonst steckst du dich noch an.“
Keine Ahnung, wo das jetzt her kam. Ich habe an nichts in dieser Richtung gedacht. Es ist fast so, als hätte mein Mund eben ein Eigenleben geführt.
Gruselig – aber ich will wirklich nicht das Jes genauso leiden muss wie ich. Selbst jetzt rumort mein Magen noch, mein Kopf tut höllisch weh und ich fühle mich so elend schwach. So schwach, wie nur Jes mich sehen darf. Kein anderer. Nur Jes. Mein Jes.
Dieser richtet sich jetzt auf.
„Keine Sorge. Alles wird gut.“
Ich bin nicht wirklich sicher, ob er das jetzt auf das bezogen hat, was ich eben sagte, aber irgendwie glaube ich dass weniger. Er beugt sich wieder runter und küsst mich. Was ist nur los mit uns?
Es ist als würden wir irgendwo zwischen dem hier und jetzt festhängen. Fliegen, schweben, fallen – alles gleichzeitig. Jes. Scheiße. Jes. Was ist nur los? Diesen Kuss löst er nicht. Ob er auch schwebt? Oder liegt es daran, dass ich mir den Kopf gestoßen habe?
Unser Kuss wird intensiver. Ich öffne meinen Mund, lasse seine Zunge hinein. Irre ich mich, oder bin ich heute wirklich zu passiv? Egal. Unser Kuss, der bislang sehr sanft war, wird nun fester, leidenschaftlicher. Jes bewegt seine Hüften, fährt mir den Händen unter den Kittel – der schon hochgerutscht ist. Er küsst sich von meinem Mund, über meine Wange, den Hals, bis runter zum Schlüsselbein. Den Kargen des Kittels zieht er weiter runter, bis er mir das Ding endlich ganz auszieht.
Schnell sind die vier Schleifen gelöst und Jes widmet seine volle Aufmerksamkeit meinem Oberkörper. Er streichelt mich, küsst mich, beißt in meine Brustwarzen und leckt darüber. Ich weiß nicht wohin mit mir. Ich schwebe – doch mein Kopf liegt im Nebel.
Meine Hände legen sich auf seinen Rücken – zu mehr bin ich im Moment nicht fähig. Vielleicht bin ich im Moment zu schwach, doch das ist nicht schlimm. Jes weiß, dass ich es will. Er weiß es – und er spürt es, immerhin sitzt er auf mir.
Wieder bewegt er seine Hüfte. Ich will nicht wissen, welches Bild ich heute abgeben muss. So schwach – das passt gar nicht zu mir. Doch es ist nur Jes. Mein Jes. Der Jes, der sowieso jede Seite von mir kennt. Der Jes, dem es nichts ausmacht mich zu stützen. Der Jes, den ich brauche.
Ein stöhnen kommt mir über die Lippen, als er erneut die Hüfte bewegt. Etwas hilflos ziehe ich an seinem T-Shirt. Jes versteht, er weiß was ich will – so wie immer – und schon ist es weg, sein Shirt. Wahrscheinlich irgendwo neben meinem Kittel.
Jes! Jetzt kommt auch etwas leben in meine Hände. Ich streiche von seinem Rücken über seine Brust, seinem Bauch, seinen Hals – ziehe ihn wieder zu mir hoch. Erneut küssen wir uns – es ist so schön. So schön, wie es nur mit Jes sein kann. Jes. Mein Jes. In diesem Moment gibt es nur uns.
Vom Hals wandern meine Hände jetzt zu seinem Hintern – seinem unglaublich tollen Hintern. Gott, wie ich diesen Hintern liebe! So rund und fest. So rund und fest, dass ich gar nicht anders kann, als diesen zu kneten – und Jes gefällt das. Er löst den Kuss und ihm kommt ein wunderschönes stöhnen über die Lippen, während er den Kopf in den Nacken legt. Jes. Mein Jes. Mein wundervoller Jes.
Ich fange seine Lippen wieder ein und erneut entsteht ein Kuss – heiß und leidenschaftlich. Jes. Mein Jes. Mittlerweile bewegt er seine Hüften rhythmisch auf meine – und bringt mich damit halb um den Verstand.
Mir fällt es immer schwerer klar zu denken – oder überhaupt zu denken, aber das ist jetzt nicht wichtig. Es gibt nichts wogegen ich mich wären müsste. Es ist Jes. Nur Jes. Mein Jes. Jes. Kein Grund zur Sorge, also lasse ich mich endgültig fallen.
Nur noch Jes beherrscht meine Gedanken – und, wie ich ihn, so schnell wie möglich, Nackt unter mich bekomme. Jes. Jes. Mein Jes. Fast gleichzeitig bewegen wir unsere Hände. Ich will einfach nicht länger warten. Jes. Seine Hand rutscht so geschickt, so schnell und so einfach in meine Boxer, als hätte er nie etwas anderes gemacht, während ich meine Hände umständlich vorschiebe und erst mal versuche den Gürtel seiner Hose auf zu bekommen.
Dabei zittern meine Hände jedoch so stark, als würde ich unter Strom stehen. Schrecklich. Jes. Was ist nur mir mir los? Bin ich heute wirklich so schwach? Jes löst unseren Kuss und auch seine Hand – die sich so verdammt richtig, an ihrem Platz angefühlt hatte – zieht er aus meiner Boxer.
Er sieht mich an – schaut mir direkt in die Augen. Jes. Jes? Was ist? Ich will es doch! Und weil Jes Gedanken lesen kann – und es mir mit ziemlicher Sicherheit ins Gesicht geschrieben steht – beugt er sich nun doch wieder runter und Küsst mich weiter. Doch diesmal anders – weder lang noch leidenschaftlich. Nur sanft.
Dann setzt er sich auch schon wieder auf. Doch anstatt von mir runter zu gehen, legt er seine Hände an seine Gürtel und öffnet diesen – so, wie auch seine Hose. Ja, das ist es was ich wollte. Jetzt muss er das überflüssige Zeug nur noch ausziehen.
Er nimmt meine Hände in seine und führt sie an seine Brust. Von dort aus wandern wir über seinen Bauch immer tiefer, bis wir endlich bei dem lästigen Zeug angekommen sind. Ich greife danach und er hebt die Hüften an, sodass ich ihn ausziehen kann.
Endlich. Endlich habe ich meinen wundervollen Jes so wie ich ihn will. Nackt und willig. Nur zwei Kleinigkeiten müssen jetzt noch geändert werden. Meine Boxer – die ich dummerweise immer noch anhabe – muss endlich weg und er, er muss endlich unter mich.
Ersteres nimmt Jes gleich in Angriff, doch als ich zweitens umsetzen will, drückt er mich mit Leichtigkeit wieder in die Kissen. Jes? Jes! Was soll das? Doch ich komme nicht dazu irgendwas zu sagen, denn Jes rutscht schon wieder mit seinem perfekten, kleinen, nackten Arsch auf mir herum. Gott, macht er das gut!
Jetzt, wo wir beide nackt sind, ist das Gefühl noch viel intensiver, sodass ich mir ein Stöhnen jetzt erst recht nicht mehr verkneifen kann – und auch nicht will. Noch ein Kuss, dann setzt er sich wieder auf und grinst mich an – grinst auf eine Weise, von der ich nur leider zu genau weiß was sie bedeutet.
Ich habe ab jetzt nichts mehr zu melden. Scheiße. Jes. Warum tust du mir so was an? Mein missmutiges seufzen nimmt mit einem Lachen zur Kenntnis – dann küsst er mich wieder. Seine Zunge in meinem Mund – genial. Er ist heute so aktiv – oder liegt das an mir?
Als ich ihm versuche, während des Kusses, unter mich zu bringen drückt er mich erbarmungslos wieder in die Kissen. Schöne Scheiße.
„Oh nein, Nikki. Heute mal anders. Ich weiß wie gern du oben bist, aber bevor du mir noch abklappst …“, lässt er den Satz unbeendet.
Und damit ist die Diskussion für ihn vorbei. Keine Widerrede. Jes' Wort ist Gesetz – wobei ich ja sowieso nicht gegen ihn ankomme – heute in jeglicher Hinsicht. Wieder küsst er mich – okay, ich glaube, heute füge ich mich mal. Nicht das ich sonst noch eine große Wahl hätte – entweder wir machen es so oder gar nicht. Jes würde nicht zulassen das ich mich – noch mehr – anstrenge, nicht in diesem Zustand. Und eigentlich ist es so auch nicht schlecht. Nein, wirklich nicht. Und es ist ja auch nur Jes. Mein Jes. Was soll schon sein?
Er ist der einzige der so über mich bestimmen kann – der einzige von dem ich mich je habe toppen lassen. Selten – aber dennoch. Jes. Mein Jes. Dieser küsst sich jetzt wieder an mir entlang. Er beginnt beim Mund – und Jes kann wirklich so toll küssen –, dann geht er über mein Kinn zu meinem Hals – seine Lippen fühlen sich so verdammt heiß auf meiner Haut an – beim Schlüsselbein saugt er sich eine Weile fest. Mit der Zunge fährt er über meine Brust und ich kann – trotz der schwäche – nicht anders, als mich aufzubäumen, als er hier und da sanft zubeißt. Er kratzt mir den Nägeln leicht über meinen Bauch und küsst sich weiter an mir runter – immer und weiter.
Er weiß genau wie er mich um den Verstand bringen kann. Jes. Mein Jes. Und dann – dann kommt er endlich an. Da wo ich ihn haben will. Zwar nicht so, wie ich ihn haben will, aber nach mir geht es hier ja eh nicht mehr.
Jes. Scheiße. Er ist so geil! So, wie er jetzt auf meinen Beinen sitzt, kann ich sein Glied ganz deutlich fühlen – und dass, während sich seine wundervollen Lippen um meins kümmern. Ich bin im Himmel! Jes! So geil! Mein Jes.
„Jes!“
Nur kurz lässt er von mir ab um einen Blick in mein Gesicht zu werfen. Er grinst. Er grinst! Verdammt! Wie kann er jetzt grinsen? Ich verliere den Verstand. Er hat jetzt nicht zu grinsen! Verdammt! Jes!
Doch Jes kann ja Gedanken lesen – oder sein logischer Menschenverstand ist einfach nicht so vernebelt, wie meiner – also macht er schön brav dort weiter wo er aufgehört hat. Sein Mund ist so heiß – der Wahnsinn. Das einzige, dass mir im Moment noch lieber wäre als sein Mund, wäre sein Arsch. Sein toller Arsch.
Mein Atem geht immer schwerer und auch mein Stöhnen wird immer ungehaltener. Ich halte das sicher nicht mehr lange aus. Jes. Jes ist so toll, geil, wundervoll – das alles und noch so viel mehr.
„Ahhhh!“
Das war mit Sicherheit nicht ich – und von Jes konnte es auch nicht stammen, da dieser bis eben den Mund noch reichlich voll hatte. Zudem war es ein weiblicher Schrei. Und was für einer! Man, tun mir die Ohren weh.
Jes setzt sich auf und auch ich hebe den Kopf, um zu sehen, wer da so einen Lärm macht. Durch meinen verschleierten Blick – und mein momentan ziemlich außergefecht gesetztes Gehirn – brauche ich eine Weile um zu erkennen, wer da vor uns steht. Und während ich noch überlege, nutzt diese Person – die ich nun doch als Schwester von vorhin erkannt habe – die Zeit um sich – mit hochrotem Kopf – vor uns aufzubauen.
Wahrscheinlich durch den Schrei alarmiert, trampelt auch noch der Wal zu uns ins Zimmer. Großartig. Nicht das wir noch die Gelegenheit für ein paar letzte Worte bekommen, legen die Beiden auch schon los – natürlich nachdem der Wal auch noch geschrien hat. Jetzt sind bestimmt auch die Koma-Patienten wieder wach. So ein Krach!
„Sind sie eigentlich Verrückt geworden? Das hier, ist ein Ort der Genesung und kein dreimal verfluchter Homoclub, in dem sie ihre perversen Gelüste ausleben können!“
„Zudem soll sich Herr Berger doch schonen! Verstehen sie dass etwa unter 'sich schonen'? Machen sie, dass sie hier raus kommen, aber zackig!“
Keine Sekunde, nach dem die Worte den Mund der Schwester verlassen haben, wird Jes einfach vom Wal gepackt und aus dem Zimmer geschmissen. Wow, das ist das erste Mal dass ich sehe, wie Jes einfach irgendwo rausgeworfen wurde.
Sonst redet er sich immer geschickt raus, doch diesmal blieb ihm nicht mal Zeit Luft zu schnappen. Und jetzt hockt der arme Nackt und Steif wie er ist, vor der Tür, mitten im Krankenhaus. Das entlockt mir sogar ein kichern – allerdings nur solange, bis sich Medusas Augen auf mich richten.
„So, jetzt kommen wir zu ihnen, Herr Berger!“
Scheiße. Das habe ich irgendwie komplett ausgeblendet.
„Was denken sie sich eigentlich dabei, so einen verrückten Perversen herzubestellen, der mitten am Tag, im Krankenhaus, über sie her fällt? Haben sie mal an ihre Gesundheit gedacht? Oder an seine? Eigentlich ist es ein Wunder das sie in ihrem Zustand überhaupt einen Ständer bekommen haben-“
Es ist so offensichtlich, dass ihr der letzte Satz nur rausgerutscht ist, denn sie läuft knallrot an, als sie sich ihrer Worte bewusst wird. So knallrot, das ich – mit meinem vernebelten Hirn – denke, er würde gleich explodieren.
Wieder muss ich kichern. Irgendwie finde ich diese ganze Situation urkomisch. Ob die mich hier auf Drogen gesetzt haben? Oder liegt das daran, dass ich hier immer noch ziemlich steif vor ihnen liege? Vielleicht vernebeln mir ja die ganzen Glückshormone das Hirn. Egal. Ich finde es lustig. Wie es Jes wohl gerade geht?
„D-Das ist nicht witzig! Und ziehen sie sich endlich was über! Haben sie überhaupt kein Schamgefühl?“
Ich kann nicht anders. Ich fange an laut los zu lachen. Ihr Gesicht dabei – einfach göttlich!
„Herr Berger! Ist ihnen bewusst, dass wir sie und ihren Bettgefährten, wegen Exhibitionismus festnehmen lassen können?“
Ähm, nein – eigentlich nicht. Aber ich komme nicht dazu ihr das zu sagen, weil ich aus dem lachen einfach nicht wieder raus komme.
Dann wird auch schon die Tür aufgerissen. Kommen die etwa jetzt schon, um mich abzuholen? Ob ich dafür wohl in den Knast oder in die Klapse komme? Ich lache weiter. Keine Ahnung, was mit mir los ist, aber die Situation ist doch auch zu Komisch, oder?
Jes scheint das genauso zu sehen – der steht jetzt nämlich, nackt und grinsend, in der Tür. Vielleicht liegt es ja an der Luft, dass wie beide hier so abdrehen. Jes kommt gemütlich auf mich zugelaufen und gibt mir erst mal einen Kuss.
Nur einen kleinen, sanften, aber das reicht der Schwester schon, denn sie schreit gleich wieder. Mein Gott, soll sie doch rausgehen, wenn es sie so stört.
„Junger Mann, wieso sind sie wieder hier drin? Wer hat sie in dieses Zimmer gelassen? Und sind sie sich darüber im klaren, das sie der Gesundheit von Herr Berger damit erheblichen Schaden zufügen können?“
„Naja, ich konnte die nette Dame, an der Rezeption davon überzeugen, dass es nicht besonders gut wäre, mich Nackt aus dem Krankenhaus werfen zu lassen und da meine Sachen sich noch hier drin befinden – wie sie sicher sehen – bin ich sogar dazu gezwungen, mich wieder in diesem Raum einzufinden. Was die Sache mit der Gesundheit angeht, es liegt, natürlich, im Bereich des Möglichen dass ich mich bei 'Herr Berger' anstecken könnte, aber das geht viel mehr auf eigene Gefahr und liegt somit nicht in ihrem Aufgabenbereich. Ob das Folgen für ihn haben kann, kann ich natürlich nicht wissen, denn ich bin nun mal kein Arzt, aber ich möchte ihnen versichern, das ich nie absichtlich etwas tun würde, das 'Herr Berger' verletzt oder ihm Schmerzen zufügt. Ach, und was den Sex angeht, es war 'Herr Bergers' persönlicher Wunsch. Natürlich sind wir uns im klaren darüber, dass ein Krankenhaus keineswegs der richtige Ort dafür ist, aber ich bin mir sicher, sie wissen selber wie das ist, wenn man von der Leidenschaft überrannt wird, richtig?“
Oh, Scheiße. Jes hat es mal wieder geschafft. Die Alte ist doch tatsächlich rot geworden – naja, noch mehr als so schon. Wenn das so weitergeht, wird sie bestimmt bald schwarz anlaufen – fragt sich nur ob vor Verlegenheit oder Wut. Jes grinst sie jetzt jedenfalls gewinnend an.
„Was wollten sie eigentlich hier?“
Stimmt, das ist eine sehr gute Frage. Sie wird sicherlich nicht gekommen sein, nur um uns beim vögeln zuzusehen – wobei, gevögelt haben wir ja noch nicht.
„Ich war gekommen, um ihren Blutdruck zu überprüfen, bevor wir sie entlassen, aber ich denke wir sollten besser noch warten, um ein genaueres Ergebnis zu bekommen.“
Ich sehe Jes an. Der grinst – so wie eigentlich die ganze Zeit heute. Dann sehe ich wieder zu der Schwester.
„Also meinetwegen können sie auch gleich messen, wenn er zu hoch ist, wissen wir wenigstens woran es liegt. Obwohl ich eigentlich denke, dass ich mich soweit beruhigt habe.“
Das ist nicht mal eine Lüge. Meine Erektion ist schon vor einer weile abgeflaut und seit Jes das Zimmer wieder betreten hat fühlt sich auch der Rest von mir schon viel ruhiger. Schade, irgendwie. Doch alles was wir hier begonnen haben können wir ja zuhause weiterführen.
Die Schwester sieht mich erst an, als würde sie fragen wollen, 'Sind sie sich da wirklich sicher?', stattdessen bittet sie uns aber nur, uns etwas anzuziehen bevor sie näher kommt. Das habe ich irgendwie schon ganz vergessen.
Jes kichert wieder und auch ich muss leicht lachen. Noch eben denke ich darüber nach, was heute mit mir los ist – bin ich doch sonst nicht so – bis ich sehe, dass die die Schwester kurz davor ist, uns einfach zu erwürgen. Welch unhöfliches Personal.
Dennoch hänge ich etwas am Leben und bitte Jes mir meine Sachen aus dem Schrank zu holen und mir auch meine Boxer zu geben. Schnell – oder so schnell es eben bei mir geht – ziehen wir uns an, wobei mir Jes auch dabei etwas helfen muss.
Offenbar bin ich schwächer als gedacht. Jedes mal, wenn Jes mich irgendwie berührt, sehe ich, wie die Schwester ein klein wenig unruhiger wird – doch das wundert mich nicht. Seit sie das erste mal das Zimmer betreten hatte, musste sie sich bemühen mit uns in einem anständigen Umgangston zu sprechen.
Nach dem sie uns jetzt auch noch in flagranti erwischt hat, hat sie gänzlich die Geduld mit uns verloren. Es ist einfach offensichtlich wie sie gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe eingestellt ist. Ich weiß, dass Jes das ebenfalls schon lange bemerkt hat.
Jes weiß einfach immer, wie es den Leuten um ihn herum geht, doch es interessiert ihn einfach keiner außer mir. Und Jes weiß was ich will. Jes weiß immer was ich will. Er beugt sich zu mir und küsst mich wieder.
Nicht um mir erneut Lust zu vermitteln – wogegen ich rein gar nichts hätte – sondern um mich zu beruhigen. Jes. Mein Jes. Jes weiß einfach immer was ich brauche. Jes ist einfach immer für mich da.
Leider dauert unser Kuss nicht all zulange, da die Schwester wieder anfängt sich zu beschweren.
„Herr Berger, ich würde sie bitten, ihre Unzucht Zuhause fortzusetzen. Ihren Blutdruck können sie später wieder in die Höhe treiben. Ich für meinen Teil, möchte mir diesen Anblick nicht wieder antun, überhaupt, würde ich hier gerne so schnell wie möglich fertig werden!“
Ich verdrehe die Augen. Sie wird jeden Moment unhöflicher, wenn der der Fanden reißt, wird sie sich wahrscheinlich in ein riesiges Monster verwandeln. Ich muss wieder kichern – und Jes muss mich dann, wie ein mutiger Ritter mit seinem mächtigen Schwert beschützen.
„Herr Berger!“
Jaja, schon gut. Ich versuche mich so gut, wie möglich zu beruhigen, atme sogar noch einige male tief durch. Jes rückt näher und nimmt meine Hand. Das hilft ungemein. Mit Jes an meiner Seite wird alles leichter. Da kann ich gar nicht anders, als ruhiger zu werden.
„Junger Mann, hätten sie vielleicht die Güte von Herr Berger abzurücken, damit er sich etwas beruhigen kann?“
Ich gehe nicht auf ihre Worte ein, sondern drücke Jes' Hand noch ein wenig fester – die einzige die mich wirklich aufregt ist sie.
„Ich denke, sie wollen so schnell, wie möglich hier raus, könnten sie dann bitte einfach anfangen?“
Ich sehe ihr an der Nasenspitzen an, das sie sich lieber Nägel in die Finger treiben würde, als uns näher zu kommen, oder – noch schlimmer – mich sogar anzufassen, doch sie sagt nichts weiter dazu, sondern macht nur ihre Arbeit.
Wenigstens versucht sie so professionell, wie möglich zu bleiben und – seien wir mal ehrlich – wir habe es ihr auch nicht gerade leicht gemacht.
„130 zu 90. Herzlichen Glückwunsch. Das liegt genau im durchschnitt, Herr Berger. Damit sind sie entlassen. Sie müssen sich nur noch offiziell an der Rezeption abmelden.“
Mit diesen Worten flieht sie förmlich aus dem Zimmer. Na dann, hoffentlich auf nimmer Wiedersehen. Jes grinst.
„Und jetzt? Wollen wir los? Oder willst du dich erst noch von deinem so liebgewonnenen Zimmer verabschieden?“, fragt mich Jes.
Was ich will, darauf kommt es doch eigentlich gar nicht an – die Frage ist, wie weit ich komme. Kann ich aufstehen? Laufen? Ich fühle mich immer noch so schwach.
„Hey, wird schon werden.“
Er legt mir eine Hand an die Wange und dreht meinen Kopf zu sich. Seine andere Hand hält immer noch meine fest. Er gibt mir einen kurzen Kuss, dann greift er nach meiner zweiten Hand und steht auf – mich zieht er dabei gleich mit auf die Beine.
Es ist seltsam sein ganzes Gewicht wieder auf den Füßen zu spüren, besonders wenn man sie einen Tag lang nicht mehr benutzt hat. Meine Knie fühlen sich recht zittrig an – doch Jes hält mich. Jes ist für mich da. Mit Jes falle ich nicht. Nicht mit Jes. Mein Jes.
Noch eben hebt er den Kittel auf und macht das Bett etwas zurecht, dann verlassen wir auch schon das Zimmer und gehen zur Rezeption. Meine Beine sind weiterhin recht schwach, aber ich bin zumindest schon ein wenig sicherer – dennoch hält Jes die ganze Zeit über meine Hand weiter fest. Nur für den Fall der Fälle – und weil ich seine Hand gern halte, auch wenn ich das im Leben nicht laut aussprechen würde. Aber Jes weiß es auch so. Jes weiß alles – einfach alles von mir. Das ist eben Jes. Mein Jes.
An der Rezeption angekommen brauchen wir länger als ich dachte, was vielleicht daran liegen könnte, dass die junge Schwester – die sich jetzt eigentlich mir zuwenden sollte – mich keines einzigen Blickes würdigt.
Stattdessen redet diese nur mit Jes – und rot ist sie auch noch. Man, typisch Jes. Der hat sie bestimmt angegraben, damit sie ihn nicht rausschmeißen lässt. Das würde zu ihm passen. Immerhin ist er Jes. Mein Jes. Und dieser bekommt immer was er will – am leichtesten von Frauen.
Man, Jes. Ja, genau! Jes! Dessen Gesicht drehe ich jetzt zu mir und küsse ihn – nicht lange, nicht wild. Nur damit diese verdammte Schwester endlich aufhört zu sabbern und mir endlich gibt was ich will.
Das sind nur drei kleine Sachen. Das kann dich nicht so schwer sein! Verdammt. Jes. Als ich sie nach dem Kuss jedenfalls wieder ansehe, freue ich mich. Endlich hat sie meine Existenz wahrgenommen. Yeah!
Und wie sie das hat – jetzt ist sie sogar noch röter. Naja, zumindest scheint sie nicht dagegen zu sein, was bedeutet, dass das Krankenhaus nicht nur von intoleranten Schreckschrauben besetzt worden ist. Halleluja!
„Guten Tag. Mein Name ist Nikolas Berger. Ich möchte meine Entschuldigung und die Befreiung abholen, außerdem soll ich einen Termin zur Nachuntersuchung vereinbaren.“
Man, wenn das mal nicht höflich war weiß ich auch nicht.Passt eigentlich gar nicht zu mir – aber heute passt sowieso nichts, das ich tue, zu mir. Ich bin heute wirklich seltsam.
„Ja, kleinen Augenblick, bitte.“
Wozu? Damit sie uns noch weiter anstarren kann? Pha! Dennoch nicke ich. Wird mich ja nicht umbringen – es sei denn, ich sterbe hier an Altersschwäche, weil sie so lange braucht.
Nanu, wer sagts denn? Meine gewohnte schlechte Laune kommt allmählich wieder. Welch ein Glück! Ich dachte schon ich bleibe für den Rest meines Lebens so scheiß freundlich. Igitt!
„Nikolas Berger, sagten sie?“
Wieder nicke ich. Wie langsam kann man eigentlich sein? Jetzt beginnt sie wenigstens irgendwas zu machen. Na, ob das was wird? Sie poltert – ziemlich ungeschickt – auf der Tastatur rum, bis dann der Drucker neben ihr anspringt, Dann schiebt sie mir meine zwei Zettel rüber. Endlich!
„So, dann kommen wir mal zu ihrem Termin. Wann wollen sie sich denn wieder bei uns vorstellen?“
„Naja, eigentlich gar nicht, aber ich soll in drei Tagen wieder hier antanzen.“
Der Blick – man, dieser Blick! Als hätte im Leben noch nie jemand so was zu ihr gesagt. Gut, das ist ja auch nicht üblich, aber doch kein Grund gleich zu gucken, als hätte ich sie angeschossen. Dumme Kuh!
Jes – der immer noch meine Hand hält – drückt etwas fester zu und sieht mich – fast – böse an. Ja! Ich bin so langsam wieder ich. Was gibt es schöneres? Diese Schwester kann sich da bestimmt einiges vorstellen.
„Ähm, in Ordnung. In drei Tagen, das wäre dann der 29.. Wäre ihnen um zehn Uhr recht?“
„Eigentlich will ich ausschlafen, ich soll mich ja erholen. Geht auch um drei? Oder später?“
Die hat ja schon vorher geglotzt, wie eine Kuh wenn es donnert, aber nun? Ich weiß gar nicht wie ich ihr Gesicht jetzt noch beschreiben soll. So dämlich hat mich schon lange niemand mehr angeschaut.
Wieder drückt Jes meine Hand. Jaja, 'Sei nicht so gemein.', doch das bin ich nun mal. Gemein. Endlich wieder. Endlich bin ich wieder ich – und ich bin nun mal gemein.
„Der 15.00 Uhr Termin ist leider schon belegt, aber wir hätten da noch einen um 16.30 Uhr. Wäre ihnen das Recht?“
Um mal nicht so zu sein – oder um meine arme Hand davor zu bewahren amputiert werden zu müssen – versuche ich diesmal ein wenig netter zu sein. Für Jes. Nur für Jes.
„Ja, Dankeschön.“
Jetzt fällt der doch endgültig alles aus dem Gesicht. Wer weiß, vielleicht denkt sie ja das ich schizophren bin?
„Auf Wiedersehen.“, ruft sie uns noch nach, als wir uns schon dem Ausgang zugewendet haben.
Ich hebe nur die Hand und gehe weiter, Jes aber dreht sich beim laufen nochmal um und grinst sie an. Typisch Jes. Typisch mein Jes – und genau dieser wendet sich mir auch gleich zu, sobald wir das Krankenhaus hinter uns gelassen haben.
„Man, Nikki! Was ist nur heute los mit dir? Du benimmst dich heute schon den ganzen Tag so komisch.“
Ja! Ja, das kann er laut sagen. Ich meine, ich weiß es selber – doch ich kann nichts dagegen machen. Scheiße verdammt! Doch jetzt bin ich, wieder ich – zum Glück! Hoffentlich werde ich nicht noch einmal so seltsam.
Mir ist wieder schlecht, wenn auch nur ein wenig. Ich will nicht dass Jes etwas davon mitbekommt. Er würde sich nur Sorgen machen und mich wahrscheinlich gleich wieder ins Krankenhaus verfrachten. Zur Antwort zucke ich jedenfalls mit den Schultern.
„Naja, Hauptsache du bist wieder du.“
Sag ich doch. Das zeigt mal wieder, wie gut mein Jes mich doch kennt. Ich hätte jetzt erwartet, dass er mich anspringt oder mir zumindest um den Hals fällt – doch das tut er nicht. Vermutlich, weil er weiß, dass ich immer noch zu schwach bin um ihn zu halten oder er ahnt, dass es mir nicht so gut geht wie ich vorgebe – oder es zumindest versuche.
Für Jes war es noch nie schwer mich zu durchschauen, deshalb ist es schon ein Erfolg für mich, dass er mich noch nicht darauf angesprochen hat. Ja, mein Jes kennt mich eben. Aber jetzt erst mal ab nachhause, ins Bett.
„Sag mal, wohin gehen wir eigentlich?“
Jes sieht mich an, dann grinst er – wiedereinmal.
„Na, zu mir. Ist doch wohl klar! Bei dir ist eh gerade keiner da und wenn ich allein nachhause komme, werden mich sowohl meine Schwester, als auch meine Mutter einen Kopf kürzer machen.“
Jetzt grinse ich wieder. Bei Jes geht das – nur bei Jes. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was die Beiden sich für Sorgen um mich gemacht haben, immerhin – und das soll jetzt nicht eingebildet klingen – lieben die Beiden mich. Da werden sie auch keinen Aufstand machen, dass Jes wegen mir die Schule geschwänzt hat.
Also ist es beschlossen – wir gehen zu ihm. Zu meinem Glück ist die Bushaltestelle nur hundert Meter vom Krankenhaus entfernt., sodass ich mich auch schnell wieder setzten kann. Nicht das ich das laut zugeben würde, aber der kurze Weg, bis hierher, hat mich schon geschafft.
Naja, wohl auch kein Wunder, in meinem Zustand, aber das muss auch nicht jeder mitbekommen. Vor allem nicht Jes. Mein Jes. Wenigstens dauert es nur zehn Minuten bis der nächste Bus in unsere Richtung kommt.
Während dieser Zeit sieht mich Jes immer wieder an – mal offen, dann wieder verstohlen, aus den Augenwinkeln. Eindeutig, er ahnt es. Doch eigentlich ist das auch nicht weiter verwunderlich – immerhin ist er Jes. Mein Jes. Der Jes, der jede Seite von mir kennt. Der Jes, der sofort weiß, wann es mir nicht gut geht.
Ich sage dazu nichts. Ich möchte ihn nicht auch noch in seiner Vermutung bestärken – aber dass ist spätestens dann passé, als der Bus vor uns hält und mir beim aufstehen schwindlig wird. Sofort wird Jes' griff um meine Hand stärker.
Den Blick, den er mir daraufhin zuwirft, kann ich nur zu leicht deuten – aber ich will nicht wieder ins Krankenhaus. Die würden mich ja doch nur nachhause schicken und dass sage ich ihm auch. Jes scheint nicht wirklich glücklich damit zu sein, doch er gibt nach und wir steigen ein.
Das ist einer meiner seltenen Siege über Jes – und doch ist es nicht wirklich befriedigend. Ob wegen Jes' besorgtem Gesicht oder meiner Übelkeit, sei mal dahingestellt. Jetzt muss ich mich jedenfalls vierzig Minuten lang nicht bewegen.
Jes setzt sich ans Fenster und ich lege meinen Kopf auf seinen Schoß. Die Beine lasse über den Sitz auf den Gang hängen. Endlich wieder liegen – auch wenn der Bus nicht gerade geeignet dafür ist, doch mit Jes wird alles erträglich. Er ist immerhin Jes. Mein Jes.
Doch vierzig Minuten wären nicht ewig – eben nur vierzig Minuten – dann muss ich mich wieder bewegen. Scheiße. Mir geht es echt Scheiße. Wir steigen aus und gehen dann zu Jes nachhause. Mit etwas Glück ist keiner da und ich kann mich gleich ins Bett hauen.
Doch weil Gott mich hasst – und das tut er wirklich – hat seine Mom heute frei und seine Schwester ist ebenfalls mit einer Grippe zuhause geblieben. Super.Wenigstens weiß ich jetzt wo ich mich angesteckt habe. Scheiße. Jes.
Und wie nicht anders zu erwarten – kaum das Jes und ich das Haus betreten haben, kommt seine Mom auch schon aus der Küche. Vermutlich hat sie gehört, wie die Tür ins Schloss gefallen ist. Sobald sie mich sieht, ist Schluss mit lustig.
Sofort zieht sie mich in eine feste Umarmung – und lässt dabei ganz außer Acht, dass ich auch ab und zu mal Atmen muss. Ja, Atmen – diese dumme, kleine Angewohnheit, die mich aber zufällig am Leben hält. Wie kommt es nur, dass die Menschen in meiner Umgebung das immer wieder vergessen?
„Mom, du bringst ihn ja noch um!“, sagt Jes.
Stimmt, und es wäre nicht der erste Mord, der aus liebe begangen worden wäre – auch wenn ich weniger glaube, dass jemand wirklich mal an einer Umarmung gestorben ist.
Naja, bei meinem Glück, hätte ich vermutlich das Vergnügen, der erste zu sein. Juhu. Doch wenigstens nicht jetzt, denn Melissa lockert ihre Umarmung tatsächlich – wenn auch nur um mich bei ihrem Verhör besser ansehen zu können.
„Sag schon! Wie geht es dir? Warum hast du nicht vorher gesagt, dass dir nicht gut ist? So hätten wir dich doch nie in die Schule geschickt! Du bist immer noch so blass. Ist dir noch schlecht? Oh, Gott! Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Was hast du dir dabei gedacht? Denkst du auch mal an uns? Hauptsache es geht dir jetzt wieder etwas besser. Tut es doch, oder? Gott, ich bin ja-“
„Mom, nun überfall meinen armen Nikki doch nicht so.“
Danke Jes, danke! Wiedereinmal hat er mich gerettet. Ich bin wirklich ziemlich überfordert mit der jetzigen Situation. Was hatte sie alles gefragt? Ich konnte das alles gar nicht schnell genug verarbeiten.
Melissa lässt mich jetzt endgültig los und Jes nimmt mich wieder an die Hand, die er wegen Melissas Eifer loslassen musste. Man könnte aber auch einfach sagen, er habe sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht, um nicht ebenfalls mit eingeschnürt zu werden.
„Man, Mom! Was ist das für ein Lärm da unten?“
Super, jetzt haben wir auch noch Sue geweckt. Mein Leben könnte kaum schöner werden, denn sie ist die nächste die mir gleich am Hals hängt – und mir die Luft abschnürt. Aber es ist immer noch besser aus Liebe erwürgt zu werden, als im Krankenhaus vom Wal.
Nach dem ersten Schock lege ich auch meine Arme um sie, denn Jes hat meine Hand wieder losgelassen. Ich kann mir nur zu gut vorstellen was er dazu sagen würde. 'Du weißt, ich bin immer für dich da und werde dich bei allem unterstützen – aber mit den Beiden musst du schon allein fertig werden.'
Doch das nehme ich ihm nicht übel. Ich würde mich, an seiner Stelle, auch nicht einmischen – körperlich zumindest nicht. Und an sich ist das ganze Prozedere ja auch nichts schlimmes – wäre mir nicht so verdammt schlecht.
„Nikki, Nikki! Wie geht es dir? Du hast uns so einen Schrecken eingejagt! Wieso hast du denn nichts-“, beginnt Sue gleich, wie auch meine und ihre Mutter vor ihr, mich ausfragen zu wollen – doch mein Held in glänzender Rüstung kommt einmal mehr, um mich zu retten.
„Sue, das hat er heute schon dreimal gehört, außerdem seit ihr beide Krank. Du solltest ihn loslassen.“
Jaja, das sagt der Richtige. Er hält doch selbst die ganze Zeit meine Hand und ist im Krankenhaus über mich hergefallen – was zwar so nicht ganz stimmt, aber naja.
Das sage ich ihr nicht – doch ganz ohne Kommentar kann ich das auch nicht stehen lassen.
„Gerade du musst reden. Als du mich im Krankenhaus angesprungen hast, war deine Rede bestimmt drei Mal länger.“
Ja, ich Verräter. Er hat mir gerade sooft das Leben gerettet und ich danke es ihm so. Ich bin ja so böse! Das sieht er anscheinend genauso, denn er entzieht mir seine Hand, – die er sofort nachdem Sue mich losgelassen hatte, selbst genommen hat – verschränkt die Arme vor der Brust und sieht provokant weg.
Ich atme tief ein. Mir wird gerade wieder schlechter. Scheiße! Alles beginnt sich wieder zu drehen. Jes. Ich will mir nichts anmerken lassen, doch es ist Jes – mein Jes – von dem wir hier reden. Als er sieht, das ich ein bisschen schwanke gibt er seine Haltung sofort auf, nimmt mich wieder an die Hand und setzt sich mit mir mitten in den Flur auf den Boden. Die andere Hand legt er mir auf die Stirn.
„Leichtes Fieber. Mensch, Nikki! Was machst du nur? Du bist schon wieder so blass. Wie geht es dir? Es ist wieder schlechter, hab ich Recht?“
Er sieht mich böse an. Ich weiß, er denkt, ich hätte im Krankenhaus bleiben sollen.
Er macht sich schon wieder riesige Sorgen um mich, doch nochmal könnte ich diese Sehnsucht nach ihm nicht ertragen. Da sterbe ich lieber hier, mit ihm an meiner Seite, als im Krankenhaus allein zu leben.
„Du bist so blöd, weißt du das?“
Auf seine Frage nicke ich nur. Was soll ich auch sonst machen? Ich weiß, dass ich manchmal ziemlich blöd sein kann und Jes ist nun mal eine meiner größten Schwächen – so wie ich auch seine bin. Es ist immer wieder erstaunlich wie schnell Jes auf besorgt umschalten kann. Aber das ist eben Jes. Mein Jes.
Und nicht nur dieser sorgt sich um mich, auch seine Schwester und Mutter sehen mich besorgt an.
„So schlimm ist es nicht. Mir ist nur etwas schwindlig – und übel.“
„Mom, würdest du bitte ein Glas Wasser aus der Küche holen?“, wendet sich Jes an sie.
Diese nickt nur und geht in die Küche. Sue setzt sich an meine andere Seite und scheint gerade ein wenig überfordert zu sein, denn sie streichelt hilflos meinen Rücken. Jes holt währenddessen die Packung mir meinen Tabletten aus seiner Hosentasche.
Die hatte ich ja schon ganz vergessen. Eine von diesen kleinen, gelben, die gegen meine Übelkeit halfen sollen, gibt er mir. In diesem Moment kommt auch schon seine Mom mit dem Wasser aus der Küche wieder. Brav – wie ich selten bin – nehme ich Melissa das Glas ab und stecke mir auch die Tablette in den Mund.
Ich hasse Tabletten – und vermeide diese normalerweise wo ich nur kann – doch diese hat sich leider nicht umgehen lassen. Vermutlich hätte Jes sie mir jetzt persönlich in den Hals geschoben, wenn ich mich geweigert hätte – er kennt wirklich keine Gnade mit mir, wenn ich meine Medizin nicht nehmen will.
Ich trinke das ganze Glas aus, damit sie auch wirklich runtergeht – und bereue es auch gleich wieder. Ich habe das Gefühl, als ob mir die besagte Tablette und das Wasser gleich wieder mit Gesellschaft hochkommen wollen.
Wirklich Lust ihr nochmal 'Hallo' zu sagen habe ich nicht – aber mir ist so schlecht! Ich weiß nicht was ich machen soll. Jes. Hilf mir Jes. Doch dass er das nicht kann ist klar. Jes kann eine Menge – Wunder vollbringen gehört leider nicht dazu. Scheiße.
Ich will mich nicht wieder übergeben, nicht wieder so schwach sein. Melissa, die das Glas eben in die Küche zurückgebracht hat, kommt nun mit einer Schüssel wieder, die sie mir vor die Nase hält. Meine Finger zittern schon wieder – das sehe ich, als ich die Schüssel nehme.
Scheiße. Das ist alles eine riesengroße Scheiße! Ich will das nicht. Verdammt! Der Brechreiz wird stärker, doch ich unterdrücke ihn krampfhaft. Ich will die Tablette nicht gleich wieder rauskotzen bevor sie überhaupt die Gelegenheit hatte zu wirken. Scheiße. Alles Scheiße.
„Denkst du, du kannst aufstehen?“, fragt mich Jes leise, während er durch meine Haare streicht.
Um ganz ehrlich zu sein, bin ich mir da nicht so sicher, aber ich möchte nicht schwach wirken. Das Sprechen lasse ich dennoch lieber – nicht das noch das falsche aus meinem Mund kommt – stattdessen zucke ich einfach nur mit den Schultern. Das braucht zwar einen größeren Kraftaufwand, ist aber wesentlich sicherer.
Irgendwie schafft Jes es tatsächlich mich in sein Zimmer zu bringen – das er mich dabei mehr getragen hat und es sehr langsam voranging, muss ich wohl nicht betonen. Dafür liege ich jetzt in seinem Bett. Endlich wieder liegen – mit einem Thermometer unter meinem Arm.
Die treue Schüssel ist auch da. Sie steht direkt neben mir – nur für den Fall – der hoffentlich nie eintreffen wird. Scheiße. So eine verdammte Scheiße das alles!
Das Thermometer piept und Jes nimmt es an sich. Er sieht mich wieder an.
„38,5. Verdammt Nikki, was soll das?“
Er sagt das zwar mit solch strenger Stimme, doch ich weiß, dass er sich einfach unglaubliche Sorgen um mich macht. Ich sehe es ihm an – an seinem Blick und der Art wie er mir immer wieder durch die Haare streicht. Das ist eben Jes. Mein Jes.
Er macht sich immer Sorgen um mich, doch so, wie er mich jetzt ansieht, ist es fast so, als würde er mehr Leiden als ich – auch wenn ich mir das kaum vorstellen kann. Ich habe das Gefühl noch ein wenig mehr und ich muss sterben.
Es ist als würde mein Kopf explodieren, während mein Körper irgendwo zwischen heiß und kalt festhängt und dabei mein innerstes nach außen gekehrt wird. Scheiße. So schlimm hat es mich noch nie erwischt. Scheiße. Jes. Scheiße.
Ich sehe ihn wieder an. Er sieht zurück. Welche Antwort soll ich ihm auch geben? Ich würde mich gerne dafür entschuldigen, dass ich ihm so viele Probleme bereite, doch abgesehen davon, das ich mich zu schwach fühle irgendetwas über die Lippen zu bringen, weiß ich auch, das Jes es nicht hören will.
'Unsinn', würde er sagen, 'Das sind doch keine Umstände.' – doch sobald ich gesund bin, würde er mir eine runterhauen und mich anschreien, warum ich nicht besser auf mich aufgepasst hätte und ob ich nicht auch mal an ihn gedacht hätte, das er sich solche Sorgen machen muss.
Ihn soll einer verstehen. Nein, eigentlich muss ich ihn nicht verstehen. Das ist eben Jes. Mein Jes. Der Jes, den ich so gern habe. Der Jes, der immer für mich da ist. Der Jes, der mir so viel bedeutet. Mein Jes eben.
„Schlaf etwas.“
Das ist keineswegs ein Vorschlag, sondern ehr so was wie ein Befehl. Was denke ich da? 'So was wie?' – Nein, es ist ein Befehl. Ganz einfach. Was Jes sagt wird gemacht. Punkt. Nicht dass ich mich je gegen ihn währen könnte – und jetzt bin ich erst recht zu schwach dazu. Also sträube ich mich nicht. Warum auch? Schlaf wird mir bestimmt gut tun – wenigstens etwas.
Ich schließe die Augen. Jes wechselt das feuchte Tuch – das ich zur Kühlung gegen das Fieber auf die Stirn bekommen habe – aus und streicht mir dann weiter durch die Haare bis ich eingeschlafen bin.
Diesmal träume ich nichts. Es ist einfach nur schwarz. Meine Schmerzen und die Übelkeit sind abgedunkelt – fast verschwunden. Das ist so erleichternd. Ich möchte nie wieder aufwachen – nicht wider diese Schmerzen spüren, nicht die Übelkeit.
Doch was denke ich da für einen Blödsinn? Ich kann nicht für immer schlafen. Was wir aus Jes? Er wird Krank vor Sorge, wenn ich nicht wieder aufwache. Das kann ich ihm nicht antun – das will ich ihm nicht antun. Was soll er denn ohne mich machen? Was soll ich ohne ihn machen? Für immer in der Dunkelheit schweben? Lächerlich!
Ein lautes schrilles Geräusch holt mich in die Wirklichkeit zurück.
„Verdammt!“
Das war eindeutig Jes' Stimme. Warum flucht er jetzt schon wieder? Er soll sich das abgewöhnen, das Fluchen. Das ist nicht schön – was ironischer Weise genau das ist, dass er immer zu mir sagt.
Langsam öffne ich meine Augen. Nanu? Hier drinnen ist es nicht so Hell, wie ich dachte. Ich sehe zu Jes, der sich auch gerade zu mir rumgedreht hat.
„Entschuldige, Nikki. Ich wollte dich nicht wecken. Wie geht es dir?“
Ich sehe ihn weiter an – eine ganze Weile. Wie geht es mir? Besser, jetzt wo ich darüber nachdenke. Wirklich besser. Ich habe immer noch Kopfschmerzen und fühle mich schwach, aber meine Übelkeit ist soweit abgeklungen und ich fühle mich auch nicht mehr so fiebrig.
Ich sehe ihn weiter an. Zum sprechen fehlt mir gerade jegliche Lust. Jes setzt sich auf die Bettkante und legt mir die Hand an die Stirn. Wo ist denn das Tuch hin? Egal. Jes. Ich sehe ihn. Ich sehe ihn.
War er schon immer so wunderschön? Jes. Mein Jes. Was ist nur wieder los mit mir? Ich fühle mich so leicht – als würde ich wieder schweben. Ich ziehe eine Hand unter der Decke hervor und strecke diese nach Jes aus. Meinem Jes. Dem Jes, der mir gerade wie ein Engel erscheint.
Vielleicht bin ich ja doch gestorben? Aber warum ist Jes dann hier? Verrückt, was ich da wieder denke. Jes ist nicht tot – und ich auch nicht. Jes ist einfach so schön. So ist mein Jes eben. Ich setze mich vorsichtig auf, damit ich besser an sein Gesicht komme. Jes sieht nur zu.
Ich fahre mir meiner Hand an seinen Hinterkopf und hole mir einen Kuss von ihm. Von Jes. Meinem Jes. Verdammt! Was ist nur wieder mit mir los?
Als ich meine Lippen auf seine lege, stellen sich mir sämtliche Härchen auf – als hätte man mir einen Schlag verpasst. Genauso fühle ich mich auch – elektrisiert. Es ist so berauschend, dieser einfache Kuss. Ich will mehr – viel mehr. Ich will Jes. Ich will ihn komplett – nicht nur diesen einfachen Kuss. Viel mehr.
Mein Kuss wird intensiver. Ich bitte um Einlass und bekomme diesen auch gewährt – solange, bis ich meine andere Hand an seiner Brust hinunter wandern lasse. Dann löst Jes sich von mir. Warum? Das macht er sonst nie.
„Nikki, nicht.“, meint er zu mir, als er sich von mir löst, meine Hände in seine nimmt und auch dort lässt.
Er hat mich noch nie abgewiesen – nicht Jes. Ich fühle mich, als würde ich den Halt in dieser Welt verlieren. Einzig Jes' Hände bewahren mich davor, von der Dunkelheit verschluckt zu werden.
„Bitte sieh mich nicht so an. Ich weiß was du willst, aber das ist keine so gute Idee. Zumindest solltest du vorher wissen, was mit dir los ist.“
Klar, weiß er was ich will. Um das herauszufinden muss man nicht mal Jes sein. Wirklich jeder könnte mir mein momentanes Problem ansehen – oder auch von der Hose ablesen.
Es überrascht mich selbst wie schnell das diesmal ging. Normalerweise habe ich mich wirklich besser unter Kontrolle. Normalerweise dauert es länger bis ich steif werde. Scheiße.
„Ich habe mir den Beipackzettel von deinen Tabletten durchgelesen.“
Gut, das ist jetzt nichts neues – während er sich seine Medikamente immer bedenkenlos reinpfeift, studiert er bei meinen jedes Mal den Beipackzettel. Ich finde das bis heute ein wenig seltsam, aber das ist eben ein Teil seiner Sorge um mich.
Jes kann nicht anders, als sich um mich zu sorgen – fast wie eine Glucke, die ihr Ei bewacht. Egal, ob es mir nun wegen ihm schlecht geht oder ich Krank bin – Jes sorgt sich immer.
„Ich weiß jetzt warum du dich so seltsam benimmst, erst im Krankenhaus und jetzt hier.“
Ja, mag sein, dass ich mich im Krankenhaus ziemlich seltsam Verhalten habe – erst die Sehnsucht, dann die Leidenschaft und dann war ich auch noch so scheiß freundlich. Eigentlich nicht mehr wiederzuerkennen. Schrecklich. Mir läuft es jetzt noch kalt den Rücken runter, wenn ich nur daran denke. Ich und freundlich? Wo hört man denn so was? Lächerlich!
Doch jetzt? Bin ich jetzt wirklich so schräg? Gut, normalerweise werde ich so schnell geil – aber ist das ein Wunder, bei dem Engel, der hier vor mir sitzt? Halt! Stopp! Habe ich Jes eben ernsthaft als Engel bezeichnet? Scheiße! Mit mir stimmt echt was nicht – aber er ist doch so wundervoll. Nein! Aus!
„Die Tabletten, die du bekommen hast, helfen zwar super gegen deine Übelkeit, aber wie es scheint reagierst du auch auf eine der Nebenwirkungen.“
Nebenwirkung? Welche Nebenwirkung? Bekomme ich jetzt grüne Flecken im Gesicht? Oder gelbe Füße? Nein! Quatsch! Er sagte ja, es habe etwas mit meinem Verhalten zu tun. War ich wirklich so seltsam? Wenn ich mich zurückerinnere … Gut, dann hat er vollkommen recht. Scheiße.
„Was für eine Nebenwirkung?“, frage ich also.
Ja, Jes spannt mich unheimlich gerne auf die Folter. Soll er mir doch noch mehr einzelne Sätze an den Kopf werfen – noch eine Platzwunde am Kopf mehr oder weniger, macht den Kohl auch nicht mehr fett.
Super, mein Blick spricht wohl Bände, denn Jes fängt schon wieder an zu Kichern. Klasse – das hat er in der letzten Zeit ja auch so selten getan. Scheiße. Schöne Scheiße.
„Du musst erst das Zauberwort sagen.“
Und einmal mehr habe ich das Gefühl nur zu seiner Persönlichen Belustigung zu existieren. Mein Leben ist ja so bedeutsam.
„Simsalabim?“, frage ich, obwohl ich eigentlich genau weiß, was er hören will – doch meine Lust auf seine Spielchen ist jetzt vorüber und ich will einfach nur wissen was, zum Teufel, mit mir los ist.
Jes merkt natürlich sofort, dass meine Stimmung umschlägt.
„Angenommen, aber nur weil du krank bist.“, grinst er mich – einmal mehr – an.
Das überrascht mich nun doch. Normalerweise würde ihn meine Laune herzlich wenig kümmern – zumal es mir ja auch schon etwas besser geht. Er würde mich so lange aufregen, bis ich kurz vorm Platzen bin und mich dann so sehr zum Lachen bringen, bis ich vergessen habe, weshalb ich mich überhaupt aufgeregt habe.
„Und nun? Was ist jetzt?“
Jes soll endlich mal zum Punkt kommen. Mein Kopf tut weh, meine Laune sinkt mit jeder verstreichenden Sekunde weiter und Jes macht ständig Kunstpausen. Ich bin doch nicht im Theater, verdammt!
Alles was ich will, ist das Jes endlich mit der Sprache rausrückt – das ist doch nicht zu viel verlangt!? Jes verdreht die Augen und seufzt. Ob nun wegen dem, was ich gesagt habe, oder er tatsächlich meine Gedanken hören kann ist ja auch egal. Hauptsache er beginnt zu reden.
Genau das macht er jetzt auch – endlich!
„Um es einfach zu sagen, es wirkt sich auf deine Stimmung aus.“
Ich sehe ihn an. Wie darf ich das denn verstehen? Was genau ist denn mit meiner Stimmung?
„Es sorgt dafür, dass du dich nicht mehr unter Kontrolle hast. Alle deine Stimmungen brechen einfach so aus dir heraus, egal, ob du nun geil oder sauer bist – ungefähr so, wie bei einem Kleinkind. Zudem wird jede Emotion nochmal irgendwie verstärkt, so dass aus einer kleinen Verstimmung auch schon mal ein Tobsuchtsanfall werden kann.“
Verstehe – glaub ich. Will er mir damit sagen, dass ich Amok-Laufen könne, wenn etwas nicht nach mir geht? Verdammt! Was haben die mir da für ein Zeug gegeben? Das sollte Verboten werden – genau wie sein verdammtes Grinsen!
Schön, dass es wenigstens einen von uns Amüsiert. Ich verschränke die Arme und sehe ihn nicht mehr an. Arschloch!
„Du schmollst.“, sagt er und klingt dabei immer noch viel zu belustigt.
Im nächsten Moment stehen mir auch schon die Tränen in den Augen. Verdammt! Verdammt! Verdammt! Was soll die Scheiße jetzt? Obwohl ich jetzt wenigstens weiß, weshalb ich mich verhalte, wie der letzte Vollidiot, so kann ich doch nichts dagegen machen. Warum? Verdammt!
Dabei bin ich doch sonst so gut darin, jeden glauben zu machen ich hätte keine Gefühle. Außer Jes. Bei Jes hat das nie gezogen – da könnte ich mich auf den Kopf stellen und er wüsste doch wie es mir geht. Scheiße.
Und schon kriecht diese Sehnsucht in mir hoch. Es ist die selbe, die mich auch schon im Krankenhaus überkommen hat.
Ich habe das Gefühl, ich muss Jes jetzt unbedingt sehen und dass obwohl ich genau weiß, dass er direkt neben mir sitzt, auf der Bettkante – in greifbarer Nähe. Ich müsste nur meinen Kopf in seine Richtung drehen, oder die Hand ausstrecken – doch das will ich nicht. Ich schmolle nicht. Ich schmolle nie – ich will einfach nicht. Punkt.
Doch diese Sehnsucht ist so erdrückend! Jes' Arme legen sich von hinten um mich und sein Kopf auf meine Schulter. Verdammt! Wie kann er nur immer so genau wissen, was ich brauche? Das ist doch nicht normal! Jes! Verdammt! Jes.
Ich lehne mich etwas nach hinten, gegen seine Brust.
„Ich schmolle nie, klar?“
Jes kichert wieder. Arschloch!
„Natürlich nicht. Das weiß ich doch.“
Sicher, das klingt wirklich überzeugend, so wie er das sagt – Haha. Doch ich brauche ihn jetzt. Ich will nicht Wütend oder Traurig sein, ich will ihn nicht vermissen, während er doch bei mir ist und ich will, verdammt nochmal, nicht, dass meine Stimmungen so über mich entscheiden können.
Ich bin kein intuitiver Mensch – bin ich nie gewesen – und jetzt soll ich plötzlich so abhängig von meinen Gefühlen sein? Schöne Scheiße. Wie soll ich damit nur umgehen?
„Jes.“
Mehr bekomme ich nicht raus, doch Jes versteht auch so. Er ist immerhin Jes. Mein Jes.
Und dann? Dann lieben wir uns. Ich will ihn nicht anstecken, das habe ich ihm mehrere Male gesagt. Doch Jes hat nur gekichert – ganz so, wie er es immer tut – und voller Zuversicht geantwortet, dass ihm das nicht passieren würde.
Nicht das er wirklich Einfluss darauf hätte, doch ich a´kann einfach nicht anders, als ihm zu glauben. Jes weiß schon was er tut – weiß er immer – und meiner Einschätzung darf ich im Moment eh nicht trauen. Ich stehe unter Medikamenten Einfluss und die Sehnsucht ist einfach zu groß, als das ich noch klar denken könnte – also wehre ich mich nicht weiter.
Sex mit Jes ist der Beste – der Beste, weil ich ihm dabei so nahe sein kann, so nahe, wie eben nur beim Sex. Jes. Mein Jes. Ich kann mir nichts schöneres vorstellen.
Als ich wieder aufwache, ist das erste, das ich bemerke Jes, der immer noch unverändert auf mir liegt, genauso, wie wir auch eingeschlafen sind. Für einen Moment fühle ich mich rundum zufrieden – solange bis ich meine Augen öffne.
Hiermit erkläre ich die Sonne zu meinem morgendlichen Todfeind – wobei, nach morgen sieht es nicht mehr aus. Eher wie Mittag. Verdammt! Schule! Was ist mit der Schule? Aus reinem Reflex will ich vor Schreck hochfahren, doch Jes' Gewicht auf mir, verhindert das.
Durch den Ruck jedoch wacht Jes nun auf. Stöhnend rollt er sich von mir runter und fasst sich an den Kopf.
„Wie geht es dir?“, murmelt er.
„Besser.“
Und das sage ich nicht mal um ihn zu beruhigen. Klar, bin ich noch nicht gesund, aber auf dem besten Weg. Mein Kopf tut noch weh, ich fühle mich recht ausgelaugt und leicht schlecht ist mir noch – doch das ist alles bei weitem nicht so schlimm, wie im Krankenhaus.
Jes dagegen, sieht jetzt nicht mehr so gesund aus wie gestern oder heute Morgen oder wann auch immer.
„Du hast dich doch angesteckt.“, schlussfolgere ich.
Jes grummelt irgendwas unverständliches, kneift die Augen zusammen und zieht die Beine an die Brust, während er es schafft sich gleichzeitig an meine zu drücken. Ich kann nicht anders – mir entkommt ein Kichern.
Wieder grummelt Jes etwas und ich kann mir nur zu gut vorstellen das er mich dafür verfluchen will. Ich weiß, es ist überhaupt nicht komisch, dass mein armer Jes jetzt krank ist, doch irgendwie habe ich jetzt sogar so etwas wie gute Laune.
„Was ist mit der Schule?“, fällt mir jetzt wieder ein – nicht das ich Lust hätte hinzugehen, dafür wäre es jetzt eh schon zu spät.
Wie spät eigentlich?
Es ist anstrengend, aber nicht unmöglich, mich auf einen Arm zu stützen und an Jes vorbei auf den Wecker zu sehen. Drei Uhr – ja, lohnen würde sich das wirklich nicht.
„Krankenschein.“
Ach ja, da war ja was. Ich lege mich wieder richtig hin und Jes drückt sich noch näher an mich.
„Und du?“
Die Frage ist doch berechtigt, immerhin hat er keinen Krankenschein. Jes scheint das nicht so zu sehen. Er stöhnt auf, rückt ein wenig von mir ab und öffnet ein Auge.
„Mom, … angerufen … Schule. … Klappe!“, nuschelt er mir zu.
Zumindest sind das die einzigen Worte die ich verstanden habe. Jes macht das Auge wieder zu und rückt wieder ran.
Gut, wie er will. Jes kann unausstehlich werden, wenn er krank ist. Das was schon immer so. Einmal – da waren wir etwa dreizehn – hat er ein Kissen nach mir geworfen, weil nicht genug Zucker im Tee war. Lächerlich – doch auch das ist eben Jes. Mein Jes.
Und diesmal wird er sich zusammen reißen – er kann gar nicht anders, weil ich ja auch krank bin. Ein kichern entkommt mir wieder. Jes brummt. Jaja, 'halt die Klappe', schon verstanden. Das lächeln bleibt dennoch.
Da ich in meiner Verfassung eh nicht viel anderes tun kann als im Bett zu liegen – und ich mich auch nicht von Jes lösen könnte, ohne ihn zu wecken – bleibt mir nicht viel übrig als an die Decke zu starren oder vor mich hin zu dösen.
Gerade, als ich kurz davor bin doch wieder einzuschlafen, kommt Melissa rein – ganz leise, dennoch schrecke ich auf. Sie ist nicht überrascht uns beide im Bett zu finden und mir fällt wieder ein, dass Jes sagte, sie habe in der Schule angerufen. Gut, wenigstens bekommt er so keine unentschuldigten Fehlstunden.
Als Melissa sieht, das ich wach bin fragt sie leise ob ich nicht was essen möchte. Gute Frage, denn jetzt wo sie es erwähnt, stelle ich fest, dass ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit nichts mehr gegessen habe – und dementsprechend auch wirklich hungrig bin.
Doch erst hat eine andere Information Vorrang.
„Jes hat sich angesteckt. Wir müssen morgen früh unbedingt zum Arzt mit ihm.“
„Das habe ich mir schon gedacht. Ist ja auch kein Wunder, so wie ihr zwei ständig aufeinander hockt.“
Sie nickt um ihre Worte nochmal zu bekräftigen.
„Wecke ihn. Ich mach Hühnersuppe.“, sagt sie und verlässt den Raum wieder genau so leise wie sie ihn betreten hat.
Auch wenn das gar nicht nötig ist – also das leise sein – ich soll Jes doch eh wecken. Und das mache ich jetzt auch – auch wenn es mir ein wenig leid tut, weiß ich doch wie er es hasst geweckt zu werden.
Tatsächlich liegt er, genau wie vorhin, immer noch in der Embryonal-Stellung. Sein Gesicht sieht ein wenig angespannt aus, nicht wie sonst, wenn er schläft – sonst sieht er immer viel friedlicher aus, entspannter, doch das liegt jetzt bestimmt nur daran, dass er krank ist.
Ich will ihn nicht wecken. Schlaf tut gut, doch essen ist auch wichtig. Ich gebe mir einen Ruck – ja, ich werde ihn wecken. Ich werde es echt tun. Wieder muss ich kichern – wo kommt nur diese gute Laune her?
Ich streiche Jes sanft mit meinen Fingern durchs Haar, dann hinter seinem Ohr vorbei, an seinem Hals lang. Er brummt ein wenig, bewegt sich etwas, schläft aber einfach weiter. Ja, so kenne ich meinen Jes. Ich muss grinsen.
Ich puste ihm ins Ohr. Er zuckt ein wenig und brummt wieder, schläft aber immer noch. Jes sanft zu wecken ist wie immer eine Herausforderung – eine der ich mich aber gern stelle, insofern ich genug Zeit habe.
Mit meinen Nägeln kratze ich ihm leicht über die Oberarme und die Seiten, nachdem ich sein Oberteil etwas hochgeschoben habe. Selbst im Schlaf reagiert er darauf und bekommt eine Gänsehaut. Ich kann gar nicht anders – ich muss wieder kichern.
Und diesmal liegt mein seltsames Verhalten sicher nicht an den komischen Tabletten. Ich fühle mich recht klar im Kopf – kein schweben, kein fallen – dafür die leichte Übelkeit, die mir kontinuierlich sagt, dass ich noch krank bin und die Kopfschmerzen und das Schwächegefühl. Doch insgesamt geht es mir so viel besser als die letzten Tage, dass ich förmlich das Gefühl habe, ich könnte Bäume ausreißen – gut, keine Bäume, dazu bin ich doch noch zu schwach, aber ganz sicher schon Grashalme. Ich weiß, das klingt nicht nach viel, aber für jemanden der sich vor kurzem keine zwei Sekunden auf den Beinen halten konnte, ist das eine Menge.
Ich grinse und komme ihm mit meinem Gesicht noch näher, als beim Pusten.
„Jes.“, sage ich leise.
Er nuschelt etwas – im Schlaf, doch es ist mehr, als ich bis jetzt geschafft habe. Wieder versuche ich es.
„Jes.“
Er bewegt sich etwas, nuschelt wieder – doch er schläft weiter. Jes hat echt einen verdammt festen Schlaf. Wieder streiche ich ihm durch die Haare.
„Jes, wir sind zu spät!“, gebe ich gespielt aufgeregt von mir – doch keine Reaktion.
Er ist wirklich hartnäckig. Klar, er weiß das wir heute nicht aufstehen müssen, also muss er auch nicht reagieren. Verfluchtes Unterbewusstsein.
Okay, ich habe es wirklich auf die nette Art probiert – aber ohne Erfolg. Jes ist selbst Schuld.
„Jes, Hilfe! Ich ertrinke!“, rufe ich panisch und endlich schlägt er die Augen auf.
Aufgeregt sieht er sich um – auch wenn es ziemlich lächerlich ist, da das einzige Wasser in diesem Zimmer, in wiener Wasserflasche steckt – doch das ist eben seine Sorge um mich. Seine unlogische, völlig unbegründete und meist völlig unnötige Sorge um mich.
So was abzuziehen – auch noch während er krank ist – ist ziemlich gemein von mir, das weiß ich, doch es ging nicht anders. Vorwurfsvoll sieht er mich an – nachdem er festgestellt hat, dass ich wirklich nicht in Lebensgefahr schwebe. Er ist ziemlich blass und ich weiß nicht wirklich ob das an der Krankheit liegt oder an mir.
„Mistkerl.“, schleudert er mir ziemlich antriebslos entgegen.
Er wirkt erschöpft und unterstreicht das noch indem er die Augen wieder schließt. Ich mache mir keine Sorgen, dass er einfach wieder einschlafen könnte. So ist Jes nicht – einmal wach, hat er damit ziemliche Probleme. Das ist auch der Grund, aus dem er es hasst geweckt zu werden.
„Tut mir Leid.“, sage ich – und meine es auch so. „Aber deine Mom hat gesagt ich soll dich wecken. Sie macht Hühnersuppe und ich denke auch das wir langsam was essen sollten.“
Er öffnet wieder nur ein Auge um mich anzusehen.
„Dir geht es wirklich besser, was?“
Ich nicke und Jes lächelt leicht.
„Tut mir Leid.“, sage ich wieder und meine diesmal damit, dass ich ihn angesteckt habe.
Er greift unter der Decke nach meiner Hand und drückt sie leicht. Bestimmt fehlt ihn zu mehr die Kraft – mir nicht, deshalb drücke ich seine nun meinerseits. Ich lächele und gebe ihm einen Kuss. Was soll schon noch passieren, jetzt wo wir eh beide krank sind?
„Wie spät ist es?“, fragt Jes leise und ich stütze mich wieder schwerfällig auf um auf den Wecker zu sehen.
„Halb fünf.“ sage ich und lasse mich wieder in die Kissen fallen.
Jes stöhnt.
„Ich will schlafen.“, murmelt er, wie ein bockiges Kind.
„Du kannst nach dem Essen schlafen.“
Dafür bekomme ich nur ein Brummen und er zieht sich die Decke über den Kopf. Ich ziehe sie ihm gerade wieder runter als Melissa mit einem Tablett wiederkommt. Endlich essen –doch Jes sieht das anders. Er verzieht das Gesicht und weil er eben mein Jes ist, weiß ich diesen Gesichtsausdruck auch gleich zu deuten.
„Ist dir schlecht?“, frage ich und bekomme meine Antwort indem ich ihm einfach weiter ins Gesicht sehe.
Jes ist leichenblass, er hat dicke Ringe unter den Augen und sein Atem geht flacher als normal. Er sieht richtig scheiße aus.
Langsam helfe ich ihn dabei sich aufzusetzen und nehme gleich darauf die Schüssel vom Nachtschrank, die eigentlich für mich war. Ein Glück geht es mir besser. Ich gebe Jes die Schüssel und wünsche mir nichts mehr, als dass er es auch bald übersteht. Mein Armer Jes. Melissa sage ich, sie soll die Suppe wieder weg bringen und die Fenster öffnen. Dieser Geruch nach Essen, der jetzt im Raum steht ist so erdrückend, wenn man Krank ist. Ich vermute Jes ist deshalb schlecht geworden.
Melissa kommt meiner Bitte auch gleich nach, aber ich glaube für Jes ist es trotzdem zu Spät. Sein Atem wird immer flacher, bis er sich schließlich wirklich in die Schüssel übergibt. Lecker!
„Besser?“, frage ich und streiche ihm über den Rücken.
Er sieht mich mit einem Blick an, dass ich fast erschrecken könnte – gespenstisch! Und total fertig. Melissa nimmt die Schüssel und geht erst mal aus dem Raum, daraufhin legt Jes sich wieder hin. Mein armer Jes.
Mit einer Hand auf seiner Stirn stelle ich fest, dass er Fieber hat. Klar, ich hatte ja auch welches und er ist wegen mir Krank., weil ich ihn unbedingt bei mir haben wollte – weil ich egoistisch bin.
„Es tut mir leid.“, murmele ich wieder, aber er brummt nur.
Ich weiß schon, dass er mir dafür nicht die Schuld gibt – trotzdem. Er ist mein Jes, wieso kann ich da nicht auf ihn aufpassen? Ich seufze. Wahrscheinlich weil er derjenige ist, der schon immer auf mich aufgepasst hat.
Ich stehe auf und gehe rüber ins Bad. Dort haben sie in einem der Schränke allerlei medizinischen Kram gebunkert und ein dem Anblick fällt mir auch ein, dass ich doch eigentlich noch meine Tablette nehmen sollte. Ich schnappe mir das Thermometer – der eigentliche Grund meines kommens – und gehe damit zu Jes zurück. Dieser hat die Augen geschlossen als ich komme, aber ich sehe das er nicht schläft.
Ich setzt mich auf die Bettkante und gebe ihm das Thermometer. Mein armer Jes.
„Ignorier mich das nächste mal, wenn ich Krank bin.“, gebe ich ihm zu verstehen, auch wenn ich genau weiß, dass er das nicht einhalten wird.
Wieder sehe ich auf den Nachtschrank – und Tada – da liegen die Tabletten. Widerwillig nehme ich mir eine und breche auch für Jes eine mit raus. Was mir hilft, schlägt bei ihm doch sicher auch an, oder? Immerhin hat er sich doch bei mir angesteckt.
Ich verziehe das Gesicht als ich das kleine, widerliche Ding schlucke, aber ich bin Tapfer! Jetzt Jes. Sanft berühre ich ihn an der Schulter, sodass er mich ansieht.
„Die Tabletten sind zwar echt widerlich, aber die helfen echt.“
Auch Jes verzieht das Gesicht. Klar, wer ist schon Fan von Medizin? Bäh!
„Doch, komm.“, sage ich bestimmt und helfe ihm vorsichtig beim Aufsetzen.
Mein armer Jes. Was habe ich nur getan? Eine weitere Welle des schlechten Gewissens überrollt mich und als ich sehe wie Jes beim aufsetzten noch blasser zu werden scheint rutscht mir wieder ein 'Tut mir leid.' über die Lippen. Das beachtet er nicht weiter, trinkt dafür aber fein das Wasser das ich ihm zu der Tablette gebe. Jetzt muss es nur noch drin bleiben.
„Brauchst du noch was?“, frage ich nachdem er wieder liegt.
Er schließt die Augen und das ist für mich das Zeichen, dass er nur noch schlafen will. Gut, dann gehe ich jetzt was essen, bevor mir als nächstes vor Hunger schlecht wird.
Kaum an der Tür angekommen höre ich ein leises Piepen und merke das ich das Thermometer vollkommen vergessen habe. Ich schleiche also zum Bett zurück, aber es ist ja klar, dass Jes das ebenfalls gehört hat. Erschöpft öffnet er wieder die Augen.
„Tut mir leid.“
Wenn er könnte, würde er mir vermutlich eine runterhauen, weil ich mich ständig entschuldige, aber was anderes kann ich einfach nicht machen. Es ist nun mal meine Schuld, dass es ihm jetzt so dreckig geht und ich kann nichts dagegen tun. Ich bin so nutzlos. Mein armer Jes.
Ich nehme mir das Thermometer und sehe 37.9°C. Er macht die Augen wieder zu und zeigt mir so, dass ihn die Temperatur nicht interessiert. Ich mache ihm trotzdem ein feuchtes Tuch fertig und als ich wiederkomme ist er tatsächlich schon eingeschlafen. Gut so, schlafen ist gesund. Glücklicherweise bemerkt er nicht, dass ich ihm das Tuch auf die Stirn lege und auch nicht das ich das Zimmer wieder verlasse. Die Tür schließe ich nicht, falls er aufwacht und ruft – nur für den Fall. Mein armer Jes.
Jetzt gehe ich wirklich zum essen runter. Als Melissa mich sieht fragt sie sofort wieder nach meinem Befinden, doch mir geht es schon besser. Nicht großartig, nicht gut, aber besser – wirklich besser. Ich hoffe Jes geht es auch bald besser.
Wir setzten uns zusammen in die Küche und ich esse die Suppe. Diese ist jetzt nicht mehr so heiß, sondern nur noch lauwarm, sodass sie perfekt zum essen ist – und sie ist wirklich das Beste, dass ich in meinem ganzen Leben gegessen hatte. Jetzt merke ich auch, wie hungrig ich die ganze Zeit über war. Ich esse gleich noch zwei Schüsseln, doch das war wohl keine so besonders gute Idee.
Hunger hin oder her, mein Magen ist immer noch gereizt und sich da zu überfressen hilft nicht gerade das zu bessern – ergo: Mir ist wieder übel. Ganz toll. Wie ein nasser Sack hänge ich jetzt auf der Bank in der Küche fest und habe das Gefühl, dass jede Bewegung die Falsche ist.
Melissa ist derzeitig kurz oben und sieht nach ob Jes noch schläft. Ich hatte einfach keine Ruhe und habe sie darum gebeten. Es sind zwar erst zwanzig Minuten vergangen, aber wer weiß? Vielleicht ist er ja aufgewacht und braucht ganz dringend irgendwas. Und ich bin nicht da! Verdammt! Scheiße! Scheiße! Scheiße! Mein armer Jes.
Fast den ganzen restlichen Tag schläft er durch. Manchmal ist er aufgewacht, meinte, er sollte vielleicht mal was essen oder trinken, doch viel bekam er nicht runter. Nach ein paar Bissen von Zwieback und einem Schluck Kamillentee war er schon fertig und ist auch bald darauf wieder eingeschlafen – falls er es nicht gleich wieder raus gebrochen hat. Mein armer Jes! Es macht mich völlig fertig ihn so zu sehen.
Momentan schläft er wieder und ich bin froh darüber – nicht nur weil Schlaf gesund macht, sondern weil ich es nicht ertrage zu sehen wie sehr er sich quält und immer wieder frage ich mich, ob ich auch so jämmerlich aussah. Bestimmt. Vorsichtig – damit er nicht aufwacht – wende ich das Tuch auf seiner Stirn, damit es mit der kühlen Seite auf ihm liegt.
Leise wird die Tür aufgeschoben und Melissa winkt mich, mit den Telephon in der Hand, raus.
„Deine Mutter.“, flüstert sie mir so leise wie möglich zu, während wir dir Treppe runter gehen.
Unten in der Küche schließe ich die Tür und traue mich jetzt in normaler Lautstärke ans Telephon zu gehen, weil ich jetzt nicht mehr befürchte, Jes könnte dadurch aufwachen.
„Ja?“, frage ich und meine Mom fängt sofort an mich mit den üblichen Fragen ala 'Wie geht es dir?' zu bombardieren.
Nach den ich gefühlte Stunden damit verbracht hatte ihr zu versichern dass es mir gut geht wurde sie ernster.
„Nikki, ich denke du solltest jetzt zuhause sein.“
Ich brauchte einige Sekunden um den Satz zu verstehen. 'Zuhause sein' bedeutet nicht hier sein. Nicht hier sein bedeutet, weg von Jes zu sein. Jes ist krank. Er braucht mich jetzt. Wenn ich weg von Jes bin, kann ich nicht bei ihm sein. Error!
„Was?“, frage ich sie.
„Es wäre besser, wenn ihr jetzt nicht zusammen wärt. Ihr seit beide krank.“, sagt sie langsam, vorsichtig, so als müsste sie einen Wutausbruch von mir erwarten.
Tatsächlich muss sie das aber nicht – nur eine angehende Panikattacke. Wie könnte ich Jes allein lassen, wo er doch krank ist – Wo er doch wegen mir krank ist. Das geht nicht. Das passt nicht. Nein. Nein! Auf keinen Fall gehe ich wo anders hin, als zurück zu Jes nach oben. Schon allein diese keine räumliche Trennung, die wir momentan haben, lässt meine Kopfschmerzen schon schlimmer werden.
Mein Atem geht schneller und flacher und irgendwo, tief in mir, bin ich mir bewusst das ich überreagiere – vermutlich wegen der Tabletten, doch das spielt jetzt keine Rolle.
„Nein Mom.“, sage ich und meine Stimme klingt brüchig. „Ich kann hier nicht weg.“
Wieder ist es still zwischen uns. Ganz sicher hat sie den Umschwung in meiner Stimmer gehört.
„Nikki.“ fängt sie wieder leise an, doch ich falle ihr ins Wort.
„Nein!“, sage ich so bestimmt wie es mit meiner Stimme im Moment geht. „Wenn ihr mich hier weg holen wollt, müsst ihr mich schon vorher erschießen. Ich gehe nicht weg!“
So Theatralisch kannte mich meine Mutter gar nicht. Woher denn auch? Und sie weiß auch nichts über die Nebenwirkungen. Ich will nicht wissen, für wie verrückt mich sie gerade halten muss. Doch dass ist mir egal – ich kann hier einfach nicht weg! Ich kann Jes doch nicht einfach alleine lassen.
„Und jetzt hast du vor euch immer wieder gegenseitig anzustecken?“
Ich schlucke. Das ist eine berechtigte Frage und ich muss zugeben, dass ich mir tatsächlich auch schon Gedanken darum gemacht habe.
„Wir haben Tabletten.“
„Du hast Tabletten.“
„Das ist doch Unsinn. Er hat sich bei mir angesteckt. Wir haben die gleichen Symptome. Warum sollte er nicht die gleichen Tabletten nehmen?“
Ich höre sie am Ende der Leitung seufzen und kann förmlich sehen wie sie sich erschöpft mit der Hand über ihr Gesicht fährt.
„Nikki-“, fängt sie an, doch ich falle ihr wieder ins Wort.
„Ich habe eine Entschuldigung für die Schule. Morgen früh gehe ich mit Jes zum Arzt und Übermorgen soll ich mich nochmal im Krankenhaus vorstellen. Der Weg von Jes ist viel kürzer. Bitte Mom, du kannst uns nicht trennen.“
Einige Sekunden ist es wieder still zwischen uns.
„Gib mir mal bitte Melissa.“
Ich weiß jetzt nicht ob das gut oder schlecht ist, wenn die Beiden zusammen über mein Schicksal entscheiden, doch ich hoffe sehr, dass das Ganze zu meinen Gunsten ausfällt. Sicher wäre es nicht das erste Mal, dass Jes und ich für ein paar Tage getrennt wären und normalerweise ist das auch kein so großes Drama, doch jetzt wo er krank ist, kann ich nicht einfach gehen!
Ich habe schon kaum Ruhe dabei hier in der Küche zu stehen, während er oben allein ist, doch eine noch größere Entfernung kommt gar nicht in Frage. Ich kann immer wieder nur daran denken, dass er aufwacht und ich nicht da bin. Das wäre schrecklich. Wenn ich da an diese Sehnsucht im Krankenhaus denke – es war unerträglich und ich hätte nie gedacht das ich jemanden mal so sehr vermissen könnte. Was wenn es Jes genauso ginge? Nein, ihn allein zu lassen kommt nicht in Frage und wenn ich mich an sein Bett kette!
Melissa legt auf und merke erst jetzt dass mich meine Gedanken so sehr vereinnahmt haben, dass ich gar nicht mitbekommen habe wie das Gespräch ausging.
„Und?“, frage ich sie deshalb.
„Also, Jessica war natürlich nicht so begeistert, aber sie meinte es sei in Ordnung.“
Ich bin so unheimlich erleichtert, dass ich ihr dafür am liebsten um den Hals fallen würde – aber das tue ich natürlich nicht, da ich sie nicht auch noch anstecken möchte. Stattdessen sage ich brav 'Danke.' und hoffe darauf, dass dieses Wort wirklich meine ganze Dankbarkeit rüberbringt. Sie lächelt mich sanft an und streicht mir mit der Hand kurz durch die Haare.
Ganz fürsorglich fragt sie mich, ob ich noch was essen möchte, doch ich lehne ab. Ich möchte mich lieber hinlegen. Schlafen ist gesund – außerdem muss ich unbedingt nach Jes sehen.
Oben angekommen sehe ich, dass er tatsächlich mal wach ist. Schwach lächelt er mich an, als er mich bemerkt.
„Hey, na, wie geht’s?“, frage ich ihn und streiche ihm einige Haare von der Stirn.
Das Tuch, dass ich ihm vorhin drauf gelegt hatte ist mittlerweile runtergerutscht und liegt nun neben ihm auf dem Kissen. Ich nehme es in die Hand.
„Beschissen.“, meint er schwach. „Aber etwas besser.“
„Da wird schon wieder.“, erwidere ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst noch dazu sagen könnte.
Trotzdem eine ziemlich dumme Ansage, dass merke ich sogar selber. Ich wette Jes würde jetzt die Augen verdrehen, wenn er die nicht schon wieder geschlossen hätte. Ich streiche ihm weiter mit der Hand über die Stirn. Sie fühlt sich immer noch zu warm an um normal zu sein, doch ist sie nicht mehr ganz so heiß wie vorhin. Gott sei dank!
„Hast du Hunger?“, frage ich ihn.
Er sollte was essen. Er ha die ganze Zeit noch nicht wirklich was im Magen behalten. Jetzt geht es ihm etwas besser – er sollte ganz dringend was essen. Er zuckt leicht mir den Schultern.
„Irgendwas bestimmtes? Nudelsuppe? Oder lieber wieder Zwieback? Was willst du trinken?“
Das lächeln huscht wieder über sein Gesicht und mir fällt auf, dass ich wie meine Mutter klinge.
„Zwieback ist okay und Wasser.“
Und kaum hat er das ausgesprochen bin ich auch schon runter geflitzt und habe den Zwieback in eine kleine Schüssel getan und noch ein Glas Wasser mitgenommen.
Wieder oben, helfe ich Jes dabei sich aufzusetzen und merke wie gut es mir selbst schon wieder geht. Nein, ich bin noch lange nicht gesund, doch verglichen damit wie es mir am Anfang ging – nun, ich glaube ich bin überm Berg. Und Jes wird es auch bald geschafft haben – ganz sicher.
Ich stopfe ihm das Kissen in den Rücken, damit ihm das Sitzen leichter fällt und er beginnt langsam damit an dem Zwieback zu knabbern.
„Geht es?“, frage ich ihn nach einer Weile.
Er nickt und trinkt einen Schluck. Er sollte mehr trinken. Trinken ist gesund.
„Du bist über fürsorglich, wirklich.“
Er greift nach meiner Hand und da ich genau neben ihm sitze lehnt er sich an mich an. Ich weiß, ich führe mich wie eine verrückte Glucke auf – doch es geht immerhin um Jes. Wie könnte ich da irgendwie anders reagieren? Und ich stehe unter Medikamenteneinfluss. Ich bin mir zwar hundert prozentig sicher, dass ich mich auch ohne Medikamente so um ihn gekümmert hätte, doch es ist zumindest eine gute Ausrede – wofür auch immer. Schließlich weiß Jes ja wie ich mich wann Verhalte, weil Jes einfach alles weiß. Weil er mein Jes ist. Mein Jes.
Man, sind meine Gedanken wieder verworren. Ich grinse. Mein Jes. Okay, die Tabletten wirken eindeutig noch ziemlich gut. Jes sieht mich an. Ich beuge mich zu ihm runter und küsse ihn ganz leicht auf den Mund.
Wie habe ich dieses Gefühl doch vermisst? Es kommt mir vor, als sei es Ewigkeiten her seit wir uns das letzte Mal geküsst haben. Jes sieht das wohl auch so, denn er lehnt sich noch näher zu mir und unser Kuss wird dadurch etwas stärker.
„Jungs! Nikki, ich musste Jessica versprechen, dass ihr wenigstens versucht euch nicht anzustecken damit du bleiben darfst.“
Ich schrecke auf. Wie konnte ich denn nicht mitbekommen, dass sich die Tür geöffnet hat? Jes sieht mich mit großen Augen an.
„Wie, damit du bleiben darfst?“, fragt er beinahe genauso panisch wie ich mich gefühlt hatte.
„Schon in Ordnung.“, sage ich zu Jes und gebe ihm einen Kuss auf die Schläfe, während wir weiterhin dicht beieinander sitzen.
„Wir werden es versuchen, versprochen.“, wende ich mich dann an Melissa und versuche wirklich glaubwürdig zu klingen.
Sie sieht uns abwechselnd an und hebt dabei eine Augenbraue. Das macht Jes auch oft. Es bedeutet, dass sie uns nicht glaubt – dafür kennt sie uns vermutlich auch schon zu lange, doch ich bin mir sicher auch sie hat die Panik die mich vorhin und Jes eben ergriffen hat bemerkt. Sie wird uns nicht trennen – hoffe ich zumindest.
Sie schüttelt kaum merklich den Kopf.
„Versprochen?“, fragt sie nochmal nach.
„Versprochen!“, antworten wir beide gleichzeitig.
Das scheint ihr für das erste zu reichen, denn sie geht wieder aus dem Zimmer. Vermutlich denkt sie, dass wir uns doch nicht zusammenreißen können und unter normalen Umständen hätte sie auch Recht gehabt, doch weil es nun mal keine normalen Umstände sind, versuche ich wirklich mich zusammenzureißen.
Ich greife über Jes hinweg nach der Packung mit den Tabletten. Die letzte für Heute. Widerlich, aber sie müssen sein. Auch Jes verzieht das Gesicht und er wird nicht glücklicher als ich ihm das Wasser dazu gebe – ich auch nicht. So schnell wie möglich bringen wir es hinter uns. Wenn doch wenigstens dieser eklige Nachgeschmack nicht wäre. Ich trinke gleich noch ein Glas aus und schenke auch bei Jes nochmal ein. Dieser schafft sein zweites nicht, sieht aber dennoch schon nicht mehr ganz so angewidert aus.
„So, und jetzt werden wir schlafen.“, verkünde ich und Jes sieht mich mit großen Augen an.
„Sieh mich nicht so an. Morgen müssen wir früh raus, weil Ärzte nun mal nur früh offen haben.“
Er lehnt sich wieder an mich an und legt mir dabei seine Arme um den Hals. Ich weiß genau was er will und ich will auch – wahnsinnig gern sogar, doch wir sollten das nicht tun. Verdammt!
Ich kenne diese Sehnsucht, doch diesmal darf ich nicht nachgeben. Als Jes merkt, das ich nicht weitergehe, sieht er mich an.
„Jes, wir sind krank. Ich will nicht, dass es dir noch länger so schlecht geht.“
Der Blick, den er mir zuwirft wirkt so dermaßen verletzt, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Tränen steigen in seine Augen und er sieht wütend aus. Verdammte Tabletten – die leider auch bei mir wirken.
Ich spüre diese Sehnsucht – die, die auch Jes gerade in ihrer Gewalt hat – und weiß einfach nicht was ich noch tun soll. Dieser Blick von ihm macht mich fertig und mit seinen Tränen konnte ich noch nie besonders gut umgehen. Ich fühle mich überfordert und auch mir steigen die Tränen hoch. Beschissene Situation. Was soll ich bloß machen?
„Nikki-“, flüstert Jes mit gebrochener Stimme.
Sie klingt so schwach und verletzt. Scheiße! Was soll ich nur tun? Aus lauter Verzweiflung springe ich vom Bett auf und renne fast schon ins Bad. Ich kann ihn einfach nicht so sehen. Ich habe ihn noch nie abgewiesen. Verdammt! Wie konnte es nur soweit kommen?
Ich setzte mich auf die kalten Fliesen und ziehe die Beine an. Meine Gedanken drehen sich um Jes. Wie fühlt er sich? Geht es ihm besser? Ist er mir Böse? Oder kann er meine Entscheidung nachvollziehen?
Ich schüttle den Kopf. Erstmal sollte ich mir Gedanken darum machen, wie es jetzt weiter geht. Diese Sehnsucht nach Jes frisst mich geradezu auf, doch irgendwo weiß ich, dass es eine verdammt blöde Idee ist ausgerechnet jetzt mit ihm zu schlafen. Mom hatte schon Recht – sich immer wieder gegenseitig anzustecken ist sicherlich nicht das Beste das wir tun könnten. Aber wie soll ich mit der Situation umgehen?
Sobald ich ihn wieder vor mir sehe, weiß ich nicht, ob meine guten Vorsätze noch Platz in meinem Kopf haben. Aber er ist so schwach. Ich darf einfach nicht nachgeben. Mit einem lauten Seufzen stehe ich wieder auf und gehe zurück in das Zimmer. Jes sitzt immer noch in der gleichen Pose da, wie ich ihn zurückgelassen habe – und sieht mich an. Verdammt!
Dieser Blick von ihm wirkt immer noch so verletzt, dass ich das Gefühl habe jemand sticht mit einem Haufen kleiner Nadeln auf meine Brust ein. Noch nie sah er so verletzt und verzweifelt aus. Wieder frage ich mich wie ich jetzt reagieren sollte, aber ich weiß auch dass mir sicherlich keiner plötzlich einen Plan vor die Füße schmeißt. Mit dieser Situation muss ich allein umgehen.
Scheiße – Wer konnte auch ahnen, dass die Nebenwirkungen auch bei Jes aufkommen? Keiner. Verdammt!
Ich schaffe es einfach nicht. Ich bin lächerlich und lachhaft, doch ich schaffe es einfach nicht Jes' Blick standzuhalten. Stattdessen flüchte ich regelrecht wieder aus dem Raum. Scheiße. Sein Blick geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf und diese Sehnsucht ist größer als je zuvor. Sie zerreißt mich und ich will nichts lieber als jetzt bei Jes zu sein. Ihm einfach in die Augen zu sehen und seine Haut unter meinen Fingern zu spüren.
Ich kann mich nicht daran erinnern jemals jemanden so sehr vermisst zu haben, wie Jes in diesem Moment. Es ist überwältigend und erschreckend gleichermaßen – Vor allem da uns nur die Tür und mein Kopf trennen. Ersteres ist kein Hindernis. Ich würde die Tür eintreten, wenn ich müsste, doch letzteres – mein Kopf, mein Verstand – hält mich noch davon ab. Es ist zum Verrückt werden. Ich komme nicht vor und nicht zurück.
Ich schließe die Augen und atme einmal tief durch. Denke nach – Logisch bitte! Jes sitzt da drin und will Sex – aber er ist krank, also wäre das schlecht für ihn und auch für mich. Ich bin ebenfalls krank. Würden wir jetzt miteinander schlafen würden wir uns nur wieder anstecken – besonders weil Jes ja gerade deswegen krank geworden ist. Fazit: Ich darf auf keinen Fall nachgeben.
Okay, so weit war ich auch vorher schon. Verdammt. Ich hätte große Lust zu schreien und zu Toben, wie ein kleines Kind aus lauter Frustration, doch dazu fehlt mir gerade schlichtweg die Energie. Was soll ich nur machen? Und auch wenn ich mir die Frage jetzt zum hundertsten Mal stelle, der Lösung bin ich dadurch doch nicht näher gekommen. Scheiße. Ich habe das Gefühl ich drehe mich nur im Kreis.
„Nanu? Was machst du denn hier draußen?“
Ich sehe auf. Melissa steht vor mir und sieht mich verwundert an. Ich spüre wie mir die röte in die Wangen schießt und weiß einfach nicht was ich sagen soll. 'Jes will Sex, aber wir sind krank.', wäre glaube ich, nicht so ideal. Sicher weiß Melissa das wir miteinander schlafen, doch es ihr so auf die Nase binden wäre mir doch zu peinlich. Aber was soll ich ihr sonst sagen?
„Nikki, hast du wieder Fieber?“
Kaum ist das gesagt, habe ich auch schon ihre Hand auf der Stirn.
„Du bist zu warm. Leg dich besser wieder hin, nicht das du wieder umfällst.“
Ich reiße die Augen auf. Ich? Da rein? Niemals! Auch wenn ich will … Aber das spielt keine Rolle! Verdammt! Ich schüttle heftig den Kopf. Was soll ich ihr nur sagen? Krank! Genau, wir sind krank – das war doch die ganze Zeit über schon meine Begründung.
„Vielleicht sollte ich heute besser im Gästezimmer schlafen.“
Melissa sieht mich einige Augenblicke lang an – verwirrt, kritisch, doch schließlich sieht sie erleichtert aus und nickt. Mein Herz klopft schnell und ich fühle mich als müsste ich gleich in Tränen ausbrechen.
Meine ganzen verdammten Reaktionen sind so lächerlich. Ich wollte es doch so – Naja, wollen ist wohl nicht so ganz das richtige Wort dafür … Es ist eben das richtige. Ich muss mich damit abfinden und Schluss. Warum fühle ich mich dann jetzt bitte so mies? Agrr! Ich habe keine Lust mehr auf die ganze Scheiße. Können wir nicht vor spulen? Natürlich können wir das nicht – als gäbe es für das Leben eine Fernbedienung.
„Brauchst du sonst noch etwas?“, fragt Melissa und ich sehe, dass sie das Gästezimmer schon vorbereitet hat.
Erst will ich den Kopf schütteln, doch dann fällt mir doch noch was ein.
„Gehst du jetzt zu Jes?“, frage ich und kann nicht glauben, dass meine eigen Stimme so weinerlich klingen kann.
Verdammt, reiß dich zusammen! Ist es nicht schon dumm genug sich von blöden Nebenwirkungen so mitreißen zu lassen – Nein, jetzt versagt auch noch meine Stimme, weil ich auf eigenen Wunsch in einem anderen Zimmer schlafe.
Sie nickt und ich räuspere mich, bevor ich nochmal spreche.
„Kannst du Jes bitte sagen, dass ich heute hier schlafe?“
Sie sieht verwirrt aus, doch sagt nichts weiter dazu, sondern wünscht mir nur eine gute Nacht und geht. Was sie jetzt wohl denkt? Was Jes wohl dazu sagen wird? Ist er überhaupt noch wach? Ob er mir die Aktion übel nimmt?
Ich werfe mich auf das Bett und vergrabe mein Gesicht im Kissen – allerdings nicht für lange, da man auf diese Weise wirklich schlecht Luft bekommt. Obwohl ich nicht denke das Sauerstoffmangel bei mir noch einen Schaden anrichten könnte. Durch die verdammten Medikamente bin ich quasi nicht mehr zurechnungsfähig. Dieses 'Gefühls-Gesteuert sein' ist echt nichts für mich. Ich verlasse mich lieber auf meinen Verstand – in den meisten Fällen. Die jetzige Situation überfordert mich einfach total.
Irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein, denn als das nächste mal die Augen auf mache sehe ich – nichts. Es ist stockfinster. Todmüde taste ich nach der Nachttischlampe um auf die Uhr sehen zu können. War eine echt dumme Idee, wie ich keine Sekunde danach feststelle. Das helle Licht lässt meine Augen im Nu schmelzen und ich werde blind – oder so fühlt es sich zumindest im ersten Augenblick an. Ich kneife die Augen zusammen, doch natürlich nicht schnell genug. Scheiße. Selbst mit geschlossenen Augen fühle ich mich noch geblendet. Da hilft alles nichts. Ich warte ein bisschen und öffne die Augen dann wieder – langsam diesmal.
Es ist immer noch zu hell, doch erträglicher und endlich kann ich auf die Uhr sehen – was ja mein eigentliches Vorhaben darstellte. Viertel vor vier – schöne Scheiße. Ich lasse mich wieder in die Kissen fallen und stelle jetzt erschrocken fest, dass ich mich ganz allein im Zimmer befinde. Einen kurzen Augenblick lang befällt mich die Panik, doch dann fällt mir wieder ein, dass Jes nur zwei Zimmer weiter liegt. Erleichtert atme ich aus und muss fast über mich selbst lachen – aber wirklich nur fast. Stattdessen drehe ich mich wieder auf den Bauch und vergrabe mein Gesicht im Kissen.
Dieses ganze Drama, kommt mir jetzt noch viel lächerlicher vor als vorhin und ich kann kaum glauben dass ich das wirklich war. Nicht das ich mich sonst immer Erwachsen und vernünftig benehme – das nun wirklich nicht – aber die Aktion gestern schlägt dem Fass den Boden aus. Ich könnte schreien, so peinlich ist mir das ganze. Melissa muss mich jetzt bestimmt auch für seltsam halten – und was wird Jes denken? Na gut, er stand selbst unter Medikamenteneinfluss, doch kommt mir sein Verhalten längst nicht so blöd vor wie meins – weil es das auch nicht war.
Ich drehe mich wieder auf den Rücken. Ob er sauer ist, dass ich ihn allein gelassen habe? Ich hoffe nicht – war ja eigentlich auch nur zu seinem Besten. Doch ich kann seine Reaktion in diesem Fall wirklich nicht einschätzen. So eine Situation hatten wir noch nie. Ich seufze laut auf. Ich wünschte wir hätten die Situation auch jetzt nicht. Warum musste ich nur krank werden? Scheiße. Jes. Ich will zu Jes.
Nicht, um jetzt doch noch nachzugeben – aber ich vermisse ihn. Es ist wirklich dumm, besonders da wir uns eh fast jeden Tag sehen, doch so ist es nun mal. Ich vermisse Jes. Das ist auch der Grund warum ich mich – nach endlosem in und her wälzen – dazu durchgerungen habe aufzustehen. Innerlich lautstark über meine eigene Dummheit fluchend schleiche ich mich jetzt also auf Zehenspitzen in Jes' Zimmer – der tief und fest schläft. Jetzt wo ich ihn sehe, ruhig und schlafend, merke ich wie eine Anspannung von mir abfällt die ich bis zu diesem Zeitpunkt so noch gar nicht wahrgenommen hatte. Jes geht es gut – also geht es mir auch gut.
Man, ich bin schon wieder lächerlich. Aber so bin ich nun mal. Ich weiß selbst nicht genau wie oder wann diese Abhängigkeit zwischen uns entstanden ist, doch gerade jetzt fällt sie mir wieder besonders auf. Ich habe mich einfach so sehr an Jes gewöhnt das ich mir ohne ihn nichts vorstellen kann. Seltsam, oder? Dabei wollte ich ihn am Anfang nur loswerden. Ich muss lächeln. Jes ist einfach unglaublich, dass er es mit mir aushält.
Ich will gerade den Raum verlassen, da höre ich Jes' Stimme hinter mir.
„Nikki?“
Ich drehe mich um und gehe auf das Bett zu. Jes ist wach und sieht mich mit müden Augen an. Ich setzte mich zu ihm und streiche mit meiner Hand durch seine wirren Haare. Er lehnt seinen Kopf gegen meine Hand. Ich in so erleichtert das er mir keinen Vorwurf macht, wegen meinem dummen Verhalten, stattdessen lächelt er mich an.
„Tut mir Leid, dass von vorhin.“, sage ich trotzdem und bekomme als Antwort einen kleinen Kuss.
Ich schüttle den Kopf – blöde Träumerei. Noch einmal sehe ich zu Jes aufs Bett. Er schläft weiterhin tief und fest – und fehlt mir, aber das tut hier nichts zur Sache. Ich verlasse den Raum wieder, genau so leise, wie ich ihn betreten habe und gehen wieder ins Bett – also in das aus dem ich eben gekommen bin. Es kommt mir zu leer vor, wenn ich so ganz allein darin liege, trotzdem schaffe ich es wieder einzuschlafen und fühle mich sogar ausgeruht als ich das nächste mal aufwache. Was seltsam ist, da es erst kurz vor sechs ist, aber okay. Ich muss sowieso raus. Jes muss zum Arzt und die haben ja immer nur früh offen – weshalb auch immer das nun so ist.
Ich stehe jedenfalls auf und mache mich fertig. Als ich wieder aus dem Bad komme, biegt Melissa gerade in den Flur ein und sieht mich ganz überrascht an. Verwundert mich nicht. Wenn ich sie wäre, würde ich vermutlich glauben einen Geist zu sehen. Ich kann mich nicht mal mehr daran erinnern wann ich – und Jes ist da nicht besser – zum letzten mal freiwillig, ausgeruht und am morgen aufgestanden bin.
Nachdem sie sich wieder gefangen und mir einen 'Guten Morgen.' gewünscht hat, geht sie auf Jes' Tür zu. Bei jedem ihrer Schritte gehen mit tausende von Gedanken, Vorstellungen und Gesprächen durch den Kopf, die alle nur einen Sinn haben – meine Begegnung mit Jes, nach meiner schwachsinnigen Reaktion. Es gibt so viele Möglichkeiten, wie er darauf reagieren könnte, doch keine erscheint mir als wirklich vorstellbar – und doch kommen sie alle in Frage.
Ehe ich es selbst begriffen habe sind die Worte schon aus meinem Mund.
„Ich werde ihn wecken.“
Melissa dreht sich überrascht zu mir um, doch sie lässt mich machen. Ich weiß nicht so recht ob ich mich jetzt erleichtert fühlen sollte, aber Fakt ist: Erleichtert bin ich sicher nicht. Dafür aber angespannt und nervös – eie Reaktion die ich von mir, im Bezug auf Jes, noch gar nicht kenne und das verwirrt mich umso mehr.
Warum musste ich auch unbedingt was sagen? Doch es hilft alles nichts und irgendwann werde ich mich ihm sowieso stellen müssen. Zur Not sage ich das wir es eilig haben, um zu entkommen. Aber was, wenn er hilfe braucht? Kann er überhaupt schon alleine aufstehen? Aber wenn er wirklich richtig wütend auf mich ist, wird er sich sicher nicht von mir helfen lassen wollen, oder? Agrrr!!!
Der ganze Gedankensalat ist nicht gut für meinen armen Kopf, zumal ich selbst ja auch noch krank bin. Doch ich müsste so oder so da rein – meine Tabletten sind da noch drin und wenn ich die nicht nehme, wer weiß … Aber vielleicht kann ich mich ja rein schleichen, ohne ihn zu wecken. Was denke ich da wieder? Ich muss mich ihm früher oder später sowieso stellen – wenn im Moment auch lieber später, aber diese Option gibt es ja nicht mehr. Ich muss da jetzt rein.
Ich lege meine Hand auf die kalte Klinke und spüre im Gegenzug meine heißen Ohren umso mehr – was das ganze noch peinlicher macht. Langsam schiebe ich die Tür auf – was auch unsinnig ist, da ich ihn eh wecken muss – und sehe, dass er wach ist. Das bringt mich gleich noch mehr aus dem Konzept. Warum ist er wach? Er sollte noch gar nicht wach sein. Scheiße.
„Du hast ziemlich lange gebraucht.“, sagt er, den Kopf mühevoll zu mir rumgedreht, während er mich mit großen Augen ansieht.
In seiner Stimme ist kein Vorwurf, keine Wut und auch sonst wirkt er nicht wütend auf mich. Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich habe mich umsonst die ganze Zeit gefürchtet – zum Glück umsonst. Ein lächeln schleicht sich auf mein Gesicht und ich komme mir gleich noch viel dümmer vor.
„Entschuldige. Bist du schon lange wach?“
„Erst seit du durch den Flur gebrüllt hast. Ich werde ihn wecken.“, lacht er leise.
So ein perfekter Moment für ein Loch im Boden, durch das man einfach verschwinden könnte – doch was passiert? Nichts. Ich unterdrücke jedes weitere Bedürfnis mich irgendwo zu verstecken, kann das rot werden aber dennoch nicht unterdrücken.
Tapfer stelle ich mich Jes' Blicken, die mich amüsiert ansehen und stelle dabei auch fest, dass es ihm heute schon etwas besser zu gehen scheint. Er sieht immer noch schlimm aus, blass und schwach, aber im Gegensatz zu gestern wirkt er regelrecht lebendig. Das freut mich.
„Sag mal, wegen gestern. Bist du nicht sauer auf mich? Ich meine, ich habe dich abgewiesen und du hast mich so angesehen. Naja, ich weiß, die Medikamente und so, aber-“
„Nikki.“, werde ich unterbrochen. „Ich hatte eher Angst, dass du wütend auf mich bist.“
Ich gebe zu, dass ich das kein bisschen verstehe. Wer von uns hat sich denn bitte total bescheuert aufgeführt? Ich natürlich. Welchen Grund könnte ich schon haben sauer auf Jes zu sein? Ich kann gar nicht sauer auf Jes sein – nicht seit dem er ein fester Bestandteil meines Lebens geworden ist. Offensichtlich sehe ich genauso verwirrt aus, wie ich mich fühle, denn Jes setzt zu einer Erklärung an.
„Wir sind beide krank. Ausgerechnet in dem Zustand miteinander zu schlafen, wäre wohl wirklich das dümmste das man tun könnte, aber ich konnte nicht anders. Ich weiß, dass ich dir ziemlich auf die Pelle gerückt bin, zumal du ja auch Nebenwirkungen hast, doch du hast es irgendwie geschafft dich zusammenzureißen. Warum ich nicht? Ich dachte du bist deswegen wütend auf mich, weil du einfach nicht wiedergekommen bist. Doch du hast nur an unsere Gesundheit gedacht, oder?“
Stumm nicke ich, noch völlig baff davon, dass auch Jes sich offensichtlich unnötige Gedanken gemacht hat – aber auch irgendwie erleichternd.
„Jungs!“
Erschrocken fahren wir beide herum und sehen zur Tür. Dort steht eine wütende Melissa. Naja, nicht wütend wütend, sondern steht-endlich-auf-wütend.
„Entschuldigung!“, rufe ich sofort. „Wir werden uns beeilen, versprochen.“
Damit ist sie zufrieden, weiß sie doch am besten um unser Talent sich und wenigen Minuten fertig zu machen. Sie schüttelt nur noch den Kopf und geht dann wieder.
Mein Blick fällt auf die Uhr. Kaum zu glauben, dass wir – oder wohl besser ich – bereits zwanzig Minuten vertrödelt haben. Nicht das es mir darum gehen würde pünktlich super vorbildlich, in der ersten Reihe zu stehen, wenn die Praxis aufmacht, aber es ist nun mal so, dass umso später man kommt, man umso länger warten muss – und darauf habe ich sicherlich keine Lust und Jes ganz bestimmt auch nicht. Ich sehe ihn an.
„Jes, kannst du aufstehen?“, frage ich und eile sofort um das Bett herum, als ich sehe, wie er versucht sich aufzusetzen.
Er ist schwach und sich auf den Beinen zu halten gestaltet sich als etwas schwierig, doch mit Unterstützung geht das schon. Ich sorge dafür, dass er nicht umfällt.
Zusammen gehen wir ins Bad und machen uns fertig. Insgesamt dauert es länger als sonst, trotzdem liegen wir – in Anbetracht der Umstände – ganz gut in der Zeit und begeben uns dann nach unten, in die Küche. Frühstück muss heute schon sein, denn auch nüchternen Magen soll man die Tabletten ja nicht nehmen und diese wegzulassen sollten wir besser nicht probieren.
Jes verzieht sein Gesicht sobald ihn der Geruch von Essen erreicht und auch ich bin nicht unbedingt hungrig – doch wen interessiert schon was wir wollen. Ich bekomme wieder Suppe und Jes gibt sich mit Zwieback zufrieden, weil er beim Geruch der Suppe schon von mir abrückt. Sicher ist der Geruch immer noch zu stark für ihn. Ehe er sich wieder übergeben muss setzt ich mich lieber in die andere Ecke der Küche und beobachte wie er an seinem Zwieback rumknabbert und zwischendurch etwas Kamillentee trinkt. Nach einem weiteren Schluck und einem angewiderten Blick sagt er, er sei satt – dabei hat er doch kaum was gegessen.
Es hilft alles nichts, wenn er satt ist, dann ist das eben so. Ich lege ihm eine der Tabletten hin und er verzieht wieder das Gesicht, nimmt sie aber brav. Nachdem ich fertig mit essen bin, nehme ich auch eine und stecke mir die Packung danach wieder in die Hosentasche.
Die Praxis ist nicht so weit von hier entfernt, doch Melissa fährt uns trotzdem hin. Sie fragt, ob sie bleiben und mit reinkommen soll, doch wir versichern ihr, dass es schon geht, da sie heute ja auch wieder arbeiten muss. Wir schaffen das schon. Sie hatte bereits genug Umstände wegen uns und falls doch etwas sein sollte, dass ich nicht bewältigen kann, sind wir ja schon beim Arzt.
Nur leider, sind wir nicht mehr die Ersten. Da alles etwas unglücklich gelaufen ist – wegen der Sache gestern – brauchten wir heute etwas länger und das Frühstück hatten wir auch nicht eingeplant. Demzufolge liegen jetzt endlose Stunden des Wartens vor uns. Super. Jes neben mir seufzt leise – offenbar hat er genau so große Lust, wie ich, den halben Tag hier zu verbringen. Naja, zu verdenken ist es ihm nun wirklich nicht.
Ich sehe mich um. Zwar sind wir nicht die Ersten, dennoch ist es noch nicht so voll, so dass es noch freie Plätze gibt. Weiter hinten im Raum sind sogar zwei nebeneinander frei und genau die steuere ich an – mit Jes an der Hand, was uns auch gleich wieder die ersten Blicke einbringt. Kurz frage ich mich wieder, warum das so außergewöhnlich ist, dass man da unbedingt hin glotzen muss – doch dann schüttle ich nur den Kopf. Ist ja auch nichts neues – dieses gegaffe – also ist es mir einfach wieder egal. Ich weiß, dass Jes es auch zur Kenntnis genommen hat – weil Jes einfach immer alles bemerkt – doch auch er reagiert nicht darauf. Mein Armer Jes ist wirklich krank. Normalerweise würde er es sich nämlich nicht nehmen lassen noch etwas zu provozieren – mit einem Kuss zum Beispiel. Doch das sollte in unserem Zustand auch gar keine Option sein, schließlich sind wir deswegen hier. Nur wegen meinem Egoismus!
Mein schlechtes Gewissen meldet sich einmal mehr zu Wort und ich schüttle leicht den Kopf. Jes bemerkt es – natürlich tut er das – immerhin hat er es sich trotz dessen nicht nehmen lassen seinen Kopf auf meine Schulter zu legen. Er sieht zu mir hoch, doch ich schüttle wieder nur den Kopf und lächle ihn leicht an. Seine Hand halte ich immer noch. Er sieht fiebrig und erschöpft aus – und es tut mir so Leid.
Aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie wir immer noch von den meisten beobachtet werden. Ja, ich weiß, andere Generation und so weiter – doch ernsthaft: Willkommen im 21. Jahrhundert. Einer der Opas sieht so aus, als würde er mit jedem Atemzug den wir machen, schlechtere Laune bekommen. Ich sehe ihn offen an – und oh, wenn Blicke töten könnten – aber das können sie nun mal nicht und so erfreue ich mich einfach weiter meines Lebens. Oder auch nicht, je nach dem, wie man es sehen möchte, denn Jes geht es natürlich noch nicht besser. Er hat sich wieder an mich angelehnt, aber weil Jes – ob krank oder nicht – nun mal Jes ist, hat er es sich nicht nehmen lassen, mit seinem Stuhl so weit wie möglich an meinen heran zu rücken.
Der Opa beobachtet uns weiterhin mit wachsender Begeisterung bis er aufgerufen wird. Noch im weggehen höre ich ihn die Schwester fragen, wie man solche wie uns überhaupt rein lassen kann. Ihre Antwort kann ich nicht mehr verstehen, doch Jes' Hand schließt sich etwas fester um meine.
Es ist nicht das erste Mal, das jemand so auf uns reagiert – weit nicht – und ich lasse es mir auch nicht anmerken, doch so eine Reaktion ist für mich immer wieder unverständlich.
Nach etwa zehn Minuten kommt der Alte wieder aus dem Behandlungszimmer und wirft uns einmal mehr einen abschätzenden Blick zu. Jes und ich sitzen natürlich noch genauso da, wie vor seinem Verschwinden und ich kann es mir nicht nehmen lassen ihn frech anzugrinsen. Mit einem Schnauben verlässt er den Raum wieder und ich komme nicht umhin irgendwie erleichtert zu sein.
Solche Menschen wie ihn, gibt es überall und jedes Mal lösen sie eine gewisse Anspannung in mir aus. Sicher tue ich so als wäre es mir egal – und manchmal ist es das auch wirklich – doch die Einstellung dieser Leute holt einen immer wieder ein. Besonders wenn man so ein Mensch ist, der alles hundert mal überdenken muss. Die Fragen nach dem 'Warum' bleiben trotzdem immer. Warum haben manche so eine Einstellung? Warum soll es schlecht sein? Warum bin ich so? Warum finde ich das normal, während andere es verteufeln? Und noch so viel mehr Fragen, die ich mir stelle – immer und immer wieder und doch keine Antworten darauf finde. Warum das alles?
Naja gut, ich bin nicht blöd. Sicher, weiß ich die Antworten auf die meisten dieser Fragen, doch der Grund sie immer wieder zu stellen ist, dass mich keine dieser Antworten wirklich befriedigt. Bibel, gegen die Natur, Minderheit, Übertragung von Vorurteilen über die Generationen – nichts davon ist eine unüberwindbare Grenze.
Wer die Bibel vorschiebt, der sollte sie doch bitte nochmal gründlich lesen. Gegen die Natur? Das ich nicht lache! Das ist auch nur wieder eine dumme, vorgeschobene Phrase. 1500 Tierarten wurden - bisher - gefunden, die ihre Homosexualität ausleben. Pinguine sind das wohl bekannteste Beispiel dafür, doch auch bei den Löwen ficken die Männchen miteinander um die Loyalität zu stärken – soviel dazu. Minderheit – gut, es stimmt, der Großteil der Welt ist nun mal Hetero, doch sollte man eigentlich als das 'höchste Produkt der Evolution' wissen, das Minderheiten nichts schlechtes sind und je nach dem, von welchem Gesichtspunkt man ausgeht gehört jeder in irgendeiner Minderheit an. Was, du trägt keine Ohrringe - Minderheit! Ein Bein ist kürzer als das andere – Minderheit! Du hast keine Ahnung wer Elvis war – Minderheit! Wenn 'Minderheit' also wirklich ein Grund sein sollte, müsste jeder auf jeden losgehen und sich danach selbst erledigen. Was hätten wir davon – außer das offensichtliche Ende der Menschheit. Und zu den übernommenen Vorurteilen kann ich auch nur sagen – selber denken ist angesagt. Schön, das dir Omi immer gesagt hat 'Schwule sind schlecht.', aber hat sie auch mal Gründe genannt? Wirklich standhafte Gründe ohne 'aber'? Vermutlich nicht – aber wer nicht über das nachdenkt, was zu ihm gesagt wird, folgt einfach weiter wie ein Schaf. Ist es denn wirklich so schwer sich mit gesundem Menschenverstand eine eigene Meinung zu bilden? Vermutlich schon.
„Nikki.“
Ich schrecke aus meinen Gedanken auf und lockere den Griff um Jes' Hand. Ich habe gar nicht bemerkt wie tief ich eben in Gedanken versunken war.
„Reg dich nicht auf.“
Ich sehe Jes an und er sieht zu mir auf, da er immer noch an meiner Schulter lehnt. Gut, heraus zu finden das ich mich eben wirklich aufgeregt habe, ist nicht wirklich schwer und selbst jemand, der mich nicht so durchschauen kann wie Jes, hätte das leicht erkannt – und vermutlich auch gewusst wieso.
„Aber der-“, setze ich an, doch lasse es lieber wieder.
Jes ist noch nicht Gesund genug, als dass ich mit ihm diskutieren sollte – also bin ich heute einfach mal ein netter Nikki und versuche mich nicht aufzuregen.
„Schon gut. Du hast Recht.“, sage ich deshalb.
Wie eine magische Formel bringen ihn diese Worte zum grinsen und er kommt mir viel weniger krank vor als noch vor einer Sekunde. Blödmann – doch da ich eben zugestimmt habe mich nicht aufzuregen, nehme ich das einfach mit einem Augenrollen hin.
Stattdessen sehe ich mich lieber um. Das Wartezimmer ist nicht leerer geworden, aber es sitzen jetzt andere Menschen darin als die, die uns schon von Anfang an angestarrt haben. Drei Opas sind dazugekommen, zwei davon offensichtlich mit ihren Frauen und sogar drei jüngere sind jetzt hier. Ich blicke auf die Uhr. Was sich in so einer Stunde nicht alles verändern kann – Wahnsinn.
Einer nach dem anderen wird aufgerufen - mit Ausnahme von uns natürlich. Zwischenzeitlich frage ich mich, warum das alles so lange dauert, bis ich mir mal genauer ansehe mit welcher Geschwindigkeit sich manche der Alten fortbewegen. Ich bin mir sicher die brauchen fünf Minuten allein für den Hinweg und nochmal fünf zurück und natürlich braucht auch der Arzt noch seine fünf Alibi-Minuten ehe er irgendeinen beliebigen Hustensaft aufschreibt und die Leute mit einem 'Wenn es nicht besser wird, kommen sie wieder.' abwimmelt. Ja, ich bin mir sicher – genau so läuft das.
Die einen kommen, die anderen gehen – und ich fühle mich hier schon altern. Die Zeiger auf der Uhr drehen Runde um Runde und wir sind immer noch an genau dem Platz, den wir uns zu Beginn gesucht hatten. Ich kann mich kaum noch daran erinnern wie es war, außerhalb dieses Wartezimmers – sind wir doch jetzt offensichtlich ewige gefangene hier. Gut, ich übertreibe wohl ein wenig – aber mittlerweile sind es schon fast zwei Stunden und so langsam wird es auch wieder Zeit für die Tabletten.
Als ich mich bewege sieht Jes mich an, doch ich greife in den Rucksack und hole eine Flasche Wasser und die Tabletten raus. Jetzt sehe ich Jes auch an, dessen Blick sich so richtig leidend verzogen hat. Man könnte fast glauben die Tabletten sind für ihn schlimmer als die Krankheit – doch natürlich stimmt das nicht. Die Tabletten leisten einfach echt tolle Arbeit, so das wir viel besser fühlen – ohne diese würden wir ganz sicher wieder im sterben liegen. Nichts auf das ich große Lust hätte – und Jes natürlich auch nicht – also ist er brav.
Wieder werden wir von allen angesehen. Ich verdrehe erneut die Augen. Menschen gehen mir einfach auf die Nerven – als hätten die noch nie gesehen wie jemand Tabletten nimmt. Ich wette über die Hälfte hier nimmt nicht nur eine täglich zum Frühstück, also warum solle man uns deshalb so angucken. Agrr! Ich rege mich schon wieder auf. Seit wann stört es mich denn so sehr? Ich schlucke die Tablette mit einem großen Schluck Wasser und da wir es mir auch klar – das muss auch was mit meinen Nebenwirkungen zu tun haben.
Ich seufze – so toll die Tabletten auch wirken, so nervig sind auch ihre Nebenwirkungen und ich bin es wirklich verdammt Leid mir selbst so ausgeliefert zu sein. Ja, ich bin ein Mensch der alles hundert mal überdenkt – doch so extrem ist es normalerweise nicht. Ich gebe Jes die Falsche und habe auch gleich das Gefühl, sie sei etwas zu schwer für ihn. Ohne lange darüber nachzudenken – warum auch – nehme ich die Flasche wieder in die Hand und warte bis Jes die Tablette im Mund hat, dann helfe ich ihm die Flasche zu heben. Er nimmt auch nur einen Schluck ehe er mir signalisiert sie wieder abzusetzen – allerdings nur einen kleinen.
„Du solltest mehr trinken.“
Jes sich mich an und seufzt leise.
„Was ist? Ich will doch nur, dass du schneller wieder gesund wirst.“
„Sind wir nicht gerade deshalb hier?“, bekomme ich meine Antwort – die natürlich nicht ganz unsarkastisch ist.
Diesmal bin ich der, der leise seufzt.
„Ja, ja.“, sage ich und packe die Flasche wieder weg.
Jes kann mich zu allem überreden, aber im Gegenzug tut er nur selten das was ich ihm sage – so ist er eben, auch wenn es mich manchmal ärgert. Obwohl ich glaube das er ab und zu genau darauf abzielt. Auch jetzt weiß ich, dass es keinen Sinn hat ihn überreden zu wollen. Sonst würde ich bestimmt noch ein paar Minuten nörgeln, bis er mir den Gefallen tut, doch jetzt ist er krank und ich möchte nicht dass ihm womöglich noch schlecht davon wird. Mein armer Jes.
Kaum ist die Flasche verstaut und ich sitze wieder richtig, lehnt Jes sich wieder an und scheiß auf die Blicke oder das Geflüster - ich nehme auch wieder seine Hand. Nicht nur, weil ich weiß dass Jes sich dadurch besser fühlt – Tatsache ist, ich fühle mich dadurch auch besser. So weiß ich ganz sicher, dass er da ist. Natürlich sehe ich ihn und fühle seinen Kopf auf meiner Schulter, doch seine Hand zu halten ist nochmal was anderes – und ich halte einfach gerne seine Hand.
Zweieinhalb Stunden. Okay, mir reichts.
„Warte hier.“, sage ich zu Jes und stehe auf.
„Sei höflich.“, bekomme ich zurück.
Immer wieder erstaunlich, wie gut mein Jes mich doch kennt. Er kann aus einem einfachen 'Warte hier.' meine Absicht herauslesen. Einfach toll, diese Gedankenübertragung – oder wie auch immer er das immer macht.
Ich gehe vor zur Rezeption oder Anmeldung oder was auch immer und sehe, dass schon wieder Menschen hier rein wollen. Die eine Schwester, die da sitzt, ist aber gerade am telephonieren und kann sich somit gerade nicht um diese Menschen kümmern. Nein, ich mache jetzt keine Szene – auch wenn mir das wirklich schwer fällt und ich ihr am liebsten über das Pult springen würde. Ich beherrsche mich und atme stattdessen zweimal tief durch. Ich lasse sogar die Wartenden erst mal sprechen. Ich bin wirklich höflich, auch wenn die Anmeldung von allen nochmal gefühlte Stunden dauert. Wer hätte das gedacht? Doch dann sind endlich alle durch und ich kann sprechen – könnte sprechen, wenn die mich nicht eiskalt ignorieren und wieder ans Telephon gehen würde. So nah habe ich mich dem Wahnsinn schon lange nicht mehr gefühlt.
Endlich legt sie das Telephon wieder weg.
„Entschuldigung, ich-“
„Kleinen Moment, bitte.“, werde ich abgewimmelt und sie beginnt damit irgendwelche Zettel zu schreiben.
Ich platze.
„Nein, keinen 'kleinen Moment'.“, sage ich schon nicht mehr ganz so nett. „Ich stand jetzt seit schon wieder fünfzehn Minuten hier, sie haben mich gesehen. Ich habe gewartet bis alle durch waren und auch bis sie fertig telephoniert haben – ganz geduldig – doch jetzt reicht es langsam mal. Wir warten jetzt schon seit fast drei Stunden hier und es wurden schon Patienten dran genommen die lange nach uns kamen. Mein Freund ist wirklich nicht in der Verfassung noch drei Stunden hier zu verbringen. Gestern noch hat er sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Wir sind also nicht hier, weil wir gerne beim Arzt sitzen – nur falls sie das angenommen haben. Er hat die Grippe – da sind keine langen Untersuchungen nötig. Wir brauchen nur ein paar Medikamente und die Krankschreibung. Das ist eine Arbeit von fünf Minuten. Ich wäre ihnen sehr verbunden, wenn sie sich die nehmen könnten!“
Die Schwester sieht mich mit großen Augen an und obwohl ich mir wirklich mühe gegeben habe höflich zu bleiben, bin ich wohl doch beim Sprechen etwas lauter geworden. Aufgeregt fängt sie an in den Unterlagen zu wühlen.
„Es tut mir Leid. Hatten sie einen Termin?“
„Ja, klar. Weil ich schon vor drei Monaten wusste, dass wir ausgerechnet heute einen Arzt brauchen würden.“
Sie sieht mich wieder unsicher an. Vermutlich spielt sie mit dem Gedanken die Polizei zu rufen falls ich gewalttätig werden sollte – nicht dass ich das vor hätte.
„Nein.“, sage ich also und versuche ruhiger zu klingen.
„Dann tut es mir Leid. Diejenigen die einen Termin haben, bekommen immer Vorrang.“
Ich gebe mir wirklich große Mühe nett zu sein – wirklich, wirklich – doch ich glaube jeder kann nachvollzieht das ich ein kleines bisschen geladen bin – und unglaublich fassungslos.
„Verstehe ich – natürlich – Termine haben Vorrang.“
Vermutlich sehe ich gerade aus wie ein Psychopath, so wie ich krampfhaft versuche nicht mit den Zähnen zu knirschen, doch sie sieht irgendwie erleichtert aus. Bestimmt denkt sie, ich finde mich jetzt damit ab bis zu meinem Tod hier zu sitzen und zu warten - doch da kennt sie mich schlecht.
Ich setze mich wieder zu Jes und hole mein Handy raus.
„So viel zur Höflichkeit.“, sagt er fast vorwurfsvoll – fast.
Ich grinse ihn kurz an und tippe dann die Nummer der Praxis ein – die praktischerweise auf einem dieser Kärtchen steht, dass ich mir gerade mitgenommen habe.
„Schönen, guten Tag, Praxis Dr. Solan hier. Schwester Silke am Apparat.“
Ich bekomme einige böse Blicke zugeworfen, da telephonieren hier drin ja eigentlich verboten ist – doch das kümmert mich jetzt nun wirklich nicht. Ich drehe mich nur etwas weg, damit die Schwester es nicht bemerkt.
„Ja, schönen, guten Tag. Ich möchte einen Termin machen.“
„Einen Augenblick bitte, ich sehe nach wann der nächste frei ist. Würde ihnen Morgen passen?“
Jetzt ist mir auch endgültig klar, bis wann die uns hier sitzen lassen wollte.
„Nein, das passt leider überhaupt nicht. Es handelt sich um einen Notfall.“
„Aber sie klingen doch recht gesund.“
So eine Unverschämtheit!
„Es geht um meinen Mitbewohner. Ich fürchte er ist gerade nicht in der Lage sich auch noch mit Terminen auseinanderzusetzen.“
„Wann bräuchten sie den Termin?“
„Gleich, wir sind ganz in der nähe.“
Sie zögert kurz und ich kann hören wie sie irgendwas umblättert und schreibt.
„In Ordnung. Ich kann sie gleich dazwischenschieben. Beeilen sie sich bitte, der Zeitplan ist eng.“
„Sicher doch.“
„Wie war ihr Name doch gleich?“
„Mein Mitbewohner ist in der Praxis angemeldet. Er heißt Justin William Pagiz.“
Ich lege auf. Leicht bekomme ich Jes' den Ellenbogen in die Seite und grinse ihn wieder an. Er hasst seinen vollen Namen. Ich stehe auf und gehe mit dem Telephon noch in der Hand wieder auf die Schwester zu. Diesmal nicht mehr ganz so geladen – immerhin habe ich jetzt einen Termin.
„Also, hier sind wir schon.“, sage ich zu ihr und merke das sie das ganze offensichtlich noch nicht durchschaut hat.
„Sie haben eben gesagt, sie könnten Justin Pagiz noch dazwischenschieben.“
Jetzt kann ich mir das grinsen nicht mehr verkneifen, denn als sie versteht sieht sie recht wütend aus – welch eine Genugtuung für mich. Ich sehe förmlich wie sie einen Kommentar dazu runter schluckt und grinse sie weiter offen an.
„Also?“, frage ich.
„Ja, ihr seit gleich dran.“, sagt sie missbilligend.
Gut, ich wäre auch wütend, wenn man das mit mir gemacht hätte – allerdings hätte ich auch niemanden drei Stunden warten lassen. Niemand mit ein bisschen Einfühlungsvermögen hätte das.
Ich gehe wieder zu Jes und schmeiße mein Handy wieder in die Tasche.
„Wir müssten gleich dran sein.“, grinse ich ihn an.
Er schüttelt den Kopf, doch er grinst auch. Wir wissen immerhin beide, dass ich kein besonders höflicher Mensch bin, doch seinetwegen habe ich mich schon zusammengerissen. Das rechnet er mir an – und mal ehrlich, jeder weiß dass das eine riesen Unverschämtheit war.
„Justin William Pagiz.“, wird er aufgerufen und wir stehen auf.
Ich werfe mir den Rucksack über und nehme dann wieder Jes' Hand – nur zur Sicherheit. Die andere Schwester – die offensichtlich nur für das rein rufen verantwortlich ist – sieht uns kurz an, sagt aber nichts und lässt uns stattdessen rein. Ich helfe Jes dabei sich auf die Liege zu setzen – da diese etwas höher ist – und setze mich selber auf den Stuhl daneben. Der Arzt ist noch nicht da.
Ich frage mich was der macht. Ich meine, ist ja nicht so als würden eine Menge Menschen auf den warten oder so. Oh, warte – doch genau so ist es. Doch warum ist er nicht hier? Kein Wunder das alle so lange brauchen bis sie hier wieder raus sind. Wie sollten sie auch, wenn der Arzt nicht da ist.
Vor meinem geistigen Auge sah ich mich schon statt im Wartezimmer hier zu vermodern, doch nach ein paar – weiteren sinnlos verplämperten – Minuten eines – nicht mehr so jungen – Lebens, kommt der Arzt schon. Er fragt was Jes hat und macht dann ein Paar routienemäßige Untersuchungen. Einmal Husten, abhören, Beschwerden anhören, nach Medikamenten fragen – sowas halt. Ich hole die Tabletten aus dem Rucksack und zeige sie ihm. Ich sage auch das ich wegen der Grippe im Krankenhaus war und Jes sich bei mir angesteckt hat. Der Arzt nickt ab, verschreibt Jes meine Tabletten und schreibt ihn krank. Alles eine Sache vo fünf Minuten – wie von mir vorhergesagt, wennn die Schwester nicht gewesen wäre. Wir hätten schon längst wieder Zuhause sein können. Jes drückt meiner Hand - die er wieder genommen hat – etwas fester. Wahrscheinlich hat er wieder meine Gedanken gelesen – oder es von meinem Gesicht abgelesen, also lächle ich ihn wieder an. Damit gibt er sich zufrieden und entspannt seine Hand wieder.
An der Anmeldung kommen wir nichtmal dazu den Mund aufzumachen, schon liegt unser Zeug da und wir werden mit einem 'Einen schönen Tag noch.' mehr oder weniger rausgeworfen. Mir solls recht sein – ich bin eh nicht scharf darauf noch eine Sekunde länger als nötig hier zu verbringen. Beim laufen packe ich die Scheine in den Rucksack und nehme Jes dann wieder an die Hand. Vielleicht bin ich ja übervorsichtig, doch ich will einfach kein Risiko eingehen – immerhin bin ich ja auch einfach so umgefallen.
„Wohin wollen wir?“, frage ich als wir an der Haltestelle ankommen.
Jes zuck mit den Schulern und sieht mich an.
„Vielleicht zu dir? Deine Ma würde sich freuen.“, meint er.
„Ja, aber du wohnst näher von hier aus.“
Er überlegt kurz.
„Lass uns zu dir. Mit dem Bus spielt das ja keine große Rolle.“
Ja, er hatte Recht, mit dem Bus spielt es keine große Rolle – wenn man mal davon absieht, dass ein halbstündiges Geschaukel nicht gerade vorteilhaft ist, wenn einem eh schon schlecht ist, aber naja, auch das schaffen wir.
Meine Eltern müssen heute beide Arbeiten, deshalb ist es schön ruhig als wir nach Hause kommen. Sobald wir zur Tür rein sind geht - oder schleppt – Jes sich hoch.
„Willst du etwas essen? Oder trinken?“, rufe ich zu ihm hoch, während ich – ohne auf seine Antwort zu warten – in die Küche gehe.
Ich meine zu hören wie er seine Augen verdreht, als er 'Nein danke, Mutti.' zu mir sagt. Nicht, dass mich das von irgendwas abhalten würde. Mit dieser Antwort habe ich schon fest gerechnet, deshalb hatte ich auch nie vorgehabt auf diese zu warten, also schnappe ich mir zwei Gläser und eine Flasche und mache mich damit auf den Weg nach oben. Gerne würde ich ihn auch zum essen bringen, doch ich glaube ich weiß im Moment am besten wie es ist nichts essen zu wollen, also respektiere ich das.
Oben angekommen sehe ich, wie Jes sich anscheinend bäuchlings und in voller Montur auf das Bett geschmissen hat und offensichtlich nicht plant sich auch nur einen Millimeter zu Bewegen. Ich seufze und muss an die Schwestern-Schülerin denken. Jetzt, im Nachhinein, kann ich ihre Lage wesentlich besser nachvollziehen. Jes wird mich hassen und verfluchen, doch so kann ich ihn echt nicht liegen lassen.
Ich stelle die Gläser und die Flasche auf den Nachttisch, neben dem Bett und setze den Rucksack ab.
„Jes?“, spreche ich ihn halb flüsternd an – obwohl das Schwachsinn ist, denn wenn er wirklich schlafen sollte, muss ich ihn wecken, damit er sich bewegt.
Ich bekomme keine Antwort und auch sonst sieht Jes nicht so aus, als würde er sich noch im Land der Lebenden befinden. Ganz toll. Scheiße.
Leicht schüttle ich ihn an der Schulter, während ich, diesmal lauter, 'Jes' rufe – keine Reaktion. Naja, wenn er so fest schläft, schaffe ich es vielleicht auch ohne seine Mitarbeit ihn zu bewegen. Doch in nächsten Moment verwerfe ich die Idee wieder – die war genau so Schwachsinnig wie das Flüstern. Wenn ich erst mal an Jes zerre und ziehe wird er auf jeden Fall aufwachen – ganz abgesehen davon, dass ich immer noch zu schwach bin, um jemanden allein richtig hinlegen zu können – und dann hat er ja auch noch seine Straßen-Klamotten an. Nicht nur, dass es echt saumäßig unbequem ist, in diesen zu schlafen, es sind eben Straßen-Klamotten und damit dreckig – zumindest sehe ich das so.
„Jes.“, diesmal noch lauter.
Dafür bekomme ich ein brummen. Es tut mir wirklich leid, dass ich ihn wecken muss, doch anders geht es jetzt nun mal nicht – da muss er halt durch und Punkt. Hoffentlich nimmt er mir das nicht zu übel. Ich will nicht das Jes sauer auf mich ist, aber eine andere Wahl habe ich nicht, dass wird er doch bestimmt einsehen. Doch was, wenn nicht? Mir war an diesem Punkt doch auch alles scheiß egal. Verdammt, ich will nicht der Böse sein. Aber was habe ich schon für eine Wahl?
„Jes, wach auf. Es ist wichtig.“, sage ich in normaler Lautstärke und rüttle leicht an ihm.
Tatsächlich reicht das diesmal schon aus. Verschlafen und total blass sieht er mich an.
„Du kannst so nicht liegen bleiben und die Klamotten müssen auch weg.“
Erst versteht er nicht, was ich meine, doch dann lässt er den Kopf mit einem lauten seufzen aufs Bett fallen.
„Musstest du mich deswegen wirklich wecken?“, höre ich ihn in die Matratze sprechen.
„Lass es uns einfach schnell machen.“
Grummelnd hievt Jes sich hoch und setzt sich auf die Bettkante. Wie auch beim Ausziehen, helfe ich ihm dabei, denn müde, schwach und krank ist echt eine beschissene Kombination. Mich selbst ziehe ich auch gleich mit aus und lege mich dann neben Jes, nachdem ich vorher noch die Tabletten aus dem Rucksack genommen und die Gläser mit Wasser gefüllt habe. Wieder verzieht Jes das Gesicht, als er die Tablette nehmen soll und ich gucke wahrscheinlich genauso, doch drum herum kommen wir nicht. Die scheiß Tabletten helfen – trotz der verfluchten Nebenwirkung – verdammt gut und wieder sterbend im Bett liegen, möchte ich eigentlich nicht so gerne. Also bleibt uns ja keine Wahl – runter mit den Dingern.
Gestern sind wir beide dann auch relativ schnell eingeschlafen, ohne dass noch groß etwas passiert ist – zum Glück, denn ich weiß nicht ob ich das Ganze noch einmal durchmachen könnte, doch das ist jetzt auch nicht so wichtig.
Als ich aufgewacht bin, war es noch ganz früh – irgendwann noch vor vier Uhr – weil wir ja Gestern mitten am Tag einfach eingeschlafen sind und bin seitdem auch nicht wieder eingeschlafen, in Gegensatz zu Jes, der schläft wie ein Stein.
Würde ich nicht merken wie er atmet, hätte ich schon längst Panik bekommen. Ab und an strecke ich mal meine Hand nach ihm aus und streiche ihm über die Haare, wenn mich wieder das Bedürfnis nach Nähe überkommt, doch ansonsten lasse ich ihn einfach schlafen, immerhin ist er krank, da braucht er viel Schlaf. Den Rest der Zeit liege ich einfach in dem halb dunklen Zimmer und starre an die Decke, in der Hoffnung vielleicht ja doch wieder einschlafen zu können. Einige Male drehe ich mich hin und her, doch auch das versuche ich bestmöglich zu vermeiden, nicht dass ich Jes dadurch noch wecke.
Als es immer heller wird liege ich immer noch da und verbringe meine Zeit damit an die Decke zu starren und Jes zu beobachten. Meinen Jes, den Jes, der die ganze Zeit bei mir war und sich deshalb angesteckt hat und jetzt auch noch mehr tot als lebendig wirkt – und dass alles nur, weil ich mich nicht zusammenreißen konnte.
Naja gut, fairer Weise sollte man vielleicht noch erwähnen, dass ich eh keine Chance habe sobald Jes sich was in den Kopf gesetzt hat, doch ich hätte wenigstens versuchen sollen ihn zu beschützen, aber ich war schwach und abhängig-
Noch bevor ich mir weitere Schuldgefühle einreden kann – für die mir Jes jetzt sicher eine runtergehauen hätte – meldet sich mein Magen und das so laut, dass ich sofort einen Blick zu Jes werfe um sicher zu gehen, dass er von dem Lärm nicht aufgewacht ist. Ist er zum Glück nicht, aber ich habe Hunger wie ich nun – sehr zeitig, ich weiß – feststelle.
So vorsichtig und leise wie nur möglich schleiche ich mich erst aus dem Bett und dann aus dem Zimmer um mich in die Küche zu begeben. Mom sieht mich mit großen Augen an und setzt gerade an mich zu fragen, ob ich krank bin so früh aufzustehen, weil das ja so gar nicht meine Art ist, ehe sie sich besinnt und mir einfach fröhlich einen guten Morgen wünscht. Ich nuschele auch etwas Derartiges in ihre Richtung und schnappe mir ein Stück Brot, mit dem ich mich dann schnellst möglich wieder nach oben verziehe. Ich meine, was ist, wenn Jes aufwacht und was braucht, aber keiner ist in der Nähe und er ist zu schwach um zu rufen oder aufzustehen? Nein, nein, nein, ich muss so schnell wie möglich wieder hoch.
Gesagt, getan, schon schleiche ich mich wieder in mein – naja, eigentlich schon mehr unser – Zimmer und setze mich kauend auf die Bettkante. Immer noch hat sich Jes keinen Millimeter bewegt, dabei müsste ihm doch schon seit einiger Zeit der Arm eingeschlafen sein, so wie er daliegt. Auf dem Bauch und den Arm unter sich so, dass man nur noch die Fingerspitzen unter ihm hervorlungern sieht, während er den Kopf auf dem anderen Arm liegen hat. Bequem sieht wirklich anders aus, aber so ist er nun mal, mein Jes.
Gedankenverloren sehe ich ihn weiter an, mit meinem Brot bin ich fertig, und lege mich wieder neben ihn. Eigentlich bin ich auch noch müde, aber ich merke, dass ich nicht einschlafen kann. Kaum habe ich die Augen ein paar Minuten zu, gehen sie, wie von allein, wieder auf. Seufzend setze ich mich nach einiger Zeit wieder auf – liegen scheint mir ja nicht viel zu bringen – allerdings wohl etwas zu schwungvoll, denn gleichdarauf dreht sich das Zimmer wieder. Oh man, liegen kann ich aber ehrlich auch nicht länger. So vorsichtig wie möglich, rücke ich ans Kopfende des Bettes, sodass ich mich anlehnen kann und blicke zur Seite. Da liegt er. Jes. Mein Jes.
Bevor ich wirklich darüber nachdenken kann, habe ich meine Hand schon nach ihm ausgestreckt und streichle ihm sanft durch die Haare. Was würde ich nur ohne ihn machen? Ganz automatisch muss ich lächeln als ich sehe, wie er – selbst im Schlaf – meiner Hand etwas entgegenkommt. Er sieht schon etwas besser aus – Gott sei Dank! Weit nicht so blass wie heute oder eher gestern Morgen noch.
Ein kurzer Seitenblick auf die Uhr verrät mir, dass es immer noch ziemlich früh ist – zwanzig nach zehn um genau zu sein und ich weiß bereits jetzt schon nichts mit mir anzufangen. Schlafen – geht nicht. Nur hinlegen? Ehrlichgesagt mach das im Moment meine Kopfschmerzen nur schlimmer. Vielleicht habe ich ja einfach zu viel gelegen in den letzten Tagen. Aufstehen? Nah, dazu fühle ich mich noch zu schwach. Nicht dass ich es nicht könnte, aber vielleicht brauche ich die Kraft später noch. Außerdem fühlt sich momentan sowieso mein ganzer Körper wie Pudding an. Wacklig und nicht sehr zuverlässig. Schlecht ist mir immer noch, was auch nicht verwunderlich ist, schließlich klingt eine Grippe nicht nach drei Tagen ab.
Ich hoffe Jes hat es nicht ganz so schlimm erwischt, wie mich, immerhin hat er ja auch gleich was dagegen bekommen. Die Matratze senkt sich und ich sehe erschrocken auf meine Mom. Offenbar war ich wirklich tief in Gedanken versunken, denn ich habe weder mitbekommen wie die Tür geöffnet wurde – und das ist etwas, dass meine Mom nie leise macht – noch wie sie auf mich zugekommen ist.
Als sie sieht, wie ich Jes noch immer über die Haare streichle, huscht ihr ein Lächeln übers Gesicht ehe sie anfängt zu sprechen.
„Nikki, ich hatte mir eigentlich frei genommen, wegen deinem Termin, aber jetzt sind noch zwei Lehrerinnen ausgefallen und ich muss einspringen. Ich versuche aber bis 16.00 Uhr wieder da zu sein, damit ich dich hinbringen kann, okay?“
„Mach dir deswegen keine Umstände. Wenn sie dich brauchen, ist das eben so. Ich schaff das schon.“, versuche ich sie anzulächeln, was vermutlich eher nach nichts aussieht.
„Bist du sicher?“, fragt sie mich, aber natürlich bin ich mir da sicher, immerhin weiß ich, dass sie bis wenigstens 17 Uhr arbeiten müsste und ich weiß auch, dass sie auf der Arbeit eh chronisch unterbesetzt sind.
„Klar.“, versuche ich es erneut mit einem Lächeln und ich glaube diesmal ist es sogar fast etwas geworden. Meine Mom lächelt mich auch an strubbelt mir leicht durch die Haare und gibt mir dann noch einen Kuss auf die Stirn.
„Du fühlst dich immer noch zu warm an.“, bemerkt sie und steht auch gleich auf und geht aus dem Zimmer. Keine zwei Minuten später ist sie auch schon wieder da mit einer Schüssel in der Hand, in der sich Wasser mit Eiswürfeln befindet so wie auch ein – nein, zwei – kleine Tücher.
Ein wenig widerwillig lege ich mich nun doch wieder hin und sie legt mir eines der Tücher auf die Stirn. Ich muss zugeben, dass das wirklich gut tut, auch wenn ich nicht wirklich Lust darauf habe wieder nur rumzuliegen.
„Ich versuche bis 16.00 Uhr zu Hause zu sein.“, sagt sie noch einmal und verabschiedet sich dann von mir.
Wieder allein mit Jes, weiß ich ehrlichgesagt wieder nichts mit mir anzufangen außer auf dem Rücken zu liegen und an die Decke zu starren. Sehe ich auf, fällt das Tuch runter. Setzte ich mich hin, fällt das Tuch runter und lege ich mich auf die Seite - Überraschung! - fällt das verdammte Tuch runter. So ein scheiß.
Ich spüre Bewegung neben mir und habe ein furchtbar schrilles Geräusch im Ohr. Verdammt! Das erste das ich merke, ist dass die Bewegungen gar nicht gut sind, denn bei jeder einzelnen habe ich das Gefühl, dass mir nur noch schlechter wird und mein Kopf explodiert. Scheiße! Wie es aussieht bin ich doch wieder eingeschlafen und habe ganz vergessen die scheiß Tablette zu nehmen – und Jes? Er hat doch auch geschlafen. Sofort veruche ich meine Augen zu öffnen, was gar nicht mal so leicht ist, wenn die verdammte Sonne durch das scheiß Fenster scheint und alles beleuchtet wie in einem beschissenes Hollywood Filmstudio.
Doch ich muss ja trotzdem Wissen, wie es Jes geht. Es ist immerhin mein Jes. Meiner. Und es ist meine Schuld, dass er krank ist, also muss ich da jetzt durch, auch wenn es mir die Netzhaut wegbrennt. Und Jes? Er sieht tatsächlich schon etwas besser aus. Keineswegs gesund, aber besser, was mich unglaublich freut.
„Du siehst aus wie der Tod.“, gibt er mir freundlicherweise zu verstehen und lächelt mich an. Na danke auch. Er sieht übrigens wieder wundervoll aus, wenn auch noch ein wenig zu blass, aber das sage ich ihm jetzt ganz sicher nicht, stattdessen ziehe ich nur eine Schnute und mache die Augen wieder zu. Ich höre ihn leicht kichern – haha, weil ich ja auch so witzig bin – und im nächsten Moment kuschelt er sich an mich. Selbst wenn ich wollte, könnte ich ihm jetzt nicht böse sein – und ich will nicht, also lasse ich es einfach. Vermutlich hat er sogar recht mit seiner Aussage, also was solls.
So vorsichtig wie möglich, damit mir nicht noch schlechter wird nehme ich ihn in den Arm und freue mich einfach darüber, dass er da ist. Eigentlich wäre es gut endlich mal die scheiß Tabletten zu nehmen, aber das letzte was ich jetzt will ist es mich zu bewegen.
„Wie spät ist es eigentlich?“, nuschele ich in seine Haare und atme etwas tiefer ein. Mein Jes.
„Kurz nach halb zwei.“, sagt er ohne sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. „Wir sollten aufstehen.“, schiebt er auch gleich noch hinterher und als von mir keine Reaktion kommt, erklärt er mir, dass ich heute noch den scheiß Termin im Krankenhaus habe.
Scheiße, da war ja was. Aber ich will nicht. Trotzdem muss ich, spätestens als Jes sich aufsetzt. Bei den ganzen Schwankungen verziehe ich wieder das Gesicht und Jes dürfte sofort klar sein, dass mir wieder übel ist. Wieder Schwankungen.
„Nikki.“, sagt Jes und als ich die Augen aufmache, sehe ich, dass er die Tabletten und ein Glas Wasser in der Hand hat. Super. Ziemlich umständlich und mühselig rapple ich mich irgendwie auf und spüle die Tablette mit ein paar Schlucken des Wassers herunter. Mehr wäre jetzt sicher keine gute Idee. Außerdem sollten wir wohl bald mal aufstehen. Da fällt mir ein –
„Mom meinte, sie versucht bis vier zu Hause zu sein.“
„Geht das denn? Sonst muss sie doch immer länger arbeiten.“
Ich zucke mit den Schulten. Jes überlegt.
„Wir sollten sie anrufen und fragen, ob sie es wirklich schafft, denn sonst müssen wir mit dem 15 Uhr Bus fahren.“
Ich nicke und bewege mich langsam Richtung Bettkante. So richtig toll ist die Idee nicht, denn ich fühle mich elend. Schwach, mit Kopfschmerzen und Schwindel und nicht zu vergessen die verdammte Übelkeit, die sich bei jeder Bewegung meldet.
Jes merkt offenbar, dass sich so gar nicht auf dem Damm bin und zieht mich langsam und vorsichtig wieder in die Federn. Ich will ihm sagen, dass wir uns doch fertig machen müssen, doch noch ehe ich dem Mund geöffnet habe sagt er mir –
„Lass die Tablette erstmal etwas wirken, wir schaffen das schon.“
Dagegen kann ich nun wirklich nichts sagen. Wenn Jes das sagt, dann ist das auch so. Immerhin ist er Jes. Mein Jes. Und der hat immer Recht. So ist das, also versuche ich mich ein wenig zu entspannen und warte darauf das die Wirkung einsetzt.
Tatsächlich muss ich auch gar nicht so lange darauf warten, denn bald schon merke ich, wie es in meinem Kopf nebliger wird. Leichter. Mir geht es besser – was gut ist – und Jes, Jes ist noch schöner als jemals zuvor – verdammtes Zeug! So wie er grade auf mich herabsieht, so liebevoll mit einem kleinen lächeln auf den Lippen und den Haaren ganz zerzaust vom Schlafen oder auch weil ich ihm die ganze Zeit über den Kopf gestreichelt habe. Dabei achtet er doch sonst immer so sehr darauf, dass auch alles so liegt, wie er das will. Ihn so zu sehen, ist etwas nur für mich. Ja, nur für mich. Für wen sonst? Ich bin der einzige, bei dem er vollkommen und ohne Ausnahme er selbst sein kann. Völlig egal was er an hat oder wie seine Haare liegen. Ich habe ihn eh schon in jeglichem Zustand gesehen – und für mich ist er immer so wunderschön.
Ich bemerke, dass ich meine Hand nach seinem Gesicht ausgestreckt habe, als ich es berühre und als er mir dann auch noch einen Kuss auf die Handinnenfläche gibt, schlägt mein Herz schneller.
„Nein.“, sagt er sanft mit einem Lächeln auf den wunderschönen Lippen und beugt sich vor um mir einen Kuss auf die Wange zu geben. Ich schlinge meine Arme um seinen Hals, was für ihn in dieser Position sicherlich alles andere als bequem ist, aber ich kann ihn nicht gehen lassen. Keinen Zentimeter weiter. Ich brauche ihn. Ich kann ihn nicht schon wieder so vermissen. Wieder ein Kuss auf die Wange.
Aber ich will nicht, dass er sich ansteckt! Moment, dass hatten wir schon. Er hat sich schon angesteckt und ihm ging es wirklich schlecht. Als hätte ich mich verbrannt, lasse ich ihn los. Nein, nicht nochmal. Ich war egoistisch und er musste dafür bezahlen. Nie wieder. Nie wieder! Etwas erschrocken sieht Jes mich an. Vermutlich, weil ich ihn so plötzlich losgelassen habe. Jetzt macht er sich auch noch Sorgen um mich. Schon wieder! Super! Zu nichts bin ich zu gebrauchen!
Ein Schluchzen entkommt mir und Jes Blick wechselt von besorgt zu … erleichtert? Was soll das? Jes? Jes!
„Alles gut.“, sagt er mit seiner wunderschönen sanften Stimme, während er mir die Haare aus der Stirn streicht. „Mir geht es schon viel besser und du wirst auch wieder. Es gibt nichts worum du dir Sorgen machen musst. Versprochen.“
Und wenn Jes etwas verspricht hält er es auch. Ich kann mich auf ihn verlassen. Hundertprozentig – trotzdem wollen die dummen Tränen noch nicht aufhören. So kann das doch nicht ewig weitergehen! Ich bin genervt von mir selbst. Grade ich – der Emotionskrüppel - liege hier rum und heule, wie ein verdammtes kleines Kind! Scheiße! Scheiße! Scheiße! Und Jes? Der lächelt mich einfach weiter an. Wahrscheinlich amüsiert ihn mein Mienenspiel, schließlich meint r ja sonst auch immer, man könne mir alles am Gesicht ablesen. Das verfluchte Zeug wird es sicherlich nicht besser gemacht haben.
„Du bekommst noch Falten, wenn du weiter so griesgrämig schaust.“, lachst er mich aus und tippt mir mit einem Finger auf die Stirn. Genervt drehe ich mich auf die Seite – weg von ihm – und grummle etwas, dass ich an seiner Stelle sicherlich nicht verstanden hätte. Jes aber lacht wieder kurz und sagt mir dann, dass das nicht ehr nett war. Ob es nun daran liegt, dass er mein Genuschel tatsächlich verstanden hat oder daran das er mich viel zu gut kennt, um etwas anderes zu glauben, wie ich nicht. Wieso ist Jes eigentlich so normal?
Ich drehe mich wieder zu ihm um und sehe ihn an. Jes lächelt immer noch. Ich liebe sein Lächeln. Es ist wunderschön.
Arrgh! Nicht schon wieder! Frustriert drehe ich mich wieder weg. Am besten wäre es wohl ich sehe Jes nie wieder an. Genau. Nie wieder!
Frustriert setze ich mich auf und fahre mir unruhig durch die Haare. Blöde Idee! Ganz, ganz blöde Idee. Aber was sonst? Ich kann ja nicht den Rest meines Lebens davon schwärmen wie wunderschön Jes ist. Oder? Nein, ausgeschlossen! Was soll ich denn sonst tun?
Vor lauter Verzweiflung stehen mir wieder die Tränen in den Augen. Auch wenn Jes mein Gesicht von seinem Platz aus nicht sieht, scheint er dennoch bemerkt zu haben, dass irgendwas nicht stimmt, denn ich merke wie sich das Bett etwas bewegt und kurz darauf umarmt mich Jes von hinten und verteilt leichte Küsschen auf meinem Hals. Ich liebe es, wenn er das tut, denn dabei kann ich nicht anders als mich zu entspannen. Und wie angespannt ich wirklich war, merke ich erst jetzt. Ich lehne mich etwas nach hinten, näher zu Jes. Ich brauche ihn jetzt.
Nicht in der sexuellen Weise, aber ich möchte ihn schon Küssen. Jes zu küssen macht alles besser, einfacher. Es ist schön - und das was ich jetzt brauche. Es ist der emotionale Beistand den ich grade nicht habe.
Nein, irgendwie ist das auch nicht richtig. Jes ist da – so wie er immer für mich da ist. Ich bin nicht allein und habe jeglichen Beistand, den ich mir nur Wünschen könnte - ich würde ihn trotzdem gern küssen. Und Jes? Er ist einfach so wundervoll, wie immer. Scheiße. Jes.
Ich drehe mich zu ihm um und - küsse ihn nicht. Ich will! Aber ich will nicht, dass alles von vorn beginnt, deshalb sitze ich jetzt auch hier – ziemlich armselig – wie ein Häufchen Elend, mit dem Kopf an Jes' Brust und versuche nicht wieder zu heulen, was wirklich sehr schwierig ist.
„Wieso bist du so normal?“, frage ich ihn endlich, mit einer fast schon vorwurfsvollen Stimme. „Hast du deine Tablette nicht genommen?“, schiebe ich gleich noch hinterher, weil mir das zugegebenermaßen erst jetzt als Grund dafür einfällt.
Ich hebe meinen Kopf und sehe ihn jetzt direkt an – keine gute Idee, wenn man bedenkt was für schöne Augen er hat und der Versuch davon wegzukommen macht es nicht besser, denn jetzt habe ich seine Lippen im Blick. Diese wunderschönen Lippen, die so perfekt zum Küssen sind, mit denen er Dinge tun kann, die-
Die sich jetzt bewegen. Ich brauche einen Moment – oder vielleicht auch etwas länger - um zu begreifen, dass er wohl eben was gesagt hat. Er soll noch mehr reden. Ich könnte ihm den ganzen Tag dabei zusehen.
Blöde Idee! Schon wieder. Wobei es wahrscheinlich wirklich besser gewesen wäre ihn nicht anzusehen. Aber jetzt ist es zu spät, denn ich habe das Gefühl, ihn noch einmal aus den Augen zu lassen, würde mir körperliche Schmerzen bereiten. Was kann ich sonst tun?
Oh mein Gott, sie kommen näher - die Lippen, diese wunderschönen, perfekten Lippen! Was soll ich jetzt machen? Hilfe! Ich will ihn nicht anstecken und er wie auch dass das keine gute Idee ist. Er sollte das nicht machen – aber ich will es. Bitte, nur ein Kuss. Nein, nein, das sollte er wirklich nicht tun. Ich glaube so überfordert habe ich mich noch nie gefühlt. Ich schließe nun doch die Augen – nicht zu sagen, ich kneife sie zusammen, wie ein kleines Mädchen, weil ich wirklich Angst habe vor dem was jetzt kommt. Angst und Aufregung und ein schlechtes Gewissen, dass ich es zulasse. Zulasse, dass er mich-
-auf die Wange küsst. Ich bin ja so ein verdammter Vollidiot! Ich hätte es wirklich besser wissen müssen. Und das ganze Herzklopfen? Auch umsonst. Ich schätze, die Enttäuschung steht mir ins Gesicht geschrieben, denn wieder lacht Jes mich aus. Super. Scheiße.
"Sind deine Ohren jetzt wieder frei?", fragt er mich, frech wie er ist und grinst dabei wie ein Honigkuchenpferd.
"Hm.."
"Gut.", grinst er weiter, stolz auf sich, weil er sein Ziel ja erreicht hat. "Klar, habe ich die Tablette genommen. Vorhin, bevor ich dir deine gegeben habe."
"Aber-"
"Ich weiß auch nicht woran es liegt. Vielleicht sind die Nebenwirkungen nicht so stark, weil es mir besser geht.", unterbricht er mich auch gleich. "Vielleicht ist dein Körper aber auch einfach nur der Meinung, du solltest deine Gefühle mal rauslassen." Kurz überlegt er. "Oder vielleicht bin ich mental einfach nur stärker als du." Wiedermacht er eine kurze Pause. "Möglicherweise-"
"Jaja. ", unterbreche ich ihn mürrisch und verdrehe die Augen. "Du bist fabelhaft."
Wieder lacht er. "Weiß ich doch, aber es ist immer wieder schön, dass auch von dir zu hören.", gibt er zufrieden von sich und drückt mir einen kleinen, schnellen Kuss auf die Wange.
Irgendwie hat scheint mich das wohl überrascht zu haben, denn ich merke wie sich meine Wangen plötzlich etwas zu warm anfühlen und ich vermute, dass ich eben rotgeworden bin. Wobei – hat es mich wirklich überrascht? Ich meine, eigentlich ist es doch recht typisch für ihn mich in so einer Situation zu küssen, also wieso zum Teufel werde ich dann jetzt ausgerechnet rot? Verdammt! Scheiße! Jedenfalls drehe ich mich schnellstmöglich weg von Jes und kann mir ganz genau ausmalen, wie er mich daraufhin verwirrt anschaut. Bestimmt zieht er seine Augenbrauen für einen Moment zusammen und verzieht den Mund ein wenig auf eine Weise, wie nur Jes das kann und es lässt ihn für gewöhnlich wirklich unglaublich niedlich aussehen. Es ist fast schon schade, dass ich es grade nicht sehen kann, doch er soll mich so auch nicht sehen.
Moment! Ist mir etwa grade etwas unangenehm? Vor Jes? Verfluchte Nebenwirkungen! Anders kann es einfach nicht sein, denn mir ist vor Jes nie etwas peinlich und ihm auch nicht, also was soll das nun wieder!
Ein tiefer Seufzer entkommt mir und genau in dem Moment fühle ich wie Jes sein Kinn auf meiner Schulter ablegt und zu mir hochschaut – was für ihn sicherlich nicht sonderlich bequem ist, so ganznebenbei. Seine Arme legen sich dabei ganz selbstverständlich um meine Mitte und er zieht mich an sich heran, sodass ich mich an ihn anlehnen kann. Sicherlich habe ich wieder Fieber! Das hoffe ich zumindest. Oder es sind doch die verdammten Tabletten, denn ich merke wie ich wieder etwas rot werde. Irgendwas stimmt wirklich nicht mit mir und ich kann nicht mit Sicherheit sagen woher es kommt.
Es ist kein schlechtes Gefühl - Wirklich nicht! Nein, eher ein gutes, denke ich. Da wo Jes mich berührt kribbelt meine Haut ganz leicht und mir wird ganz warm. Es ist schön und ich fühle mich wohl bei ihm, aber irgendwas stimmt nicht ganz. Irgendwas verunsichert mich und deshalb kann ich es nicht wirklich genießen, einfach nur bei Jes zu sein. Warum wurde ich rot?
"Jes? Ich denke wir sollten aufstehen."
Irgendwas stimmt ganz sicher nicht mit mir. Ich habe mich in Jes nähe noch nie unwohl gefühlt - Naja, zumindest nicht seit ich ihn als einen Teil meines Lebens akzeptiert habe. Wobei – so wirklich unwohl habe ich mich bei Jes noch nie gefühlt, auch davor nicht. Er war nervig, aufdringlich und natürlich wollte ich ihn los werden, aber ich hatte nie ein flaues Gefühl, wenn ich an ihn dachte - außer jetzt.
Was ist los mit mir? Ich fühle, wie mein Atem schneller wird und in meinem Kopf beginnt sich alles zu drehen. Das hatte ich schon einmal. Wieso jetzt? Kommt daher das flaue Gefühl? Nein, ich denke nicht. Woher dann? Was ist los? Ich habe Angst.
Jes. Jes, bitte hilf mir. Ich weiß nicht was los ist. Jes. Ich glaube, ich zittere. Jes. Hilf mir.
Doch kein Wort kommt über meine Lippen. Ich sehe Jes vor mir stehen. Vermutlich ist er gleich aufgesprungen nachdem er bemerkt hat, dass irgendwas nicht stimmt und wir wissen ja alle, wie schnell er so etwas bemerkt. Ich sehe wie sich seine Lippen bewegen, aber ich verstehe kein Wort. Alles was ich höre ist ein rauschen. Ich weiß nicht was ich tun soll. Jes. Was ist das? Mein Atem wird einfach nicht ruhiger. Ich habe das Gefühl zu ersticken.
Jes' Augen sind weit – wahrscheinlich vor Schreck. So habe ich ihn glaube ich noch nie gesehen. Doch – einmal, als wir elf waren. Ich bin aus reiner Dummheit mit dem Fahrrad hingefallen, nachdem ich so einen bescheuerten Trick versucht habe und direkt auf einen Stein geknallt. Zuerst war da nur Blut, kein Schmerz, doch Jes war sofort bei mir, mit diesen großen, besorgten Augen und hat sich sofort darum gekümmert. Es war nicht wirklich schlimm für mich, aber ich denke für Jes war es einer der schlimmsten Augenblicke. Die Narbe habe ich immer noch und ich sehe, wie er manchmal so einen abwesenden Blick bekommt, wenn er sie sieht.
Jetzt macht er wieder diese großen, besorgten Augen und das will ich nicht. Ich will ihm keine Sorgen bereiten – nicht wieder. Nie wieder. Doch im Gegensatz zu damals, fühle ich mich dieses Mal machtlos. Ich weiß nicht was ich tun soll und kann nur zusehen, wie Jes von Sekunde zu Sekunde verzweifelter aussieht, während sich die schwarzen Punkte vor meinen Augen langsam vermehren.
War das Handy schon die ganze Zeit an seinem Ohr? Was passiert hier Wo will er hin? De Punkte werden mehr und ich habe das Gefühl nicht mehr richtig sehen zu können. Jes ist weg. Was ist los Wo ist er? Wieso ist er gegangen? Bin ich ihm zu viel? Habe ich was falsch gemacht?
Mein Kopf explodiert gleich. Wieso sitzt er jetzt hinter mir? Was macht seine Hand da mit meiner? Er legt sie auf meinen Bauch. Wieso? Sanft aber bestimmt übt er Druck auf meine Hand und damit auch meinen Bauch aus.
"Nikki. Atme.", seine Stimme klingt bestimmt, aber trotzdem ruhig und wäre ich nicht ich hätte ich das Zittern darin bestimmt überhört. Meine Atmung wird tatsächlich ruhiger und als Jes das auch merkt, lässt er seine Hand nur noch ganz locker auf meiner liegen.
"Ich denke, es geht wieder. Danke.", höre ich ihn sagen und erinnere mich wieder an das Telephon in seiner Hand.
"Nikki, wie geht es dir?", fragt er mich nun direkt und setzt sich so, dass er mir in die Augen schauen kann.
Es ist noch viel schlimmer, als mit elf. Ich wie nicht wessen Hände mehr zittern, seine oder meine und sein Gesicht. Diese großen, besorgten Augen, sind nicht nur große, besorgte Augen. Sie sehen ängstlich aus und verzweifelt und sogar tränen sind darin zu sehen. Ich habe ihm wieder Sorgen bereitet. Das wollte ich nicht. Das ungute Gefühl ist wieder da.
"Besser, danke.", antworte ich endlich und versuche mich an einem Lächeln, woraufhin seine Augen nur noch glasiger werden.
"Brauchst du einen Krankenwagen? Tut dir irgendwas weh? Sei ehrlich!"
Nein, wirklich so habe ich ihn noch nie gesehen und so möchte ich ihn auch nie wiedersehen. Es bricht mir das Herz, wie er mich ansieht.
"Nikki!", ruft er meinen Namen, da ich ihm offenbar zu lange zum Antworten brauche. "Hörst du mich? Was ist los?"
Ich höre die Panik in seiner Stimme. Ich glaube nicht, dass ich sie in dem Ausmaß schon jemals von ihm gehört habe. Jes ist nicht der Typ für Panik. Sonst ist er immer so gelassen, besonders in Stressmomenten.
"Mir tut die Brust weh, aber das ist nicht so schlimm-"
Sofort nach diesem Geständnis werde ich von Jes unterbrochen. Der will anscheinend gar nicht weiter darauf warten was ich zu sagen habe, sondern spricht wieder ins Telephon.
"Bitte schicken sie einen Krankenwagen ... Ja, genau … Brustschmerzen … 20 Minuten? In Ordnung. Danke."
"Was-", will ich protestieren, doch ein Blick in Jes' Gesicht lässt mich den Mund ganz schnell wieder schließen. Ich kann ihn nicht ansehen, wenn er so schaut – nicht, wenn es meine schuld ist.
"Kann ich dich kurz sitzen lassen? Ist das in Ordnung?", fragt er mich und ich nicke. Ich denke, diese Stimme habe ich vorher noch nie bei ihm gehört. Sie klang irgendwie – hohl? Erschöpft? Ich kann nicht ganz den Finger darauflegen.
Als er aufsteht, fühle ich mich irgendwie verlassen. Seine Hand, die die ganze Zeit auf meiner war, wurde losgelassen und fühlt sich jetzt furchtbar kalt an. Was war das? Was war los? Wieso ist das passiert? Aber wichtiger, was ist mit Jes?
"Nikki, kannst du aufstehen?"
Seine Stimme ist so leise, als er mich das fragt, fast so, als hätte er mit sich selbst gesprochen, doch ich vermute, dass er momentan einfach nicht lauter sprechen kann. Vermutlich fühlt sich seine Stimme noch immer sehr brüchig an. Ich nicke und stehe auch gleich auf. Langsam, denn mir wird wieder etwas schwindlig, aber ich stehe auf und Jes ist natürlich Jes und hilft mir sofort dabei. Er hilft mir auch beim Anziehen und als es unten an der Tür klingelt, sind wir grade fertig geworden.
Auch bei der Treppe hilft er mir. Es geht langsamer voran, als gedacht. Ich denke, was auch immer das war, hat mich wohl doch etwas mehr mitgenommen, als ich zuerst glaubte – und Jes auch. Er würde mich vermutlich treten, würde er mich das sagen hören, aber auch er sieht ganz schön fertig aus.
Die Türklingel ertönt das dritte Mal, als wir endlich aufmachen. Davor stehen zwei Männer in der typischen Uniform, deren Gesichter schon einen leicht ungeduldigen Eindruck machen. Wahrscheinlich wissen sie was vorgefallen ist, dennoch umreißt Jes die Situation kurz und sagt auch gleich, dass ich heute noch einen Termin im Krankenhaus habe, in dem mein Kopf untersucht wird soll. Nachdem ich noch einige an mich gerichtete Fragen beantwortet habe, beschießen die Männer wohl, dass ich stabil genug für einen Transport bin und so geht es ab ins Krankenhaus.
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2014
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