A. Fonim
Die stillen Leiden des jungen W.
Roman
Wir werden erzeugt, aber nicht erzogen, mit der ganzen Stumpfsinnigkeit gehen unsere Erzeuger, nachdem sie uns gezeugt haben, gegen uns vor. (Thomas Bernhard)
Es gibt sie, die einsamen Kinder. Kinder, die, da ihre Eltern die Bürde des Elternseins nicht tragen wollen oder können, in ihrer Kindheit die Rolle der Leidenden zugeteilt bekommen, in der Lebenstragödie der Erwachsenen.
Jungen Menschen das Gefühl zu geben geliebt und respektiert zu sein, ist eine der wertvollsten und wichtigsten Aufgaben unserer Gesellschaft.
Teil 1:
Wie alles anfing
Am Altar einer Kirche standen sie, Mann und Frau, lächelnd, die Frau, deren Augen in Freude aufleuchteten, der Mann lächelte auch, doch seine Augen verrieten nichts von seinen inneren Gefühlen. Hand in Hand standen sie da, und der Priester fragte sie, ob sie einander haben wollten, und beide antworten: ja. Das Ja der Frau klang hell und klar durch die große Kirche. Ja, sagte auch der Mann und wie sein Lächeln war seine Stimme beherrscht und undeutbar. Der Vater der Frau, sitzend neben der Mutter in der vordersten Bank, hatte sich nach vorne gebeugt, horchend, den Oberkörper leicht vornübergebeugt verharrte er, als wollte er sichergehen, dass er nichts von dem überhörte, was da vorne vor sich ging. Er war ein alter Mann von großem Wuchs, sein markantes, fein rasiertes Gesicht drückte trotz der vielen Falten, die es durchzogen und der wohl altersbedingten Fahlheit, Kraft und Strenge aus. Die aufeinander gepressten Lippen, der stierende Blick aus fast drohenden Augen bezeugten seinen unbeugsamen Charakter, der im hohen Alter ins Störrische, gar Herrische übergegangen war. Nicht ein einziges Mal im Laufe dieser Heiratszeremonie hatte ein Lächeln seine harten Züge erweicht. Die Mutter neben ihm, eine kränkliche, an der Seite ihres robusten Mannes unscheinbar erscheinende Frau, schaute mit tiefer Liebe und Anteilnahme zu ihrer in weißer Pracht dastehenden Tochter am Altar. Ein wonniges in sich zerfließendes Lächeln beherrschte ihr schmales puppenhaftes Gesicht. Ihr Mann aber hatte alles nur genau begutachtet, als gälte es, jedes zwischen den beiden jungen Menschen und dem Priester geäußerte Wort für ewig zu behalten, sodass er es einst bezeugen konnte. Als der Bräutigam sein Ja gesagt hatte, lehnte der Alte sich zurück, als wäre das entscheidende Wort gefallen. Dann schaute er schräg zur Seite und sein Blick ruhte lange auf den Eltern des Bräutigams. Kalt betrachtete er das Ehepaar, verächtlich den unruhig dasitzenden kleinen Mann, dessen rotes aufgedunsenes Gesicht und leicht zitternde Hände einen Trinker verrieten, achtsam die Frau, als wüsste er, dass sie seinesgleichen war, jemand, über den er nicht bestimmen konnte, da sie selbst ebenso willensstark und unbeugsam war wie er selbst. Es war etwas in ihrem Benehmen, in der Art und Weise, wie diese Frau zu ihm geredet hatte in der vergangenen Zeit, in der die beiden Elternpaare sich kennen gelernt hatten, der ihm Achtung eingeflößt hatte. Zwei starke Persönlichkeiten waren aufeinander getroffen, zwei Willen, die sich in ihrem Leben niemals unterworfen hatten, die gewohnt waren zu leiten und zu herrschen. Sie hatte ihm getrotzt, und dieser Widerstand, die sie ihm, die sich beide entgegenbrachten, hatte in ihnen einen instinktiven Widerwillen gegeneinander geboren. Ein Widerwillen, der sich mit der Zeit mehr und mehr auf die eigenen Kinder übertrug. Die Mutter des Bräutigams bildete sich zu Unrecht ein, dass die Tochter ihrem Vater überaus ähnlich wäre, und dieser wiederum spürte den gleichen unbeeinflussbaren Willen in dem Schwiegersohn, den dessen Mutter ihm entgegenbrachte. Als hätte sie seinen Blick gespürt, drehte die Mutter des Bräutigams den Kopf zur Seite, und für Augenblicke trafen sich die Blicke der Widersacher. In beiden formte sich der gleiche Gedanke: Wir werden schon sehen, dass ich Recht habe. Dein Kind taugt zu nichts, diese Ehe wird nicht lange bestehen.
Sie hatten es nie gesagt, doch sie wollten diese Ehe nicht.
Die Zeremonie nahm ihren Fortgang, voll Innigkeit küssten sich die Neuvermählten, hell blitzten die goldenen Ringe an ihren Fingern in dem durch die Kirchenfenster dringenden Licht des Sonnentages.
Glück
Ungetrübt von ihrer Eltern Abneigung gegeneinander lebten der Mann und die Frau in den ersten Jahren ihrer Ehe in tiefem Einvernehmen miteinander. Zwei junge Menschen hatten sich gefunden, erforschten einander nun in grenzenloser Leidenschaft, labten sich an des anderen unbekümmerte Lachen, lauschten mit Zufriedenheit des anderen Worte und hingebungsvollen Treueerklärungen. Sie waren einem anderen Menschen so nahe gekommen wie noch nie, und dieses Gefühl tiefer Zusammengehörigkeit, meinten sie, sei wahre Liebe. Selten nahmen sie die Augen voneinander, der Mann schaute gerne in das weiche, reine Gesicht der Frau, küsste in zügelloser Begierde wieder und immer wieder ihre vollen Lippen. Bei Nacht und bei Tag fanden ihre sich verschlingenden Münder zueinander, ergötzten sich ihre Augen in minutenlanger Bewunderung. Niemals stritten sie sich in diesen ersten Jahren, denn die Tochter war ihrer Mutter gleich. So wie sie war ihr empfindsames Wesen voll Sanftmut und Hingabe, voll aufopfernder Liebe für ihren Mann.
An geruhsamen sonnigen Herbsttagen, wenn der Boden bedeckt war von einem Teppich unter ihren Füßen leise raschelnden Laubes, wenn die Bäume farbige Vielfalt schmückte, gingen die Liebenden oft miteinander spazieren. Es war ein solcher Tag, als Mann und Frau im Park Hand in Hand nebeneinander her wandelten, im angeregten Gespräch vertieft. Sie waren ein schönes Paar, ihre Erscheinung schien jedermann verheißungsvoll. Die Frau mit braunem lockigem Haar, die Haut licht, die Augen voll Himmelsblau, der Mann, dessen glatten schwarzen Haare ein festes geradliniges Gesicht umrahmten, in dem ein besonders schön geschnittener Mund, aufmerksame dunkelbraune Augen auffielen und ein gesunder Geist heraussprach. Die beiden setzten sich auf eine Bank an einem kleinen See, der, von zwei schneeweißen Schwänen beschwommen, idyllisch dalag. Ganz nahe rückten sie aneinander, die Frau legte sogleich ihren Kopf auf die Brust des Mannes, beide schwiegen sie eine Weile, vergaßen sich im Anblick des schönen Bildes, das die Natur ihnen bot. «Weißt du», brach plötzlich die Frau die vollendete Stille, «mein Vater wollte nicht …» Ein dunkler Schatten huschte über das Gesicht des Mannes, ärgerlich fuhr er sich mit der Hand durchs Haar, erlaubte ihr aber weiterzusprechen. «Er wollte nicht, dass ich dich heirate. Ich habe dir das noch nie erzählt, ich weiß nicht, warum». In den letzten Worten der Frau klang eine gewisse Unruhe mit, sie hatte sich ein wenig aufgerichtet, ihren Kopf unmerklich von des Mannes Brust gehoben. «Er meinte», setzte sie fort, mit den Augen den dahinschwimmenden Schwänen folgend, «er meint», berichtigte sie sich, um dann in Schweigen zu verfallen, als fürchtete sie auszusprechen, was sie dachte. Der Mann machte eine jähe, ungestüme Bewegung, so als wolle er sie von sich stoßen. Wütend stieß er hervor: «Ich weiß, was dein Vater meint! Er kann mich nicht leiden, dein Vater. Wie er meine Mutter nicht ausstehen kann!» Nachdem er das gesagt hatte, begann er kleine, unter der Bank liegende Kieselsteine aufzusammeln, um sie dann einen nach dem anderen ins Wasser zu werfen. Die Schwäne näherten sich den Sitzenden in der Hoffnung, gefüttert zu werden.
Für Minuten warf er Stein um Stein in das platschende, an der Stelle, wo die Steine die Wasseroberfläche trafen, Kreise beschreibende Wasser. In seinem Benehmen ähnelte er einem verstockten Buben. Plötzlich blickte er seine Frau an. Stolz leuchtete aus seinen dunklen Augen. «Und ich mag ihn nicht», verkündigte er trotzig. «Er ist kein guter Mensch. Er ist ein Tyrann. Er glaubt, er könnte über dich bestimmen. Auch jetzt noch, wo du erwachsen bist!» Die Frau hatte ihn erschrocken angesehen, nun legte sie beschwichtigend ihre feine Hand auf seinen Arm. Zärtlich streichelte sie über den Arm bis zur Hand, ihre Hand suchte die seine, er aber verschloss sie ihr. «Und ich weiß auch, was du sagen wolltest», fuhr er fort, indem er sich erneut zu Boden beugte, Steine aufhebend, mit immer weiter ausholender Bewegung schleuderte er sie kraftvoll von sich. Die Schwäne verjagte er dadurch, sie flogen davon. «Dein Vater meint, dass unsere Ehe nicht halten wird wegen mir. Was! Das meint er. Nun er irrt sich, dein Vater. Denn ich liebe dich!» Mit diesen Worten war sein Zorn scheinbar erloschen, behutsam drückte er den Kopf der Frau wieder an seine noch bebende Brust, in der sein Herz heftig pochte, küsste ihren Mund. Doch er täuschte diese Liebenswürdigkeit nur vor, denn im Inneren war er voll unkontrollierbarer, wütender Erregung. Der Gedanke an den Vater seiner Frau hatte ein versengendes Feuer in ihm entfacht. Die Abneigung, die ihm von diesem Menschen entgegengebracht wurde und er erwiderte, verstörte ihn, wurde zu einer schweren Last, die sich auf sein Gemüt legte. War es am Anfang nur eine bedeutungslose Unstimmigkeit zwischen den beiden gewesen, war sie mit den Jahren zum Hass herangewachsen. Seine Mutter gab diesem Hass Nahrung, sie hatte sich ihr Urteil über die Eltern ihrer Schwiegertochter schon längst gemacht. Es fiel ihr nicht schwer, den Sohn mit abfälligen Bemerkungen zu beeinflussen. Der Sohn hörte auf seine Mutter, denn sein schwacher, vom Alkohol entkräftigter Vater, herzensgut, aber schwach, übte auf den nun herangewachsenen Sohn kaum noch Einfluss aus. Es war die Mutter, die willensstarke, energische Mutter, die dem Sohn eine Leitfigur war. So wie seine Frau war auch er mehr ein Ebenbild der Mutter als des Vaters.
Lange saßen sie in Schweigen nebeneinander, der Mann schwieg in eigenen verbohrten Gedanken versunken, den Kopf von seiner Frau abgewandt. Die Frau in Furcht, ihren Geliebten verletzt zu haben, blickte zu Boden und suchte nach einem versöhnenden Wort. Der See lag spiegelglatt vor ihnen, von einer nahe gelegenen Birke wehte der Wind verwelkte Blätter. Tanzend schwebten sie hernieder, trafen das klare blaue Wasser, in dem sie allmählich versanken. «Du», sagte die Frau schließlich, fast schüchtern, bittend war ihr Blick. «Lass es uns egal sein, was unsere Eltern über uns meinen.» Der Mann nickte, schaute um sich, wie zu sich kommend, dann drückte er sie mit dem Arm näher an sich. Wieder küsste er sie.
«Sollen wir weg von all dem?», sagte er plötzlich, sie fest anschauend. Die Frau sah fragend zu ihm auf.
«Weg einfach weg, weg von unseren Eltern. Wir können woanders hinziehen. Jetzt, wo du doch schwanger bist. Ich als Lehrer bekomme schon einen Job. Schulen gibt es ja überall. Wir bauen uns ein großes Haus, kriegen viele Kinder, werden eine richtige Familie!» Voll jungenhaftem Eifer und mit vor Unternehmungsdrang leuchtenden Augen erzählte er ihr von seinen großen Plänen. Sie lauschte in Bewunderung, in Staunen und erwiderte liebevoll seinen lebhaften Blick.
Eine Familie
Zwei Jahre später hatten sie sich ihre Träume erfüllt, das Haus, das bisher nur in ihren Vorstellungen bestanden hatte, war nun Wirklichkeit geworden. In einem kleinen, vom Trubel des Lebens abgeschiedenen Dorf, weit weg von ihren Eltern, hatten sie es erbauen lassen. Die Straße, in der ihr Haus, umgeben von weiteren Neubauten, lag, endete an einer wild vor sich hinwachsenden Wiese, die sich bis an den Rand eines großen Waldes hinstreckte. Als sie in ihr neues Zuhause einzogen, war es Sommer, und die Wiese war voller farbiger Blumen, ein großer Baum dicht am Haus, der von den Bauarbeiten verschont geblieben war, trug ein dichtes grünes Blättermeer, in dem Vögel fröhlich zwitscherten, als hießen sie die Neuankömmlinge willkommen. Der Mann und die Frau waren nun nicht mehr zu zweit, sie hatten ihr erstes Kind bekommen, das nun mit seinem lauten Weinen und hellen Lachen das große Haus mit all seinen leeren Räumen belebte. Das Ehepaar besaß nun alles, um glücklich zu sein, aber sie waren es nicht. Ihre Liebe zueinander hatte zwar mit der Geburt des Kindes ihren Höhepunkt erreicht, war es ihnen doch gewesen, als verbände dieses neue Leben, das sie zusammen gezeugt, sie mit unzerreißbaren Fesseln, als wäre ihre Liebe nun mit dem Kind in ihrer Mitte eine ewige. Doch die Zeit verging und mit dem Heranwachsen des Kindes nach all den vielen Jahren des intensiven Zusammenlebens erfuhr das Verhältnis der beiden Eheleute eine ungute Veränderung. Die Frau liebte ihren Mann wie am Anfang ihrer Beziehung, als das Feuer ihrer Leidenschaft zueinander sich mit uneingeschränkter Stärke entfacht hatte. Sie war zutiefst glücklich, wenn sie ihr Kind in den Armen trug, mit ihm spielte, mit ihm lachte, es spazieren fuhr im Kinderwagen mit dem Mann an ihrer Seite. Sie wurde zur selbstvergessenen Mutter, die in diesem Dasein alle ihre Wünsche und Freuden erfüllt sah. Sie liebte ihren Mann und ihr Kind aus ganzem Herzen, diese beiden Menschen bedeuteten ihr mehr als alles in der Welt. Auch der Mann liebte seine Familie, von der er ein Teil war, doch sein Leben begann ihn zu langweilen, die Rolle des Familienvaters befriedigte ihn nicht mehr. Seine Frau erschien ihm nun, da er sie durch und durch kannte, nicht mehr so liebenswert. Ihre Gespräche wurden einsilbiger, umhandelten meist ihr Kind oder alltägliche, belanglose Dinge. Der Mann VERLANGTE mehr von seiner Frau, sein reger Geist konnte von der ganz in ihrer Mutterrolle aufgehenden Frau nicht bestätigt werden. Ehrgeizig hatte er sich in den letzten Jahren darauf konzentriert, eine Familie zu gründen, eine eigene Existenz aufzubauen, nun nach dem Erreichen dieses Zieles begann sein inneres Auge seinen Lebenshorizont abzusuchen nach neuen Herausforderungen, nach noch unerreichten Zielen. Auch fand er keine Erfüllung in seiner Arbeit als Lehrer an einer Schule in einem nahe gelegenen Dorf. Nur ab und zu, wenn er vor einer großen Klasse stand und all die jungen Männer und Frauen ihn erwartungsvoll anschauten, er war ein guter Lehrer, seine Strenge und seine durch wohl gewählte, manchmal humorvolle, manchmal beseelte Worte sich offenbarende Geistesgröße, ließen die jungen, nach Lebensweisheit dürstenden Menschen ihm in ungeteilter Aufmerksamkeit zuhören, nur dann fühlte er Befriedigung. Im Zentrum aller Blicke, im Beantworten der vielen neugierigen Fragen lebte er auf. Eine seiner ehemaligen Schülerinnen, eine kurz vor dem Erwachsenwerden stehende junge Frau, lauschte dem dank seines von den schwarzen Haaren eingerahmten, von edlen Linien beherrschten Gesichts charmant erscheinenden Lehrer mit besonderem Interesse. Häufig nach Beendigung der Stunde ging sie zu ihm hin, stellte Fragen, bemühte sich um ein Gespräch. Im Laufe des Schuljahres wurden derer Gespräche viel, waren sie am Anfang nur kurz und mit einer gewissen inneren Distanz vorgegangen wie ein beiderseitiges Herantasten, so wurde sie immer freier, ungezwungener, das Mädchen und der noch junge Lehrer fanden Gefallen aneinander. Aus den Gesprächen entwickelten sich Zusammenkünfte außerhalb der Schule, sodass sie zu zweit und ungestört miteinander sein konnten. Dem Mädchen gefiel die Aufmerksamkeit, die dieser erwachsene, gut aussehende Mann ihr entgegenbrachte, dass er sie ernst nahm, sie umschmeichelte. Der Lehrer fand in diesem Mädchen den Gesprächspartner, den er in seiner Frau vermisste. Hier war ein junger suchender Geist, der seinem entsprach, so wie er stellte das Mädchen Fragen, philosophierte über das Leben, suchte im menschlichen Austausch von Gedanken die Geheimnisse des menschlichen Daseins zu erkunden. Und es waren nicht nur Fragen philosophischer Art, die dieses vom Leben noch unerfahrene Mädchen beantwortet haben wollte, nein, sie versprach sich von diesem Mann mehr, auch wenn sie nicht wusste, was es war. Starke Gefühle wurden in ihr durch diese immer intimer werdenden Gespräche geweckt, aufrührende, stürmische, neuartige Gefühle, die bald nach Erwiderung verlangten. Es entwickelte sich mit der Zeit ein nahes Verhältnis zwischen den beiden. Zwischen dem Lehrer und der jungen Frau entstand so etwas wie Abhängigkeit, beide erhofften sie sich etwas von dem anderen, auch wenn diese Hoffnungen, Wünsche, Erwartungen, dieses Verlangen beim Mann genau erwogen und bedacht waren, beim Mädchen hingegen ins Unbestimmte verliefen. Es war ein Spiel, dessen Regeln der Mann genau kannte, er glaubte, er sei es selbst, der die Regeln und den Fortgang dieses Spieles entscheide. Einsatz und Gewinn waren von ihm genau berechnet. Doch die Gefahr des Verlustes missachtete der tollkühne Spieler.
Dann am Ende des Schuljahres geschah es, der Lehrer und das Mädchen vereinigten sich in hemmungsloser, alle Vernunft betäubender Begierde eines Nachts, schwül war sie die Nacht, ein leises Donnern aus der Ferne durchdrang die stillstehende, erhitzte Luft. Als der Morgen heranbrach mit seinem hellen, alles entblößenden Licht, befreite sich der Mann aus der Umarmung der jungen Frau und schlich in Bestürzung und von schwerem Schuldgefühl beladen davon.
Kälte
Es war Winter geworden, das fünfte Jahr, nachdem die kleine Familie in ihr neues Haus eingezogen war, verging. Die Wiese am Ende der Straße war hart und gefroren, da und dort lagen armselige Reste vom schmutzigen Schnee, den das Tauwetter nach dem ersten Schneefall zurückgelassen hatte. In dem großen Haus wartete die Frau länger und länger, dass ihr Mann nach Hause kommen sollte. Abends, wenn sie ihr Kind zu Bett gebracht hatte, setzte sie sich oft in das große überaus leer wirkende Wohnzimmer oder ging zum Fenster und sah hinab in den Garten, der, da Hecken und Bäume kahl und abgestorben dalagen, einen trostlosen, toten Eindruck machte. Es war in diesen einsamen Stunden, wenn draußen die Dunkelheit sich über die stille Landschaft legte, dass ihr die bedrückenden Gedanken kamen, die sie am Tage in Gesellschaft des Kindes von sich schieben vermochte. Doch diese Gedanken wurden immer schwerer, niederzudrücken, denn wenn das Kind nach seinem Vater fragte, sei es am Tag, wenn ein Gegenstand oder ein Wort der Mutter es an den abwesenden Vater erinnerte, oder beim Zubettgehen, dann antwortete die Mutter, er sei bei der Arbeit. Im Inneren aber ahnte sie mit immer größer werdender Gewissheit, dass dies nicht immer der Wahrheit entsprach, besonders des Abends, wenn der Vater doch schon längst zu Hause sein und hier zusammen mit ihr am Bett des Kindes stehen sollte.
Wieder war ein solcher Abend angebrochen, das Kind zu Bett gebracht worden, wiederum hatte die Mutter die Frage des Kindes nach dem Vater beantworten müssen. Nun saß sie im Sofa, regungslos, ihr Blick glitt stumpf durch den nur von einer Stehlampe erhellten Raum, der angesichts der dort herrschenden Stille, Leere und Trübnis beängstigend wirkte. Wie so oft schon fragte sie sich die gleiche Frage, die ihr das eigene Kind so oft stellte. Wo war ihr Mann? Warum war er so viel weg, war es wie er vorgab die Arbeit, die ihn dazu zwang, die Elternabende, wie er beteuerte, an denen er anwesend sein musste, zu versäumen? Die Frau liebte ihren Mann und deswegen hatte sie erst nicht an seinem Wort gezweifelt. Mit der Zeit aber waren ihr Bedenken gekommen, ein leises Misstrauen war in ihr erwacht und zur schwelenden Glut geworden, wartend sich entfachen zu dürfen. Und die Furcht, die sie stets lähmende Angst, dass er, ihr Ehemann, der Mann ihres gemeinsamen Kindes, an den Abendstunden mit einer anderen Frau zusammen war, breitete seinen erstickenden Mantel um die Verlassene. Der Verdacht lebte in ihr, nicht nur weil ihr Mann so lange fortblieb am Abend, sondern auch weil er sich in seinem Verhalten gegenüber ihr merkbar verändert hatte. Er suchte nicht mehr in gleicher Weise die Nähe zu ihr, nein im Gegenteil, sie empfand deutlich, dass er sich von ihr zurückzog. Wenn er am Wochenende zu Hause war, spielte und tollte er mit dem Kind, als gälte es, Versäumtes nachzuholen, doch zu ihr, seiner Frau, verhielt er sich mit kühler Zurückhaltung, und wenn das Kind schlief, seine Lebhaftigkeit das Haus nicht mehr erfüllte, zog er es oft vor, in seinem Arbeitszimmer zu verweilen, dessen Tür niemals offen stand, anstatt die verbliebene Zeit in Gesellschaft seiner Frau zu verbringen.
Doch warum sich ihr Verhältnis so entwickelt hatte, konnte sich die Frau nicht erklären, sie versuchte es auch jetzt, als sie dasaß, in Nachdenken versunken, rätselte sie über den Grund der veränderten Beziehung zu ihrem Mann. Allerlei Vermutungen stellte sie an, glaubte sich irgendwie verantwortlich dafür, dass die Gefühle ihres Mannes zu ihr abgekühlt waren.
Ihre Stirn zog sich in Falten, ihre Hände begannen nervös, mit den Fransen des Sofas zu spielen. Angestrengt überlegte sie hin und her, vergaß dabei, dass in der Küche noch das ungewaschene Geschirr wartete. Es war nicht zum ersten Mal, dass sie sich mit so schmerzhaften Erwägungen beschäftigte. Zu viele Abende hatte sie so gesessen, in ungesundem, peinigendem Grübeln versunken, Sorge und Bekümmerung hatten in ihrem Gesicht Spuren hinterlassen. Das einst so frische, stramme, lichte Gesicht war merkbar gealtert und hatte viel von seinem früheren jugendlichen Reiz verloren. Die Haut war schlaff und welk geworden. Ein leichtes Doppelkinn hatte sich gebildet. Die von dunklen Rändern umrahmten und von Tränensäcken behangenen Augen blickten nicht mehr so selbstsicher in die Welt. Die körperliche Fülle, die die Geburt des Kindes mit sich gebracht hatte, war bei ihr nur teilweise zurückgegangen. Sah man sie nun, wie sie verlassen in dem halbdunklen Wohnzimmer saß, musste man Mitleid mit ihr haben.
Das Geräusch der aufgehenden Haustür und hereintretende polternde Schritte im Flur scheuchten sie aus ihren Gedanken. Sie strich sich hastig das wirre Haar zurecht, setzte sich aufrecht. Erwartungsvoll sah sie ihrem Mann entgegen, der gleich darauf in das Wohnzimmer trat. «Hallo», sagte er, schaute sie kurz an, trat aber nicht zu ihr hin, um sie zu küssen, wie er das früher immer getan hatte, sondern ging sofort in die Küche, um das für ihn aufbewahrte Mittagessen zu holen. Die Frau sah ihm nach, wie er in der Küche verschwand. Mit einem gefüllten Teller kam er gleich darauf wieder zum Vorschein, setzte sich an den Esstisch der zwischen Küche und Wohnzimmer stand und begann schweigend zu essen. Der Frau tat es weh, dass er sie nicht geküsst hatte, auch hatte sie seine Gleichgültigkeit ihr gegenüber in seiner Begrüßung gespürt. Seine Schweigsamkeit reizte sie, zwar war sie es gewohnt, dass er selten zu ihr sprach, an diesem Abend aber wollte sie die zwischen ihnen herrschende Stille nicht ertragen.
«Hast du eine Beziehung mit einer anderen Frau?» Ihre Stimme bebte leicht als sie diese Frage stellte, von beginnender Erregung überkommen, zupfte sie erneut heftig an den Fransen des Sofas. Starr hatte sie die Augen auf ihren Mann gerichtet und beobachtete ihn fast lauernd. Der hielt im Essen inne, legte den Löffel beiseite, stützte beide Arme mit den Ellbogen auf den Tisch und rieb sich mit den Händen mehrmals über das Gesicht, als sei er zu müde, um zu antworten. Dann schüttelte er mit dem Kopf, ohne die Frau dabei anzusehen, und sagte. «Nein!» Es war ein fast hart klingendes Nein, unwillig, mehr hervorgewürgt als gesprochen. Vielleicht war es die Art, wie diese Antwort gegeben worden war, es war ein bloßes Abstreiten gewesen, nicht der Versuch zu überzeugen, die die Frau ahnen ließ, dass ihr Mann eine Lüge aussprach. Zum ersten Mal kam ihr diese Empfindung, zum ersten Mal hielt sie es für möglich, dass ihr Mann sie belog, belogen hatte. All die vergangenen Jahre hatte sie ihm blindlings vertraut in allem, was er zu ihr gesagt hatte. Beim Anblick ihres wie von einer unsichtbaren Last tief gebeugt dasitzenden Mannes, der sie nicht anschauen wollte, als fürchtete er, sie könnte in seinen Augen die Wahrheit lesen, wurde ihr klar, wie naiv und leichtgläubig sie gewesen war. «Du lügst», sagte sie leise, kaum hörbar. Mehr vermochte sie nicht herauszubringen, wartete nur in verzweifelter Hoffnung darauf, dass ihr Mann erneut ihre Anschuldigung bestreiten würde. Doch er erwiderte nichts, mit gesenktem Kopf begann er, mit seiner Mahlzeit fortzufahren. Äußerlich scheinbar ruhig, doch innerlich war er wie seine Frau aufgewühlt und erregt. Die Frage seiner Frau hatte ihn schwer getroffen, eine jähe, wilde Panik in ihm geweckt. Solange das Verhältnis zwischen ihm und dem Mädchen bestanden hatte, hatte er diese eine Frage vonseiten seiner Frau gefürchtet. Mit der Beendigung der Affäre letzten Sommer war auch seine Furcht, entblößt zu werden, geschwunden. So hatte er sich schon bald sicher gefühlt im Glauben, seine Untreue würde seiner Frau niemals bekannt werden. Doch die Schuld seines verantwortungslosen Tuns hatte ihn bis jetzt nicht losgelassen, sein schlechtes Gewissen nagte an ihm. Im Nachhinein war ihm klar geworden, was er mit dieser einen Nacht aufs Spiel gesetzt hatte. Nachdem die Frage gestellt worden war, wurde er von einer großen Unruhe erfasst, da er befürchtete, dass die Wahrheit nun doch noch ans Licht kommen würde, auch ängstigte ihn vor den Folgen, die solch eine Entlarvung mit sich bringen könnte. Er schwieg deshalb verbissen und hoffte, dass seine Frau nicht weiter auf ihn eindringen würde.
«Du lügst», schrie die Frau, sie war vom Sofa aufgesprungen und stand nun vor ihm, Halt suchend an der Rückenlehne eines Stuhles, schnell ging ihr Atem, hob und senkte sich ihre Brust. Der Mann drehte den Kopf von ihr weg. Er verstand in diesem Augenblick, dass er die Wahrheit bekennen musste. Wie konnte er mit einer Frau zusammenleben, die ihn als Lügner verdächtigte? Wollte er diese Familie retten, so gab es keinen anderen Ausweg, als ihr in aller Offenheit die Wahrheit zu sagen. «Ja», sagte er schließlich gequält, indem er sich zurücklehnte und sein Gesicht in den Händen verbarg.
«Ich hatte eine Beziehung mit einer Frau. Aber das ist schon ein halbes Jahr her. Es war nicht von Bedeutung, und es wird nie mehr geschehen.» Er drehte sich zu seiner Frau, schaute sie an. Ihre Erscheinung erschreckte ihn. Sie stand wie versteinert, Tränen hatten sich aus ihren Augen gelöst und quollen über ihre bleichen Wangen. Als er sie so sah, überkam ihn mit einem Mal das Gefühl furchtbarer Schuld, die tiefe Liebe, die er zu ihr einst empfunden hatte, flammte von Neuem in ihm auf. Es sei nicht von Bedeutung, wiederholte er beinahe beschwörend. «Es wird nie mehr geschehen.» Die Frau erwiderte nichts, stand nur da und starrte ihn fassungslos an, auf ihrem bald von Tränen aufgelösten Gesicht spiegelte sich das volle Ausmaß ihres inneren Schmerzes wider. Es kam ihr so vor, als drehe sich alles um sie herum, noch fester umfasste sie die Stuhllehne, mit beiden Händen klammerte sie sich daran. Jetzt, als ihr Mann ihr die gefürchtete Wahrheit bekannt hatte, dass er sie hintergangen, dass er sie belogen hatte, ihr Mann, dem sie vertraut hatte, den sie liebte, war es ihr, als würde ihr ganzes Leben zunichte gemacht und alles, worauf sie dieses Leben aufgebaut hatte, für immer zerstört und zertrampelt. Mein Mann liebt mich nicht! Dieser eine für sie schier unaushaltbare Gedanke erfüllte sie ganz und gar. Wie ein Dolch stach er ihr ins so empfindliche Herz. Der Mann sah, was in ihr vorging, wollte sie berühren, um mit Zärtlichkeiten sie zu trösten, sie wehrte ihn ab. «Verzeih mir, ich war dumm gewesen. Ich bereue es wirklich. Ab jetzt wird alles gut werden, das verspreche ich dir. Ich liebe dich!» Diesen Redeschwall ließ die Frau über sich ergehen, wie taub, keine leeren Worte konnten die tiefen Wunden heilen, die der Verrat ihres Mannes in ihrem Inneren gerissen hatte. Und die Beteuerung dass er sie liebte, vermochte nicht über die hohen starken Mauern, die ihr verletztes Ich errichtet hatten, zu ihrem blutenden Herz zu dringen.
Entzweiung
Der Mann, der geglaubt hatte, dass nun nach seinem Bekenntnis alles besser werden würde, hatte sich getäuscht. Seine Bemühungen, das Verhältnis zwischen ihm und seiner Ehefrau wieder zu beleben, führten zu nichts. Vergebens war es, dass er nun immer früh nach Hause kam, vergebens seine Versuche, die Harmonie in der kleinen Familie wiederherzustellen. Seine Frau misstraute ihm. Kam er eines Abend später nach Hause als gewöhnlich, beschuldigte sie ihn erneuter Untreue, stritt er dies noch so entschieden ab, nannte sie ihn einen Lügner, hatte sie doch das Vertrauen in ihn gänzlich verloren. Oft entwickelten sich diese Anschuldigungen zu fürchterlichen Streitereien, Frau und Mann wurden zu keifenden Bestien, die sich mit schrecklichen Worten versuchten zu verletzen. So entfernten sie sich weiter und weiter voneinander. Das Kind, nun in seinem zehnten Lebensjahr, war nun alt genug, um zu verstehen, was um es herum vorging. Die sich entwickelnde Kluft zwischen Vater und Mutter nahm es mit seiner kindlichen Empfindsamkeit deutlich wahr. Nicht selten geschah es, dass es dabeistand, wenn die Eltern sich stritten, und dann alles in sich aufnahm mit seinen großen, alles sehenden Kinderaugen. Hatte es Vater und Mutter vorher als eine Einheit empfunden, waren sie nun geteilt, voneinander getrennt, hin und her wurde das Kind zwischen ihnen gerissen. Dem Vater und der Mutter lag es nun daran, das Kind völlig an sich zu binden und es so dem anderen zu entziehen. Wie Feldherren, die nach Verbündeten suchen, gebrauchten sie das Kind, um die Schlacht gegeneinander zu gewinnen. Der Mann war es bald leid, sich weiter zu bemühen, so blieb er von zu Hause fern, soviel wie nur möglich.
Es wurde Frühjahr, der große Wald jenseits der Wiese erwachte zum Leben, seine Kahlheit verwandelte sich in üppiges Grün, von der zu neuer Kraft kommenden Sonne geweckt. Doch in das große Haus am Ende der Straße drang kein Sonnenlicht. Eine unermessliche Kälte beherrschte alle Räume, drang in alle Winkel und Ecken, selbst das Lachen des Kindes war verstummt. Seine Kinderaugen hatten zu viel menschliche Feindschaft gesehen, sein Mund verschloss sich. Die Mutter saß nun wieder in der Abwesenheit ihres Mannes viel allein, dumpf vor sich hinbrütend. Sie hatte sich in den letzten Monaten mehr und mehr in sich verbarrikadiert, geistesabwesend durchlebte sie den Tag. Ihre Gedanken ließen ihr niemals Ruhe, die Verletzungen, die ihr Mann ihr zugefügt hatte, übten einen verheerende Wirkung auf ihren so sensiblen Geist aus, der nichts anderes vermochte, als sich in immer stärkerer Weise von der unaushaltbaren Realität zurückzuziehen und in eine für die Umwelt unerreichbare eigene Wirklichkeit zu flüchten. Immer fantastischer wurden die Beschuldigungen, mit denen sie ihren von der Wucht ihrer Angriffe erschrockenen Mann überfiel, alle ihre Sinne konzentrierte sie auf das Ausdenken und Beweisen von neuen Verleumdungen. Ihr Wesen machte in diesen entsetzlichen Monaten eine fatale, krankhafte Veränderung durch, die ihr Mann zwar wahrnahm, aber nicht zu deuten vermochte. Aus der fürsorglichen liebenden Mutter wurde ein bald völlig passiver Mensch, der die Arbeiten im Haus vernachlässigte, da ihm das, was in seinem Inneren vorging, alle Kraft nahm.
Eines Tages, als der Mann nach Hause kam, fand er seine Frau, in einer dunklen Ecke sitzend, laut und wie mit einer anderen für ihn unsichtbaren Person redend, vor sich hin sprechen. Er beugte sich zu ihr hinunter, schüttelte sie kräftig an den Schultern. «Was ist los mit dir?» Sie verstummte in ihrem wirren Gerede, sah ihn erstaunt an, als hätte sie seine Anwesenheit erst jetzt bemerkt. «Ich weiß es nicht», stammelte sie im Flüsterton. «Alle diese Gedanken in meinem Kopf. Hilf mir.» Er schloss seine Arme um sie, merkte, wie ein Zittern durch ihren ganzen Körper ging. «Du bist krank», sagte er. «Morgen gehen wir zum Arzt.» Dass die Krankheit, die seine Frau offensichtlich befallen hatte, kein körperliches Leiden war, verstand er wohl, doch er weigerte sich zu glauben, dass seine Frau dem Anschein nach verrückt geworden war. Anders konnte er sich aber das abnorme Verhalten seiner Frau nicht erklären.
In dieser Nacht, als die Frau neben ihm unruhig, wie von einem nie endenden Albtraum geplagt, schlief, lag er wach voll banger Ahnungen, und die Dunkelheit legte sich um ihn wie ein grässliches, hundertarmiges Monster, das sich um ihn schlang und ihn versuchte zu erdrücken.
Krankheit
Der darauf folgende Besuch beim Arzt bestätigte den fürchterlichen Verdacht. Die Frau war, so der Arzt, an Schizophrenie erkrankt. In einem Gespräch unter vier Augen machte der Arzt den von dieser Mitteilung schockierten Mann darauf aufmerksam, dass ihm ein harter Kampf um seine Frau bevorstand. Er machte ihm ebenfalls klar, dass es bei dieser Krankheit die größte Schwierigkeit ist, den Erkrankten davon zu überzeugen, dass er krank sei. Nur wenn diese Einsicht da ist, kann dem Patienten geholfen werden. Die Gefahr ist, dass der Kranke sich weigert, seine Krankheit anzuerkennen, und somit eine Behandlung verweigerte, da er sich ja gesund meint. Der Mann hörte sprachlos zu, der Schock war ihm anzusehen, in seinem Gesicht war ein Ausdruck von Unglaube und Fassungslosigkeit getreten. Ein dumpfer Druck stemmte sich von innen gegen seine Stirn, er fühlte einen unaushaltbaren Durst. Es erschien ihm unmöglich zu reden, seine Zunge klebte im ausgetrockneten Mund am Gaumen. Der Mann, der sein Leben lang gemeint hatte, ja felsenfest davon überzeugt gewesen war, sein Leben und alles, was darin vorging, unter Kontrolle zu haben, sah sich nun mit etwas konfrontiert, dem gegenüber er machtlos war. Die geistige Erkrankung seiner Frau machte ihm zum ersten Mal in seinem Leben seine eigene Unzulänglichkeit und Beschränktheit bewusst. Als der Arzt, der seine Aufklärungsrede in sachlichem Ton vorgebracht hatte, geendet hatte, saß sein Gegenüber mit den Armen auf der Brust verschränkt da, wieder und wieder mit dem Kopf schüttelnd, als wäre das Gehörte eine Unerhörtheit, die er sich sträubte, anzuerkennen. Ahnte er vielleicht nun, welch grauenvolles, alles Glück und Freuden unter sich zerquetschende Rad er zum Rollen gebracht hatte durch sein verantwortungsloses Verhalten? Sah er nun, wie schrecklich die Rache des von ihm mit den Füßen getretenen Schicksals war?
Ende
Ihm stand eine Aufgabe bevor, der er nicht gewachsen war. Um seiner Frau beizustehen im Kampfe gegen diese Krankheit, musste er ihr nahe sein, aber in den letzten Jahren hatten sie einander verloren. Der Mann, der nun im Laufe des Frühjahrs und Sommers versuchte, seiner Frau verstehen zu machen, dass sie krank sei, dass sie Medizin zu nehmen habe, scheiterte, da die inneren Bande zwischen den beiden nicht mehr bestanden. Der Mann, aufgrund seiner Erfolglosigkeit zur Aggressivität gereizt, versuchte der Frau einzuhämmern, dass sie krank sei, voller Vorwürfe, aufgebracht von ihrem Widerstand, er scheiterte, da er sie einst belogen hatte. Je mehr er gegen sie aufbegehrte, desto mehr verschloss sie sich. Die Krankheit nahm ihren Fortgang, er vermochte sie nicht aufzuhalten, im Gegenteil, die schlechte Atmosphäre, die aggressive Spannung zwischen den beiden Eheleuten beschleunigten und verschlimmerten die negative Entwicklung der Krankheit. Bald sah sich der völlig entkräftigte Mann dazu gezwungen, aus dem Haus auszuziehen, wollte er nicht unter den hasserfüllten Attacken der Frau zugrunde gehen und sich beim Gericht um das Sorgerecht für das Kind zu bewerben. Vorerst blieb das Kind zurück. Die Zeit, in der es mit der erkrankten Mutter alleine war, war eine fürchterliche. Das Kind fühlte deutlich, dass es der Mutter nicht gut ging, es hörte sie irre kichern, wirr reden, sah sie ruhelos herumgescheucht. Was in seiner Mutter vorging, konnte es nicht verstehen, ihr absonderliches Benehmen konnte es sich nicht erklären. Die Entfremdung der Mutter, zu der es eng verbunden war, erschütterte das Kind zutiefst. Mit einem Mal war es auf sich allein gestellt, da der Vater es verlassen hatte und die Verbindung zur Mutter nur für Perioden, in der der Wahnsinn von seinem Opfer ein wenig abließ, bestand. In diesen kurzen Zeiträumen, nie waren es mehr als ein paar Tage, versuchte die Mutter, da die Trennung von ihrem Mann eine endgültige war, ihr Leben neu aufzubauen, doch es war ein hoffnungsloses Unterfangen. Der Schmerz, über all das, was sie verloren hatte, über den völligen Zusammenbruch ihrer Ehe, über die unwiderrufliche Teilung der Familie, über den Verlust der Liebe ihres Mannes, den sie immer noch liebte, zog sie hinab in die absolute Hoffnungslosigkeit und bodenlose innere Verzweiflung. In ihrer gänzlichen Einsamkeit, der Zukunft bangend, war sie verdammt, den Kampf gegen ihre schwere Erkrankung zu verlieren.
Als dann auch noch das Kind ihr entzogen wurde nach Monaten gerichtlichen Ringens, nahm der Wahnsinn überhand und schloss unaufhaltsam seine eiserne Hand um ihre gepeinigte Seele.
Anfang.
Der Mann, dessen Wille, Vertrauen und Glaube an sich selbst zwar von dem Erlebten in seinen Grundfesten erschüttert, aber nicht zum Einsturz gebracht worden war, dessen Herz sich von Liebe verlassen, in Hass und Zwiespalt erhärtet hatte, gefroren wie ein Bächlein, das im Sommer leicht dahin fliesst, im Winter in Starre stillsteht, der einsame Mann suchte nun nach einer neuen Frau die ihm seine Liebe gab.
Er fand sie in der Schule, in deren Gänge und Räume er herumirrte, Mitleid erweckend, durch seine, zu dieser Zeit, seine ganze Gestalt anhaftenden Unzufriedenheit und sein äußerliches zur Schau getragenes inneres Leiden. Sie, die junge Lehrerin, sah dem gutausehenden, unglücklichen Mann mitleidig nach, wenn er an ihr vorbeiging, betroffen durch sein an der Schule bekanntes schweres Schicksal, bezaubert von dem Ernst und der Wahrhaftigkeit, die vom diesem edlen Mann ausging, sie verliebte sich in ihn. Sie, diese junge von Liebe und Leben unerfahrene Frau, die nach Mitmenschen Ausschau hielt, die ihr im Leben Halt und Führung geben konnten, glaubte in diesem Mann den Beantworter ihrer neugierigen Fragen, fühlte wie schon einmal ein Mädchen an dieser Schule gegenüber ihm gefühlt. Sie war ihm willkommen, sie konnte ihm nicht willkommener sein, in seiner Einsamkeit, in seinem Hadern mit seiner Lebenssituation und in den schwersten Stunden auch mit sich selbst. Das sich zu ihr voll stürmischer Leidenschaft durchwirkte Verhältnis, da vom Manne mit großen Eifer vorangetrieben, half ihm zu vergessen was da gewesen war, ermöglichte ihm sein angeschlagenes Selbstgefühl zu bewahren, und stärkte seinen Glauben an sich selbst.
Diesmal, so dachte er, mit dieser Frau, mit dieser hübschen, jungen, voll Lebenssaft durchströmter Frau, wollte er wahres Familienglück erleben. Nun, er war davon überzeugt, hatte er aus seinen Fehlern gelernt und würde sie nicht wiederholen. Diese neue Familie, der Mann, seine junge Geliebte, das Kind, zogen in ein großes, wenn auch schon altes Haus, hinter dem sich bewaldete Hügel hochzogen und von dessen Fenstern aus man auf die Dächer der Klein Stadt sehen konnte, bis zum Kirchturm, dessen goldene Spitze im Sonnenlicht zum Blinken und Flimmern gebracht wurde. Die junge Frau, die bisher nur ihr eigenes Wohlbefinden im Sinne gehabt hatte, nur um sich selbst bekümmert war, nur die eigenen Wünsche und Ziele vor Augen hatte, war nun auf einem Schlag zur Stiefmutter geworden, ein Elternteil, und sollte sich von jetzt an um ein junges Geschöpf kümmern, das nicht ihr Kind war, aber doch ihr anvertraut.
Aber war sie dieser Rolle gewachsen?
War diese Frau, mit dem schmalen Jungenhaften Gesicht, die oft ihren, mit von kurzen Haaren bedecktem Kopf zurückwarf, eine Bewegung die ihre unkontrollierbarer Energie, ihren Eigensinn und ihr rücksichtsloses Selbstvertrauen ausdrückte, dieser junge Mensch gerade erst geistlich seiner eigenen Kindheit entwachsen, war sie, die noch vor Jahren verwöhnt und verhätschelt von ihren Eltern umsorgt dahingelebt hatte, war sie reif dieses Stiefmutter seins?
Der Mann fragte nicht danach, in seinem Bestreben diese Familie zusammen zubinden, sie zu einer glücklichen zu machen, Heiratete er sogleich, ZEUGTE mit seiner neuen Ehefrau, bevor noch ein halbes Jahr vergangen, ein Kind, sodass es ihn mit der Mutter, verbinde. So ging alles gut zwei Jahre lang, da der Mann und die Frau sich beide bemühten, der Mann das neu erworbene Glück zu bewahren, die junge Frau ihre Rolle als Stiefmutter gerecht zu werden, auch wenn ihr eigenes Kind und ihr Mann ihre Liebe und Fürsorge in Anspruch nahmen. Endlich war dem Kind, das seine leibhaftige Mutter verloren hatte, vergönnt in unbeschwerten Spiel mit Gleichaltrigen, und von einer außergewöhnlich starken Phantasie von der Wirklichkeit enthoben, sich seiner Kindheit zu erfreuen, und in unbesorgter kindlicher Beschäftigung manch unschöne Erlebnisse für Stunden zu vergessen, und sie mit schönen zu vertauschen.
Doch eines Tages, es war ein besonders heißer Sommertag, die Luft glühte, im, vom kraftvoll blau leuchtenden Himmel herabstrahlenden Sonnenlicht, in der Kirchturmspitze fand das grellweisse Licht Widerschein und auf den blanken Dächern der Häuser, schmerzhaft das menschliche Auge blendend, im Haus an den Waldhängen herrschte friedliche Mittagstille, Schmetterlinge tanzten über den, an der Haustür in Blumentöpfen der Sonne zustrebenden Gewächsen: in dieses harmonische Bild kam die Vergangenheit hineingegangen, in der Gestalt eines, in Vergessenheit geratenden, aber nicht desto trotz LEBENDEN Menschen, unsicheren Schrittes, einsam, verloren, verstörte er die in ihrem Glück weilenden. Das Kind draußen im grünem Garten, Stelzen laufend, hinfallend, lachend, aufstehend, wieder versuchend, sah es zuerst, das Wesen aus seinen nächtlichen Alpträumen und täglichen Gedanken. Die Mutter stand vor ihm, und doch war sie kaum wieder zu erkennen. Der Wahnsinn hatte den Köper, dessen Geist von ihm umklammert war, in teuflischer Weise geprägt. Der Körper war abgemagert, dem Anschein nach geschrumpft, im Gesicht hatte die Krankheit die deutlichsten Spuren abgezeichnet. Es war eingefallen, Sorgen und Bekümmerung wie kein Mensch sie ertragen kann, waren in den vielen, es durchziehenden Falten zu lesen. Leblose Augen, die für die sie umgebenden Wirklichkeit blind waren, schauten nun ausdruckslos in die weit aufgerissenen Kinderaugen. Ein Schrei entrang sich der vor Schreck zugeschnürten Kehle des schockierten Kindes, ein Schrei so laut, so eindringlich, dass alle Menschen, alle Tiere die ihn vernahmen, regungslos stillstanden, von nie gekanntem Grauen gebannt. In der darauf einkehrenden Stille schlug die Kirchturmuhr aus der Ferne zur vollen Stunde, mit gewaltigem Dröhnen, es war etwas beinah Bedrohliches an diesen kraftvollen, durch die Luft vibrierenden, sich für eine lang Weile wiederholenden Laute. Mancher der vom Kinderschrei erstarrten, meinte die Glocken der Kirche erklangen als eine himmlische Antwort auf des Kindes Not. Bevor noch die Glocken verstummt waren, war der Mann aus dem Haus gestürzt, im Anblick der greisen Kranken verzogen sich seine Gesichtszüge zur unerkenntlichen Fratze, in seinen Augen flammte ein von Hass und Bosheit genährtes Licht. Da war er schon bei der Frau, die er einst ewige Treue geschworen, ohne ein Wort der Menschlichkeit, mit roher Gewalt vertrieb er sie, vom dem Ort seines Glücks.
Ein stummes kurzes Ringen begann zwischen Mann und Frau, dessen einziger Zeuge ihr Kind war, dessen Augen der ganzen außerordentlich grotesken Szene beiwohnten, von sich heranpressenden Tränen verschleiert.
Doch die vertriebene, verstoßende, unglückliche Kranke erschien wieder und wieder mit der Hartnäckigkeit des Verzweifelten bei den Glücklichen, die alles Glück für sich haben wollten und ihr keines gönnten. So sehr störte die Wahnsinnige das so krampfhaft um Einigkeit und Harmonie bemühte Leben der Neuvermählten, dass diese schlussendlich ihren Heil in der Flucht suchten, und mit sich rissen ihre Kinder aus diesem lieblichen Dorf, weit weg über die Grenzen ihrer Heimat, in ein fernes Land, hoffend dort in Frieden, ungestört, ihr Familiendasein hegen und pflegen zu dürfen. Zurücklassend die Spielkameraden des Kindes, die ihm vertrauten, da auf ihnen im Spiel zugebrachten Strassen, den Wald hinter dem Haus dessen höchste Bäume es erklettert, zurücklassend die Mutter in vollendeter Menschenspottender Einsamkeit.
Glück.
Die Hals über Kopf der Vergangenheit entflohene Familie, bezog ein rotes Haus in einer großen Stadt. Das Haus war von einem erbleichten Rot, in der Stadt wühlte ein wildes, nur des Nachts etwas zur Ruhe kommendes Treiben. Die Jahre vergingen, das Glück der Familie war ein scheinbares, trügerisches, unter der vom Vater sorgfältig glänzend gehaltenen Oberfläche verfaulte es, wie ein Apfel am kahlen Baum im beginnenden Winter, rotbackig glänzend äußerlich, doch im Kern schon verdorben, von schwarzer Fäulnis befallen. War die Einheit der Familie von Außen betrachtet Augenscheinlich, war sie doch in Wirklichkeit gar nicht vorhanden. Bei Tisch schwieg man und glotzte in die Suppe.
Die, schon mit der ersten, von einem frechen Kindermaul ausgesprochenem vorlautem Wort provozierter Ohrfeige, die dem Kind von seiner jungen Temperamentsvollen Stiefmutter ausgeteilt worden war, hatte in dem empfindlichen Kindersinn den Samen der Auflehnung gegen die strenge Stiefmutter gepflanzt, der mit weiteren, wenn auch nur angedrohten Ohrfeigen und ausgesprochenen harten Worten nun im Herzen des Kindes Wurzel trieb. Es sträubte sich diese Frau als seine Stiefmutter anzuerkennen, wohl aus der naiven, kindlichen Hoffnung heraus; die wirkliche Mutter fände wieder zu ihnen, und auch weil es instinktiv fühlte, dass diese junge Frau keine Mutter für es sein wollte, sondern nur für ihr eigenes Kind und eine Geliebte für ihren Mann.
Das also Mutterlos aufwachsende Kind, glaubte sich alsbald überflüssig, ausgeschlossen aus der Familien Gemeinschaft, schlimmer noch, es fürchtete die Stiefmutter nähme ihm den Vater, von dessen Stütze und Liebe es in der Abwesenheit der Mutter zutiefst abhängig war.
Seine Ängste waren berechtigt, denn desto mehr Widerwille das Kind der Stiefmutter entgegenbrachte, desto mehr Widerwille wurde ihm entgegengebracht, als ein Störenfried des Gemeinschaftlichen Glücks schloss man es aus dem engen Kreis der Familie aus.
Es reifte zum Jugendlichen heran und seine Ablehnung, seine sich daraus entwickelnde Abneigung wuchs gegenüber der Ersatzmutter. Diese, da im zwischenmenschlichen Bereich bisher ohne negative Erlebnisse und ohne Erfahrung was störrische Kinder anbelangte, reagierte indem sie die unguten Gefühle des Kindes erwiderte und trug somit dazu bei, dass sich zwischen den beiden tiefe Fronten zuzogen. Erwachsende, die sich nicht leiden können, gehen sich so gut es sich machen läst aus dem Weg, oder aber, vor alledem dann, wenn sie gezwungen sind Tag ein Tag aus miteinander auszukommen, versuchen einander zu zerstören. Werden sie mit einem Kind konfrontiert, das gegenüber ihnen voll Trotz und Widerwille ist, wählen sie, vorausgesetzt sie besitzen die nötige Herzensgrösse und Einsicht, andere Wege um des Kindes Abneigung, seiner Auflehnung zu begegnen. Die Stiefmutter aber wählte die vom jugendlichen Kinde dargebrachte Kriegserklärung anzunehmen. Warum auch nicht? War es ihr es doch ein leichtes, die zwischen ihnen bald alltäglichen Scharmützel zu gewinnen, ohne selbst einen einzigen Blutstropfen zu verlieren. War es ihr doch eine Einfachheit diesen, von seiner Kindheit verunsicherten Jugendlichen in die Knie zu zwingen, mit aller Kraft und Schläue ihrer ausgeklügelten, erwachsenden Boshaftigkeit, besaß sie doch die unbestrittende Machtposition in der Familie, denn wahrhaftig, der Mann wollte seine Frau behalten! Er wollte diese Familie zusammenhalten, mit eisernen Ketten verketten, er wollte gemachte Fehler nicht wiederholen! Und aufgrund des Mannes felsenfesten Entschlusses, diese Familie zusammen zu halten, koste es was es wolle, war die Stiefmutter die Herrschende, die junge Frau war unumstößlich, der Tyrann. Und sie benutzte sich der gegebenen Macht gekonnt. Durch die Drohung aus dem Haus auszuziehen, durch die Drohung des Auszuges, des Wegzuges mit ihrem Kind, beherrschte sie den Mann. Wie bei einer Marionette brauchte sie nur an bestimmten Fäden zu ziehen und ihr Ehemann hampelte herum nach ihrem Gutdünken. Sagte sie, weil vom Jugendlichen in einem heftigem Wortwechsel beleidigt, in ihrem Stolz verletzt, dein Kind ist ein Krüppel, eine Aussage die dem Jugendlichem in seinem Zimmer die Tränen hervorbrechen ließ, dann blieb der Vater still, ging sogar, wenn die junge Kriegerische, jeden Sieg genießende Frau das von ihm verlangte, in das Zimmer des auf seinem Bett weinenden, und schimpfte es aus, in einer durch Türen dringenden und der Kriegsgöttin Ohren befriedigenden Lautstärke.
Zwar war das Leiden des Kindes in diesen Familienverhältnissen offensichtlich, des Vaters Entschluss die Familie zusammenzuhalten wurde davon aber keinesfalls beeinflusst. So war dieser, oft traurige, durch seine Niederlagen entkräftigte, immer unterlegende Jugendliche, also wahrlich kein Gegner, konnte es nicht sein, da er niemanden hatte auf den er sich stützen konnte, der ihm sein Schild ausbesserte, sein Schwert schärfte, ihm Mut machte, ihn aufmunterte oder ihn beschwichtigte in diesem makabren, völlig unsinnigen, sinnlosen, schwachsinnigen, ja richtig blödsinnigen, über Jahre hinweg anhaltenden Streit, den beizulegen ein einfaches gewesen wäre. Ein einziges gut gemeintes Wort zu dem, mit jedem bösem ihn verletzenden Satz sich aufbäumenden Jugendlichen, hätte Wunder gewirkt, den feindlichen Kindlichen Sinn besänftigt. Tagtäglich standen die Widersacher sich gegenüber. Bewarfen sich mit messerscharfen Worten und giftigen Blicken, der Jugendliche stand da und ein hässliches Zittern ging durch seinen Körper, die junge Frau, den Kopf herausfordernd in den Nacken gelegt, mit keifenden spukendem Mund, aus ihren Augen stachen Zornesblitze, oh wie sie diesen kleinen unverschämten Bengel verabscheute! Hatte so die Stiefmutter in der Geschichte von Hänsel und Gretel gefühlt, gegenüber den Kindern, die sie zum Schluss dazu gezwungen hatte, aus dem beschützenden Zuhause in den unheimlichen finsteren Wald zu gehen, vom Vater im Stich gelassen?! Die junge, sich in den Streit mit dem Jugendlichem völlig hineinsteigernde Stiefmutter, drohte das Gegenteil, nämlich selbst auszuziehen, sie bewirkte dabei aber dass gleiche wie die Stiefmutter von Hänsel und Gretel, also einen Ausschluss des von ihr verhasten Kindes aus der Familie. Unmerklich ging dieser Ausschluss, diese Ausgrenzung von statten, der Jugendliche aber spürte seine Ausgeschlossenheit deutlich.
Nach ein paar Jahren in der Fremde, zog es die junge Frau in die Heimat zurück, von einem verheißungsvollen Ziel angelockt. So wurde umgezogen mit Sack und Pack, ohne den Jugendlichen zu fragen, zurücklassend seine neu gefundenen Freunde, die ihm vertrauten da oft durchwandelten Strassen, zurücklassend sein Glück, das er außerhalb der Familie erlangt hatte und ihm Stütze gewesen war anstatt der Stütze des Vaters.
Krankheit
Die Familie und der Jugendliche zogen in ein mehrstöckiges, außerordentlich altes Bauern Haus, das von Kühen umstanden war und an dessen zur Strasse gelegenen Vorderseite des Tages knatternde Traktoren, von groben Bauernhänden Äckern zugelenkt, vorbeifuhren.
Der Jugendliche, nun fünfzehn Jahre alt, besuchte eine neue Schule, wurde ein Teil einer neuen Klasse, in der es für ihn galt, zwischen all den Fremden, ihn am ersten Schultag interessiert zugewandten Gesichtern seinen Platz zu finden, die ihn scharf musternden, auf ihn gerichteten Augen in freundschaftlich blickende zu verwandeln, in der man von ihm verlangte den Lehrern ein guter, braver, fleißiger Schüler zu sein. Man erwartete also von ihm der Gemeinschaft der skeptischen, ihn beschauenden Augenpaare um in herum und den fordernden Lehrern gerecht zu werden. Doch konnte er dass, der in den letzten zwei Jahren seiner Kindheit ganz und gar von seiner Familie sich selbst ausschließende und ausgeschlosende Jugendliche? Welche Voraussetzungen besaß dieser mit seiner Stiefmutter Krieg führende? ein Krieg der sich in den vielen Jahren zu einem Stellungskrieg entwickelt hatte, mit festgefahrenen Fronten, auf dessen einen Seite der Jugendlich lag, der Übermacht gegenüber.
Geringe.
Ihm fehlte die Kraft. Ihm fehlte der Mut. Ihm fehlte das Vertrauen in sich selbst.
So musste er versagen und scheitern.
Die ihm in der Klasse umgebenden Augen blieben kalt, wenn auf ihn gerichtet, da sie in seinen, oft zu Boden gerichteten Augen, ihres gleichen nicht wieder erkannten, die Mienen der Lehrer waren zu Recht bekümmert, wenn sie ihn vor sich teilnahmslos sitzen sahen, in unnatürlicher Steifheit, weil innerlich gefangen.
Zu der unaushaltbaren, kaum ertragbaren Situation Zuhause, kam nun auch noch sein eigenes Schulisches und zwischenmenschliches tagtägliches Versagen. Es war mehr als die noch schmächtigen Schultern des Jugendlichen tragen konnten. Schleichend durchging die Seele des jungen Menschens, die gleiche krankhafte Entwicklung, wenn auch nicht in selben Masse, die seine Mutter einst durchgangen und an dessen Folge sie zugrunde ging.
Der Jugendliche wurde in sich gekehrt, verstummte, seine LEBENSFREUDE erlosch, das seelische, strahlende, jedem Kind mit der Geburt mitgegebene HIMMLISCHE LICHT, das im Laufe der furchtbaren Kindheit mehr und mehr abgeschwächt worden war, erlosch nun endgültig. Dieses Licht, das, wenn man es nicht zertrampelt oder erstickt, sondern ihm Nahrung gibt, mit soviel Wärme und Kraft leuchten kann, das es alles es umgebende erhellt, erwärmt und kräftig, dieses wunderbare, allen Menschen mit ins Lebens geschenkte Licht, war ausgeblasen, wie eine zitternde Kerzenflamme von einem kalten, wilden, zerstörerischen Wind.
So wie seine Mutter, als von Kälte und Lieblosigkeit umgeben, zog der Jugendliche sich in seine eigene Welt zurück, baute Mauern um sich herum, über deren Rand er bald selbst nicht schauen, geschweige denn hinüber gelangen konnte. So wie seine Mutter einsam war, war er einsam, ausgegrenzt, hiflos, des Tages in seinem Raum über dessen Türschwelle der Vater nur im Zorn trat, des Nachts in der Dunkelheit liegend, lauschend dem vergnügtem Kichern der Scheineltern, die sich in dem darunter gelegenen Raum Zärtlichkeiten hingaben. So wie seiner Mutter, kamen ihm seinen Wille beherrschende Gedanken, dessen Sklave er wurde, unbarmherzig nahmen sie Kontrolle über ihn, peinigten ihn, zwangen ihn unter ihr grauenhaftes Joch. Der Vater konnte das veränderte Verhalten des Kindes nicht deuten, so wie er es bei der Mutter nicht hatte deuten können. Das Kind musste alleine mit den bösen Kräften ringen, die drohten Gewalt über es zu erlangen.
Ende
Dann eines regnerischen Tages, in den Strassen wanden sich überfahrende und deswegen durchteilte Leiber von Regenwürmern, lernte die nun nicht mehr so junge Frau einen anderen Familienvater kennen, sie, sagen wir, verkuckte sich in ihn, er in sie, zwei Familiengemeinschaften wurden durch dieses Verkucken, sagen wir, aufgehoben, die neuverkuckte zog aus, mit ihrem Kind, so überhastet, dass sie ganz vergaß ihren Auszug erst einmal gehörig anzudrohen.
Der verkuckte Familienvater zog aus ohne Kind ohne Frau, und die beiden Untreuen gründeten eine neue Familie und küssten und liebkosten sich und sagten; „ich liebe dich zueinander!“ des Nachts befeuchteten sie die Laken ihres Gemeinsamen Bettes mit Liebessäften und heißen Schweiß. Zurück ließ die Frau ihren Mann und sein, nicht ihr Kind, ihr Kind nahm sie mit.
Der frisch in sie verliebte, sagte seinerseits Ade zu seiner Frau und seinem Kind.
Der zum ersten mal in seinem Leben verlassende Mann, und der von allen guten Geistern verlassende Jugendliche, zogen wieder in die Fremde, aus der Heimat in ein kleines Haus mit Fenstern, hinter dem der Jugendliche oft mit traurigem Gesicht stand, hinausstarrend, eingerahmt von geschmackslosen, mit Miniatur Rosen verzierten Vorhängen.
Dort gefiel es seinem Erzeuger aber in Gesellschaft des betrübten, armseligen Jugendlichen nicht, deswegen zog er aus, sobald er eine neue Frau in seine Arme gelockt hatte, dank seiner schwarzen Haare und allzeit geistvollem Auftretens fiel ihm dass nicht schwer, ZEUGTE mit ihr ein neues Kind auf das es ihn mit der Frau näher verbinde, gründete eine NEUE FAMILIE, und LIESS ZURÜCK den Jugendlichen dessen Kampf ums Überleben nun in aller Härte und Einsamkeit begann.
Lassen wir nun den Jugendlichen selbst zu Worte kommen.
Teil 2: Ich und die Welt
Meine Aufzeichnungen.
Am ersten Schultag in meiner neuen Schule in der Fremde, brannte eine unbarmherzige Sonne auf die Menschen unter denen ich stand, in einer kleinen Runde mir wildfremder Jugendlichen, die sich in einer Sprache unterhielten die ich verstehen gelernt hatte, die mir aber auszusprechen unangenehm war, deswegen schwieg ich, lächelnd, nicht über das von mir belauschte Gespräch, sondern weil die Situation das verlangte. Ich musste einen guten Eindruck machen, darum war ein allzeit freundliches Lächeln angebracht.
Ich war mir im klaren darüber, dass man mich heimlich von der Seite bekuckte, aus den Augenwinkeln beobachtete, den Fremden, aus einem anderem Land kommenden, dass wusste ich aus Erfahrung. Die Menschen lieben es, einen neuen, andersartigen, in ihrer Mitte zu betrachten, jeder seiner Gesten wird gedeutet, jede Mimik, jeglicher Ausdruck auf seinem Gesicht registriert. Veränderte ich meine Stehstellung, ich tat das oft in dem Bestreben, für die mich begaffenden gut dazustehen, wurde das zur Kenntnis genommen, ich zog die Hände aus den Hosentaschen, hielt sie hinter dem Rücken zusammen, nahm die rechte Hand hinterm Rücken hervor, kratzte mich an der Nase, ohne ein Jucken verspürt zu haben, wie gesagt allzeit lächelnd. Mir bewusst werdend, das meine regen Hände, die auf, vor, und hinter meinem Körper herumkrabbelten, als ein Anzeichen von Nervosität, also Unsicherheit gewertet werden konnten, zwang ich sie in den Hosentaschen zur Ruhe. Meine Gesprächspartner, oder besser die Sprechenden die ich belauschte, im ganzen Gespräch tat ich nur einen einzigen Satz hinzu, ich sagte: „Fint vær idag“, was so viel bedeutet wie, schönes Wetter heute. Ein treffender Kommentar, da die Sonne nach wie vor am Himmel stand, der aber von den Sprechenden, zwei junge Männer, beide in ihrem Aussehen erquickend, fein die Kleider, bartlose, Buben Gesichter, da sie sich gerade, so weit mir verständlich, über Mädchen unterhielten, überhört wurde. Wir, oder sage ich lieber, ich und die anderen, da ich als Fremder ja am ersten Tag noch nicht ein Teil der schulischen Gemeinschaft war, was ich übrigens auch später nie wurde, befanden uns auf einem begrasten Platz vor der Schule. Eine große Anzahl Menschen waren zugegen, von den kleinen herumwieselnden, oder an den Armen ihrer Eltern hängenden Erstklassschülern, bis hin zu den jungen Erwachsenden, die, so wie ich, in Gruppen dastanden, redend, lachend, rauchend, und sich an mir mit heimlichen Blicken ab und zu, hin und wieder ergötzten.
Es war mir unwohl.
Ich wollte hier nicht sein, diese neue Schule, diese mich umstehenden Menschen ängstigten mich, ich fühlte mich als Fremder in einem fremdem Land, und genau das war ich ja auch, fernab von meiner Heimat, dessen Strassen, Dörfer, Wiesen und Wälder, ich mich nach sehnte. Erinnerungen die in den vergangenen Nächten meine von Alpträumen geprägten Traumbilder verschönert hatten. Ich wünschte nun, als ich da stand mit den Händen in den Hosentaschen, die Sonne brannte mir im Nacken, umwoben vom Stimmengewirr einer fremden Sprache, allzeit lächelnd, ich wünschte ich läge auf einer Blumenwiese in meiner Heimat, nicht auf irgendeiner, sondern auf der ich in Frieden und Abgeschiedenheit vor Jahren gelegen, von allen Sorgen befreit, mich wohl fühlend, damals hatten Insekten mich umsummt, Vögel mein Ohr erquickt, nun umgab mich fremdländischer Kauderwelsch.
Mein Vater, der einzige Mensch, der mich in die Fremde begleitet hatte, vielleicht ist es andersrum korrekter, den ich in die Fremde begleitet hatte, mein zu dieser Zeit Frauenloser Vater, der an der Schule an der ich Schüler sein sollte, Lehrer geworden war, war nirgends zu sehen. Nicht dass mich diese Tatsache sonderlich überraschte, es war so, dass er nicht gerade meine Gesellschaft aufsuchte, wohl in der Befürchtung ich würde ihm mit meinen Sorgen und Problemen belagern, außerdem ausarteten unsere Gespräche oft in heftigen Dispute, da wir uns aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit in gewissen Punkten nicht einigen konnten, sozusagen eine andere Auffassung von den zusammen verbrachten Jahren meiner Kindheit, hatten.
Die zwei Sprecher, die ich belauschte, äußerten das Wort „Hitler“, zeigten dann ihre weißen Zähnen, grinsend ihre Münder verziehend, blinzelten mit den Augen sich einander zu, es war mit klar, ich als Deutscher wurde wegen dem schnauzbärtigem, leider ebenfalls Deutschem Bösewicht, der vor meiner Lebzeit die Welt aus den Angeln genommen hatte, gefoppt. Ich lächelte noch breiter, als wäre ihre Anspielung auf meine wenig ehrhafte Nationalität, ein gekonnter Witz, sagte nochmals: „Fint vær idag“, zum zweiten Mal, da mir sonst nichts besseres einfiel, ich irrte mich, denn in der Zwischenzeit war die Sonne von schwärzlichen Wolkenmassen bedeckt. Mancher der herumstehenden, schauten besorgt zum Himmel, die voraussehenden unter ihnen klappten ihre Regenschirme aus. Kurz darauf regnete es in Strömen, dicke Tropfen prasselten auf das Schuldach, unter dem Klein und Groß bald Schutz suchten, auch ich, doch zu spät, meine Harre waren bereits nass, zu meinem Bedauern, da ich an diesem Morgen viel Zeit vergeudet hatte, sie mit Kamm und Gel vorteilhaft auf meinem Kopf zu gestalten.
Die Schule war kasernenhaft, Raum reihte sich an den nächsten, alle waren sie von fast gleicher Größe. Durch breite und hohe Fensterscheiben konnte der, wenn gelangweilte Schüler auf den Hof nach draußen schauen, vielleicht einem Vorbeigänger betrachten, wie ich dass in den nächsten zwei, meine Schulzeit abschließenden Jahren allzeit tat, vorausgesetzt ich war überhaupt anwesend, was nicht oft der Fall war, da ich dieser Kastenhaften Kasernen Schule, den dort regierenden Lehren und meinen Mitschülern, deren Sympathie ich nicht gewinnen vermochte, lieber fern blieb.
Der Raum.
Mein Vater, mit dem ich, als wir hier hergezogen waren, eine kleine Wohnung bezogen hatte, sein Zimmer lag neben dem meinem, des Abends saß er in seinem, ich in meinem, ich erfreute mich an der Aussicht aus meinem Fenster, ich liebte es heraus zu sehen, ob in der Schule oder Zuhause, dem Wind beim beugen des Zweige zuzusehen, den Wolken am Himmel beim vorbeiziehen, die Natur in ihrer Vielfältigkeit zu bewundern, da draußen war die Freiheit, fühlte ich mich doch zutiefst verloren zwischen meinen Wänden, mein Vater verliess mich, eines Tages, den Himmel überdeckte eine bedrückende Schicht grau-weiser Trostlosigkeit.
Ich hatte es erwartet, befürchtet, des letzteren war eine blonde Frau oft und gerne Abends mit ihm gekommen, eine nicht schöne, nicht hässliche, in ihre hellen Blondheit vom Aussehen typisch Norwegische Frau, schon Mutter, schon geschieden, schon wieder frisch verliebt, nämlich in meinen Vater, mit dem sie sich köstlich des Abends in unserer Wohnung unterhielt, er unterhielt sie, es war ein Gelächter und fröhliches Treiben dem ich, ebenfalls in der Wohnung anwesend, aber von Wänden getrennt, aufgrund meines Vaters herrlich herzlichen Freundlichkeit neidisch zuhörte. Neidisch deswegen, weil mein Vater an den Abenden wenn die von ihm umgarnte Frau nicht zu Besuch war, sich äußerst still in seinem Zimmer verhielt, wir beide uns still verhielten, ich in meinem Raum, er in seinem, er an seinem Schreibtisch saß, ich an meinem, nur durch eine dünne Wand getrennt. Für Stunden saßen wir uns so gegenüber, wie gesagt, nur die Wand trennte uns, wir hätten durch die Wand durchsprechen können, taten es aber nicht, verhielten uns still, als wäre dies ein Hotel, in dem man ein Raum hat neben einem Fremden Menschen, dessen Bewegungen und Geräusche vernehmbar sind, dessen Wesen und Person man aber nicht kennt, mit dem einem, trotz der Nähe, nichts verbindet. Es verband uns etwas, und zwar die Tatsache Vater und Sohn zu sein, im Gesicht ähnelnd, im Körperbau gleichend, nur sein Pechschwarzes Haar unterschied sich von dem meinem lockigen Brauen. Wir waren Vater und Sohn äußerlich, sonst aber führten wir uns auf als wären wir es nicht, als wäre dies eben nichts anderes als ein Hotel, er ein Gast in seinem Zimmer, für den der Geräusche machende Mensch, im Raum nebenan, keine Bedeutung hatte, er diese Person nicht kannte, auch nicht kennen lernen wollte, da er vielleicht schon Morgen, in aller Früh weitereisen würde, sich also nur auf einer Reise befand, als wäre dies nur eine Zwischenstation. Über ein halbes Jahr lang, lebten wir so fast wortlos nebeneinander her, er ging zur Schule und war Lehrer, ich ging verzagt zur Schule und war Schüler, versuchte es auf jeden Fall zu sein, konsekvent erfolglos, fehl am Platz, herumsitzend, aus den Fenstern den vorbeigehenden nachschauend. Als dann mein Vater auszog, zu der von ihm gewonnenen Frau und ihren Kinder, es waren ihrer vier, bald darauf wurden es fünf, die beiden zeugten es in den ersten Monaten ihres Kennenlernens, musste auch ich bald darauf die Wohnung verlassen. Mein Vater hatte für mich einen kleinen Raum gefunden, der zu verleihen war, im Keller eines, von einer lieben Familie bewohnten Hauses. In diesem Raum gab es nur zwei winzige Fenster, auf der gleichen Höhe wie die Erdoberfläche gelegen, schmale, lukenhafte, Fenster durch die am Tage, von davor wachsenden Büschen, gefiltertes Licht hindurchdrang, dieses spärliche, durch die Fenster hinab sickernde Licht, die strikte Rechteckigkeit des Raumes, seine klamme Hässlichkeit, gab dem Raum etwas Kerkerhaftes. Ungefär sieben Schritte konnte man im Raum hin und her gehen, ich den es beglückte, HERAUS zu schauen, die unvergleichbare Schönheit der Natur zu bewundern, war nun umgeben von Erdenschwere, die Sicht aus den schmächtigen Fenstern, konnte meinen hungrigen Blick nicht sättigen. Dieser Raum war nun mein Zuhause, hier stand mein Bett an der Wand, der Schreibtisch, hier lebte ich, des Morgens stieg ich die steilen Treppen hinauf, sozusagen aus der Erde hervor wie ein lebendig begrabender aus seinem Grab, des Nachmittags stieg ich wieder hinab unter die Erde, hinab in das, meinen Raum erfüllende Halbdunkel, das nur dem grellen Licht der Deckenlampe wich.
Hier verbrachte ich viel Zeit, allzu viel Zeit, oft sah ich zu einem der Fensterschlitze, schaute sehnsüchtig verträumt dem schwach herein scheinenden Licht entgegen, wie ein Gefangener der in Gedanken seiner Freiheit zuschwebt, ich war ein junger Gefangener, außerstande meine Fesseln abzuschütteln, die mein Schmerz, meine Einsamkeit mir angelegt hatte. Um mich herum, über mir, auf der Erdoberfläche, wurde gelebt, Menschen liefen, Autos fuhren, man redete, man lachte, man fühlte füreinander, ich hörte allerlei Geräusche, des Sonntags die Kirchenglocken aus der Ferne, im Sommer den Rasenmäher aus einem Garten eines nahe gelegenen Hauses, Kinderlachen drang zu mir hinab, dann wurde mir traurig zumute, da dieses Kinderlachen die wenigen, aber doch vorhandenen schönen Kindheits- Erlebnisse in mir wachrief. Da ich viele müßige Stunden in diesem Raum zubrachte, kannte ich bald, wie es wohl auch ein eingekerkerter es tut, jede Ritze in den weisen kalten Wänden, in den Ecken die Spinnen in ihren Spinnennetzen, die in dem, von der Erde begrabenden Raum bald überall auftauchten.
Ich suchte in diesem Raum unter der Erde Zuflucht, weil mich das emsige Leben auf der Erdoberfläche immer mehr befremdete, ich dort nicht zurecht kam, ich stieg seltener und seltener herauf, da nichts dort oben auf der Erde mich anlockte, die Schule wurde mir bald eine Qual, ich flüchtete aus dem Tageslicht in die Erdenschwere Dunkelheit, verbarg mich dort unten wie ein aussätziger vor der ihn ausschließenden Menschheit.
Die Schule
Die Aufgabe der Schule ist es, den Schüler zu einem starken, wissenden, verständigen Individuum auszubilden, einem Menschen aus ihm zu machen, der, wenn einmal in die Gesellschaft entlassen, sich in dieser Gesellschaft zwischen seinen Mitmenschen zurecht findet, seine Fähigkeiten und Talente auszunutzen vermag. Dass ist nicht immer leicht, da jeder Schüler ganz und gar verschieden ist, die jungen Menschen die in der Schule für das Leben lernen sollen, denn wahrhaftig das Leben muss gelernt sein! in der Schule und im Heim, diese heranwachsenden haben grundverschiedene Voraussetzungen. Und doch ist es die Aufgabe, ja die Pflicht, der eigentliche Sinn der Schule, zusammen mit den Eltern, die in ihre Obhut gegebenen Kinder heranzubilden, sodass sie nach abgeschlossener Schulzeit alle dieselben Möglichkeiten besitzen. Dem Erwachsensein im wahrsten Sinne des Wortes gewachsen sind. Ein Kind muss lernen in sich selbst und in seine Umwelt zu vertrauen und es sind die Erwachsenden in seinem Umfeld die ihm dabei helfen sollen. Selbstvertrauen, also der Glaube an sich selbst, bildet sich nicht von selber in einem Kind heran, das Selbstvertrauen eines Kindes entwickelt sich, indem das Kind meistert und sich seinen Fähigkeiten bewusst wird. Darum ist es so wichtig, dass JEDES Kind in der Schule Glücksmomente erlebt, z.B. im Sportunterricht ein Tor zu schießen oder auf eine Frage des Lehrers richtig zu antworten und dafür gelobt zu werden.
In einer Klasse gibt es immer die Gewinner und die Verlierer, die Lauten und die Leisen, erkennt man hinter dem vorlauten, wie ein Wasserfall rauschendem Geplapper der Lauten ihr ungetrübtes Selbstvertrauen und ihre grenzenlose Zuversicht, verbirgt sich hinter den bedrückt schweigenden, oft ein stilles Leiden das ihr Schweigen begründet. Ein Leiden das die davon betroffenen in ihrem Lernvermögen beschränkt, da es sie zu sehr beschäftigt, ein Leiden und innere Trauer die die davon befallenden auf allen Bereichen ihres Menschenseins hemmt, zurückhält, eine Last die sich auf die junge Seele des Kindes legt und sein Streben blockiert. Auf manchen der vielen Stühlen in einer großen Klasse, zwischen vergnügten, aktiv am Unterricht teilnehmenden Schülern, sitzt ein kleines Häufchen Elend, in sich zusammengesunken, ein Leidendes Wesen, das seinen Schmerz zu verbergen versucht, dem man aber nur in die traurigen Augen schauen muss, um seine innere Verzweiflung zu erfahren. Wie kann ein solch Leidender lernen, woher soll er die Kraft nehmen den Anforderungen seiner Umwelt gerecht zu werden? wenn ein unsäglicher, ihn ganz beherrschender Schmerz in ihm bohrt, eine sich ausbreitende Kälte seine Lebensquelle erstarren läst, wie soll er glücken, wie soll er meistern, wenn er innerlich zutiefst verzweifelt und unglücklich ist?
Schon damals, bevor mein Vater mit mir in die Fremde zog, in meinem Heimatland, war ich ein solch Leidender, ein Häufchen Elend auf meinem Stuhl in der Schule, ganz und gar unfähig in dem Tempo mitzuhalten in dem meine Schüler lernten und redeten, der Lehrer sprach und vermittelte. Nicht das ich ein fauler Nichtsnutz war, damals als 15. jähriger, bei weitem nicht, mein Interesse für die Wunder der Welt bestand in hohem Masse, ich schrieb meine Schulhefte mit solch Sorgfalt und Fleiß dass die Lehrer mich dafür lobten, doch verhielt ich mich so schüchtern, ja verschreckt gegenüber Lehren und Mitschülern, in panischer Furcht man würde mich verletzen, meine Unsicherheit entblößen, dass es unmöglich war mir nahe zu kommen. Die Schule, dessen jeden Tag von neuen missglückender Schüler ich war, die Lehrer die in ihrem Bemühen mich zu unterrichten kläglich scheiterten, die mich leiden sahen, schickten mich in eine Therapie, zu einer dicklichen, gutmütigen, älteren Dame, ins Dachgeschoss der Schule, wo ich unter ihren gütigen Augen in Farbtöpfchen meinen Pinsel tauchte, um mit ihm weiße Bögen Papier zu bemalen. Es war ein gut gemeinter Versuch, doch das bemalen von weisem Papier, half mir nicht, mich meiner erdrückenden Schwere, den mich damals peinigenden Zwangsgedanken zu entledigen, ihre herzlichen, bekümmerten Worte waren Balsam für meine nach Zuneigung lechzende Seele, konnten mich aber nicht von meiner Sprachlosigkeit befreien, da meine Schweigsamkeit schon damals der eines Stummen glich, ich konnte kaum ein Wort hervorbringen, da ich von Zuhause gewöhnt war, dass jedes von mir geäußerte Wort auf die Wagschale gelegt wurde, bestrafft, verpönt.
Mir war das Reden und Lachen vergangen.
Ich erinnere mich an einen Lehrer, er unterrichtete Deutsch an meiner Schule in der Heimat, dessen aufrichtige Ehrlichkeit gegenüber den Schülern, seine frische Natürlichkeit und Ungezwungenheit, ihn zum Liebling der Schüler machte, ja, zu einem von ihnen, er wurde unser Freund, er benahm sich gegenüber uns wie unter seinesgleichen, da er sich so offen gab, taten wir es auch, es waren ganz außerordentlich wunderbare Stunden!
Dieser noch junge Lehrer, sein ganzes Auftreten, seine ganze Gestalt war ein freundliches zunicken, der in die Klasse mit schwungvollem Schritt hereinkommende, von einer zuversichtlichen Aura umgebende Mensch, gab uns den Schülern häufig die Aufgabe des freien Redens.
Eine nach dem anderen durften wir, nie wurde der zögernde, der unwillige gezwungen, uns vor die Klasse stellen, der Lehrer stand nicht etwa, mit kritischem den Redenden Schüler belauernden Blick daneben, Notizblock und Stift gezückt, bereit unsere Makel oder Aussetzer zu vermerken, sondern saß inmitten der Klasse, kaum ein Kopf größer und klatschte immer am lautesten wenn der Redner, oft hochrot im Gesicht vor Eifer, nicht vor Scham, geendet hatte.
Da gab es Schüler die wurden, wenn vor der Klasse stehend, zu meisterhaften, ihre Zuschauer in unbändige Begeisterung versetzenden Rednern, die Worte sprudelten nur so aus ihnen heraus, voll Witz, voll kindlicher Genialität, da sie vor sich nicht ernste, verdrossen ausschauende Mitschüler sitzen sahen, die bei jedem missglückten Satz schadenfroh kichern würden, vielmehr aufmunternd lächelnde, und mitten drin ein Lehrer der mit erhobenem Daumen und zuzwinkernden Augen selbst dem verzagtesten Mut machte und Selbstvertrauen gab. Ich war ein solch verzagter, aber in den Stunden dieses Lehrers redete ich mir den ganzen angestauten Mitteilungsdrang von der Seele, der mich umgebende Damm zerbrach, ein lebhafter Redestrom ergoss sich über meine, über meine plötzliche Redeseligkeit überraschten und von ihr mitgerissenen, ja verzückten Mitschüler aus, waren sie doch gewohnt nur eine oft einsilbige Antwort von mir zu erhalten, wenn sie selbst das Wort an mich richteten.
Es zeigte sich hier ein Teil meiner damaligen, eigenen menschlichen Tragödie, die Tragödie jedes Leidenden, jedes Einsamen, stark war ich von dem Bedürfnis erfüllt mich der Welt zu offenbaren, beizutragen mit meinen in mir schlummernden, verborgenden Talenten, mit den in mir geballten positiven Kräften, doch dieses Verlangen war von den Trümmern meiner Kindheit, von Schutt und schwerem Geröll begraben, so konnte ich mich nur selten und wenn dann nur Ansatzweise meiner Umwelt offenbaren, zur Erkennung geben.
In der Schule in der Fremde erging es mir bei weitem nicht besser, ganz im Gegenteil, es ging mir weitaus schlechter als in der Schule in der Heimat. Ich war eine stumme Statue, und wurde auch als eine solche übersehen, nicht wahrgenommen von meinen Mitschülern und besonders meinen Lehren, die sich lieber im Glanz der erfolgreichen Schüler sonnten, als dass sie in meinem dunklem Schatten standen.
Sie gaben sich nicht gerne mit dem Jungen aus der Fremde ab, der teilnahmslos auf seinem Platz saß, den Blick verträumt aus dem Fenster gerichtet, oder um sein Umfeld zu täuschen, so tat als wäre er mit einer wichtigen Schreibarbeit beschäftigt, Sätze in sein Heft schrieb, überstrich, schrieb, ausradierte, die in ihrer absoluten Zwecklosigkeit, Unsinnigkeit ihn selbst beunruhigten.
Es gab aber in dieser Klasse einen Lichtblick, ein gutes, nettes, liebes Mädchen, von reifer, mütterlichen Gestalt, aus dessen festem rundem Gesicht zwei sanfte freundliche Augen blickten, ihre hohe, lichte Stirn war faltenlos, aus ihrem schön geschnittenem Mund kam nie ein böses Wort, ein Mensch von unendlicher Güte, Deutsch wie ich deswegen fanden wir sofort zueinander. Mir tat ihre Zuwendung gut, ihr Ohr war für mich immer offen, sie war voll Mütterlichen Freundlichkeit die ich meiner Kindheit vermist, in ihren weichen Gesichtszügen spiegelte sich das Antlitz meiner Mutter bevor der Wahnsinn es entstellt hatte. Sie war mir eine Gefährtin in meiner Abgeschiedenheit, eine Gesellin in meiner Einsamkeit, dank ihr fand ich Halt in meinem Leben, sie war die Hand die mich, dem am Abgrund stehenden, in höchster Not zur Hilfe kam und vor dem sicheren Verderben rettete. Und da war noch einer, der Clown der Klasse, ein hagerer, hünenhafter, in die Höhe geschossener Junge, voll Schalck und Tücke. Seine allzeit zu einem schiefen Grinsen verzogenen Lippen, zwischen denen immer ein Witzchen bereitlag , die stolze Adlernase, die ruhelos herumstreifenden Augen, sein breitknochiges irgendwie schief erscheinendes Kinn, trug dazu bei das man ihn lächerlich fand, das man ihn auslachte, dieser Junge, wurde mit dem lieben Mädchen meine Zeitgenossen, diese beiden waren die einzigen die erfuhren dass in mir steinerne Statue, ein Herz schlug, lebhafte Gedanken wohnten.
Die anderen, Schüler und Lehrer glaubten in mir einen VERSAGER, bestenfalls einen unangepasten, einen aus der Fremde kommenden, der hier nicht hingehörte und sie hatten recht, denn ich gehörte hier wahrlich nicht hin, sondern in ein seelisches Lazarett, wo man meine seelischen, noch eiternden Kindheitswunden reinigte und pflegte, oder von mir aus, ins Dachgeschoss der Schule, wo ich wann immer mir beliebte mit Pinsel in bunten Farbtöpfchen herumplanschen konnte, hunderte, ja einen ganzen Stapel Papierbögen bemalend, es wäre mir eine himmlische Freude, ein Paradies gewesen.
Doch dies war das Gegenteil, diese Schule war die Hölle, eine seelische Folterkammer, die Lehrer und meine Mitschüler, außer dem Clown und dem lieben Mädchen, meine Folterknechte, jeden Schultag spannte man mich mitten im Klassenzimmer auf eine Folterbank, nackt lag ich dann da, viele Stunden lang, umstanden von den meinem Schmerz völlig gleichgültig lassenden Mitschülern und von meiner Hilflosigkeit ungerührten Lehrern.
Sie ließen mich alle im Stich, mein Matematiklehrer, der Deutschlehrer mein Vater, meine Englischlehrerin, mein Sportlehrer, alle diese erwachsenden Menschen deren Aufgabe es ist sämtliche die von ihnen unterrichteten Schülern Wissen zu vermitteln, ob nun brave Schüler, freche Schüler, Leidende, Clowns, liebe Mädchen oder böse Buben, damit sie alle einst mit gleichem Ballast in ihre Selbständigkeit entlassen werden. Sie sollten es auf jeden Fall versuchen, doch ich blieb unversucht, ein im Voraus aussichtsloser oder vielleicht auch des Aufwandes nicht wert erscheinender Fall.
Der mir unerträglichste war der Matematiklehrer, ein Kollos von einem Mann, sein Magen hatte solch einen Umfang dass das ihn überdeckende Hemd immer zu kurz kam, nur bis zum Nabel reichte, ein Teil des Fleischberges lugte hervor. Dieser Dicke war zu bemitleiden, waren ihm doch alle seine Hemden zu klein und alle seine Hosen zu eng, so trug er seine Beinkleider nicht auf der Hüfte sondern unterhalb seines hervorquellenden Magens. Das fleischige, unreine, von Warzen und Pickeln bedeckte aufgedunsene Gesicht, schwabbelte bei jedem seiner Schritte, die Augen glotzen, die Harre waren von einer schier erschreckenden Fette. Der Mann war kurzum ein Bild vollendeter körperlicher Hässlichkeit. Seine äußerlich abstoßende Erscheinung kam seinem Wesen gleich, so wie seine körperliche immense Schwere alles zerdrücken würde, wenn erstmals zu Boden und ins Rollen gebracht, überrollte sein rücksichtsloser Charakter alles was sich ihm in den Weg stellte.
Befand er sich vorne an der Tafel, seine mathematischen Formeln in aggressiven Tone hervorbrüllend, als wollte er sie uns einhämmern, die schlaff herabhängenden Wangen gefüllt von Bonbons, die er Tütenweise in jeder Schulstunde vertilgte, das fettige, glänzende Harr nach hinten gestrichen, dann wurde mir, einem Häufchen Elend, Angst und Bange, ich zerfloss regelrecht auf meinem Stuhl. Ich hatte das unvorteilhafte Pech, diesen Gewaltigen durch ein Versehen gereizt zu haben, es war alles ein mathematisches Missverständnis gewesen, nun donnerte er mich an wann immer sich die Gelegenheit bot, so laut, so wütend, dass mein empfindsames gläsernes Ich jedes Mal in tausende von Scherben zerbarst.
Nur einmal innerhalb der zwei Jahren die ich an der Schule in der Fremde verbrachte und die meine Schulzeit abschloss, nur ein einziges Mal in dieser verlorenen, für mich gänzlich sinnlosen Zeit, erlebte ich so etwas wie Glück, stehend auf einer Bühne in der schicken Kleidung eines Prinzen, keck war mein Harr zurückgekämmt, die Arme grosstuerrisch auf der Brust verschränkt, stolzierte ich hin und her, mit heller glockenreiner Stimmer verkündigte ich meine auswendig gelernten Sätze, mit solch Grazie und bezauberndem schauspielerischem Können bot ich meine Rolle da, dass mein unter dem Publikum sitzender Vater in Begeisterung und Stolz die Arme hob, dass selbst der Gewaltige in der ersten Reihe, dessen sich entblößender kugelrunder Magen von einem rötlichen Scheinwerferlicht gestreift eine rosa-rote Tönung annahm und die Augen der umsitzenden auf sich lenkte, einsah dass er sich in mir getäuscht hatte und vor Erstaunen, vor Verblüffung über diese Erkenntnis blieb ihm der riesige Schlund offen, farbige Bonbons glitzerten darin bunt wie Edelsteine. Doch dieses Glück war ein des Nachts erträumtes, denn in der Wirklichkeit wurde mir in dem von meiner Klasse aufgeführtem Schauspiel, von dem die Rede ist, die Rolle des Leidenden zugeteilt, man nannte mich ein Opfer, ich war nichts als ein bloßer Statist, vom Schwert des Helden niedergemacht. Der Held war natürlich ein frecher, selbstbewuster Junge! wie hätte es anders sein können.
Wortlos war mein Auftreten gewesen, der dicke Matematiklehrer, der Deutschlehrer, meine Englischlehrerin, mein Sportlehrer hatten es kaum zur Kenntnis genommen, es ist anzunehmen dass sie mich wie üblich übersehen hatten.
Teil 3: In der Gegenwart angekommen
Auf nach Venedig!
«Auf nach Venedig!», sagte eine von den drei Lehrerinnen die uns auf der Klassenfahrt ins schöne Italien begleiten würden, es war Sommer, der Zug war eingefahren, wir betraten ihn, fanden unsere Plätze, das liebe Mädchen und ich setzten uns nebeneinander, gegenüber von uns begann eine lustige Gruppe gleich mit einem ebenso lustigen Kartenspiel. Ich sah ihnen dabei zu, nicht ohne eine gewisse Beklemmung, durch ihre Ausgelassenheit hervorgerufen und meine Unangepasstheit. Dass ich in dieser geselligen Gesellschaft auf mich allein gestellt war, war mir bewusst, ich wollte mich dem lieben Mädchen nicht aufdrängen, ihm den Freiraum lassen, den es bedurfte; der Gedanke, es mit meiner Anhänglichkeit zu belästigen, war mir unausstehlich, seine Liebenswürdigkeit auszunutzen, kam mir nicht in den Sinn. Ich überließ mein liebes Mädchen also seinen Freundinnen, die mich mit spöttischen, aber auch fragenden Blicken bedachten, als ich mich eine Sitzreihe weiter nach hinten setzte. Der Zug rollte an, ich musste mit, ob ich nun wollte oder nicht, eine Flucht vor dem Bevorstehenden war unmöglich. Zwei Wochen lang war ich gezwungen, mich mit dieser Klasse zu vereinigen, aus deren Einheit ich ausgeschlossen war, ich mich selbst in den vergangenen Jahren ausgeschlossen hatte, deren Schüler ich aus dem Weg gegangen war, vermieden hatte, deren Gesprächskreise ich nicht aufgesucht, deren Akzeptanz mir dem schweigenden Fremden verweigert worden war. Mit einem Mal saß ich unter ihnen, ohne die Möglichkeit, mich davonzuschleichen, unter die Erde oder sonst wo hin. Es ist für ein Individuum äußerst unangenehm, in einer Zusammenkunft von Menschen, in einer trauten Gemeinschaft außerhalb des eng gezogenen Kreises zu sitzen, was ich nun tat; ich saß hinter ihnen anstatt zwischen ihnen, ein wenig Zerstreuung und willkommene Erheiterung bereitete mir der Clown, der ab und zu an meiner Sitzreihe vorbeistrich, stehenblieb, ein Witzchen riss, um mich aufzumuntern in meiner stillen Resignation, dann aber von mehr bedeutenden Anhängerscharen angezogen wurde, hingerufen von denen, die ihn mit lebhafterem Beifall und lauterem Gelächter für seine Posen und ulkigen Einfälle entlohnten. Die Kartenrunde ging indes in immer fröhlicher, hemmungsloser Weise weiter, jeder der dran war, legte die Karten mit solch theatralischem Ausdruck auf den Tisch, sich ganz in die Rolle des abgebrühten Kartenspielers hineinlebend, dass es selbst mich da hinten auf meinen Sitz belustigte; die Spieler versuchten sich, es war augenscheinlich, an Witz und Hingabe zum Spiel zu überbieten, mit überaus übertriebenem Getue ihren Spaß über ihre Beschäftigung auszudrücken, es war mir eine Freude, ihnen zuzusehen.
Ich schielte manchmal von den Kartenspielern zu meinem lieben Mädchen hinüber, das, umgarnt von seinen pausenlos schwatzenden Freundinnen, lauter hellhaarige, hellhörige, lichte Wesen mit sich in einer für mich beängstigen Schnelligkeit bewegenden roten Mündern, an einem Strumpf strickte, ab und zu meinen Blick erwiderte, mir vertraulich zulächelte, als wollte es mir mit diesem feinen sarkastischen seine Mundwinkel umspielenden Lächeln zu verstehen geben, dass es diese große Geschwätzigkeit seiner Freundinnen nichts anderes als amüsierte. Ich hingegen staunte nur über die Unbedachtheit, Unbesonnenheit, Geschwindigkeit, mit der die vielen Worte aus den plappernden Mündern mit dem Kopf zuerst herauspurzelten, wie Schlangenkinder bewegten sich ihre züngelnden, zuckenden Zungen zwischen den niemals ruhenden Lippen, sie redeten durcheinander, zwischen einander und doch irgendwie miteinander, dass ich meinen Ohren nicht trauen wollte, war ich doch gewohnt, der Stille zu lauschen, in der nur ein einziges Wort die allergrößte Bedeutung hat.
Die geschwätzigen Freundinnen redeten über Dinge, die ich als so unwichtig empfand, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal über sie nachgedacht hatte. Sie redeten, meiner Meinung nach, über völlige Unsinnigkeiten, Nebensächlichkeiten, für sie war eine Unsinnigkeit nach der anderen ein mit allem Eifer und Interesse zu diskutierendes Thema. Diese jungen Mädchen fanden immer neue Ansatzpunkte, wie eine Schwarm Spatzen erfüllten sie das Zugabteil mit ihrem angeregten, zwitschernden und lebensfrohen Schwatzen.
Da saß ich also alleine und schweigend zwischen all dieser Lebendigkeit, die Kartenspieler riefen im Triumph „Trumpf!“, ergötzen sich in schadenfrohem Gelächter an des anderen Pech, die Mädchen, die Freundinnen, waren unermüdlich in ihrem Redeeifer; und die drei Lehrerinnen hatten mir den Rücken zugekehrt, in ernstem Tone unterhielten sie sich, ich fürchtete über mich, der ich doch das einzige schwarze Schaf war in ihrer Herde von vergnügt blökenden Schafen, so eine Art Spaßverderber in dieser lustigen Schar.
Ich wollte es nicht sein, musste es aber sein, wie sollte ich unbeschwert lachen, war ich doch von einer schweren Trübsal erfüllt, wie sollte ich ihre jauchzende Lebensfreude teilen, gab mir mein Alltag nur Anlass für dunkle depressive Gedanken.
Die Kraft, aus dem mich umgebenden Morast, aus diesem Tümpel der Trostlosigkeit, der Aussichtslosigkeit mich zu befreien, besaß ich nicht, zu tief war ich in dem mich verschlingenden, einsaugenden Matsch versunken, mit Kindes Füßen hatte ich ihn betreten, nun als Jugendlicher stand er mir bis zum Hals.
Ankunft
Der Zug ratterte seinem Ziel entgegen, Landschaften flogen an uns vorbei, grüne Wälder, weite Felder, kleine und große Städte, für Augenblicke trafen uns die Blicke der an den Ampeln stehenden, in ihren Autos sitzenden Menschen. Den aus dem Zug herausschauenden Betrachtern boten sich in ihrer Schönheit und Andersartigkeit immer neue, sich übertreffende Bilder, einmal rauschten wir an einem kleinen Haus vorbei, das in gänzlicher Waldeseinsamkeit gelegen war, vor dem ein alter Mann in einem Lehnstuhl saß, die Beine behaglich von sich gestreckt, sein weißer langer Bart flatterte wild im Zugwind, ich glaubte ausmachen zu können, dass er uns zulächelte; hatte er gar eine Hand zum Gruß erhoben?
Ich wünschte ich säße neben ihm auf dem grünen Rasen als sein Sohn, dieser alte weißbärtige Mann wäre mein Vater, der seine Weisheit und Lebenserfahrung mir mitteilen würde.
Wie sehr sehnt sich nicht der Ratlose nach dem Klugen, alles Wissenden, der Verwirrte, nach dem, der ihm den Weg zeigt, hinaus aus dem Labyrinth von ihn in die Irre führenden Gängen, in denen er nun schon zu lange herumirrt, bittend fragt der über sein Dasein Verzweifelnde nach dem Priester, der mit heiliger Besonnenheit zuhört, mit tröstenden Worten die schmerzende Seele beruhigt, unbändig ist die Hoffnung des Unglücklichen, dass auch ihm einmal Glück widerfährt, dass auch er einmal unter den Glücklichen weilen darf!
Endlich, nach langer, mich erschöpfender Reise, kamen wir an, erreichten das Endziel unser Fahrt, die Stadt, dessen verlockende Beschreibung, gerühmte Schönheit, deren mannigfachen Ansehnlichkeiten und viele Wasser führende Kanäle, uns vom Hörensagen bekannt waren, die wir aber, als wir aus dem Bahnhof die Treppen hinabgingen, zum ersten Mal mit eigenen Augen vor uns sahen. Sie erweckte sofort unsere Bewunderung, jeder mit seinem Rucksack Beladende stolperte staunend, um sich schauend, vorwärts, von den drei Lehrerinnen angeführt. Ich nah hinter meinem lieben Mädchen dahergehend, der Clown ließ es sich nicht nehmen, inmitten aller Menschen um eine marmorne, einen großen freien Platz schmückende stolze Statue seine läppischen, langen, mädchenhaften Arme zu schlingen. Man kicherte, am meisten die emsigen Plappermäulchen, auch ich lächelte wohlwollend, um mir des Clowns Zuneigung nicht zu verscherzen. So gingen wir vorwärts durch schmale, steingepflasterte Gassen, über kleine bogenförmige Brücken, unter denen die schmalen Boote, die Gondeln, hinwegglitten. Hinten stand der Gondoliere mit seiner langen hölzernen Stange, geschickt die Fahrtrichtung angebend. Vorne oder in der Mitte saßen seine Passagiere, meist waren es Touristen, die diese Fahrt mit dem Boot durch die an beiden Seiten von hohen Häusern umgebenen Wasserstraßen als ein aufregendes Abenteuer empfanden, urteilte man nach ihren lebhaften, nie zur Ruhe kommenden Blicken und ihren auf alles zeigenden ausgestreckten, wild fuchtelnden Armen. Bald wurde mir deutlich, dass diese aus Kindern, Erwachsenden und Pensionisten bestehenden Touristenscharen, die durch ihr alles in Besitz ergreifendes Benehmen unangenehm auffielen und durch ihre lauten, in ihrer Muttersprache geführten Gespräche das Stadtbild prägten, so gut wie überall in dieser Stadt anzutreffen waren.
Sie füllten die vielen Restaurants und kleinen Cafés, die die engen Straßen säumten, drängten sich an den Haltestellen der Fähren, bevölkerten die offenen Plätze und stießen einem grob in den Rücken, kam man ihnen versehentlich zu nahe. Das Unerträglichste aber war mir ihre grenzenlose, kopflose Begierde, alles für sie interessant Erscheinende zu fotografieren, mit jedem Foto, das sie von einem beachtlichen Gebäude machten, verlor es, meines Erachtens, an Wert, als würde das aufblitzende Licht des Fotoapparats vorhandene Schönheit erbleichen lassen, die Einzigartigkeit des Objekts durch seine Vervielfachung nehmen.
Es war ein warmer Sommer, als wir in Venedig eintrafen, das Licht der hoch am Himmel stehenden Sonne spiegelte sich in dem tiefblauen Wasser der Kanäle, das, von den es durchschwimmenden Booten bewegt, leise plätschernd gegen die Häuserwände schwappte.
Die staubige, von einem lauten Geräuschpegel erfüllte Luft, das Gewirr der vielen Menschen machte einen müde, machte mich schlapp und müde, die Riemen des Rucksacks legten sich schmerzhaft um meine Schultern. Ich, der es gewohnt war, für Stunden, ja ganze Tage alleine zu sein, fühlte mich unwohl in diesem Menschengewühl, alle die fremden mir entgegenkommenden Menschen, ihr schrilles Auflachen, ihr mir unverständliches Gerede, die vielen mich für kurze Augenblicke streifenden Augenpaare waren mir ein Übermaß an Eindrücken, überreizten meine dieses bunte Treiben ungewohnten Sinne.
Zu guter Letzt erreichten wir das Haus, in dem wir, so lange unser Aufenthalt in Venedig währte, nächtigen sollten; nach einer kurzen Überfahrt mit einer überfüllten Fähre waren wir da. Es war ein mächtiges, steinernes, zweistöckiges Gebäude. In zwei breiten und sehr hohen, von Metallbetten angefüllten Schlafsälen bezogen wir unser Quartier. Mit großer Erleichterung befreite ich mich von der Last des schweren Rucksacks, warf ihn auf die Matratze eines der Betten und schaute mich nach den anderen um.
Viele der anderen Jungen taten es mir gleich.
Die Mädchen, unter ihnen auch mein liebes Mädchen, hatten sich in den zweiten Schlafsaal zurückgezogen, nun war ich allein mit den vor Selbstbewusstsein strotzenden, in ihrer Leutseligkeit sich von mir unterscheidenden Jungen der Klasse, ein Fremder unter lauter Befreundeten, ein Stiller unter miteinander Redenden.
Ich wartete nicht darauf bis der Clown, der gerade dabei war, von sämtlichen Jungen umstellt, einen Witz mit hoher, beinahe schriller Stimme an den Mann zu bringen, den Witz zur Pointe gebracht hatte, sodass man auf mich aufmerksam werden würde, sondern stürzte heraus aus dem Schlafsaal und fand vor der Tür des anderen Schlafsaals, schon auf mich wartend, mein liebes Mädchen.
In ihrer Anwesenheit, mit ihrer weichen Hand in Reichweite, beruhigte sich mein vor Aufregung wild pochendes Herz.
Der Verrat des Clowns
Was hätte ich bloß ohne mein liebes Mädchen gemacht?! Dieses mir wohlwollende, mich niemals von sich weisende Mädchen, das meiner Gesellschaft auch zu Unzeiten nicht zuwider war, es war da für mich, wenn ich es brauchte. Ich suchte es gerne auf, da ich sonst, ohne mein liebes Mädchen, in völliger Einsamkeit hilflos und gänzlich verloren in dieser meiner Klasse dagestanden wäre.
Ich hegte eine tiefe Zuneigung zu diesem Mädchen, war aber nicht verliebt: Bin ich überhaupt imstande zu lieben? Es war für mich wie eine Schwester, da wir beide so viel Zeit miteinander verbrachten, entwickelte sich zwischen uns eine große Vertrautheit. Ich war ihm immer zutiefst dankbar für seine Bereitschaft, sich meiner, dem Verstoßenen, Außenstehenden, anzunehmen, mich mit all meinen Fehlern und Unsicherheiten zu dulden, nie verstand ich, warum es, dieses in sich gefestigte, starke Mädchen, sich mit mir, dem armselig erscheinenden Jungen, abgab, glaubte beschämt, es täte es aus reinem Mitleid, in seiner Menschenliebe, unfähig, mich, die sich an sie hängende Klette, mit Gewalt abzuschütteln.
In welch Irrtum ich mich befand! Das liebe Mädchen fühlte für mich in einer Art, die ich mir auch in meinen kühnsten Träumen nicht erhofft hätte, nicht aus herablassendem Mitleid lächelte, sprach es mich an, den in seinen Augen eben nicht armselig erscheinenden Jungen, im Gegenteil, es hatte Gefallen an mir gefunden, ja, oh herrliches, unverhofftes Glück, das Mädchen tat es aufgrund tiefgehender Sympathie! Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnte, sollte mir im Laufe dieser Klassenfahrt, in der wir so viel Zeit miteinander verbrachten und uns selten aus den Augen verloren, aufgehen, und diese Erkenntnis machte mich zum einsamen Sternenkucker, der des Nachts den Himmel absucht, voll Wehmut im Anblick aller der in der Ferne glimmenden, unerreichbaren Sterne, dann aber, mit einem Mal, ganz unerwartet eine Sternschuppe dort oben erglühen sieht, dessen helles Licht zu ihm herabsprühend sein Herz erwärmt.
In den darauf folgenden Tagen waren wir selten getrennt, durchstreiften zusammen, absichtlich hinter dem Rest der Klasse zurückbleibend, die Museen, Kathedralen und sonstige, sogenannte Sehenswürdigkeiten, die unsere drei Lehrerinnen für sehenswürdig hielten, standen als ein Paar vor den von berühmten Malern gemalten, in ihrer Vollkommenheit bestechenden Bildern und vor den glühenden Öfen der Glasbläser, bewunderten zusammen ihre flinken Hände, die geschickt die Stäbe drehten, auf deren Spitze sich das erhitzte, flüssige, geschmeidige Glas zu den wunderbarsten, farbenprächtigsten Gefäßen formte. Und doch, so viel ich auch mit meinem lieben Mädchen zusammen war, nie verließ mich eine innere Unruhe, die klamme Befürchtung, dass es sich glücklich schätzen würde, mich los zu sein, auch wenn es mir zu dieser sicherlich aus meinem geringen Selbstvertrauen entsprungenen, grundlosen Furcht keinen Anlass gab, seine Freundlichkeit gegenüber mir war niemals getrübt, so löste ich mich doch manchmal von seiner Seite, Platz machend für seine uns nicht aus den Augen lassenden Freundinnen, die sogleich, entfernte ich mich nur wenige Schritte, mein liebes Mädchen in ihre Mitte nahmen, einen engen Kreis bildeten sie um es herum, als wären sie fest entschlossen, es daraus niemals mehr zu entlassen. Es kam mir so vor, als wunderten sich diese hübschen, blonden, oberflächlichen, um ihren eignenden Status in der Klasse stets große Sorge tragenden Mädchen, dass ihre aufgrund ihrer geistlichen Überlegenheit hoch angesehenen Freundin so viel Zeit mit mir vergeudete, so musste es ihnen erscheinen, anstatt ihrem, so meinten sie, ergötzenden Geschwätz zuzuhören. Sie waren nicht die Einzigen, die daran Anstoß nahmen, dass mein liebes Mädchen und ich uns so vertraut und nahe waren, auch dem Clown missfiel es, er spürte wohl, wenn er uns Gesellschaft leistete, dass mein liebes Mädchen seine frechen Witze und allzu bubenhaften, auf ihre frauliche Reife und Schönheit gezielten Anspielungen zwar höflich belächelte, sie aber meine beseelten Worte und ruhige Nähe mehr schätzte als seine sarkastische Zunge und sein aufdringliches narrenhaftes Rumgehüpfe. Er machte sich, so hatte er mir einmal, von mir vorher tiefste Verschwiegenheit abfordernd, mitgeteilt, die Hoffnung, das liebe Mädchen mit Witz und Schalk ins Bett zu kriegen, wohl um, es war nicht schwer zu erraten, sich an ihrem großen, warmen Busen endlich einmal gehörig satt zu sehen, den er auch in verhüllter Form mit verschmitztem, lechzendem Blick und begierig funkelnden Augen gerne begaffte. Unter dem bunten Narrenkleid, hinter der allzeit grinsenden fratzenhaften Maske, hinter den tollen spaßigen Gesten verbarg sich nämlich nichts weiter als ein schüchterner, ein Mädchen begehrender, das Ausgeschlossenwerden wie den Teufel fürchtender Junge, der all die Hampeleien und Verrenkungen nur anstellte, um seine Person als Narr der Versammlung stets belächelt und willkommen zu sehen. Ein Benehmen, das er auch gegenüber den Mädchen beibehielt, was bei meinem lieben Mädchen aber leider für ihn nicht die erhoffte Wirkung zeigte. Dass sie lieber mit mir, dem Stillen, als mit ihm, dem allzeit Ausgeflippten, zusammen war, dass sie sich in meiner zwar zum Pessimismus neigenden, aber durchdachten Weltenanschauung mehr wiedererkannte als in seiner das Leben und die Welt nicht ernst nehmenden Ausgelassenheit verärgerte ihn, machte ihn eifersüchtig, neidisch, das wurde deutlich, denn sein Verhalten gegenüber mir, glaubte er in mir doch seinen ärgsten Nebenbuhler, veränderte sich in einer für mich unvorteilhaften Art und Weise. War ich früher von seinen schlechten Scherzen verschont geblieben, versuchte er nun, mich immer häufiger zum Mittelpunkt des allgemeinen Spotts und Hohngelächters zu machen, hatte er früher meiner Ausgrenzung aus der Klasse versucht entgegenzuarbeiten, indem er mir im Vorbeigehen kameradschaftlich auf die Schulter schlug oder mir in Anwesenheit aller herzlich zuredete, bemühte er sich jetzt, auf dieser Klassenfahrt, mich mit unguten Kommentaren in ein schlechtes Licht zu rücken, was ihm natürlich einwandfrei gelang, da ich seinem böswilligen Humor wenig entgegenzubringen vermochte, denn wenn der Narr einen schnöden Witz macht, lachen auf jeden Fall die Dummen.
Eines Abends ging die ganze Klasse essen, in einem dem Wasser und der Kanäle zugewandten Restaurants, klein und gemütlich, wie es so viele in Venedig gibt; es war so gut wie leer, als wir es betraten, zum Bersten voll, als wir uns darin ausgebreitet hatten. Wir besetzen fast jeden Tisch in dem länglichen schmalen Raum, außer einem ganz am Eingang sich befindenden, an dem ein junges einheimisches Liebespaar saß, das sich auch durch unser lärmendes Auftauchen nicht in ihrer intimen Zweisamkeit stören ließ. Mein liebes Mädchen war mir in dem Gedränge abhanden gekommen, gezwungenermaßen hatten wir uns voneinander getrennt zu Tisch setzen müssen; ich kam wohl mehr durch Zufall als aus gewollter Absicht an demselben Tisch zu sitzen, an dem der Clown, umgeben von seinem meist aus männlichen Mitgliedern bestehenden Gefolge, sich niedergelassen hatte. Man unterhielt sich mit einer dem Clown typischen, obszönen Freimütigkeit, vor allem die den Clown rechts und links flankierenden Jungen, dieselben, deren Gespräch ich am ersten Schultag in der Fremde belauscht hatte, ich habe davon erzählt, benahmen und äußerten sich, als wären sie, so mein Eindruck, ein wenig besoffen. Einer der beiden, ein kleines Kerlchen mit blondem Schopf und bubenhaftem, von Sommersprossen übersätem Gesicht trieb es besonders arg; sein Aussehen war harmlos, nett, doch wie ich zwischenzeitlich erfahren hatte, hatte er einen neckischen, zum Bösartigen hin tendierenden Charakter, sein etwas dicklicher Körper kam nie zur Ruhe, man mochte annehmen, ein winziges, ihm in der Hosentasche sitzendes Teufelein stichelte ihn oft und gerne mit einem spitzen, glühend heißen Höllenspieß in den Hintern, so sah es auch jetzt aus, wie er sich da auf seinem Stuhl hin und her bewegte, ab und zu einen seine innerliche Unrast verratenden, hastig dahingeworfenen Satz ins Gespräch werfend. Ebenso lautstark benahm sich der links vom Clown Sitzende, seine Tenorstimme dröhnte einem, wenn man ihm zu nahe kam, in den Ohren; ein junger Mann war es, von auffallendem Aussehen, seine Haare waren lang, reichten ihm bis über seine breiten Schultern, seine Kleider, sowohl Hose wie Hemd, pechschwarz, aus einem bleichen, breiten Gesicht, blickten dunkle Augen feindlich in die Welt, die, so schien es mir, alle Mitmenschen etwa in eine überlegene oder unterlegene Gruppe zuordneten. Diesen stolzen jungen Mann hatte ich fürchten gelernt, da er durch sein mir gegenüber immer ausgeprägt arrogantes Gehabe zu verstehen gegeben hatte, dass ich seines Erachtens zu der ihm unterlegenen Gruppe gehörte, eine zweifellos vielzählige Versammlung, er sich als etwas Besseres als mich wähnte, er führte sich mir gegenüber auf wie der hochherzige Fürst im Mittelalter gegenüber seinen Untertanen.
Das Mahl konnte beginnen.
Es wurde aufgetischt, zwei Kellnerinnen, beide hatten ihre üppige dunkelbraune Haarpracht nach hinten zu einem Zopf gebunden, ihre ebenfalls dunkelbraunen, feurigen, uns aufmerksam musternden Augen verrieten ihre südländische Herkunft. Diese zwei italienischen Schönheiten kamen schon bald mit Tellern beladen aus der hinter einer Schwingtür verborgenden Küche zurück, in der sie entschwunden waren, nachdem sie ihre Notizblöcke mit unserer Bestellung bekritzelt hatten. Wir hatten alle Pizza bestellt, alle, außer unseren drei Lehrerinnen, vielleicht hatten sie durch eine andere Speisenwahl, Meeresfrüchte!, sich von uns, den kindlichen Schülern, distanzieren wollen. Es war keine glückliche Entscheidung gewesen, wie es sich im Laufe der Mahlzeit herausstellte, denn die ihnen servierten Teller enthielten Muscheln, Krabben und allerlei anderes hartschaliges Seegetier, das zu verzehren keine Leichtigkeit war und den armen Lehrerinnen, zu unserer Freude, allergrößte Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten bereiteten.
Ich sagte: zu unserer Freude, kann mich da aber leider nicht mit einschließen, da mir diese gemeinsame Mahlzeit wenig Freude bereitete. Zwar mundete mir die vorgesetzte Pizza vortrefflich, dünn und knusprig der Boden, schmackhaft und reichlich die Füllung, doch meine Tischgesellschaft verdarb mir den Appetit, forderte meine Aufmerksamkeit. Es war mir unmöglich, meiner Mahlzeit, die verdiente, oder den sich mit ihren in harten Schalen verbergenden Seegetieren sich abmühenden Lehrerinnen schadenfrohe Zuwendung zu zollen. Es war die Hölle los an unserem Tisch, da der Clown, mir am anderen Ende des Tisches gegenübersitzend, mich schon bald aufs Korn, buchstäblich ins Visier genommen hatte, er fixierte mich mit seinen schelmisch blinzelnden Augen feixend an, wohl befriedigt darüber, dass ich ihm hier so ausgeliefert gegenübersaß. Zwischen großen, alles in sich gierig hineinziehenden Bissen, der geschmolzene Käse zog lange Fäden, begann er hinter vorgehaltener Hand mit schmatzendem, vollem Mund, bald zu seiner rechten, bald zu seiner linken, im Flüsterton Sätze zu tuscheln, die sich um mich drehten, sein dauernd auf mich gerichteter Blick klärte mich darüber auf, und große Heiterkeit am Tisch erweckten. Dieses mir die Lust am Essen verderbende kindische Getue brachte mich dazu, einen verstohlenen Blick zu meinem lieben Mädchen zu werfen, sie befand sich aber, die böse Fügung hatte dafür gesorgt, von ihren Freundinnen eingeklemmt in einer Ecke und konnte mir in meiner misslichen Lage nicht zur Hilfe schreiten, ganz davon abgesehen, dass ein solches Zuhilfeschreiten ihrerseits, solch ein Aufbegehren gegen den Clown und seine Heerschar, hier in dem kleinen Restaurant zu großem Aufsehen geführt hätte. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als die Ruhe zu bewahren, so zu tun, als würde mir das Geflüster nichts ausmachen, das sich bald zu einem deutlich vernehmbaren Gespräch steigerte, das der Clown mit seinen Verschworenen über meine Person führte, auch wenn in einer respektlosen Art darin von mir die Rede war, die mich, so war es wohl beabsichtigt, in meiner Selbstachtung verletzen musste und mich manch guten Bissen ohne jeglichen Genuss herunterwürgen ließ.
Der Clown, der mir wie gesagt bis zu dieser Klassenfahrt freundschaftlich zugetan gewesen war, hatte sich in den letzten Tage in meinen ärgsten Feind verwandelt, immer darauf bedacht, mir eins auszuwischen, jetzt hier, umgeben von seinen Mitstreitern, am Kopfende des Tisches thronend, ein König an seiner Tafel, fand er Gelegenheit, mich all seine angestaute, durch bloßen Neid hervorgerufene Antipathie spüren zu lassen.
Mein einstiger Freund verriet mich auf schändlichste Weise, seine der regen Fantasie entsprungenen Verleumdungen empörten mich sosehr, dass ich schließlich meine mir bis dahin in ähnlichen Situationen treue Selbstbeherrschung verlor, aufsprang, mit solch jäher Behändigkeit und ungestümer Wucht, dass der Stuhl hinter mir krachend zu Boden polterte, was heilloses Aufsehen erregte, und dem vor Erstauen mit halb geöffnetem Mund dasitzenden Clown, dem sein Grinsen im Angesicht meines Zornes vergangen war, mein Wasser Glas über den Kopf kippte. Sodann, gefolgt von den Blicken aller im Restaurant Anwesenden, ausgenommen den drei Lehrerinnen, zu sehr waren sie mit dem Knacken ihrer Krabben beschäftigt, die beiden Kellnerinnen standen erstarrt mit ihren Tabletts in den Händen, selbst das Liebespaar am Eingang hatte sich mir zugewandt, diese an Dramatik nicht fehlende Szene, der laute Knall des auf dem Boden aufprallenden Stuhles, die daraufhin einkehrende totale Stille hatte die Verliebten aus ihrer Verschlungenheit gelöst: marschierte ich mit stolz erhobenem Kopf, unsicheren Schrittes aus dem Restaurant hinaus, wie ein Duellant, der über seinen Gegner im ehrlichen Zweikampf, mit einem gekonnten Degenhieb triumphiert hatte und nun den Platz als Sieger verlässt, mit der Hand die ihm zugefügte tödliche Wunde verbergend.
Niemand sah, dass mir das Herz wild in der Brust schlug, die Wangen zuckten in Erregung, die waren Augen voller Tränen, nur mein liebes Mädchen, das sich nun hastig von ihrem Platz erhob und sich mit fast grober Entschlossenheit aus seiner Ecke heraus einen Weg zum Ausgang bahnte, dabei manche ihrer Freundinnen auf die Füße tretend, um mir dann hinterher zu eilen, nur es verstand, wie scheußlich und verzweifelt ich mich fühlen musste.
Mondscheinpromenade
Es war dunkel geworden in Venedig. An einem klaren Nachthimmel funkelte der Sternenglanz. Das bleiche Licht des Mondes, der in voller erhabener Form am Himmel stand, schimmerte, sich mit dem schmutziggelben Licht der Straßenlaternen vermischend, geheimnisvoll in dem des Nachts fast schwarzen Wassers, das in einem engen Kanal, zu meiner Linken, stillstand. Ich folgte dem Kanal, bis er sich mir zwischen hohen Häuserreihen, an denen kein Weg entlangging, entwand. Ein schmales Brücklein führte über ihn, ich betrat es, lehnte mich auf sein steinernes Geländer und schaute hinab, in das unter mir leise glucksende Wasser, das, von der Brücke beschattet, vollkommen war in seiner für das Auge undurchdringbaren Schwärze. Die tiefe Stille im finsteren Gewässer zog mich unwillkürlich an, ich sehnte mich danach, mich von diesen gemächlich dahinfließenden Fluten aufnehmen zu lassen, hinabzutauchen in diese kühle Stille, in diese alle Pein und Schmerz des Menschenseins entziehende düstere Dunkelheit. Weiter lehnte ich mich vor, noch weiter, dann wurden eilige Schritte hinter mir laut, zwei meinen Oberkörper heftig umschlingende Arme rissen mich zurück, ein in seiner Form mir bekannter Körper drückte sich gegen den meinigen, warmer Atem strich mir über den Nacken.
Es war mein liebes Mädchen, das mich nun fest umschlungen hielt, als fürchtete sie, dass ich, würde sie mich nur für einen Augenblick loslassen, ihre Umarmung nur ein klein wenig lockern, das Gleichgewicht verlierend über das Geländer der Brücke fallen und in dem nassen dunklen Element dort unten versinken und niemals wieder auftauchen würde. Wie lange wir so dastanden, weiß ich nicht, es muss lange gewesen sein, ich nahm das Verstreichen der vielen Minuten nicht wahr. Glücklich und geborgen fühlte ich mich in den Armen meines lieben Mädchens, ganz so, wie ein Kind in den Armen seiner Mutter fühlt, ich wünschte die Zeit würde stillstehen, ja, ich hoffte sogar, dass wir jetzt, wo wir einander so unendlich nahe waren, zu Statuen werden würden, für alle Ewigkeit in dieser Umarmung verbleibend.
Lauter werdende, sich uns nähernde Geräusche schreckten uns aus unserer Versunkenheit, wir lösten uns nur ungern aus unserer Umarmung, eine kleine Gruppe im angeregten Gespräch dicht nebeneinander hergehender Männer betraten die Brücke, auf der wir standen, Einheimische, nach ihrem südländischen Teint zu urteilen. Mit lebhaften Handbewegungen begleitete jeder von ihnen seine Worte, uns schenkten sie kaum Beachtung, nur flüchtig im Vorbeigehen streiften uns ihre Blicke. Wir warteten, bis sie hinter der nächsten Ecke verschwunden waren, dann nahmen wir uns an den Händen, ihre weiche Hand hatte sich wie selbstverständlich in meine gelegt, sie tat den ersten Schritt, zog mich mit sich.
Seitdem wir uns auf dieser Brücke gefunden hatten, war noch kein Wort zwischen uns gefallen, Worte waren bisher überflüssig gewesen, unsere gegenseitige Berührung, die enge Umarmung waren in stillem gegenseitigem Verständnis vor sich gegangen.
Wenn man eine so große gegenseitige Vertrautheit, ein so tiefes Einverständnis zueinander empfindet, wie wir es taten, als wir durch die noch belebten, aber nun von dem menschlichen Wirrwarr des Tages befreiten Straßen wandelten, bedarf es keine dem anderen seine Gefühle erklärenden Worte, man verständigt sich mit den Augen, berührt sich, lächelt sich an. Es ist eine lautlose, intime Sprache, ein Gefühl tiefster Zusammengehörigkeit, es schmelzen zwei Wesen zusammen, zwei Herzen werden eins.
Ohne es uns bewusst zu sein, entfernten wir uns mit jedem Schritt vom Kern der Stadt. Die Straßen wurden zu winzigen Gässlein, zu gerade einmal einen Meter breiten, steingepflasterten Durchgängen, die sich zwischen mehrstöckigen Häuserreihen hindurchschlängelten. Bald kam uns niemand mehr entgegen, die wenigen, vereinzelt über den Eingängen der Häuser hängenden Lampen verbreiteten ein schummriges Licht. Es gab Stellen, zu denen ihr Licht nicht hinfand, dort dehnte sich die nächtliche Finsternis aus, die wir hastig durchschritten, Hand in Hand.
Die hohen, rechts und links von uns zum Nachthimmel ragenden Häuser, deren Fenster von schweren Fensterläden bedeckt waren, wirkten in ihrer nächtlichen Verschlossenheit, in ihrer Leblosigkeit, unbewohnt und abweisend, wir, die an ihnen vorbeigingen, konnten nicht glauben, dass Menschen hinter diesen grauen Wänden lebten.
Es herrschte hier in diesem Teil der Stadt, in den wir nun geraten waren, weitab von Restaurants und großen lärmenden Menschenansammlungen, eine beängstigende Stille, nur der Laut unserer Schritte war zu hören, dumpf hallte ihr Klang zwischen den hohen Wänden der Häuser wider, uns kam es vor, als wären wir die einzigen Menschen weit und breit. Die uns umgebende nächtliche Einsamkeit und Schwere legten sich auf unser Gemüt und versetzten uns in eine trübselige, melancholische Stimmung. Hinter einer Krümmung endete das Gässlein, auf dem wir dahergegangen kamen und mündete in einem weiten, offenen Platz, in dessen Mitte vier Parkbänke sich in einem Vierkant gegenüberstanden, umsäumt von einer nur an einer Seite Durchlass gewährenden Hecke. Kraftvolles weißgelbes Licht von neben jedem der Parkbänke stehenden Straßenlaternen erleuchtete diesen kleinen Park, der in seiner Verlassenheit, eingetaucht in das grelle Licht der Laternen, einen abstoßenden und befremdenden Eindruck auf uns machte. Waren wir erst mit zielgerichteten Schritten auf ihn zugegangen, um auf einer seiner Bänke ein wenig zu ruhen, entschieden wir uns, als wir nahe vor ihm standen, im Anblick seiner toten, sterilen Farblosigkeit eines anderen.
Der große Platz, auf dem wir uns nun befanden, war von hohen Häusern eingeschlossen, einzig das schmale Gässlein, auf dem wir gekommen waren, führte aus ihm hinaus. Unschlüssig, wohin wir uns wenden sollten, gingen wir auf dem menschenleeren Platz hin und her, bevor wir uns auf die untersten Stufen einer zu einer Haustür führenden Treppe niedersetzten. In leisem, beinahe verschwörerischem Ton unterhielten wir uns nun über das im Restaurant zwischen mir und meinem einstigen Freund, unserem einstigen Verbündeten, dem Clown, Vorgefallene. Manchmal, in Erinnerung seiner Gemeinheit, seiner Treulosigkeit, erhob ich meine Stimme in neu aufbrausender Wut. Mein liebes Mädchen versuchte mich zu besänftigen, gütig und tröstend waren seine Worte. Mit einem Mal, in einer Plötzlichkeit, die uns vor Schreck zusammenfahren ließ, öffnete sich die Haustür, auf deren Stufen wir saßen. Warmes, goldgelbes Licht ergoss sich über uns, es trat jemand, dessen Schatten vor uns über die Treppenstufen hinabhuschte, aus der Tür heraus. Hastig, befürchtend, wir hätten durch unser Reden die Bewohner des Hauses geweckt, drehten wir uns um, zur Haustür emporschauend. Ein älterer Mann stand auf der obersten Stufe der Treppe, seine kurzen stämmigen Beine sahen wir, die Augen nach oben richtend zuerst, dann seinen breiten, untersetzten Körper, auf dem, von spärlichem Haar bedeckt, ein seltsam kantig erscheinender Kopf erschien. Er war gerade dabei, sich in aller Seelenruhe eine Zigarette anzuzünden, wir schlossen daraus, dass nicht unser Erscheinen ihn aus dem Haus gelockt hatte, sondern das Bedürfnis zu rauchen.
So war es auch, der Mann hatte uns bisher noch nicht bemerkt, da er seinen Kopf gerade hielt, waren wir, sitzend auf der untersten Stufe der steilen Treppe, außerhalb seines Blickfeldes. In regelmäßigen Zeiträumen genüsslich an seiner, im Halbdunkel bei jedem Zug aufglühenden Zigarette ziehend, stand er mit dem Rücken an dem Türrahmen gelehnt. Wir verhielten uns still, es lag uns nichts daran, unsere Anwesenheit durch das Fortführen unseres Gesprächs dem Mann kundzutun, vor dessen Haus wir in hereinbrechender Nacht herumlungerten, war es doch wahrscheinlich, dass eine solche ihm sicherlich unliebsame Entdeckung seinen Zorn gegenüber uns erwecken würde. So harrten wir stillschweigend aus, nur ab und zu schauten wir vorsichtig zu ihm hinauf. Es verstrichen höchstens ein paar Minuten, da gesellte sich eine zweite Person, ebenfalls aus dem Haus heraustretend, zu dem Rauchenden. Ein junger Mann, in dessen schönem Gesicht eine Ähnlichkeit mit dem Gesicht des alten Mannes auszumachen war, auch war er von dem gleichen kräftigen Körperbau wie der Alte, nur etwas größer gewachsen. Dichtes, kurz geschnittenes, nussbraunes Haar lag in ebener, gepflegter Glätte auf seinem Kopf. Der Neuankömmling hielt eine entzündete Zigarette zwischen den Lippen, eine Weile rauchten sie wortlos, zogen kräftig an ihren Zigaretten und bliesen den Rauch durch Nase und Mund. Der alte Mann, nach wie vor an den Türrahmen gelehnt, der junge stand dicht neben ihm, in lässiger Haltung, sich mit der linken Hand gegen das eiserne Geländer der Treppe abstützend. Ein von dem jungen Mann in schneller Wortfolge geäußerter Satz begann ein von kurzen Pausen unterbrochenes, in Italienisch geführtes, für uns ganz und gar unverständliches Gespräch zwischen den beiden, die Vater und Sohn waren, wie ich aufgrund ihrer äußerlichen, augenscheinlichen Ähnlichkeit vermutete, eine Annahme, die sich noch als richtig herausstellen sollte. Ein Zufall wollte, dass wir entdeckt wurden, des jungen Mannes gesenkter Blick, im Begriff seinen zu Boden geworfenen Zigarettenstummel mit dem Fuß auszudrücken, nahm die regungslos auf der Treppe dasitzenden Gestalten wahr, und die oberste Stufe erstaunt herabtretend, entdeckte er uns, die wir gerade zu ihm aufschauten. Ein überraschter Ausruf zwang uns auf die Füße, hastig drehten wir uns zu ihm um, es war uns dabei wie den Kindern beim Versteckspielen, wenn man sie aus ihrem Versteck, indem sie sich mucksmäuschenstill verborgen gehalten hatten, aufstöbert. Wäre es helllichter Tag gewesen, hätte der junge Mann, der uns nun scharf, aber nicht unfreundlich musterte, die beiden Fremden da unten auf seiner Treppe erröten gesehen. Er redete uns auf Italienisch an, wir, keine seiner Worte verstehend, zuckten mit den Achseln, um ihm dann in Englisch zu erklären, dass wir Touristen seien, Schüler einer Klasse aus Norwegen. Mein liebes Mädchen entschuldigte sich sogleich, ganz wie es ihre Art ist, dass wir hier auf der Treppe gesessen hatten, sie bat mehrmals um Verzeihung, als wäre das Sitzen auf fremden Treppen ein durchaus verbrecherisches Vergehen. «Ha, Touristen!», nuschelte der Alte aus dem Hintergrund, machte dabei eine abfällige Bewegung mit der Hand, damit zum Ausdruck bringend, dass er für die seine Stadt aus aller Welt überschwemmenden Touristen nicht viel übrig hatte, das konnte ich nachvollziehen, glichen diese Ströme von Menschen in ihrer Verhaltensweise doch einem Schwarm Ratten, der sich in der ganzen Stadt ausbreitete, in den Häusern rumorte, durch die Straßen stöberte und wie wir jetzt die Treppen der Häuser besetzte. Zweifellos war er auch darüber erbost, dass wir, die Touristen, die Ratten, hier bis nah an sein Haus vorgedrungen waren, bis vor die Schwelle seines Hauses. Der junge Mann hingegen schien anderer Ansicht zu sein, die in zuckersüßen Wendungen von meinem lieben Mädchen an meiner Seite hervorgebrachten Entschuldigungen für unseren unerwünschten Besuch zauberten ein breites, zerfließendes Lächeln auf seine Lippen. Er stieg zu uns hinunter, schüttelte erst ihr, dann mir die Hand, begrüßte uns mit übertriebener Freundlichkeit, als wären wir erwartete Gäste, nun auch in Englisch. Er sprach ein reines, in seinem italienischen Akzent lustig klingendes, fließendes Englisch, jedes Wort betonend, als wäre er stolz auf seinen vermeintlich reichen englischen Wortschatz. Erst fragte er, aus welchem Land wir denn kämen, Norwegen gaben wir zu Antwort. Ah Norway, stieß er lachend hervor, es sei kalt da, behauptete er keck, wir pflichteten ihm bei, ja es sei kalt in Norwegen, aber nur im Winter. Eisbären!, lachte der junge, charmante Don Juan, wir lächelten und nickten, ja Eisbären, Norwegen sei voll davon, witzelte ich, man begegne ihnen, wohin man sich auch wende. Schmunzelnd stieg der junge Italiener, der im Laufe unser kurzen Unterhaltung seine Eitelkeit durch wiederholtes Glattstreichen seiner Haare, durch das lässige, sorgfältige Hochkrempeln seiner Hemdsärmel an beiden Armen verraten hatte, auch war es mir so vorgekommen, als ob er meinem lieben Mädchen schöne Augen gemacht hätte, sein vielsagender Blick war so gut wie andauernd auf sie gerichtet gewesen, der Charmeur, der Don Juan, sprang die Treppen hoch und begann mit gesenkter Stimme, in seiner Sprache, auf den uns von oben herab argwöhnisch betrachtenden alten Mann einzureden. Ich nahm an, um ihn von irgendetwas zu überzeugen, was, war mir schleierhaft, ebenfalls, warum unser neuer, junger Freund so heimlich tat, warum er flüsterte, kapierten wir doch sowieso nichts von seinem warmblütigen Geschwätz. Seine Anstrengungen mussten sich gelohnt haben, denn der Alte, wie ich es von unten beobachten konnte, nickte wiederholt, unwillig zwar, das war ersichtlich, ohne sonderliche Begeisterung, doch zweifellos mit der Meinung, dem Willen oder Wunsch seines Sohnes im Einverständnis, wie ich dem befriedigten Gehabe, dem selbstgefälligen Lächeln des jungen Mannes entnehmen konnte.
Er stupste den Alten kameradschaftlich vor die Brust, drehte sich dann erneut zu uns um und winkte uns mit heftigen Handbewegungen die Treppe herauf. Oben angekommen stellte er uns dem alten Mann vor, seinem Vater, wie wir erfuhren, der Alte bemühte sich um ein schiefes Lächeln, streckte uns halbherzig die Hand entgegen, sie war klamm und feucht, sein Händedruck schlaff, ich wurde das Gefühl nicht ganz los, dass er diese entgegenkommende Freundlichkeit uns gegenüber nur vortäuschte. Nach den Begrüßungsworten entstand eine verlegende Stille, der Alte steckte sich eine neue Zigarette an, kramte in sämtlichen Hosentaschen herum, fand sein Feuerzeug nicht, unser junger, netter Freund lieh ihm seines, dann schob er uns, die wir da verunsichert herumstanden, kurzerhand über die Schwelle der Tür ins Haus hinein.
Trügerisches Spiel
Von dem jungen energischen Mann angeführt, ja regelrecht vorwärts getrieben; kommt, kommt, meine Freunde, hier entlang, gleich sind wir da, so redete er uns zu, durchschritten wir einen kargen Flur, in dem es unrein roch, durchtraten einen türlosen Türbogen, der uns den Eintritt in ein völlig rundes Zimmer gewährte, von dessen Decke eine überaus grell leuchtende Deckenlampe uns aus dunkler Nacht Kommende blendete. Mitten im Raum, um einen schäbigen, abgenutzten Tisch herum, saß eine kleine Runde Männer, jung und alt, in ein Kartenspiel vertieft. Jeder der Spielenden hatte Geld vor sich angehäuft. Münzen und Scheine, große und kleine Haufen wurden von schützend über sie gehaltenen Händen bewacht, Gläser und eine Weinflasche standen auch auf dem Tisch, man war gerade dabei, die Karten auszuteilen. Ein schlanker, in einem zerschlissenen Anzug gekleideter Mann teilte aus mit verbissener Miene. Die anderen warteten geduldig, bis alle die gleiche Anzahl Karten erhalten hatten, einer von ihnen trank aus seinem Glas, in dem eine Flüssigkeit rötlich funkelte.
Als fertig ausgeteilt war, nahm jedermann seine Karten auf, gewissenhaft, mit fachmännischem Blick wurden sie geprüft und von flinken Fingern gesondert.
Bei unserem Erscheinen schauten die Männer auf, mein liebes Mädchen lenkte alle Augenpaare auf sich. Die Spielenden schienen auf einmal das Interesse für ihre Karten verloren zu haben, ein leises Gemurmel und lebhaftes Getuschel auf Italienisch entfachte sich, das Mädchen an meiner Seite wurde mit einer für mich und in aller höchstem Grad für sie unangenehmen Aufdringlichkeit und offensichtlichen Ergötzung angeguckt, als wäre sie die noch fehlende Karte in der Hand, die Herzdame etwa, belustigte Rufe wurden laut. Unser junger Freund trat zum Tisch, lehnte sich mit vornübergebeugtem Oberkörper auf ihn, die Männer beugten sich zu ihm vor. Wieder in diesem mir sonderbar anmutenden geheimnisvollen Flüsterton raunte er ihnen unser Auftauchen erklärende Wort zu, so vermutete ich, was zur Folge hatte, dass das Gemurmel verstummte, die Männer sich zu unserer Erleichterung wieder auf ihr Spiel und ihre Karten konzentrierten. Oder auf jeden Fall so taten, denn die, die uns im Blickfeld hatten, warfen uns weiterhin über die Karten hinweg verstohlene, neugierige Blicke zu. Unser junger liebenswürdiger Freund wendete sich uns wieder zu, und diesmal ganz besonders mir, wie ich nicht ohne eine gewisse Befriedigung zur Kenntnis nahm. «Do you want to play? Do you play Poker?»Ich, überrascht von diesem unerwarteten, mich gänzlich überrumpelnden Vorschlag, geschmeichelt von dieser ehrenhaften Einladung, mich zu diesen erwachsenen Männern an den Tisch setzen zu dürfen, erwiderte prompt, yes, in gedankenloser Voreiligkeit. Die Regeln des Kartenspiels waren mir geläufig, doch die Gefahren und Tücken, die jegliches Spiel um Geld für die Spielenden mit sich führt, waren mir mangels gemachter Erfahrung nicht bewusst. Ich wollte mich in dieser Männergesellschaft nicht blamieren, mich als ein Mann von Welt geben, mein gutes Mädchen damit, wie ich erhoffte, beeindrucken. Dass ich sie aber durch diese undurchdachte Bereitwilligkeit, mich mit den fremden Männern einzulassen, alles andere als beeindruckte, vielmehr verschreckte, wurde mir erst klar, als ich schon auf dem Stuhl am Tisch saß, den Don Juan mir hingeschoben hatte, und ich zu ihr hinschaute in Erwartung, ihre Augen in Stolz über mich glänzen zu sehen, mich aber ihr besorgter, tadelnder Blick traf, der mich fühlen ließ wie ein dummer Junge, der einen schlechten Streich begangen hat. Doch nun war es zu spät, ein Aufbruch meinerseits, kaum hatte ich mich zu ihnen gesetzt, wäre meiner Ansicht nach, eine unverzeihliche Unhöflichkeit gewesen, außerdem fehlte mir der Mut dazu. Ganz davon abgesehen, dass ich mich in dieser lustigen Männerrunde schon auf Anhieb wohl fühlte, die barschen, rauen Männergesichter nickten mir anerkennend zu, undeutbar lächelnd. Ein Glas wurde mir hingestellt, man füllte es mir großzügig bis zum Rand mit rotem Wein aus der dickbäuchigen Flasche. Ich wurde, so glaubte ich, von ihnen akzeptiert, das machte mich natürlich glücklich, die ausgeteilten Karten sammelte man wieder ein, der Einsatz wurde gemacht. Auch ich zollte den geforderten hohen Tribut, mein für diese Klassenfahrt vorgesehenes Vermögen enthaltender Geldbeutel war schnell gezückt, die Karten wurden erneut ausgeteilt, das Spiel konnte beginnen.
Das Spiel begann, und sofort war ich davon gefangen, was außerhalb dieser Spielrunde vor sich ging, nahm ich nicht wahr, da meine Aufmerksamkeit voll und ganz auf das Geschehen vor mir auf den Tisch konzentriert war. Man trank mir immer wieder zu, in einer eigentlich überaus eigenartigen Manier, ich ahnte aber keine Schlechtigkeit, nippte vom Wein, mit jedem Schluck verdunkelte sich die Klarheit meines Bewusstseins, das Schlimmste war: Bald hatte ich mein liebes Mädchen vergessen. Dass unser junger raffinierter Freund, kaum hatte das mich mit einbeziehende Spiel angefangen, mein gutmütiges Mädchen aufgefordert hatte, mit ihm zu kommen unter dem Vorwand, er wolle ihr etwas zeigen, hatte ich, vertieft in die Überlegung, welche der mir gerade ausgeteilten Karten ich schlau daran tat auszutauschen, nicht mitgekriegt. Des Mädchens kurzer Bescheid, dass es gleich wieder da sei, ging mir in das eine Ohr hinein und in das andere wieder hinaus. Aha ein Paar!, jubelte ich, ein guter Anfang, na dann tausche ich erst einmal den Rest der Karten und behalte das Paar, der mir gegenübersitzende Mann, ein unrasierter garstiger Kerl, hörte nicht auf, mir zuzugrinsen. Nach mehreren Runden war mein Geldbeutel schon so gut wie leer, mein Glas auch, es wurde mir schnell wieder nachgefüllt, mein Geldbeutel hingegen blieb leer, doch von Spieleifer gepackt zerrte ich auch die letzten Scheine heraus. Der Verstand, die Vernunft hatten mich verlassen, anstatt ihrer hatte der Rausch des Spieles von mir Besitz ergriffen, mir glühten die Wangen, schwitzende, unsichere Finger hielten die Karten, unruhig flackernd machten meine Augen die Runde von einem Männergesicht zum anderen, man lächelte weiterhin freundlich. Ich hätte aufhören sollen, zur Besinnung kommen, doch was hilft dem Menschen in einer solchen Lage die Fähigkeit des vernünftigen Denkens, wenn er von verzehrender Spielleidenschaft überkommen ist, hat er nichts anderes im Sinn als das Spiel, ist erst einmal das Feuer der Spiellust in ihm entfacht, wird das kalte Wasser der Vernunft es nicht mehr löschen können. Ein vereinzelter vernünftiger Gedanke ist dann nur ein Tropfen über einer versengenden Feuersbrunst.
Ich hätte ahnen sollen, was da im Gange war, was da wirklich gespielt wurde, nicht Karten, sondern eine ausgeklügelte Gaunerei, die Gefahrensignale waren nur allzu deutlich. Nicht nur eine Warnung erhielt ich, vielmehr zwei, drei, die Männer lächelten nicht freundlich, sie grinsten schadenfroh! Die Zeichen, die sie sich im Versteckten machten, waren nicht schwer zu deuten, sie verhöhnten mich, doch ich Trottel, ich Kindskopf, der ich mich als ein hoher Gast meinte in einer Runde auserwählter Kartengötter, ich, der von falscher Magie verzauberte Tor, tat es nicht!
Erst als ein lauter Hilfeschrei, den die Männer am Tisch mit lautem Reden versuchten zu übertönen, dumpf durch die Wand drang, ein Schrei, dessen Stimmenklang mir so sehr bekannt und in solch Inbrunst und Innigkeit aus einer von Furcht beengten Kehle hervorgewürgt wurde, es war ein Schrei so dringlich, so verzweifelt, dass die Wände des Kartenhochhauses, das ich in meinem Inneren erbaut hatte, einstürzten und ich zwischen seinen Trümmern endlich zu mir kam. Es war der Instinkt, der mich antrieb, als ich vom Tisch aufsprang und die Tür aufriss, durch die mein liebes Mädchen mit dem Fremden gegangen war, eine jähe, in mir sich ausbreitende Furcht beschleunigte jede meiner Bewegungen, ich riss die Tür auf, sprang in die dahinter herrschende Dunkelheit, die meine Augen mit aller Anstrengung zu durchdringen suchten. Das durch die von mir geöffnete Tür hereinflutende Licht fraß gierig einen rechteckigen Teil der sich bei meinem Eintritt im Raum zurückdrängenden Dunkelheit, das so entstandene Lichtfeld genügte, um mir zu entblößen, was die Dunkelheit verbergen wollte. Mein liebes Mädchen lag am Boden, wimmernde Laute drangen aus ihrem halb geöffneten Mund, ihre Augen richteten sich zu mir empor, von maßlosem Schreck weit geöffnet. Diese Augen bestätigten meinen ängstlichen Verdacht, dass etwas unbeschreibar Furchtbares vorgefallen war. Was bleibt mir noch zu sagen, es ist alles unwichtig, was weiter an diesem Abend geschah. Ohne Bedeutung war es, dass ich mich zu ihr niederwarf, sie in meine Arme nahm und hinauslief aus dem Haus der mit Karten und Menschen spielenden Teufel, die ich allesamt hätte umbringen wollen, doch das hätte nichts verändert, das Unglück war geschehen.
Die drei Lehrerinnen gingen mit uns zusammen ins Krankenhaus, für viele Stunden hockte ich innerlich abwesend vor einem Raum am Boden und wartete darauf, dass die letzte Trösterin mein liebes Mädchen verlassen würde. Ich versuchte, ein wenig in meinem kleinen Büchlein zu lesen, die Leiden des jungen Werther, von Goethe, das ich immer bei mir trage, es ist mein Lieblingsbuch, doch es war mir unmöglich, mich aufs Lesen zu konzentrieren. Nur ein Gedanke beschäftigte mich unablässig: Wie soll es nun zwischen meinem lieben Mädchen und mir weitergehen?
Es war tiefe Nacht, als ich mich zu ihr hineintraute und sie schlafend im Bett fand. Ich setzte mich zu ihr und wachte über die Schlafende, nahm ihre Hand, wenn sie vom Albtraum geplagt das Schreckliche nacherlebte, strich ihr beruhigend über die heiße Stirn, wenn ein kurzer Schrei des Albtraums Höhepunkt ankündigte.
Und was schon! Ich hätte die Geschändete auf Himmelswolken betten können, das Geschehene hätte sich auch dadurch nicht rückgängig machen lassen, nichts hätte ich dadurch wieder gutmachen können. Ich war schuldig. Ich hatte versagt. Nur ein einziges Mal hatte sie, die mir ein Schutzengel gewesen war, meinen Schutz gebraucht, nur dieses eine Mal, hätte die, die mich mit ihrer Fürsorge am Leben gehalten hatte, meine Hilfe bedurft. Da hatte doch wahrlich das Schicksal mir die Gelegenheit gegeben, Gutes mit Gutem zu vergelten, die Hand, die mich sooft geführt und gelenkt, hatte sich nach mir ausgestreckt, damit ich sie ergreife und schützend meine Faust drum herum schließe, sodass die weiße, reine Haut von dem Dreck der Welt unbeschmutzt blieb. Ich hatte mein liebes Mädchen, dieses unschuldige gütige Wesen, einsam und verlassen in die Dunkelheit schreiten lassen, in dem die Dämonen gelauert hatten, bereit, sobald die schwere Tür sich hinter ihr schloss, sich auf die Ahnungslose zu stürzen und ihr weißes, unbeflecktes Gewand mit ihrer Schlechtigkeit zu beschmutzen. Ein Ritter hätte ich sein können, wenn ich mit gezücktem Schwert und von gerechtem Jähzorn ergrimmter Stirn zur rechten Stunde der Bedrängten zu Hilfe gekommen wäre, die Bösen wären nur durch mein Erscheinen auseinander gestoben und hätten sich in ihren dunklen Ecken verkrochen. Doch was hatte ich getan? Ich hatte mich unholdem Treiben hingegeben, war ein verlachter, begrinster, verspotteter Schwächling in der Runde der Verschwörer gewesen! Wie siedend heißes Pech floss mir das peinigende Schuldgewühl durch die Adern bis zum Herz und füllte es mit bleierner Schwere. Gedanken unverzeihlichen Vorwurfs wühlten in meinem Kopf. Da saß ich in dumpfem, quälendem Selbstzweifel neben der schlafenden Kranken, deren Erwachen und dann auf mich gerichteter Blick ich fürchtete, wie der treulose Verräter die Augen des einstigen Freundes, den er in der Stunde der Not im Stich ließ. Im sterilen Zimmer, dessen weiße Wände im Halbdunkel von einer grauen Schicht übermalt waren, saß ich auf dem einzigen Stuhl bewegungslos. In meinem Innern war es finsterer als die Nacht vor dem Fenster. Ich blickte unablässig, wie gebannt auf das Gesicht der Schlafenden, das von dem runden, blass leuchtenden Antlitz des durch das Fenster schauenden Mondes trübselig angelächelt wurde. Wirre Haarsträhnen lagen auf dem weißen Kissen, die geschlossenen Augenlider zuckten manchmal leicht, als wollten sie sich öffnen, und wenn dann auch noch der laute Atem der Schlafenden leiser wurde, fürchtete ich, der Augenblick des Erwachens und die endgültige Verurteilung sei mir, dem Schuldigen, nahe. Ich war der Todgeweihte, der schlaflos dem Morgen seiner Verurteilung harrt, der die ersten Strahlen des frischen Morgens verflucht, weiß er doch, dass ihr Licht seinen Mördern leuchten wird. Als der Vorhang der Nacht sich langsam hob, das Zwielicht der Morgendämmerung die Konturen im Zimmer deutlicher erkennen ließ und die schützende Decke der Dunkelheit, in die ich mich gehüllt hatte, wegnahm, steigerte sich meine innere Unruhe zum Unaushaltbaren. Dieses Warten auf das Erwachen des Mädchens, dessen Zuneigung ich durch meine Schlechtigkeit, durch mein Versagen in Hass, Verachtung und Abscheu verwandelt haben musste, wurde mir schier unerträglich. Bei dem kleinsten Anzeichen, dass der Schlaf sich von ihr löste, wollte ich fliehen, so entschloss ich mich. Ihr lauter Atem brach ab, wurde gleichmäßiger, kaum noch hörbar, ich beugte mich über sie, war sie wach, öffnete sie ihre Augen? Ein erster sich durch den halbdunklen Raum tastender Sonnenstrahl erreichte ihr Bett, da, ihre Augen waren geöffnet, richteten sich auf mich! Welch anklagender Vorwurf aus ihnen sprach! Es war der Blick des unerbittlichen Richters, dessen Augen zum ersten Mal den ihm vorgeführten, schändlichen Verbrecher erblicken. Ihr Mund, der für mich bisher immer gesprochen, mich verteidigt hatte und mir nun spotten sollte, formte sich zum alles entscheidenden Wort. Da zerriss ich die Bande, mit denen ich mich selbst an meinen Stuhl gefesselt hatte, und entfloh, bevor des Richters unwiderrufliches Urteil fallen konnte.
Abwärts
Die Flucht vor diesen Augen und vor den für ewig mir ungesagt bleibenden Worten meines lieben Mädchens, deren Gesellschaft für mich die gleiche wohltuende Wirkung gehabt hatte wie eine heilende Medizin für den Kranken, und dessen Abwesenheit mich verstörte, würde nun enden, so hoffte ich, als ich wie benommen aus dem haltenden Zug stolperte, der mich in meine wahre Heimat zurückgebracht hatte. In meine wahre Heimat, sage ich und meine damit das Land, in dem ich geboren bin, nicht in die Scheinheimat, in der mich mein Vater einst verbannte. Ich hatte nur hierher zurückkehren können, dieses, mein Land, war der einzige Zufluchtsort, der mir noch geblieben war, nur hier glaubte ich mir noch Rettung und Duldung erhoffen zu dürfen. Es war eine fremde Stadt, in der mich der Zug ausgespien hatte, und doch, schon die ersten Schritte, die ich in ihr tat, ging ich guten Mutes; die sich um mir tummelnden Menschen, die meine Muttersprache redeten, begrüßte ich mit frohem Blick, alle aufgefangenen Sätze, Redewendungen, Gesprächsfetzen, die ich im Vorbeigehen aufschnappte, sprach ich halblaut nach, sosehr genoss ich, meine schöne Sprache wiederzuhören!
In den ersten Tagen in dieser heimatlich-fremden Stadt befand ich mich in einem Zustand freudiger Erregung, ich lebte richtig auf, war mir doch diese Rückkehr in die traute Heimat genauso willkommen wie dem verwundeten Soldaten, wenn er aus einem in der Fremde ausgekämpften Krieg zurückkehrt. Wir Menschen hängen an unserem Vaterland, sind wir zu lange fort gewesen, wallt heiße Sehnsucht zu den vertrauten Gefilden in uns auf und beginnt, unser Denken und Fühlen zu beherrschen, bis unser ganzes Streben sich nur noch auf eins richtet: heimzukommen, zurückzukehren zu den bekannten Menschen, den kleinen Erdteil in der großen Welt wiederzusehen, aus dem wir einst der Muttererde entsprossten und auf dem wir gedeihten, bevor wir von einer fremden Macht widerwillig fortgetragen wurden, gleich den Samen der Blumen, die der Wind auf ferne Felder weht.
In der Fremde fällt es uns schwer, neue Wurzeln zu schlagen, denn in keiner anderen Erde als der Muttererde treiben unsere Wurzeln so tief, dass wir uns entfalten können und hoch zum Himmel streben. Wenn aber einmal rausgerissen, von gewissenlosen rauen Händen gewaltsam entwurzelt und achtlos hingeworfen auf einen steinigen Acker und dort sich selbst überlassen, wird die zarte Pflanze nochmals Wurzel treiben in der harten Erde oder verwelken und zugrunde gehen?! Ich hatte es nicht vermocht, ich war auf ödem Acker verwelkt und hätte dort jämmerlich zugrunde gehen müssen, darum war ich nun zurückgekehrt in der Hoffnung, in der weichen warmen Muttererde nochmals Wurzeln zu schlagen.
Erst einmal ging ich wurzellos, haltlos, orientierungslos umher auf meiner Muttererde, durchkreuzte, umrundete die große Stadt, durchging die vielen Straßen hinauf und hinab, saß tagsüber und schlief des Nachts auf Bänken, Treppenstufen, in Parks und am Ufer eines die Stadt durchfließenden Flusses. Immer meinen Gedanken überlassen, immer mit mir selbst beschäftigt und meist in einer Verfassung tiefen Schwermuts und hilfloser Ratlosigkeit. Der selbstverschuldete Verlust eines vertrauten Menschen, die erzwungene, plötzliche Trennung von meinem lieben Mädchen, dem einzigen Menschen auf dieser weiten Welt, dem ich etwas bedeutete und der für mich wahrlich die allergrößte Bedeutung hatte, konnte ich nicht verkraften. Ein peinigender seelischer Schmerz überkam mich, den ich nun Tag für Tag mit mir herumschleppen musste. Die Erinnerung an das kleine bisschen Glück, was ich in Zweisamkeit mit meinem lieben Mädchen erfahren hatte und mir in Zukunft für immer versagt bleiben würde, überfiel mich oft, und die schönen Bilder, die dann vor meinem inneren Auge auftauchten, wurden von abrupt dazwischenfahrenden, spottenden, hänselnden Gedankenstimmen zerrissen, die Stimmen der von mir selbst wachgerufenen bösen Geister. Und wenn sie endlich verstummten, erschallte die klare eindringliche Stimme meines Gewissens, die mich darauf hinwies, dass ich ja selbst dieses Glück zerstört hatte.
Schon bald musste ich einsehen, dass ich in dieser Stadt keine neue Heimat finden würde, die Verkäuferinnen an den Kassen der Lebensmittelläden machten mir das deutlich durch die Art, wie sie mich bedienten, mit einer skeptischen, lauernden Freundlichkeit, die genau an meiner Erscheinung abgemessen war. Ich benahm mich nämlich, stand ich an der Kasse in einer Menschenschlange, auffallend, stierender, lebloser Blick, in steifer Körperhaltung erfroren, angestrengt darauf bedacht, meine innere Verzweiflung nicht zu zeigen, aber gerade dadurch verriet ich unbewusst meine totale Unangepasstheit, meine Fremdheit. Manche mögen meinen kläglichen Versuch, mich zu verstellen, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, durchschaut und meine Verlorenheit erkannt haben. Die Frauen an den Kassen, besonders die alten, sind Menschenkenner, ihnen genügt ein einziger Blick, um den an ihrer Kasse Stehenden zu beurteilen, so viel Übung beschert ihnen doch ihr Beruf im Angucken, Begucken und Beurteilen von Menschen, sie sehen sie alle, jeden Tag von Neuem, die erfolgreichen, die erfolglosen, die Alkoholiker, die tagtäglich ihre Flaschen kaufen, die alleinerziehenden Mütter mit den unerzogenen Kindern, sie müssen ja alle einkaufen, die Menschen, ob sie nun fröhlich sind oder betrübt, und an den Kassen stehen sie dann alle und werden in der kurzen Zeit des untätigen Herumstehens, wenn die Reihe an sie gekommen ist, von den Kassiererinnen mit einem falschen Lächeln und hämischen bis tief in die Seele dringenden Blick bedient und abgefertigt!
Mich plagte dieser Umstand immer mehr, ich ging manchmal unverrichteter Dinge wieder aus dem Laden raus, stellte das meinen hungrig-knurrenden Magen zugedachte Brot wieder zurück, weil ich den Kassiererinnen nicht begegnen wollte.
Ich fürchtete, entblößt zu werden, und so wurden nicht nur diese kurzen Begegnungen an den Kassen mir eine Zumutung, vor der ich mich scheute, sondern auch das Passieren von Passanten, die mir auf meinen alltäglichen Streifzügen durch die Stadt entgegenkamen; ich begann ihnen aus dem Weg zu gehen, wählte rechts, gingen sie links, ja, ich machte oft eine regelrechte Kehrtwendung, wurde ich einem anderen Menschen ansichtig, sogar Hindernisse wie Zäune und viel befahrende Straßen überwand ich, gab es keinen anderen Ausweg. War im Grunde ja auch gleichgültig, welche Richtung ich einschlug, hatte mein Herumlaufen doch sowieso weder Ziel noch Zweck. Die Menschen dieser Stadt stachen sich in ihrer Geselligkeit von mir ab, es geschah manchmal, dass ich in den Einkaufsstraßen in ihren Strom hineingeriet, dann tat ich gleichgültig, ich stülpte mir eine Maske der Täuschung über und beschleunigte meine Schritte.
Mein ganzer Trost ist mein kleines Büchlein, mein Goethe, in dem ich nun sehr viel lese.
In diesem in der Form eines Tagebuchs gegebenen Bericht eines leidenden Menschen vertiefe ich mich gerne in der Einsamkeit eines stillen Parks, die arme, beklagenswerte Hauptperson des Buches spricht zu mir wie zu einem Gleichgesinnten, als sei ich ein Eingeweihter in diesem Universum des Schmerzes. Ich erkenne die tiefe Bedeutung jedes einzelnen Satzes, sie sind für mich in klarer und leicht verständlicher Sprache geschrieben, an manchen Stellen will ich rufen: „Ja! Ja! So fühl ich auch!“
Und doch ist es nicht mehr so wie früher.
Manchmal, wenn ich lese, begehre ich voll inbrünstiger Entrüstung gegen den Verfasser auf, der, so finde ich, in seinem Werk ein Bild von einem Menschen geschaffen und ihn zum höchsten Sinnbild menschlichen Leidens auserkoren hatte, dessen Schmerz und Leid trotz aller Dichtkunst und allen Einfühlungsvermögens die furchtbare Realität eines wirklichen lebenden, von der Welt gänzlich ausgeschlossenen leidenden Menschen nur annähernd beschreibt. Verdient dieser erdichtete, nur auf Papier existierende Werther, der sich auf manchen Seiten des Buches der Gesellschaft ihn liebenden Menschen erfreuen darf, so viel Mitleid, so viel Bedauern, dass jeder das Buch Lesende ihm darbringt, welche gegen den Himmel schreiende Ungerechtigkeit ist es, dass der lebende, leidende Mensch, der mit jedem Atemzug vergiftete Luft einatmet, hier auf Erden in völliger Einsamkeit dahinsiechen muss.
Ist es nicht wie ein mit viel Pracht und Trallala groß inszeniertes Schauspiel, eine Tragödie, in der die bemitleidenswert Leidenden, die Unglücklichen mit vor dem Spiegel eingeübten Grimassen mit schönen reimenden Versen und vielen Gesten und Gebärden dargestellt werden, eine Schauspielerei, die, wenn der Vorhang gefallen ist, gehörig beklatscht wird, derweil die wirklich Leidenden und Unglücklichen draußen vor dem herrlich erleuchteten prunkvollen Schauspielhaus in Dunkelheit und Einsamkeit auf dem steinigen Vorplatz übersehen dahinschleichen. Welch eine erbärmliche Bühne!?!
Der im Buch beschriebene Mensch, dieser Werther, gleicht mir, ich kann mich in ihm wiedererkennen.
Seine innere Welt ist ihm mehr wert als die äußere. Mir auch! Seine von seiner regen Gedankenwelt bedingte Abkapslung wird ihm angelastet, dieses Zurückziehen in seine innere Welt wird von den verständigen, den Bücheranalysten, den Lektoren als ein Zeichen der Schwäche gedeutet, als ein Makel des Geistes, das wird mir, würde ich mich einem Mitmenschen anvertrauen, als eine gefährliche Charakterschwäche vorgeworfen, ich würde den Tadel überhören, bestenfalls belächeln, weiß ich doch, dass diese meine Überzeugung meiner wahren Natur entspringt, denn ein wohldurchdachter, dem eigenen Geist entsprungener Gedanke ist mehr wert als alle die leeren durchkauten Sätze, die man im Gespräch mit einem Mitmenschen austauscht!
Werther fühlt sich von der großartigen Natur magisch angezogen, in ihrer Vielfältigkeit und Schönheit erlebt er die wahren Werte des Menschseins, im Einklang mit der Natur befreit sich sein beschwertes Herz von dem von Menschen zugefügten Schmerz und jubelt!
Ich juble auch und vergesse mein eigenes Ungemach, liege ich auf einer sonnenbeschienenen Wiese in dem einzigen Park der Stadt, ist mein Kopf so in dem weichen, fruchtbaren Boden der Natur eingebettet, glättet sich die sorgenvolle von Kummer gezeichnete Stirn, das von den errichteten Trugbildern der Menschen getrübte Aug öffnet sich und tränkt sich an der reinen, strahlend blauen Himmelsquelle!
Oft entflieh ich dem Menschengedränge der Stadt, von einer inneren Drangsal angetrieben, schreite ich vorwärts, bis ich die von Menschen heimgesuchten Plätze und Straßen hinter mir gelassen habe und der mir heimelig gewordene Park mich aufnimmt, dessen grüne Farbenpracht mir zwischen den hohen grauen Mauern der Häuser schon von Weitem verlockend zuschimmert. Dieser Park, dieses von Menschenheerscharen umwogte und von Steinbauten umzingelte Stückchen Natur, gibt mir Zuversicht, Lebenskraft und Trost!
Die Stimme meines Gewissens will mich belehren, flüstert mir manch vernünftigen Gedanken ein; dass es bald Winter würde, dass ich mich an die Menschen wenden sollte, um bei ihnen Hilfe zu suchen, oder dass ich diese Stadt verlassen sollte und schleunigst zurückkehren müsste. Die allwissende Stimme weiß auch wohin: in die Scheinheimat. Ich werde es nicht tun, warum sollte ich?!
Aber ich habe vor nach dem Vorbild Werthers ein Tagebuch zu schreiben, ich glaube es wird nützlich für mich sein, mich selbst einmal, sozusagen von außen, zu betrachten.
Das Tagebuch
25. August
Mir wird es immer unerträglicher, in dieser Stadt zu sein. Sie ist voll von Menschen, überall, wo man geht, tauchen sie auf, diese Menschen, quellen als in die Straße sich ergießender Ausguss aus Untergängen hervor, prallen einem hinter Hausecken entgegen, sie überrennen mich, der Druck der Menschenmassen zerdrückt mich, ich muss ersticken in dieser mich umgebenden Menschenfülle, nirgends lassen sie mich in Ruhe. Immer und überall verfolgen mich ihre forschenden Blicke, fand ich endlich eine leere Bank, ein stilles Plätzchen des Friedens und der Abgeschiedenheit und lasse mich voll Erleichterung, voller Wohlbehagen, dem lechzenden Menschenhund entkommen zu sein, auf der Bank nieder, schon kündigt sich mit lautem, in meinen Ohren widerlich klingendem Stimmengebell, oh, wie verhasst sind mir diese Laute!, das Nahen von Menschen an, sodass ich aufspringe, gehetzt davoneile, gleich einem Reh, das von der Meute aufgeschreckt sein Heil in der Flucht sucht.
Es ist wunderlich, sosehr ich mich auch mit dem Gedanken versuche anzufreunden, die Mitmenschen seien mir gut gesinnt, sosehr ich in ihrem Verhalten, Benehmen und den miteinander geführten Gesprächen versuche, mich selbst wiederzuerkennen, es ist ein hoffnungsloses Begehen, immer weiter entferne ich mich von ihnen mit großen unaufhaltsamen Schritten, mit jedem Tag in dieser Stadt wächst die Kluft zwischen meinen Mitmenschen und mir. Ich bin voller Auflehnung gegenüber der Menschheit, ich unterscheide mich sehr von ihnen, habe einfach nichts mit ihnen gemeinsam.
Nur an einem Orte in dieser Stadt halte ich es aus, in ihrer Gesellschaft zuzubringen, und das ist der riesige unübersichtliche Bahnhof, in dem von früh morgens bis spät in der Nacht der Verkehr der Züge und Reisenden herein- und herausdrängt, in dieser Atmosphäre des stetigen Aufbruchs fühl ich mich wohl, hier sind sie alle so wie ich: fremd, unbekannt, unerkannt. Die Reisenden sind, solange sie in diesem Bahnhof verweilen, heimatlos, denn alle Bahnhöfe sind aus Gleisen, grauen Wartehallen und langen endlosen Bahnsteigen bestehende Zwischenstationen, wo niemand bleiben darf, geschweige denn will oder gar zu Hause ist.
Eine an einem der hohen weißen Wänden dieses Bahnhofs angebrachte enorme Uhr zeigt das unaufhörliche Verstreichen der Zeit an, ihre balkenähnliche Zeiger bewegen sich mit einer solchen Wuchtigkeit, dass ein kurzer scheuer Blick auf diese ungeheure Zeitmaschine ausreicht, die Menschen in Zeitnot zu bringen. Diese Höllenuhr versetzt jeden Reisenden in wilde Panik, er ängstigt sich sogleich, er könne zu spät kommen, der Zug sei bereits abgefahren, er sei hier zu lange schon gewesen, seine Zeit sei nun abgelaufen. Diese riesenhafte Uhr ist für alle von den Zügen hierher Gebrachten gut sichtbar, das Erste, was sie sehen, ist unweigerlich dieses Ding, sie werfen ein Blick darauf und schon wissen sie Bescheid: Ihre Zeit läuft ab. Es ist die Uhr, die bestimmt, wie lange Neuankömmlinge bleiben dürfen. Manchem wird nur eine kurze Zeit in diesem Niemandsland gewährt, bevor er es wieder verlassen muss, andere werden von der Uhr für Stunden geduldet, dann aber bleibt ihnen nur eine kurze Frist, es zu verlassen. Alle Bürger des Niemandslandes halten sich an diese Regeln, denn die Zeitüberschreiter, die, die nicht weiterreisen wollen, aus welchen Gründen auch immer, werden, ohne es sich bewusst zu sein, in diesem Niemandsland zu Gefangenen, denn das große Zeitungeheuer verschweigt ihnen das Vergehen der Zeit, es verschleiert sich, wenn die Zeitüberschreiter hochblicken, sodass die Armen glauben, es seien nur ein paar Stunden vergangen, seitdem sie hier eingetroffen sind, in Wirklichkeit sind es aber schon Tage, aus denen Wochen und Monate werden. Schlussendlich werden diese Zeitlosen hier im Niemandsland zu grauen Gestalten, an den schmutzigen Wänden sitzend.
Dieser Bahnhof ist ein eigenes, in sich abgeschlossenes Land, ich nenne es Niemandsland, weil die Bürger dieses Landes, die es bevölkern, sich aneinander nicht kennen, aneinander fremd sind; dieses Niemandsland also besteht aus mehreren Etagen, auf der obersten führen die blanken Gleise, symmetrisch zueinander gelegen, heraus. Sie verlaufen alle in einer Richtung, man mag vermuten, die Züge, die auf ihnen herausfahren, hätten das gleiche Ziel, es ist ein Irrtum, weiter hinten, außerhalb des Bahnhofs verzweigen sich die Gleise in die verschiedensten Richtungen, anderen Niemandsländern entgegen.
Dieses Niemandsland sowie alle Niemandsländer dürfen keinen Himmel haben, über sie darf am Morgen keine lichte Sonne aufgehen und am Abend keine rote Glut verglimmen, denn die Bürger könnten vom Licht der Sonne getäuscht, sich dem Irrglauben hingeben, die Erde unter ihnen wäre Muttererde, man sollte vielleicht doch ein wenig länger bleiben.
Das Niemandsland dieser Stadt hat aus gutem Grund einen Metallvorhang, der, hoch über den Köpfen der Bürger, wie ein schwarzer Schirm ausgespannt ist. Hier auf der obersten Etage gibt es ein kreisrundes Loch von großem Umfang, durch das man in die darunterliegenden Etagen hinabschauen kann. Steht man an seinem Rand und blickt nach unten, ist es einem, als schaue man in einen tiefen Brunnen, der von unnatürlich grellem Licht und einem Ameisenhaufen gleichender Lebhaftigkeit erfüllt ist.
Ich steh hier oft, auch heute bin ich für mehrere Stunden herumgestanden, es ist meine Lieblingsbeschäftigung geworden, die mir ein wenig Kurzweil und Ablenkung verschafft, hier oben am Lichtbrunnen des Niemandslandes zu stehen, in dem sich die Menschen, die vielen Bürger des Niemandslandes, in all ihrer Verschiedenheit und Sonderlichkeit zu einem bunten Knäuel ineinander verwickeln, um sich dann, geschickt mit großer Emsigkeit, wieder auseinanderzuwinden, in alle möglichen Richtungen verlaufen sie sich, jeder von ihnen ist ein bunter Faden, dessen Verlauf ich für eine kurze Weile interessiert verfolge. Im Betrachten der Menschen finde ich Muße, ja der aus dem Abstand von oben betrachtete Mensch erweckt in mir so etwas wie Anteilname an seinem Dasein, das ich sonst in seiner unmittelbaren Nähe nie fühle. Sein Getue, sein Gesicht erscheinen mir aus der Ferne irgendwie interessant, alle diese Menschen dort unten können mich nicht sehen, es sei denn, sie schauten auf, was kaum einer tut, von hier oben sind sie unscheinbar, sie gleichen sich bewegende Spielfiguren in einem Glaskasten, und ich werde bei ihrem Betrachten wieder zu dem kleinen Jungen, der ich einst war, das Kind, das mit Staunen und Begeisterung in die Welt schaute.
26. August
Ich blickte heute sehr lange, wie lange weiß ich nicht, für eine lange Zeit auf jeden Fall, in den Lichtbrunnen. Neben mir, in stillschweigendem Einverständnis, in sicherem, wie mit einem Messband, fein abgemessenem Abstand stand eine zweite Person, die so wie ich in passiver Untätigkeit über dem Geländer hing, mit den Augen einem der dort unten Herumirrenden folgend.
In regungsloser Haltung gebannt waren wir beide, als hätte man uns hier aufgestellt, als seien wir Beobachtungsposten, die alles, was sich da unten bewegt, alles, was da unten vorgeht, registrieren sollten.
Der andere war ein kleiner alter Mann, er steckte in einem braunen Mantel, auf seinem Kopf thronte ein altmodischer Hut, sein Gesichtsausdruck war verwirrt und verwundert zugleich.
Alte Menschen machen solche Gesichter, wenn sie nicht ganz begreifen, was um sie herum geschieht.
Tat einer von uns einen Schritt zur Seite, das kam hin und wieder vor, um die müden Beine zu locken oder den Standfuß zu wechseln, und rückte dem anderem so ein klein wenig näher, tat dieser schnell einen Schritt weg, um so den angemessenen Abstand wiederherzustellen. Wir hätten uns nach solch einem Herumgerücke gegenseitig zunicken können, und es hätte bedeutet: stimmt so?!
Zwischen uns zwei Stummen herrschte ein stilles Einvernehmen, wir fühlten schon bald eine Art Zugehörigkeit, waren wir doch beide stille Beobachter, scheinbar leblose Statuen, die das Menschenleben nur mit starrem Auge wahrnahmen, nicht aber daran teilnahmen. Wir waren die Zuschauer, die sich mit dem bloßen Zuschauen begnügen mussten. Wir begafften all die dort unten sich geschäftig tummelnden Menschen, bestaunten ihr freies, natürliches Betragen und die Leichtigkeit, mir der sie Menschen waren, so sorglos, so beherzt schritten sie kräftig aus. Sie lachten einander zu, redeten durcheinander, erzeugten zusammen eine Geräuschwolke von menschlicher Fröhlichkeit und Lebensfreude, die zu uns hochstieg und der wir andächtig lauschten. Mir fielen ein junger stolzer Mann und ein nettes schönes Mädchen auf, die mitten in dem Menschengedränge eng aneinandergedrückt standen, ihre Gesichter berührten einander fast. Ich konnte von hier oben sehen, wie sich ihre Lippen bewegten, sie sprachen miteinander, für mich unhörbar, darum war es mir, als würden die beiden sich die Worte gegenseitig von den Lippen lesen, die sie zärtlich küssten. Sie hatten nur Augen füreinander, trotz der vielen Menschen, die sie andauernd umkreisten.
Ich fragte mich, sie eingehend betrachtend, wie Menschen sich so nahe sein können, ihre Zuneigung, ihre Hingabe für einander wirkte echt; wie so oft im Anblick eines Liebespaares schämte ich mich für meine Einsamkeit, ich wollte die Menschen lieben und von ihnen geliebt werden. Für Augenblicke entflammte ein heller Lichtschein in meinem von schwarzen Nichts erfüllten Herzen, ich glaubte, mich in meinen Mitmenschen getäuscht zu haben, doch diese Empfindung verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war.
Ich konnte die gleiche Frage, also die Frage nach menschlicher Liebe, auf der gerunzelten Stirn des Alten lesen, dessen trüb blickende Augen wie auch die meinen voller Neid und Bewunderung an dem Liebespaar gehangen hatten.
30. August
Gibt es sie? Oh, gäbe es sie doch, die vereinende Liebe, die heilige Kraft, die mit Bändern, geflochten aus Zuneigung und Treue, die Seelen der Menschen verbindet, ja fest und stark zu einem unzerreißbaren Gewebe verwebt und den Menschen aus seiner Einsamkeit befreit, einer Einsamkeit, die er ihr nicht zu entrinnen vermag, mit jedem Schritt, den er ohne Begleitung auf seinem Lebensweg wandelt, die ihm umgebende Schönheit und Vielfältigkeit raubt. Sein Ohr taub macht für den betörenden Gesang des Vogels, sein Aug blind für das Licht der Sonne, sodass seine Umgebung bald zur trostlosen Wüste wird, in der der verlorene Mensch im Kreise herumirrte, bis der Tod ihn von seinem Elend erlöst.
Die Liebespaare können mich nicht lange täuschen mit ihren zärtlichen Spielen. Warum küssen sie denn des anderen Mund? Wohl nur, um die Sanftheit ihre eigenen Lippen zu spüren, um die eigenen Lippen geküsst zu bekommen, nicht, um die anderen zu küssen. Warum streicheln sie denn die andere Haut? Ist es nicht um ihrer selbst willen, dass sie alle diese Zärtlichkeiten darbringen, denken sie nicht wie der Händler, der die süße, blank geputzte Frucht dem Käufer reicht, wohl wissend, dass man ihn für seine schönen, die Frucht preisenden Worte bezahlen wird?!
„Du irrst dich“, widerspricht Werther neben mir, wiederholt schüttelt er den Kopf, so rege, dass ihm die gescheitelten Haare zur Seite fallen, er ist wie so oft erregt, seinen ganzen Körper durchläuft ein stetiges Beben, seine fein gezogenen, geradlinigen Gesichtszüge sind ein wenig verzehrt und verzogen. Der gute Mann hat ein äußerst unruhiges Wesen, er ist in dieser Hinsicht ganz das Gegenteil von mir, der ich so ruhig dasitze und so leise, fast flüsternd rede.
Er ist nun mein einziger Freund, den ich noch habe und in dessen Gesellschaft ich viele geruhsame Stunden zubringe. Wir sitzen den lieben langen Tag auf meiner Bank im Park und sprechen im vertrauten Ton miteinander. Zugegeben, ich sitze da alleine, lesend in meinem kleinen Büchlein, und doch ist es mir eben, als säße die Hauptperson, Werther, neben mir, so stark habe ich ihn in mir wachgerufen, mit jeder Seite, die ich las, nahm er Konturen an. Sein Gesicht erschuf ich zuerst, meine Vorstellungskraft malte mit feinen Pinselstrichen den zierlichen Mund, die hohe gerade Nase, die schön geschwungenen Augenbrauen über den hellen, klaren Augen.
Es ist ein schönes Antlitz, das in seinem Ausdrucksvermögen und seiner Reinheit den feinfühligen, zerbrechlichen Charakter meines lieben Freundes offenbart.
Die großen Gefühle, die dahinter das Gehirn unablässig martern, verdunkeln des Öfteren mit gespenstischen Schatten den lichten Spiegel und lassen auf der hohen Stirn des innerlich Leidenden feine Falten hervortreten.
War erst einmal sein Gesicht vollendet, bildete sich der Rest von Werthers Gestalt wie von selbst nach. Die Glieder fügten sich mit Fleisch und Haut zu einem schmächtigen Körper zusammen, bis die Person aus dem Buch schlussendlich in leibhaftiger Form vor mir stand.
Schon in der ersten Stunde, in der ich mit Werther zusammen auf der Bank saß, es war heute Morgen in aller Früh, auf den Wiesen des Parks glitzerte der frische Tau in der Morgensonne, und er mir mit großer Innigkeit und Inbrunst von seinem schweren Kummer erzählte, bereute ich ihn zum Leben erweckt zu haben, so groß war der seelische Schmerz der aus jedem seiner Worte herauszuhören war. Es ist mir unangenehm, ihn beim Erzählen ins Gesicht zu sehen, seine dünnen, fahlen Lippen zucken zwischen den einzelnen Sätzen, die Augen sind vom Tränenschleier verhüllt, unstet blicken sie umher. Es hat den Anschein, als würde er in der Erinnerung an Vergangenes all die Mühsal und grausige Seelenpein, die er einst durchlitten und von dem er mir nun mit seinen eigenen Worten kundtut, erneut durchleben. Er hat sich, so mein Eindruck, auch nach seinem Tod von dem ihn verzehrenden Liebeskummer nicht befreien können. Ich höre ihm hingebungsvoll zu, mit reger Anteilnahme an seinem Leid nehme ich jedes seiner Worte in mir auf, er hat in mir einen aufmerksamen Zuhörer, dessen Mitleid und Verständnis ihm sicher sind. Der Arme, war er doch maßlos, ach, was sage ich, ist er offenbar noch immer in dieses Mädchen, in diese Lotte verliebt, eine Liebe, die ihn ganz von Sinnen macht. Noch nie habe ich einen Menschen getroffen, der von einer Leidenschaft so sehr erfüllt ist, dass alles andere auf dieser Erde im nichtig erscheint, all seine Gedanken und Empfindungen sind ganz allein auf dieses Mädchen gerichtet. Es wird mir deutlich, dass der arme Werther sich in diesen ihn verzehrenden Liebeskummer völlig hineinsteigert. Er ist die Fliege im Netz der Spinne, die von unsichtbaren Fäden gefangen ist und mit jeder Bewegung, mit jeder gewaltigen Anstrengung ihrer dünnen Beinchen und trotz verzweifelter Bemühungen die Freiheit zu erlangen, sich immer dichter im Todesnetz verfängt.
All sein Sinnen, all sein Denken konsentriert sich darauf, seine Leidenschaft erfüllt zu sehen, er kann sich auf keiner anderen Weise aus diesem Netz des Verlangens befreien, als durch die Erfüllung seines begehrlichsten Wunsches seine Gefühle erwidert zu bekommen.
„Mein lieber Werther“, richte ich das Wort an ihn und unterbreche so seinen sich über mich ergießenden, die Vortrefflichkeit seines geliebten Mädchens preisenden Redeschwall.
„Du meinst, ich irre mich in der Annahme, die Liebe der Menschen sei falsch. Ich aber behaupte, dass diese sogenannte Liebe, und ich rede wohlgemerkt jetzt von der Liebe zwischen Mann und Frau, nichts weiter ist als ein eigennütziger Handel zwischen zwei eitlen Menschen, die das Bedürfnis von menschlicher Nähe zu befriedigen suchen, die sich nur auf den Arm des Starken stützen wollen, die nur in dem Glanz des Schönen und Erfolgreichen sich sonnen wollen, die des Weisen wohldurchdachte Worte im Flüsterton nur für die eigenen Ohren bestimmt wissen wollen; sie wollen dies und sie wollen jenes, und das nennen sie Liebe! Du sagst du liebtest, liebst“, verbesserte ich mich und lächelte sarkastisch, „glaube mir, es ist nichts anderes als Begierde, du bist der Bettler, der die wunderschöne Tochter des Königs begehrt, du begehrst ihre jugendliche Schönheit, du begehrst den reichen Schmuck, der ihr ums weiße Handgelenk prangt, um ihren schmalen reizenden Nacken hängt, und in deiner wahnsinnigen, kopflosen Leidenschaft, in deiner grenzenlosen, ungezügelten Begierde brichst du die Tür zu ihrer Kammer ein!“
Werther antwortete nicht, er war von meiner Seite verschwunden, ich kam zu mir, mein Buch lag mir in den Händen, verwirrt schaute ich mich um, suchend nach dem Enteilten. Ein Spaziergänger und sein Hund, ein großes widerliches Tier, ich hasse Hunden noch mehr als die Menschen, standen vor mir und sahen mich verwundert an.
Was gibt es da zu glotzen, erzürnte ich mich innerlich, ist es nicht erlaubt, auf einer Parkbank zu sitzen und sich zu unterhalten?
Ich steckte mir mein Büchlein in die Tasche und suchte querfeldein das Weite.
3. September
Manchmal kommt es vor, dass die Menschen mich anreden.
Es passierte heute, als ich im Niemandsland am Lichtbrunnen stand.
Der Alte gesellte sich wieder zu mir, hielt aber nach wie vor einen gewissen Abstand, der sich, es entgeht mir nicht, Tag für Tag ein klein wenig verringert.
Wir sind beide damit einverstanden. Eine angenehme Stille innerer Gleichgültigkeit und Gelassenheit hat sich in mir ausgebreitet, die nervöse Angespanntheit der ersten Tage in dieser Stadt ist verflogen.
Ich glaube, es gibt dafür eine einfache Erklärung: Ich habe mich selbst aufgegeben. Nun, es ist nur zu wahr, ich weiß wahrlich nicht, wie es für mich weitergehen soll.
Das bedrückt mich aber überhaupt nicht.
Weitergehen, warum muss denn alles immer weitergehen?!
Wir Menschen haben nichts anderes im Kopf als unser eigenes Leben, wir überdenken es jeden Tag von Neuem, unzählige Male haben wir es schon durchdacht, ob es ein gutes Dasein ist, fragen wir uns, ob wir denn auch damit zufrieden sind.
Natürlich nicht! Vom ersten Gedanken, der sich am Morgen, wenn wir erwachen, schlaftrunken in uns regt, bis zum letzten, den wir im betäubenden Halbschlaf wahrnehmen, grübeln wir über unser Lebensglück nach, wir benutzen unsere gesamte geballte Geisteskraft, nur um Angelegenheiten, Sachen und Dinge zu bedenken, die mit unserem eigenen Leben auf irgendeiner Art und Weise in Verbindung stehen.
Oh, was der ehrgeizige Mensch nicht alles zu bedenken hat!
Und immer wieder fragt er sich, ob die anderen ein besseres Leben haben, eilen sie ihm voraus auf dem Lebensweg, ist sein ganzer Lebensspaß dahin, hinken sie ihm nach, sputet er sich, damit die anderen ihn ja auch nicht einholen. Ich bin es leid!
Ich habe keine Ahnung, wie viel Uhr es war, es muss so um die Mittagszeit gewesen sein, das schloss ich aus der Dichte der unter sich und um mich drängenden Menschenmassen, ich stand wie gewöhnlich mit den Armen auf dem Geländer des Lichtbrunnens verschränkt, den Blick in die Tiefe gerichtet, da geschah es: Ein menschliches Wesen trat nah neben mich hin in den etwa einen Meter im Umkreis messenden Kreis hinein, in dem ich die Anwesenheit eines anderen Menschen nicht lange ertragen kann, bevor ich zurückwich und erneut einen mich schützenden Kreis mit peinlicher Genauigkeit um mich zog. Schon erhob ich den linken Fuß, um ihn weiter links wieder abzusetzen, der Grenzüberschreiter war von rechts einmarschiert, doch mitten in dieser Bewegung spricht der Eindringling mich an, was dazu führte, dass mein Fuß im gleichen Moment unschlüssig in der Luft verharrte. Aus meinen Gelenken verschwand alle Gelenkigkeit, meine Knochen wurden zu einem unbeweglichen, eisernen, festgeschraubten Skelett.
So geht es mir jedes Mal, wenn ein Fremder mich anspricht, ja, wenn ich nur den leisesten Verdacht habe, dass ein unbekannter, sich in meinem Umfeld befindender Mensch, mich gedenkt anzusprechen, vielleicht um ein Gespräch zu beginnen, dann ergreift mich die kalte Furcht, sosehr bin ich den Menschen entfremdet, dass ich verlernt habe, mit ihnen umzugehen, zwar die Sprache beherrsche, aber nicht mehr imstande bin, sie im freien, ungezwungenen Plauderton anzuwenden.
In den letzten Jahren habe ich wenig geredet, in den letzten Wochen überhaupt nicht mehr, und wenn, dann einsilbig ein mühsam hervorgepresstes Danke als Erwiderung auf die Anrede der Verkäuferinnen. Es ist mir eine Anstrengung, die Stimme zu gebrauchen. Außerdem fühl ich mich, noch bevor das erste Wort gefallen ist, ganz und gar außerstande, dazu beizutragen, dass ein angefangenes Gespräch weitergeführt werden kann.
„Entschuldigung!“ Es war ein gerade mit einem Zug im Niemandsland eingetroffener Neuankömmling. „Sie sind von hier?“
Ich verneinte, mein „Nein“ klang wie das letzte hervorgehauchte Wort eines Sterbenden. Der Neuankömmling musterte mich eingehend, prüfend, dann lehnte er den Oberkörper weit über das Geländer und ließ interessiert seine Augen über die Menschenmenge schweifen. Ich war für das Geschehen da unten blind geworden, ich nahm nur noch einen Menschen war, nämlich den, der sich in meinem Schutzkreis befand, verstohlen betrachtete ich ihn. Es war ein junger Mann, wohl ungefähr in meinem Alter, modisch nach oben frisiertes Haar wuchs auf seinem Kopf gen Himmel, die Augen blickten wach und lebhaft.
Er hätte mein Freund sein können, kam mir der merkwürdige Einfall, wir beide, die wir hier im Niemandsland zusammengefunden hatten, hätten zwei gute Freunde sein können; plötzlich erschien mir nichts erstrebenswerter, als mit diesem mir auf Anhieb sympathischen jungen Mann eine lebenslängliche Kameradschaft zu schließen. Die Vorstellung belebte meine vom untätigen Herumstehen ermüdeten Sinne, beflügelte meine Fantasie, schon sah ich mich mit dem jungen Mann in heiterem Gespräch hier Schulter an Schulter stehen und seine aufmerksamen Augen ruhten mit dem Ausdruck von Wohlwollen auf mir, er lächelte belustigt über meine schalkhaften Worte.
Wahrlich, so wird es sein!, durchzuckte mich der süße, verheißungsvolle Gedanke, bestimmt hat das Schicksal seine Schritte mir entgegengelenkt, damit diese Freundschaft geschlossen werden kann, unbedingt muss es so sein, glaubte ich, und wer weiß, diese Freundschaft wird der Anfang sein des von mir so innig ersehnten Glücks, das ich zu finden in die Heimat zurückkehrt war!
Ich wartete ungeduldig darauf, dass er ein zweites Mal sich mir zuwenden würde, ach, wie ich diesen Augenblick heransehnte! Mir würde schon eine passende Erwiderung einfallen, die Steifheit meiner verkrampften Zunge würde sich wie durch Zauber lösen. Kraftvoll wollte ich reden, nahm ich mir vor, meinem neuen Freund vielleicht sogar verwegen zuzwinkern, oder sollte ich alles wagen und ihm auf die Schulter klopfen? Nein, zügelte ich mich selbst, das wäre wahrhaftig übertrieben. Da erklang eine weibliche Stimme hinter uns, ein entzücktes „Hallo, da bist du ja!“ brachte meinen vermeintlichen Freund dazu, sich von mir abzuwenden, er fuhr herum, ein schlankes Mädchen warf sich in seine Arme. Als die beiden verschwunden und ich mit dem Alten wieder allein an dem Geländer stand, wütete ich gegen mich selbst!
Ich Tor, hatte ich geglaubt, das Schicksal würde mich beglücken, der Unglückliche wird nicht beschenkt, ihm wird nur vorgegaukelt, was er hätte haben können, um seinen Schmerz zu vermehren. Ha, sagtest du Schicksal, verlachte ich mich selbst, sprachst du vom Schicksal?!
Du Versager, was plapperst du da vom Schicksal.
Hättest du nur beim ersten Mal, als man dich anredete, mehr gesagt als ein zweifellos, unfreundlich klingendes „Nein“, dann hättest du deinem Schicksal dein Leben aus den geizigen Händen gerissen! Diese Erkenntnis überkam mich mit erdrückender Heftigkeit und entfachte in mir eine meinen Körper wie einen Fieberschauder durchwallende Hitze. War also dies die Erklärung meines bisherigen Scheiterns?
Ja, hiermit ist der untrügliche Beweis erbracht, stellte ich fest, dass ich nicht die Kraft besitze, mein Leben selbst zum Guten zu wenden. Und wenn ich dazu nicht die Kraft habe, überlegte ich weiter, ist meine Lage aussichtslos!
Als ich mich schließlich von dem Geländer löste, das meine Hände umklammert hatten, als wäre es ein Ast im tosenden Meer, ging ich gesenkten Hauptes an dem Alten vorbei. Ich wollte seinen verständigen, mitleidigen Blick nicht auf mir sehen.
5. September
Es ist schön, hier im Park zu sitzen. Am lieblichsten ist es jetzt am frühen Morgen, wenn die Menschen noch alle schlafen und ich die Natur ganz für mich alleine habe. Zwei große Lindenbäume recken ihre Zweige über meiner Bank aus, durch das vom Herbstwind entlaubte Geäst fallen die ersten Strahlen der Morgensonne und zeichnen mit zitternden Händen auf dem die Erde bedeckenden, in braunen Farben gewebten Blätterteppich unstete Lichtflecken ab.
Munter zwitschert eine Spatzenschar, die sich im Schilf des kleinen Teiches niedergelassen hat, dessen Ufer ich so nahe sitze, dass ich, würde ich meine Beine nur ein wenig ausstrecken, meine Füße ins kühle Wasser tauchen könnte, auf dem zwischen den rosaroten Blüten vieler Seerosen und dem von den Bäumen niedergefallenen Laub zwei schnatternde Enten gemächlich dahinschwimmen.
Hier ist mein Lieblingsplätzchen.
Ich kann für Stunden still dasitzen in scheinbarer Untätigkeit, doch nur mein Körper ist schlaff und regungslos, in meinem Geist strömen die Gedanken und Empfindungen ohne Unterlass, hervorgebracht von all der Pracht und Herrlichkeit, die sich meinen Augen bieten. Voll seelischer Wonne ruht mein Blick auf der sich vor mir ausbreitenden Natur, ich lausche dem Wind, wie er sanft durch die hohen Schilfrohre streicht, begleite ein Blatt mit den Augen auf seinem schwebenden Flug vom hohen Zweig zur Erde nieder, und mit einem Mal entdeckt mein forschendes Auge ein kleines Käferchen, das zu meinen Füßen herumkriecht.
Werther hat sich gerade zu mir gesetzt, er scheint mir, so wie ich es bin, von der vielfältigen Natur ganz verzaubert, in staunender Betrachtung vertieft sitzt er da, die Hände in den Schoß gelegt. Auch er ist auf den flinken Käfer auf der Erde aufmerksam geworden, nun beugen wir beide die Köpfe tief über das kleine Tierchen und bewundern seinen leicht blau schimmernden Körper, seine einzigartige Schönheit lässt unseren Atem stocken.
Das Käferlein fliegt auf und wir folgen seinem Flug über den Teich, bis es in sonnendurchtränkter Luft entschwindet.
«All dies», sage ich zu Werther mit tiefem, von Herzen kommendem Ernst, der von meiner schwermütigen Stimmung herrührt, in der ich mich nun schon seit Tagen befinde, «hier die Natur ist das einzig Wahre in dieser Welt. Es ist in der Natur, dass der Mensch die Wahrheit seiner eigenen Existenz erkennen kann. Nicht da draußen», mit einer läppischen Handbewegung deute ich in Richtung der Parkmauer, gegen dessen der Straße zugewandten Seite das erwachende Leben der Stadt brandet. «Da draußen verwirrt sich unser Geist, wir irren herum in diesem Labyrinth der Straßen und Steinbauten, wir gehen im Kreis und werden dabei älter.»
Werther sieht mich an, lange ruhen seine klugen Augen auf mir, und es ist mir, als blickten sie bis tief in die Gründe meiner Seele. Feierlich beginnt er zu sprechen: «Einst fühlte ich so wie du, mein junger Freund, so wie du kannte ich nichts Wunderbares, als einsam in der Natur meine Zeit zu verbringen, dieses Gefühl, eins zu sein mit der Mutter Natur, meinte ich, die allergrößte Empfindung, die ein menschliches Herz zu fühlen vermag. Aber die Natur in all ihrer Vielfalt, mit all ihren herrlichen Bildern, die sie dem menschlichen Auge darbietet, die üppigste Sommerwiese, die sich am Horizont dahinziehenden, von dichtem Wald bedeckten Hügelketten, die des Nachts vom gleißenden Licht des Mondes beschienen uns so anmutig, geheimnisvoll und traut vorkommen, am Tage im Lichte der Sonne, uns mit Abenteuerdrang erfüllen und uns locken, die fernen Gipfel zu besteigen, hier dieser liebliche Teich vor unseren Augen, all die überschwänglichen Gefühle, die diese Bilder in dir und mir erwecken, sind nichts mehr als eine bloße Ahnung von dem, was ich empfand, jedes Mal, wenn die schwarzen Augen meiner Lotte auf mich gerichtet waren! Die Liebe ist …» – «… die Liebe, die Liebe», unterbreche ich ihn unwirsch, halte ihm mein Büchlein vor die Nase und fuchtele damit aufgeregt in der Luft herum. «Seiten für Seiten sprichst du von der Liebe, als sei sie etwas Reines, ganz und gar Wunderbares, und doch schafft sie dir nur Seelenpein, Schmerz und Trauer, ja brachte dich schließlich dazu, dir dein Leben zu nehmen. Du glaubtest, diese Lotte liebte dich? Dieses Mädchen, was du vergötterst und verherrlichst, als sei sie ein den Menschen überragendes Geschöpf, dem du all deine Gedanken und all deine Zeit opferst. Durch ihre von dir geküssten Hände gingen die Pistolen, mit denen du dir eine Kugel in den Kopf jagtest!»
Werthers Augen leuchten, als ich das sage, in seliger Erinnerung auf, er nickt mehrmals eifrig, bestätigend, ein glückliches Lächeln verzieht seine Mundwinkel, das mich vollends gegen ihn aufbringt. «Deutest du das etwa auch als ein Zeichen ihrer Liebe?», frage ich wütend, mit dem Fuß vor mir auf die Erde stampfend. «War es Liebe für dich, die sie schweigen ließ? Ahnte sie doch nur zu gut, was du mit den Pistolen vorhattest!» Werther versteht, dass dies keine Frage gewesen ist, sondern eine Anschuldigung gegen seine liebe Lotte. Er schweigt, merkbar betroffen. «Und auch wenn ihr euch geliebt haben solltet», setze ich in ruhigerem, versöhnlichem Ton fort, «wie viel Schmerz und unsagbares Leid hat diese unglückliche Liebe in euer beider Leben gebracht! Du littest so sehr, dass du keinen anderen Ausweg aus deinem Unglück sahst, als von dieser Welt durch den selbstgewählten Tod zu scheiden, und was wird Lotte, das arme Mädchen, durchgemacht haben, nachdem du, der gute Freund, so ohne Abschied, so gewaltsam von ihr geschieden warst? Gequält wird sie sich haben, mit schweren Vorwürfen, da sie doch gefürchtet haben musste, dass sie deinen Tod durch ein unbedächtiges, von dir übel aufgenommenes Wort veranlasst hatte. War ihr Wesen, so wie du es mir beschrieben hast, rein und unverdorben, wie sehr muss sich ihr Gemüt durch all den Selbstzweifel verfinstert haben?!»
Werther sitzt ein wenig gekrümmt da, händeringend, nachdenklich schaut er vor sich hin.
Schon fürchte ich, zu weit gegangen zu sein und seinen so empfindlichen Charakter einen Hieb versetzt zu haben mit meiner harten Anrede, der er nicht gewachsen ist, da richtet er sich auf, sein Rücken strafft sich, fast herausfordernd schaut er mich an. «Lieber im jungen Alter, wie ich es tat, den vorgeschriebenen Lebensweg verlassen, im Glauben, geliebt und gelebt zu haben, als die Liebe verneinen und ohne sie sich auf einem einsamen, trostlosen Lebensweg bis zu seinem Ende dahinschleppen.»
«Ach ja?!», rufe ich, von der Bank aufspringend. Erregt vor Werther hin und her gehend erzähle ich: «Ich kannte einmal, es kommt mir vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen, ein liebes Mädchen. So wie dir deine Lotte bedeutete dieses Mädchen mir alles. So wie dir deine Lotte der leuchtende verheißungsvolle Stern am dunklen Firmament war, so war mir dieses Mädchen ein hell strahlendes Gestirn am Himmel, dessen Licht mich in der mich umgebenden Dunkelheit leitete. Und doch verlangte ich nicht wie du, dass sie die meine werden würde, ich wollte um diesen funkelnden Kristall nicht meine Hand schließen. Nein, was sage ich denn», abrupt bleibe ich vor Werther stehen und sehe auf ihn nieder. «Wollte, durfte nicht! Durfte es nicht, denn wenn ich so wie du, der du eines Mädchens ganzes Herz besitzen wolltest, mein liebes Mädchen mit Leib und Seele für mich zu gewinnen getrachtet und sie, das holde gute Geschöpf, meinem Drängen nachgegeben hätte, mal nur so angenommen, ha, welch kühner Gedanke!»
Ein spöttisches Lachen ausstoßend drehe ich mich zum Teich.
«Wenn meine tiefe Zuneigung – das Wort Liebe will ich nicht benutzen, was bedeutet es? –, wenn also meine Gefühle in ihr Widerklang gefunden hätten und wir ein Paar geworden wären. Was dann?!» Werther, dem ich mich wieder zugekehrt habe, schaut erwartungsvoll zu mir auf. Er hat ein in kraftvollem Gelb leuchtendes Blatt von der Erde aufgehoben und lässt den biegsamen Stängel spielend durch seine langen Finger gleiten. «Es wäre eine durchaus unglückliche Liebe geworden», behaupte ich grimmig. «Ich hätte mein liebes Mädchen, diesen herzensguten Menschen, ins Unglück gestoßen. Ich wäre, in deiner bildhaften Sprache ausgedrückt, Werther, der kalte Frost gewesen, der die blühende Rose zum Welken bringt, unter meiner Last wäre diese Blume geknickt.
Nein, wir Einsamen sollten nicht ein Glück begehren, das nicht für uns bestimmt ist. Warum uns an eine unschuldige, leicht und frei dahinschwebende Seele mit unserem schweren, hinabdrückenden Gewicht hängen, sie mit unserem Unverstand und Unvermögen belasten?!»
Werther macht den Mund auf, um etwas zu erwidern, doch er kommt nicht mehr dazu.
Seine Erscheinung erblasst und verschwindet. Der Hund, der mich vor Tagen schon einmal hier angetroffen hat, kommt mit großen Sprüngen und lautem Gebell, als freue er sich, mich wiederzusehen, über die grüne Wiese auf mich zugerannt.
Ich schnappe mir mein Büchlein, das aufgeschlagen auf der Bank liegt, und nehme vor dem widerlichen Tier und seinem Herrchen, das im gelben Regenmantel hinter einem Gebüsch auftaucht, partout Reißaus.
8. September
Der Alte ist mir heute am Lichtbrunnen noch näher gekommen.
Der Abstand zwischen uns beträgt ungefähr fünf Armlängen.
Ich dulde sein schleichendes Näherkommen, da eine Art von Vertrautheit sich zwischen uns in der Zeit des tagtäglichen gemeinsamen Nebeneinanderstehens herangebildet hat.
Ich habe mir vorgenommen, einen Brief an mein liebes Mädchen zu schreiben.
Der erste Brief an das liebe Mädchen
Mein liebes Mädchen!
Bestimmt wirst du diesen Brief ungelesen zusammenknüllen und, als wäre das Papier mit Gift getränkt, weit von dir werfen. Und wenn du ihn doch liest, werden sich wohl deine Augen vor jedem Buchstaben weiten, vor Ekel, da du weißt, dass ich ihn geschrieben habe.
Ich habe deine Abscheu verdient.
Ich hoffe, du hast dich zwischenzeitlich von dem, was geschehen ist, erholt.
Ich hätte dich nicht in dem fremden Haus allein lassen sollen. Kannst du mir verzeihen? Nein, das kannst du nicht, ich weiß. Ich bin nun auch in deinen Augen ein Versager, wie in den Augen aller anderen.
Vor ein paar Tagen hatte ich eine kleine Diskussion mit Werther über die Liebe.
Solange ich mich mit ihm unterhalte, wir unsere Gedanken austauschen, ist meine Einsamkeit erträglich.
Wenn ich nicht mit ihm im Park auf unserer Bank sitze, stehe ich zusammen mit dem Alten am Lichtbrunnen im Niemandsland.
Es tut mir aufrichtig Leid, dass ich dir so viel Schmerz zugefügt habe, wenn ich nicht der wäre, der ich leider bin, dann wäre zwischen uns vielleicht alles ganz anders gekommen.
Ich weiß nicht, wie es mit mir weitergehen soll. Ich kann in dieser grässlichen Stadt nicht bleiben, kann aber auch nicht zu euch zurückkehren.
Ich würde dich gerne noch ein letztes Mal sehen. Würdest du es erlauben? Nein, natürlich nicht, wie kann ich nur so fragen. Noch einmal verzeih mir, ich …
10. September
Der Alte und ich kommen uns andauernd näher. Der Brief, den ich vorgestern anfing, werde ich nicht fertig schreiben, geschweige denn abschicken! Ein sehr gestresster Bürger des Niemandslandes fragte mich heute nach der Uhrzeit.
Ich wusste es nicht, die große Uhr an der Wand mir gegenüber ist stehen geblieben.
Ich zuckte bloß mit den Schultern.
17. September
Ich habe bald kein Geld mehr.
Die Menschen sind geizige, nur auf ihr eigenes Wohl bedachte Egoisten.
Und wie eitel und verfänglich sie sind!
Wie sie heimlich unter langen Augenwimpern hervorschauen, ob man sie denn auch bloß anguckt, sie selbst tun so, als sähen sie niemanden, sie stolzieren daher mit hocherhobenem Kopf, den Blick geradeaus gerichtet, als würde da in der Ferne jemand ihnen zuwinken.
Hier im Niemandsland sitzen die Zeitlosen an den Wänden und betteln. Sie sitzen den ganzen Tag nur so da an der Wand, die Bemitleidungswürdigen, mit einem Becher, einem Pappteller oder was sie sonst so aus dem Mülleimer hervorfischen konnten.
Von hier oben betrachtet gleichen sie einem Haufen aus Kleidern und Haaren, das liegt daran, dass sie ihre Köpfe so gebeugt zwischen den Knien halten, sie verstecken ihr Gesicht, werden gesichtslos. Obwohl an ihnen so viele neumodische Schuhe vorbeigehen und tolle Kleider vorbeirauschen, die darauf schließen lassen, dass in ihren Taschen ein gefüllter Geldbeutel steckt, bleiben die Becher und Teller der Zeitlosen den lieben langen Tag über so gut wie von Münzen unbeschwert. Obwohl die Menschen unter mir von dem einen Laden da unten in den anderen laufen, beladen mit Einkaufstüten, obwohl viele von ihnen schmiermündig und mit schweren Mägen und schwerfälligen, langsamen Schritten scharenweise die Restaurants verlassen, hungern die Zeitlosen. Ich werde wohl bald auch so enden, werde da unten an der Wand sitzen, halblange, seit Wochen ungewaschene Haare habe ich jetzt schon. Meine Hose ist ganz verdreckt und da und dort verlöchert, mein Hemd stinkt. Soll ich auch anfangen zu betteln?
Nein, bevor ich mich zu den Zeitlosen da unten an die Wand setze, werde ich … mache ich, ach, verdammt noch mal, ich weiß nicht, was ich mache.
Der Alte schaut manchmal zu mir herüber. Ich glaube fast, der macht sich Sorgen um mich.
So unauffällig wie möglich rückt er mir im Verlauf eines Tages näher.
Soll er nur näher kommen.
23. September
Ich habe mir in einem Bücherladen ein Buch geklaut!
Mir fiel es nicht leicht, aber ich konnte einfach seinem mich sehr ansprechenden Titel „Die Ursache“ und seinem Titelbild, eine gekrümmt daliegende Gestalt, nicht widerstehen. Es schien mir alles sehr auf mich bezogen und verheißungsvoll.
Der Autor „Thomas Bernhard“ hat mir sehr viel zu erzählen, wie der arme Werther hat er viel gelitten. Von all dem sich auf seiner Seele angestauten Schmerz und der von seinen Mitmenschen zugefügten, sich für ewig auf sein Hirn eingebrannten Schmach berichtet er mir in langen, sich beinahe überstürzenden Sätzen. Sie sind voller alles entblößender Wahrhaftigkeit und offenbaren mir ein großes Verständnis vom menschlichen Dasein. Er hat mit allem, was er sagt, so Recht!
Wir haben vor alledem ein Thema gefunden, das uns beide angeht und über das wir lange und gerne herumlamentieren. Über die Eltern, er nennt sie mit Vorliebe die Erzeuger. Und das sind sie ja auch, die Männer und Frauen, die mit viel Lust und Spaß zusammen Kinder erzeugen, aber sind sie Eltern oder nur bloße Kindererzeuger?
Bernhard meint, dass die Eltern, wie gesagt, er nennt sie die Erzeuger, Kinder erzeugen und sie dann im Laufe ihres Heranwachsens systematisch zugrunde richten, er benutzt übrigens das Wort „zugrunde“ oft und gerne, in verschiedenen Zusammenhängen, wie zum Beispiel das Kind wurde zugrunde gerichtet, ich ging daran zugrunde, wir werden zugrunde gerichtet …
26. September
Heute im Park saß Bernhard für die meiste Zeit neben mir. Er las mir aus seinem Buch vor, seine etwas heisere, monotone, eindringliche Stimme ließ mich aufmerksam jedem seiner Worte lauschen, die sich zu Sätzen bilden, die gleich eines monströsen, tausendarmigen Tintenfisches das Leben um sich herum verschlingen und als stinkenden, aber durchaus glasklaren Gallensaft wieder ausspeien.
Mit jeder alles durchschauenden, entlarvenden Aussage entblößt er die als ein schönes Mädchen verkleidete Welt, reißt ihr mit jedem Wort die von außen her gesehen makellosen Kleider vom Leib, bis sie nackt dasteht, und damit nicht genug, Bernhard hat ihr die falsche Schönheit genommen, die Welt ist in Wirklichkeit eine alte hässliche Frau, ihr Körper verschrumpelt, die noch vom Kleid bedeckten reizvoll erscheinenden Brüste sind schon längst leer gesaugt, kraftlos hängen sie herab.
Manchmal kommt es vor, dass ich ihm widerspreche, ich sage dann, er sähe alles zu einseitig und schere alle über einen Kamm, erscheinen mir doch manche seiner Meinungen wie das bösartige Keifen eines rachesüchtigen, verbitterten Menschen. Dann aber erkenne ich schon in seinen nächsten ausdrucksvollen Sätzen die untrügliche Wahrheit, der Mann spricht mir vom Herzen, ich möchte mich vor ihm zu Füßen werfen, vor diesem großen Verkünder, der das Evangelium der Leidenden, der Ausgeschlossenen, in all seiner fürchterlichen Wahrhaftigkeit und unmissverständlichen Klarheit verkündigt.
Ein kurzer, heftiger Regenschauer ergoss sich vom heute in Grau getünchten Himmel, als wir da saßen, weder ich noch Bernhard nahmen die unsere Kleider durchnässenden, unsere Haut in kleinen Rinnsalen herabströmenden, unser Haar glättenden und die Hitze unseres Blutes kühlenden Wassertropfen wahr, zu sehr war er mit dem Lesen und ich mit dem Zuhören beschäftigt. Mich stört es außerdem nicht im Geringsten, begossen zu werden, ganz im Gegenteil, ich liebe die Frische eines herrlichen Regenschauers. Das himmlische Wasser wäscht die wuselnden Menschen um mich herum weg, sodass nichts übrig bleibt als ich und die vom Weihwasser neu getaufte, gereinigte Natur. Es tauscht die von der Sonne ausgetrocknete Luft aus und gibt ihr eine Note von Würze und wohltuender Kühle, es ist ein Genuss, diese Luft einzuatmen!
Dann verflüchtigten sich die Wolken über uns, ein ungeduldiger Hirte trieb sie von der Stadt weg, hinter den Nachzüglern der grauen Herde entblößte sich helles Blau, keusche Sonnenstrahlen fanden den Weg zur Erde, ihr jungfräuliches Licht badete sich blendend Weiß im durchsichtigen Wasser des Teiches und in den kleinen Pfützen, die sich in den Mulden am Boden gesammelt hatten.
Bernhard schwieg, doch es war kein gutes Schweigen, keine Stille der Besinnlichkeit etwa, nein, es war die ungemütliche Stille vor dem Sturm. Der Wütende, der Rasende hält inne in seinem Schreien, um nicht zu ersticken an seinem besinnungslosen Zorn, der Tobende ruht für kurze Zeit die zuckenden Glieder, damit er sie mit erneuter Kraft zu allen Seiten stoßen kann, der Anklagende schweigt still, um die Worte zu bedenken, mit denen er den Angeklagten dem Henker überführen will.
In diese lauernde Ruhe hinein, von einem nahen Gebüsch tropfte es im regelmäßigen Takt in einer darunter sich angesammelten Wasserlache, kam den Weg am Teich entlang, von hohen Hecken unseren Augen halb verdeckt, ein leise quietschender Kinderwagen heran. Der große Mann neben mir begann mühsamer zu atmen, seine flache Brust hob und senkte sich angestrengt, als nähere sich mit dem Kinderwagen ein bevorstehendes Unheil, und die Furcht vor diesem baldigen Unglück lege sich in Form eines schweren Gewichts auf seine Brust.
Erwartungsvoll, ungeduldig schaute er zu der Stelle, wo der Weg aus dem ihm an beiden Seiten umgebenden Buschwerk hervorkroch, wo wir dem auf ihm in unsere Richtung kommenden Kinderwagen ansichtig werden würden, und desto vernehmlicher das Quietschen wurde, desto näher also der dahinrollende Kinderwagen, das darin wohl sitzende Kind und der es schiebende Mensch der Bank kam, auf der wir saßen, desto beunruhigter benahm sich Bernhard. Mit ihm, der nun für Stunden mit wilder Heftigkeit und Intensität geschimpft hatte, die Zornesader am Hals war ihm geschwollen, die langen gelblichen Finger hatten sich zur Faust geballt, schien eine eigenartige Veränderung vorzugehen, die Fäuste öffneten sich, der Ausdruck gehässigen Zornes hob sich von seinem Gesicht und darunter kam ein weiches Antlitz zum Vorschein, in dem Augen mit einem warmen Ausdruck von Ergebenheit dem zwischenzeitlich uns sichtbaren Kinderwagen entgegenblickten. Um seinen frauenhaften Mund zeichnete sich ein trauriger, wehmütiger Zug ab.
„Ein Kind, schau!“, sagte er flüsternd wie zu sich selbst, mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Kinderwagen deutend. Es war ein Elternpaar, das einen Kinderwagen, in dem ein kleines Kind die kurzen weißen Arme reckte, vor sich schiebend den Weg zu uns heraufkam. Mit einer mich verschreckenden Plötzlichkeit wurde Bernhard von einer wilden Erregung überkommen, mich mit beiden Händen am Arm fassend sprang er von der Bank auf und zog und zerrte ungestüm an mir.
„Los komm, schnell, wir verstecken uns, sie werden sich hier auf der freien Bank niederlassen, so werden wir sie belauschen können, wir werden alles hören und sehen können, alles, nichts wird uns entgegen!“
„Was meinst du?“, fragte ich verwirrt, „warum sollen wir uns verstecken?“
„Der Beweis“, stieß Bernhard heiser hervor und bemühte sich mit verdoppelter Anstrengung, mich von der Bank fortzuziehen. „Die Erzeuger werden uns den Beweis liefern, dass ich Recht habe!“
Ich verstand zwar immer noch nicht, was er meinte, doch Bernhards eigenartiges Benehmen hatte mich neugierig gemacht. So sträubte ich mich nicht länger und folgte ihm in ein nahes Gebüsch.
Kaum hatten wir uns dahinter geduckt, war das Elternpaar mit dem Kinderwagen bei der von uns so hastig geräumten Bank angelangt. Und richtig, wie Bernhard es gewollt hatte, sie ließen sich, nachdem sie das Kind aus dem Kinderwagen gehoben hatten, auf dem einladenden Sitzplatz nieder, ihr Kind nahmen sie zwischen sich. Da sie mit dem Rücken zu uns saßen, mussten wir uns begnügen, sie von hinten zu betrachten.
Die Frau hatte glattes, tiefbraunes, bis weit über die Schulter fallendes Haar, sie war von schmächtigerer Gestalt als der neben ihr sitzende Mann, dessen stämmiger kurzer Nacken und steifer Mantelkragen mir auffielen. Das Kind war von der hölzernen Rückenlehne der Bank gänzlich verdeckt. Unwissend, dass sie belauscht wurden, setzten der Mann und die Frau ihr Gespräch in angeregtem Ton fort.
Mann, seinen Mantelkragen hochkrempelnd: „Natürlich liebe ich dich!“
Frau: „Ich kenn dich gar nicht mehr.“
Bernhard, neben mir, mich am Ärmel zupfend: „Da, es fängt schon an.“
Kind: „Mama, schau die Enten!“
Mama, das unsichtbare Kind überhörend, zum Mann gewand: „So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Wir sehen uns kaum noch.“
Mann, den Kopf ruckartig (genervt?) im Mantelkragen von der Frau wegdrehend: „Was kann ich denn dafür?! Ich soll doch schließlich diese Familie versorgen. Oder willst du das Geld verdienen. Hä?!“
Frau, den Kopf zurückwerfend: „Familie?! Wir sind keine Familie mehr, seitdem du den ganzen Tag über wegbleibst! Kapierst du eigentlich, wie schrecklich die Situation für mich ist. Und unser Kind, wie sehr es darunter leidet?“
Das Kind in flehentlichem Ton: „Mama kuck die Enten!“ Bernhard, mich mit dem Zeigefinger in die Seite stupsend, flüstert mir verschwörerisch ins Ohr: „Er betrügt sie, belügt sie, er hintergeht sie!“
Mann, nervös am Mantelkragen herumfingernd: „Liegt denn die Schuld bei mir?!“
Das Kind, laut schreiend (kurz davor zu weinen?): „Mama, die Enten, kuck!“
Bernhard, triumphierend neben mir im Busch: „Na hörst du die Erzeuger, glaubst du mir jetzt?!“
Nach diesem kurzen, aber heftigen Wortwechsel hüllten die Eltern sich in eiskaltes Schweigen, als gäbe es in dieser Sache nichts mehr hinzuzufügen, keiner der beiden schien auch nur im Mindesten bereit, dem anderen in dieser Streifrage entgegenzukommen, keiner der beiden machte auch nur den leisesten Versuch, den zwischen ihnen fühlbaren Groll zu besänftigen. Was ging in ihnen vor? Gebannt bohrte sich mein Blick abwechselnd von dem Hinterkopf der Frau zu dem des Mannes, es hätten aus Stein bestehende Häupter von Statuen sein können, voneinander seitwärts abgewandt verhaarten sie regungslos. Das für mich nach wie vor unsichtbare Kind in der Mitte hatte leise angefangen zu schluchzen, manchmal sah ich eines seiner kleinen Ärmchen hinter der Rückenlehne der Bank sich hervorstrecken.
Wieder einmal verwunderte es mich, wie unnachgiebig Erwachsende sein können, wenn sie sich in einem Streit befinden, wie uneinsichtig, unwillig, ja, ganz und gar unfähig sie sind, einen Konflikt in die richtigen, auf eine Lösung des Konflikts zusteuernden Bahnen zu leiten. Jeder von ihnen meint sich im Recht und den anderen im totalen Unrecht, jeder von ihnen erwartet, dass der andere das den Knoten lösende Wort sagt, sich gar entschuldigt?! Aber dieses versöhnende Wort bleibt ungesagt, der Knoten zieht sich fester, die Schlinge strammt sich um ihre Hälse, sie ersticken lieber an ihrem Recht, als einzulenken.
Sie gleichen auf einer Art trotzigen Kindern, die gelernt haben, durch beleidigte Mienen und stures Schweigen das zu bekommen, was sie begehren, und unterscheiden sich aber auch gleichfalls von solchen unerzogenen Kindern, denn Kinder sind niemals so kalt, so ausschließend und feindlich gesinnt wie Erwachsende es gegenüber einem Menschen sein können, mit dem sie sich in einer Auseinandersetzung befinden. Ich habe versucht, mir ihre so störrische, eigensinnige Verhaltungsweise zu erklären, und mir gesagt: Es ist die Gesellschaft, allen voran die Eltern, die den heranwachsenden Kindern diese Rechthaberei beibringen, diesen Eigensinn, diesen ausgeprägten Egoismus angewöhnen, ihren eigenen Unverstand im zwischenmenschlichen Bereich sozusagen ihren Zöglingen in die Wiege legen, ihre Engstirnigkeit vererben, von einer Familie auf die nächste; der unfähige Vater zeugt den Sohn, der dem Vater, was Unfähigkeit betrifft, schon bald in nichts nachsteht, und der so unfähig gewordene Sohn erzieht auf gleicher unfähiger Weise seine Kinder.
Bernhard neben mir in der Hecke grinst mir siegesgewiss ins Gesicht: „Na, glaubst du mir jetzt?“
Ich erwidere nichts, innerlich gebe ich zu: Bernhard hat völlig Recht, die Unversöhnlichen da vorne auf der Bank haben, wie er es ankündigte, den Beweis erbracht, sie führten vor unseren Augen ein Drama auf, wie es jeden Tag in unzähligen Familienwohnungen von der Bühne geht. Es ist zwar nur eine Familie, die da vor uns sitzt, und doch ist es in meinen Augen eine typische Familie, deren Sätze bekannt in meinen Ohren klingen. Es hätten meine Eltern sein können da auf der Bank, es hätten Bernhards Erzeuger sein können, dachte ich, und ein wehleidiges Bedauern begleitete diesen Gedanken, denn ich fühlte für das mir unsichtbare Kind, das von seinen streitsüchtigen, gefühlskalten Eltern übersehen und dessen wiederholte Ausrufe „die Enten!“ gänzlich überhört wurden. Ich bangte für das Glück seiner Kindheit. Was für eine Kindheit würde ihm beschieden sein in den Händen dieser Eltern, die nicht einmal vermochten, miteinander zu reden?
Als hätte Bernhard meine Gedanken gelesen und gäbe mir Antwort auf meine mir selbst gestellte Frage, hörte ich ihn mit hasserfüllter Stimme behaupten: „Sie werden das Kind zugrunde richten!“
Er packte mich an den Schultern und zwang mich ihm ins Gesicht zu sehen, in seinen ausdrucksvollen, von dunklen Schatten umrandeten Augen peitschte ein wilder Sturm schwarze Gewässer auf.
„Sie werden die Seele dieses Kindes im Bund mit der Schule und den Religionen vernichten!“
Ein kalter Schauder ließ mich unwillkürlich erbeben, ich fürchtete tief in meinem Inneren, dass Bernhard in dieser furchtbaren Prophezeiung Recht haben konnte, oje, diese Zerstörung war wohl schon im vollen Gange, wir waren die Zeugen eines Mordes, eines Geistesmordes, eines schleichenden Gifttodes, seit seiner Geburt verabreichten die Eltern ihrem Kind jeden Tag kleine Dosen des Seelengiftes, das ihren eigenen Geist vergiftet und schlussendlich abgetötet hatte.
Als die Mutter ihr Kind unsanft zurück in den Kinderwagen gesetzt hatte – wollte sie durch die grobe Handhabung des Kindes ihrem Mann etwas verdeutlichen? –, ging die kleine Familie in mieser Stimmung und totalem Stillschweigen den Weg, den sie heraufgekommen waren, wieder hinab. Der leiser werdende Laut des heulenden, scheußlich quietschenden Kinderwagens war mir so unerträglich, dass ich die Hände auf meine Ohren drückte.
Bernhard und ich erhoben uns aus unserer gebückten Spionierhaltung, klopften uns gegenseitig die Kleider ab, uns dabei mehrmals zunickend. Wir waren uns über das einig, was wir gerade gesehen und gehört hatten, wir verabscheuten beide die ruchlosen Eltern und bemitleideten das arme Kind. Schon wollten wir aus dem Gestrüpp hervortreten, da klang frohes Stimmengewirr von der anderen Seite des Teiches zu uns herüber, vorsichtig spähten wir zwischen den Zweigen hindurch und wurden eine Mutter mit ihrem Kind gewahr, das den Teich umrundend auf unsere Bank zusteuerte.
„Ha!“, zischte Bernhard und rieb sich die blutleeren Hände, sein erwartungsvoller Ausruf bezog sich, das war unmissverständlich, auf die Mutter, die, so glaubte er, einen zweiten Beweis erbringen würde, dass seine radikalen Ansichten und Theorien über die „Kindererzeuger“ der Wirklichkeit entsprachen. Doch noch im selben Augenblick, in dem ich die Mutter sah, wusste ich, dass Bernhard sich zu früh gefreut hatte, dass dieses Elternteil, das da Hand in Hand mit seinem Kind leichten Schrittes durchs Gras spazierte, in die Karikatur der schlechten Eltern, die Bernhard mir mit schwarzen, kantigen Strichen vorgezeichnet hatte, gar nicht hineinpasste.
Alles an dieser Mutter war mütterlich, ihre üppigen runden Formen, das frische rotbackige Gesicht, ihre so melodisch klingende Stimme, mit der sie des Kindes die Umgebung entdeckenden Rufe bestätigte. Auch sie setzen sich auf die Bank, die Mutter nahm das Kind auf den Schoß, herzte und drückte es an ihre weiche Brust, wiegte es zwischen den dicken weißen Schenkeln. Aus einer mitgebrachten Tüte warf das Kind Brotkrümel in den Teich und lockte so die Enten an, die begierig nach dem Hingeworfenen schnappten und dabei, zur Freude des Kindes, ein ganz großartiges Spektakel vollführten.
Bei dem Anblick der liebenden, fürsorglichen Mutter und des glücklichen Kindes durchströmte mich eine angenehme Wärme und taute mein in Erbitterung gegen meine Mitmenschen zum Eisklumpen erstarrtes Herz auf. Ein kurzer Blick auf Bernhard verriet mir, dass auch er sich einer guten Gefühlsregung nicht erwehren konnte, der gleiche Ausdruck von Güte, der schon vorhin, als das erste Kind uns sichtbar geworden war, seine Züge gemildert hatte, verschönerte auch nun sein sonst so düsteres Gesicht. Er spürte meine forschenden, fragenden Augen auf sich und drehte sich mir zu, sagte aber nichts.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Mutter und ihr Kind. Auf die wunderlichen, kindlichsten, unwissendsten Fragen des Kindes hatte die Mutter klare, ehrliche Antworten, die zwei waren wie zu eins verschmolzen, plötzlich, ich weiß wahrlich nicht, wie mir geschah, erhellte ein außerordentlicher Gedankenblitz meinen Geist: In der Zweisamkeit der Mutter und des Kindes ist wirkliche, reine Liebe zu finden!
Gleich darauf meinte ich die Tatsache erwiesen, dass diese Welt danach trachtet, eine solche wahre Liebe zu zerstören. Warum ich das glaube?
Ja, weil ich nun einmal erfahren habe, wie diese Welt mit liebenden Müttern umgeht.
Als die liebe Mutter und ihr fröhliches Kind gegangen waren und Bernhard und ich wieder nebeneinander auf der Bank saßen, herrschte zwischen uns langes nachdenkliches Schweigen. Wir grübelten beide vor uns hin.
Ich versuchte wieder einmal eine Schlussfolgerung zu ziehen, ein endliches Urteil über die Erzeuger zu fällen, sah aber bald ein, dass ich nach wie vor zu einem solchen Richtspruch außerstande war.
Ich hätte den Erzeugern Unrecht getan, hätte ich sie nun verflucht und verdammt, denn die liebende Mutter trifft keine Schuld, und doch konnte ich die Erzeuger aber auch von Bernhards unversöhnlichen Anklagen nicht freisprechen, zu gewissenlos sind die Sünden, die sie an ihren eigenen Kindern begehen.
Liegt in der Mutterliebe des Kindes Heil und Hoffnung und in des Vaters rücksichtslosem Streben die größte Gefahr für Mutter und Kind?!
Nur eines meinte ich mit Bestimmtheit sagen zu dürfen: dass das Kind den Eltern hilflos ausgeliefert ist, dass es in den Händen seiner Erzeuger wie feuchter Ton geformt wird, dass es sich zum wunderbarsten, alle seine einzigartigen Fähigkeiten, Kräfte und Talente nutzenden Menschen in ihren Händen entwickeln kann, aber auch, wie es Bernhard behauptet, fürs ganze Leben von seinen Erzeugern zerstört und vernichtet, ja gänzlich ruiniert werden kann!
Welch große, oh nein, das ist untertrieben, welche immense, unübersehbare, unfassbare, von schwachen Menschenschultern kaum tragbare Verantwortung müssen die Erzeuger nach der Geburt ihres Kindes zusammen übernehmen! Nur die Liebe zueinander kann ihnen solche Riesenkräfte verleihen! Und wie unbedingt werden sie scheitern müssen, wenn sie ihr Kind nur aus ihrer körpervereinenden Leidenschaft gezeugt haben und nicht auch aus ihrer beiden Seelen verbindenden Liebe! Wie tief ist doch der Abgrund, an den die Eltern mit ihrem Kind schreiten, die eine Hand hält die andere, auf schmalem Pfad gehen sie dahin, tut nur ein Elternteil einen falschen Schritt, wird es sie alle ins Verderben reißen!
Als ich mich in diesem Überfluss der mich bedrängenden Empfindungen Bernhard miteilen wollte, um so meinem sich in Aufruhr befindenden Gemüt Erleichterung zu verschaffen, war der geheimnisvolle Mann verschwunden.
Ein lautes Bellen brachte mich dazu, erschrocken herumzufahren, und da – wie aus einem meiner Albträume entsprungen –, der mir verhasste Hund kam schwanzwedelnd auf mich zu!
Und da drüben, mit einem zugeklappten Regenschirm auf mich zeigend, pfui, sein Herrchen und an dessen Seite eine mir noch unbekannte Person in Trainingsanzug und schwarzem Käppi im Begriff, auf mich zuzujoggen.
Ihr Störer meiner Muße, meines Friedens, schert euch hinweg!
27. September
Der alte Mann kommt mir am Lichtbrunnen immer näher. Der Abstand zwischen uns beträgt nur noch einen guten Meter. Ich fange an, ihn zu riechen, ein herber, eigenartiger Geruch strömt von ihm aus. Riechen alle alten Menschen so?
Sein stetiges Näherkommen bereitet mir einiges Kopfzerbrechen, langsam werde ich nervös. Hat er vor, mich anzureden? Ich sehne mich fast danach, ganze Tage verrinnen, ohne dass ich ein Wort mit einem anderen Menschen wechsle. Manchmal glaube ich, stumm geworden zu sein, dann gebe ich einen Laut von mir, einen sich aus der Kehle hochgurgelnden Laut, um Aufklärung darüber zu bekommen, ob ich noch eine vernehmbare Stimme habe oder nicht.
1. Oktober
Den Tag verbrachte ich hinter dem Gebüsch hinter der Bank und belauschte die Spaziergänger, die sich auf der Bank ausruhten. Bernhard leistete mir manchmal Gesellschaft. Er war heute aber sehr wortkarg, weiß der Himmel, warum.
Was diese Menschen nicht alles so zu bereden haben!
Zum Beispiel: die Qualität ihrer Gartenstühle, und mit regem Eifer und Einfühlungsvermögen, das Leben ihrer Nachbarn.
Ein Liebespaar, das Hand in Hand herangekommen war, setzte sich mir zugewandt ins Ufergras ganz nah am Teich. Es war eine fühlbare, in ihrem Benehmen auffallende Unnatürlichkeit zwischen ihnen, die verriet, dass diese beiden Menschen noch Neulinge waren auf dem Gebiet menschlicher Intimität. Der Mann war von kräftigem Körperbau, mittelgroß, seine Haare glatt geschoren, die Ohren standen ihm wie zwei kleine Flügel ab, seine Gefühlsregungen offenbarten sich auf seinem glattrasierten Gesicht, dessen Minenspiel für den Betrachter leicht zu deuten war.
Sein Gesicht war wie ein offenes Buch.
Ein flüchtiges, unsicheres Grinsen wurde von einer das ganze Gesicht einnehmenden Grimasse des Bedauerns abgelöst, dann beruhigten sich seine Züge, bis sie sich erneut umgestalteten und sich zum Komischen hin verzerrten. Er nahm wiederholt eine Flasche Wasser aus seiner Tasche und trank dann, den Kopf nach hinten in den Nacken gedrückt, hoch zum Himmel gerichtet, als spähe er nach etwas, den Ellenbogen zur Seite angewinkelt, ganz in der Tätigkeit des Trinkens vertieft, bevor er den Korken der Flasche sehr gewissenhaft zuschraubte und die Flasche sodann sorgfältig wieder im Mantel verstaute. Das wiederholte sich in regelmäßigen Zeitabständen und war lustig anzuschauen.
Die Frau hatte ich aus der Entfernung erst für einen Jungen gehalten, und das aufgrund ihrer kurzen Haare und ihres schlanken fleischlosen Körpers. Sie trug eine Brille, Ohrringe, mir fiel das auf, weil bei jeder Bewegung ihres Kopfes die blanken Ohrringe im Sonnenlicht aufblitzten.
Als sie da so nett beieinandersaßen, kam gleich noch ein Liebespaar den Weg hinaufgegangen, dieser Park wird außer von mir auch noch von Liebespaaren und Hunden regelrecht heimgesucht, sie lachten und küssten sich pausenlos, sie waren also ganz das Gegenteil des am Teich so brav und bescheiden sitzenden Paares, das sich die meiste Zeit anschwieg.
Dass das unangemeldete Auftauchen dieses Beispiels grenzenloser, leutseliger Verliebtheit den bemühten Liebhaber am Teich in große Verlegenheit versetze, verriet mir sein Gesicht, ein Tauziehen sämtlicher Gesichtsmuskeln begann, seine Unterlippe wölbte sich über die Oberlippe. Geschäftig begann er wieder seine Flasche auszupacken.
Da auf einmal, es muss eine plötzliche Eingebung gewesen sein, küsste die Frau in blitzschneller vorwärts schießender Bewegung des Grimassenschneiders unruhigen Mund. Es war ein flüchtiger Kuss gewesen, kaum hatten sich ihre Lippen berührt. Mir war sofort klar, dass Mann und Frau durch diesen Kuss ihren Bund gegen die Welt noch einmal besiegelt hatten.
Als es dunkel wurde, verließ ich erst meinen vertrauten Busch und, vorsichtig nach allen Seiten spähend, den Park und irrte ziel- und orientierungslos durch die Straßen der Stadt, bis ich, wie man so schön sagt, vor Hunger und Durst ermattet, gänzlich erschöpft nicht mehr weiterkonnte.
Das Brötchen, was ich mir heute in der Früh auf unrühmliche Weise ergattert hatte, war schon längst vertilgt. Ein aus der Dunkelheit lautlos herabfallender Nieselregen erfrischte mich, erquickte meine müden Glieder, ich legte meinen Kopf zurück, öffnete den Mund, trank die Regentropfen auf meiner Zunge, das kühle Wasser überströmte belebend mein Gesicht.
In den nassen Straßen schimmerte ein bunter Lichterglanz, der Widerschein der bald rot, bald grün leuchtenden Ampeln an den Kreuzungen, der bunte Farbenflimmer der Reklameschilder, das weiße, sich ergießende Licht der Autos und Straßenlampen vermengte sich zu einem in sich verfließenden, matt glänzenden Farbenspiel. Ich lief eine lange leere Straße entlang, rechts gähnten mir kantige, nun des Nachts tote Gebäude entgegen, ein Parkhaus, hell erleuchtete Bürohochhäuser, ein verlassender S-Bahnhof. An dieser Straße gab es keinen Gehweg, ich musste auf einem engen Grasstreifen neben der Straße laufen, manchmal unvorbereitet aus der nächtlichen Stille raste ein Auto an mir einsamen Fußgänger vorbei.
Ich überquerte die Straße und stieg die vielen Treppenstufen einer Brücke hoch, die über eine große Anzahl nebenher verlaufender Gleise führte. Nirgendwo als hier habe ich die Einsamkeit, die Verlassenheit so sehr gespürt wie auf dieser riesigen, von Neonlicht bestrahlten Brücke. Als ich da oben stand an ihrem Geländer und mich umschaute, hinab auf die leeren Gleise, in die mich umgebende schwarzgraue Betonlandschaft, überkam mich eine unkontrollierbare Furcht vor dem Leben. Vor meinem Leben.
Die Einsamkeit drängte von allen Seiten auf mich ein, diese öde, leere Welt war meine Welt, die gesamte Menschheit hatte mich hier oben verlassen.
Aber nein, ich war nicht allein auf dieser Brücke! Am anderen Ende der Brücke konnte ich Gestalten ausmachen. Menschen! Sie waren meine Rettung, denn wenn sie da nicht gewesen wären, wäre ich nicht mehr von dieser Brücke heruntergestiegen, die Angst vor meinem Leben da unten hätte mich die ganze Nacht hindurch hier oben gehalten und des Morgens dann wäre ich von der Brücke gefallen, auf die Gleise. Ich ging, fast lief ich ihnen entgegen, rannte über diese ewig lange Brücke zu ihnen hin. Es war ein älteres Ehepaar. Sie sahen aus, als wären sie gerade aus einem Konzert oder einer Theatervorstellung gekommen, schick und fein, und hätten diese leere Brücke in ihrem erfüllten Leben nur schnell überqueren wollen. Doch etwas oder jemand auf dieser Brücke hatte sie veranlasst, hier oben zu bleiben. Dieser jemand war ein Mann, der regungslos vor den Füßen des Ehepaars auf dem harten Betonboden lag. Ich blieb ebenfalls vor ihm stehen. Sein Gesicht war verbraucht, totenblass, die Augen geschlossen. Er hatte farblose hässliche Kleider an, Kleider, die Männer tagein, tagaus tragen, die ungesehen und unbeachtet dahinleben. In der einen Hand hielt er ein Mobiltelefon. Hatte er die grässlichen Schattenwesen der Einsamkeit, die ihm auf der Brücke aufgelauert hatten, kommen sehen und, bevor sie über ihn hergefallen waren, versucht anzurufen, damit man ihm zu Hilfe kam? Zu dritt standen wir vor dem leblosen Mann am Boden, keiner von uns beugte sich zu ihm hinunter. Andere Menschen hätten sich sicherlich sofort zu ihm niedergekniet, zu ihm gesprochen, ihn betastend seinen Lebenspuls gefühlt – wir nicht. Ich konnte mich nicht zu diesem großen, älteren, unrasierten, betrunkenen (?) Mann hinknien. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es getan hätte, wenn ich ihn so allein angetroffen hätte, vielleicht wäre ich auch einfach an ihm vorbeigegangen, ohne ihn zu beachten.
Als wäre ich der Betäubte, der Bewusstlose, stand ich tatenlos da und schaute hilflos auf den Hilfsbedürftigen. Schließlich fragte ich, ob man denn angerufen hätte, es wurde mir bestätigt, ja, sagte die alte, nett aussehende Frau bestürzt, man habe angerufen. Man hatte also getan, was zu tun war.
Erst aus der Ferne, dumpf, ungewiss, hallte das Heulen einer Sirene, dann näherkommend wurde es drohender, lauter, nahm an Eindringlichkeit zu, ich blieb gebannt stehen und sah runter auf die breiten, dunklen Straße, erwartungsvoll. Nur Sekunden verstrichen, bevor das dieses beängstigende, alles durchdringende, erschütternde und verschreckende, schrille Geräusch ausstoßende Gefährt auf einer der Straßen auftauchte, dieses ein geschehendes Unglück, ein bedrohtes, gefährdetes menschliches Leben verkündigende Unheilgefährt, auf dem Weg zum Schwerkranken, zum Sterbenden, zum Todgeweihten vor meinen Füßen.
Das blendende, kraftvolle Licht seiner Warnlampen nahm Besitz von der Umgebung, alles andere Licht erstarb. Näher und näher kam das kreischende Gefährt, in schwindelerregender Geschwindigkeit die Straße heran, auf uns zugerast. Die Sirenen verstummten abrupt, man hörte gehetzte Schritte die Treppen heraufkommen. Irgendetwas, vielleicht ein Schuldgefühl, ich wollte wohl nicht, so wie ich dastand, gesehen werden, mir war meine Unmenschlichkeit peinlich, brachte mich dazu, weiterzugehen. Ich ging die Treppe herunter, als die Notärzte an mir vorbei die Treppen hochrannten. Unter der Brücke versteckt, im Schatten der Brückenpfosten verborgen blieb ich, gleich darauf kamen sie wieder herunter, die Lebensretter, sie trugen den Leblosen auf einer Bahre zwischen sich, diese Bahre verstauten sie hinten im Wagen. Türen knallten zu, Reifen quietschten, die Sirenen heulten erneut los. Dann war der Krankenwagen auch schon an mir vorbei und verschwand spurlos, mir war, als wäre alles ein Spuk gewesen, eine Einbildung, von überanstrengten Sinnen hervorgerufen.
Die Sirenen wurden langsam leiser.
Ein plötzliches Verlangen, ihm zu folgen, um herauszufinden, wo der Wagen abgeblieben sei, machte mich auf die Suche nach dem Krankenhaus, nach irgendeinem Krankenhaus. Eine Neugierde, zu erfahren, was weiter geschehen würde, trieb mich an.
Das angekündigte menschliche Drama wollte ich weiter verfolgen, wie würde der Kampf um den Kranken enden, würde er überleben oder sterben? Ich ging von Schildern geleitet durch die stille Stadt, ich hatte mit einem Mal ein Ziel. Meine nächtliche Wanderung endete vor dem Eingang eines gewaltigen, aus mehreren Stockwerken bestehenden Gebäudes, dessen unzählige Fenster bis auf wenige erleuchtet waren. Vergebens sah ich mich nach dem Krankenwagen um, die schwarze Nacht hatte das lichte, laute Gefährt verschluckt.
Durch die breiten, hohen Fensterscheiben der Eingangshalle fiel weißes grelles Licht auf den dunklen Vorhof, in der Empfangshalle tummelte sich regsame Geschäftigkeit, sie war voller Leben. Dieser große, hell erleuchtete, menschenerfüllte Raum stach aus der ihn umgebenden leblosen Dunkelheit hervor, und es kam mir vor, als wäre dieser Raum ein Zufluchtsort vor überall in der Nacht lauernden Gefahren. Ich trat durch die automatische Schiebetür, die sich wie von unsichtbarer Hand betätigt öffnete und mir Durchlass gewährte in ihr Reich, in dem zwischen sterilisierten Wänden ein nie ruhender Krieg gegen Krankheit und Tod wütete, wo Menschen für das Leben anderer mit allen Mitteln, die ihnen zu Gebote stehen, kämpfen. Die Halle wurde fast pausenlos durchquert, von Personen in weißen Kitteln durcheilt, von Lahmen auf Krücken durchhumpelt, von Rollstuhlfahrern geschwind durchfahren. In zu Halbkreisen geformten Stuhlreihen saßen wartende Menschen, alte und junge, weinende Kinder neben gebeugten grauen Alten, sichtbar Kranke, unsichtbar Leidende, stumm und verzagt, aus deren blanken fiebrigen Gesichtern die Krankheit, ihr Übel, förmlich hervorstarrte, neben scheinbar Gesunden, die Kaffee tranken, Zeitung lasen, miteinander redeten, lüstern lachten, als wäre dies eine Wartehalle eines Vergnügungsetablissements und sie warteten darauf, dass sich die Türen öffneten, hinter denen das Vergnügen, der heftige Spaß, auf sie harrte.
Ich wusste wohl, dass ich hier nichts verloren hatte, doch nun war ich einmal gekommen, warum sollte ich nicht ein wenig bleiben und die hier versammelten Menschen betrachten, dem ganzen wundersamen Treiben zusehen. Es war neu für mich, es beeindruckte mich, hier sah man in den verschiedensten Formen das Gebrechen der Menschheit, hier waren die Menschen nicht mehr Halbgötter, die sich unsterblich meinten, hier waren sie entlarvt, entmergelte zitternde Geiseln der Krankheit, die um ihr Leben bangten und beteten.
Ich setzte mich auf einen leeren Stuhl und schaute mich um. Sofort fiel mir die junge schöne, feingliedrige Frau auf, die auf einem Stuhl nah bei einer in einem Rollstuhl zusammengesunkenen Alten kniete, ihre Mutter vermutlich, da die junge Frau sich mit großer Hingabe mit der Alten beschäftigte, sie manchmal zärtlich berührte, die dürre, von blauen deutlich hervortretenden Adern überzogene Hand in die eigene nahm, leise tröstend flüsterte sie für mich unhörbare Worte. Die alte Frau im Rollstuhl war eine Greisin, niemals zuvor habe ich das vergängliche Leben einem Menschen sosehr ansehen können, niemals die fürchterlichen Zeichen des Altseins so deutlich und nahe vor Augen gesehen. Der Körper dieses Menschen war in so hohem Maße gealtert, dass mich sein Anblick anwiderte. Die Haut war von schmutzigem, fleckig-fahlem Gelb, unzählige tiefe Furchen und es durchwindende Falten hatten das Gesicht befallen, weißes dünnes Haar bedeckte den kleinen, eigentümlich eingeschrumpften Schädel. Hier in dem Vorraum dieses Krankenhauses saßen sie also beisammen, Seite an Seite, die vergängliche hoffnungsvolle, verheißungsvolle schöne Jugend und das unansehnliche hässliche Alter. Hier saßen die beiden beisammen, dieses anmutige, von schnell dahinfliesendem Blut durchströmte Geschöpf, diese Aphrodite, diese Verkörperung herrlichen Lebens, und diese dürre Vogelscheuche des Todes, in dessen Adern sich das dickflüssige Blut stockte.
Mit schmerzlicher Klarheit wurde mir bewusst, dass mein Lebens unabänderlich verstrich, und ich sah mich in vielen Jahren in beginnendem Alter vor einem Spiegel stehen, in dem sich mein Gesicht widerspiegelte, das ich nicht als das meinige wiedererkennen wollte. Ich sah die sich im Laufe all der verlebten Jahre um Augen, Mund und auf der Stirn eingegrabenen Falten, die für alle sichtbar mein Gesicht gezeichnet hatten und nicht mehr einzuebnen waren. Diese Boten des Alters würden mir Kunde davon tun, dass meine Jugend verflossen war, der warme lichte Sommer, dass seine unbeschwerten Tage für immer für mich vorbei waren und mir nun die stillen Abende des Herbstes und dann die eisigen Nächte des Winters bevorstanden. Aber ich bin gar nicht glücklich gewesen, würde ich einwenden, die Sommertage sind nicht unbeschwert vorübergegangen, doch diese aufgrund ihrer Sinnlosigkeit dämlichen Worte, dieser völlig zwecklose Protest würden mich nur bestenfalls dazu bringen, mich selbst im Spiegel spöttisch anzugrinsen.
Ich verstand im Anblick der Greisin, dass das Alter erbarmungslos ist, es hat weder Nachsicht noch Verständnis mit dem Menschen, der die schönsten Jahre seines Lebens, die Jahre seiner Jugend, abgekehrt und einsam an stillen Orten verbrachte, mag er noch so gute Gründe dafür gehabt haben, anstatt in Gesellschaft anderer Menschen des Lebens höchste Gipfel zu ersteigen.
Wehe mir, bin ich jung und doch so unglücklich, unaushaltsam wird die Bürde des Alters sein, wenn ich nicht in lebhafter Erinnerung an erlebtes Glück, Befriedigung und Freude finden kann!
Der Geborene wird sterben, sein Tod ist ihm gewiss, doch was dazwischen geschieht, ist dem Lebenden überlassen.
Man konnte der alten Greisin im Rollstuhl ansehen, dass sie den Tod nicht fürchtet, sie würde ihn fürchten, wäre sie hier allein gelassen, in diesen Wartesaal von fremden Händen hereingeschoben, aber nein, die eigene Tochter war bei ihr, die Greisin war die Mutter dieser wunderbaren Tochter, die sie einst geboren und mit Liebe großgezogen hatte. Die Erinnerung an ein erfülltes Leben und das liebevolle Gesicht ihres Kindes gab ihr nun Trost und Fassung, hier im Wartesaal der Kranken, der Sterbenden, der Todgeweihten.
Ich begann ihn jetzt schon zu fürchten, den Alterstod, schlimmer noch, ich malte mir mit detaillierter Genauigkeit mein grässliches Lebensende aus, als einen ungewaschenen und ungepflegten alten zitternden und wimmernden Mann, dem der Speichel aus dem Mund tropfte, würde man mich in diesen Wartesaal hineinbugsieren, mit von mir abgewendetem Gesicht, und mich grob in einen ebensolchen Rollstuhl setzen, in der nun die Alte saß, und da würde ich einsam unter all den Menschen sitzen, die mich nicht bemitleiden, sondern verabscheuen würden.
Denn das, meine Lieben, ist der Tod eines alt gewordenen Versagers!
Niemand entschädigt ihn für all die in völliger Abgeschiedenheit verbrachten Jahre, ob sein lebenslängliches Versagen nun auf eigene Unfähigkeit beruhte oder durch das Einwirken anderer Menschen teils begründet war, wen kümmer’st, es ist völlig gleichgültig, es hat keine Bedeutung. Das Einzige, was von Bedeutung ist, ist, dass dieser alte Mann im Rollstuhl nicht erreicht hat, was zu erreichen war, seine Mitmenschen nicht geliebt hat und darum auch nicht geliebt wurde, nicht den Mut und Wille hatte, etwas zu wagen, wo er hätte wagen sollen, immer verlor, weil er nie glaubte, gewinnen zu können; ja, warum, alter Versager, hast du dein Leben lang versagt!?
Ich wandte mich ab von der seligen Greisin und der Tochter, die ich plötzlich mit wilder Leidenschaft begehrte und niemals haben konnte!
Nein, empörte sich alles in mir, nein, so will ich nicht sterben! Doch gab es einen Ausweg? Oh ja, es gab einen letzten Ausweg, ich hatte mich entschlossen: Wenn alles vergebens war, würde ich diesen einzig mir noch offenen Weg gehen.
Aus diesen trüben, ach, was schreibe ich denn da, aus diesen grausigen, selbstquälenden Gedanken, die mein verdunkeltes und verstörtes Gemüt noch mehr verdunkelten und verstörten, erweckte mich eine von ihrem Stuhl aufspringende und an mir auf einem Bein vorbeihüpfende Gazelle, das andere verletzte Bein war mit einem dicken Verband am Knie verbunden, trotz dieser Behinderung bewegte sich das junge Mädchen mit verblüffender Leichtigkeit, flink und scheinbar unbeschwert, durchhüpfte es in großen Sprüngen den Wartesaal auf einem Bein, den ganzen Weg fröhlich lächelnd, das lange schwarze seidene Haar umtanzte sein Kindergesicht. So flog es halb schwebend der Krankenschwester entgegen, die es beim Namen gerufen hatte und an einer geöffneten Tür wartete.
Ich sah ihm äußerst erstaunt und mit großer Bewunderung nach, ich war nicht der Einzige, die meisten um mich sitzenden Menschen hatten der Gazelle einbeinigen, hurtigen Lauf mit verblüfften Augen verfolgt. Der unerwartete Auftritt des tapferen Mädchens, auf den wahrlich niemand vorbereitet gewesen war, hatte unter den Anwesenden im Wartesaal großes Aufsehen erregt. Als die Tür hinter der Gazelle ins Schloss fiel, begann ein stauendes, des verletzten Mädchens eindrucksvolle Leistung besprechendes und lobendes Flüstern.
Auch ich wollte meine Gedanken über das Gesehene meinem Nebenmann offenbaren, gerne hätte ich mit ihm erörtert, welche bewundernswerte Lebenseinstellung doch in des Mädchens Betragen zum Ausdruck gekommen sei, doch meine Stimmbänder versagten mir den Dienst. Ich brachte keinen Laut zustande, nicht eine winzige Silbe entschlüpfe meinen fest geschlossenen Lippen, nur ein kaum hörbares Röcheln, es war also geschehen: Ich war verstummt!
Was hilft es, wenn man zwar reden könnte, aber sich nicht einem Mitmenschen miteilen kann. Zugegeben, es ist ein schwer erklärbares Phänomen, doch wie dem auch sei, in diesem Zustand des Kein-Wort-mehr-herausbringen-Könnens befand ich mich nun, das monatelange Schweigen hatte dazu geführt.
Ich schwieg also gezwungenermaßen, ich hätte schreien wollen. Ich werde mich in der Zukunft damit begnügen müssen, die Worte zu schreiben.
Das nächste Kunststück wurde mir von zwei jungen Männern vorgeführt, die in meiner Nähe nebeneinandersaßen. Der eine, er saß an meiner Seite, hatte den rechten Arm in der Schlinge, der andere den linken. Trotz diesen sich gleichenden Verletzungen schienen sie nichts gemeinsam zu haben, sie saßen beide stille da und guckten ein wenig befremdet im Saal herum.
Als der eine aber, dessen rechter Arm unbrauchbar am Körper gebunden war, mit der linken sich an seinem Rucksack zu schaffen machte und sich eine Weile vergebens bemühte, ein Kleidungsstück daraus hervorzuzerren, was kläglich misslang, da das Kleidungsstück aus dem halb zugeknoteten Rucksack nicht hinauswollte und so das hartnäckige wilde Zerren des Linkshändlers nur bewirkte, den Rucksack emporzuheben, da verstand der Rechtshändler in welcher misslichen Lage sich der Linkshändler befand, und da ich keinerlei Anstalten machte, mit meinen beiden gesunden Händen helfend einzugreifen, kam er dem Bedrängten zu Hilfe.
Mit der Rechten hielt er den Rucksack, sodass der Linkshändler mit seiner gesunden Linken das Kleidungsstück aus dem Rucksack erfolgreich herausbefördern konnte!
Sie wissen sich zu helfen, die Menschen!
6. Oktober
Der Alte sprach mich heute an, am Lichtbrunnen. Es war ja vorauszusehen gewesen, Schritt für Schritt war er mir mit jedem Tag nähergekommen, hatte sich so unmerklich wie möglich an mich herangemacht, der alte Fuchs. Er stand mir nun so nahe, dass man hätte meinen können, wir gehörten zusammen. Schulter an Schulter standen wir da und durchwühlten den Menschenhaufen unter uns mit den Augen. Ich hätte seine Nähe nie ertragen, wäre ihm entflohen, wenn er mich nicht an seine Person durch sein Stück für Stück vonstatten gegangenes Näherkommen in den letzten Wochen daran gewöhnt hätte. Ich glaube, der Alte hatte das schon längst kapiert.
Immer wenn ich sicher war, dass er nicht in meine Richtung schaute, betrachtete ich ihn verstohlen. Zu Recht nannte ich ihn einen alten Fuchs. Sein Gesicht ähnelte dem eines durchtriebenen Tieres, eines Marders oder Fuchses. Schlau und spitz. Zwei rege Augen blickten amüsiert (?) auf die im Lichtbrunnen herumirrenden Menschen, belächelte er sie verstohlen?!
Plötzlich, ohne sich mir zuzuwenden, in einem beiläufigen, freundlichen Ton begann er zu sprechen: „Ich kann dir helfen. Wenn du willst.“
Unwillkürlich machte ich einen Schritt von ihm weg. Hatte ich richtig gehört? Solch ein Angebot hatte ich nicht erwartet, alles andere, aber nicht das. Ganz und gar im Unklaren darüber, wie es gemeint war, schaute ich ihn verwirrt an. Der Alte nahm die kurzen stämmigen Arme von dem Geländer und verschränkte sie, indem er sich mir ganz zuwandte, hinten auf dem Rücken. Den Kopf ein wenig geneigt stand er vor mir. Seine Augen lauerten mich an.
„Ich helfe dir, wenn du willst“, wiederholte er noch einmal und nickte mir zu, als wollte er mir durch diese bestätigende Geste verständlich machen, dass es ihm ernst sei.
Zweierlei Empfindungen regten sich in mir, erst fühlte ich eine große Erleichterung, ja fast Freude, dass hier ein Mensch war, der mein Leiden verstand und bereit war, mir zu helfen. Schon war ich drauf und dran ein befreiendes Ja hervorzupressen, doch dieses Ja wollte nicht heraus, etwas in mir hielt es zurück. Es war das Misstrauen in mir, das Misstrauen gegen alle und alles in dieser Welt, dass dieses hoffnungsvolle Ja abwürgte. So wurde der von des alten Mannes Worte in mir geweckte Hoffnungsschimmer von mir selbst im Keim erstickt, und alles, was blieb, waren schales Misstrauen und Ablehnung. Der Alte hat mich getäuscht, kam mir der Verdacht, all die vergangenen Wochen hat er den einfältigen Alten gespielt, der nichts Besseres zu tun hatte, als hier herumzulungern, doch es war wegen mir, dass er hier gewesen war. Ich war es, der ihn interessiert hatte, amüsiert (!) hatte, nicht das Treiben im Lichtbrunnen. Ich war ihm wie dem Zoobesucher dem im Käfig eingesperrten Affen, dessen klägliches Dasein mitleiderregend und doch gleichfalls ergötzend ist. Würde er mir aber ernstlich helfen? Nein, denn die Welt ist ein Zoo, und hilft man dem Affen aus dem Käfig? Man wirft ihm vielleicht Futter zu, um zu sehen, wie gierig er sich draufstürzt. Das Angebot des Alten war nichts anderes, als ein solches Futter durch die Gitter zu werfen, aber aus dem Käfig befreien ... oh nein! Es gäbe eine Attraktion weniger.
Der Alte schaute mich immer noch an, erwartungsvoll, in unveränderter Haltung stand er vor mir, den Kopf noch tiefer geneigt, sein Kinn berührte nun seine Brust.
„Na, junger Mann, was ist?!“, fragte er, als ich auch nach dem Verstreichen von Minuten nichts erwidert hatte. Mein ganzer Körper schüttelte sich unwillig. Ich drehte mich um und entlief ihm.
„Dann geh nach Hause!“, hörte ich den Alten hinter mir her rufen, seine Stimme war nicht mehr freundlich, sie klang befehlend, drohend. „Hörst du, Junge, mach, dass du nach Hause kommst!“
16. Oktober
Mein liebes Mädchen. Wie geht es dir? Bist du wieder wohlauf, nach dem, was du wegen mir durchleiden musstest? Es tut mir alles so furchtbar leid.
Ich schreibe dir, weil ich niemanden sonst habe, an den ich mich wenden kann. Ich bin nun schon seit vielen Wochen in dieser unfreundlichen Stadt, in der es immer kälter wird, die Herbstsonne wird schwächer mit jedem Tag, und ich fürchte, dass sie eines Tages nicht mehr die Kraft haben wird, aufzugehen. Ich verliere auch an Kraft, ich schlafe schlecht, da die Nächte so kalt geworden sind, und esse wenig, ach Blödsinn, ich esse fast nichts, da ich mir alles zusammenstellen muss. Du wirst sagen, es geschieht mir recht, und es ist wahr, es geschieht mir recht, denn ich habe versagt. Wenn du mir bloß verzeihen könntest, dann wäre alles für mich erträglicher, die Vorstellung, dass du mich hasst und verabscheust, halte ich nicht aus. Du wirst froh sein, mich endlich los zu sein. Zu lange habe ich mich an dich gehängt und dich durch mein Unglück unglücklich gemacht. Aber es war doch auch manchmal schön zwischen uns? Weißt du noch, als wir damals im grünen Garten saßen und ich dir das Schachspiel beibrachte. Du fandest das Schachspiel ein wunderlicheres, lustiges Spiel. Als ich dir erklärte, wie die einzelnen Figuren auf dem Brett ziehen müssen, lachtest du vergnügt. Dein Lachen erfüllte mich mit einem nie zuvor gefühlten Glücksgefühl, wie viel es mir doch bedeutete, dich so froh zu sehen in meiner Gesellschaft!
Ich wünsche aus ganzem Herzen, es wäre mir vergönnt, dein helles glockenklares Lachen noch einmal zu hören. Dieser Wunsch, die Hoffnung, dieses Gebet! Ja, es ist ein Gebet, dich wiederzusehen, in schönen Tagen, hält mich am Leben. Es ist eine Illusion, ich weiß …
Ich kann diesen Brief an mein liebes Mädchen nicht abschicken, auch wenn jedes Wort darin mit dem Blut meines Herzen geschrieben ist. All diese Erinnerungen sind vielleicht nur reine Fantasie. Ja, so ist es, ich werde dieses schöne Bild, wo ich mit meinem lieben Mädchen im Garten sitze und Schach spiele, erträumt haben. Es ist eine Wunschvorstellung, die niemals in Erfüllung gehen wird.
Ha, alles nicht geschehen! Ha, alles erträumt!
Ich habe einen Schweinehunger.
16. Oktober
Ich muss raus aus dieser Stadt, bevor ich hier, wie Bernhard, mein guter Freund, es ausdrücken würde, mit Leib und Seele zugrunde gehe. Ich fange schon an, im Kreis herumzugehen. Jetzt, wo ich meine Stimme verloren habe, wie ist es mit meiner Gestalt?
Kann man mich noch sehen oder bin ich für die anderen Menschen unsichtbar geworden? Ich werde dem Rat des Alten folgen. Mag sein, er meinte es doch gut mit mir. Ich werde dahin zurückkehren, wo ich geboren wurde. Es ist mein letzter Versuch.
17. Oktober
Es tut gut, unterwegs zu sein! Endlich diese engen, von tausenden und abertausenden von Füßen durchtrampelten Straßen, diese massiven Steinbauten, in denen die Menschen sich lebenslänglich verbarrikadieren, hinter sich zu lassen. Diese Stadt, die ich betrat in der Hoffnung, mein Glück zu machen, verlass ich nun voller Abscheu, unglücklicher denn je, wie konnte ich nur so lange in ihrem Dreck aushalten und ihre stinkende, verpestete Luft einatmen?
Die Menschen lassen mich in ihren Autos mitfahren, manche schauen mich zwar komisch an und stellen Fragen, doch ich kann ihnen ja nur mit Nicken oder Schütteln des Kopfes antworten, was sie sichtbar verärgert und schließlich dazu führt, dass sie brav die Klappe halten.
19. Oktober
Ich bin nun kurz vor meinem Ziel. Es ist ein frischer herrlicher Vormittag, der blaue Himmel durchwirkt von einer zarten Schicht Weiß. Ich bin nun auf dem Land, auf beiden Seiten der sich durch hügelige Landschaft windenden Straße sind Wiesen, auf denen Kühe geruhsam grasen, erstrecken sich weite Felder voller Korn und Blumen, es müssen Mohnblumen sein (!), und wachsen abgeerntete Apfelbäume.
Den letzten Rest des Weges nahm mich ein Bauer auf seinem Traktor mit. Der gute Mann stellte mir keine neugierigen Fragen. Schweigend saßen wir nebeneinander auf dem Fahrersitz und fuhren auf der schmalen holprigen Landstraße dem Dorf entgegen, deren zwischen sanften Hügeln auftauchende Häuserdächer ich voller banger Erwartung entgegensah.
Ach, wie sehr beneide ich den Bauer an meiner Seite! Er war hier zu Hause, dort im nahen Dorfe war sein Heim, Frau und Kinder erwarteten wohl voll Ungeduld seine baldige Heimkehr. Der Kinder fröhliches Geschrei würde ihm einen stürmischen Empfang bereiten. In einer warmen Stube, an einem Tisch war ein Teller für ihn aufgedeckt, sein gewohnter Platz war noch leer, doch schon bald würde die Familie vereint in fröhlicher Runde beisammensitzen. Wie glücklich und zufrieden das Leben eines Menschen sein muss, dem ein Hof und ein kleines Stück Land gehört, der Felder und Wiesen bestellt, ich wünschte ich wäre des Bauern Knecht und dürfte ihm mit harter Arbeit jeden Tag beiseite stehen.
Wie sinnvoll das menschliche Dasein ist, wenn es erfüllt ist von Tätigkeit und Schaffen und seiner größten Tugend, der Fleiß, sich darin zu bewähren und Gutes zu erwirken!
Nahe waren wir dem Dorf nun gekommen, ein schmaler Feldweg führte davon weg in ein kleines Wäldchen hinein. Wonnig durchströmte mich die plötzliche Erinnerung: Auf diesem Weglein bin ich als Knabe in fröhlichem Lauf geschritten, auf das Wäldchen zu, dessen Bäume mein Spielplatz waren! So stürmisch wurde ich von dieser lieblichen Erinnerung erfasst, dass ich es dem Bauern offenbaren wollte: Bekannt ist mir diese schöne Gegend, als Knabe erforschte ich sie! Doch was hätte der redliche Mann mir, einem Unbekannten, auf solch einen ungestümen Ausruf erwidern sollen?
Am Dorfseingang stieg ich vom Traktor, dankte dem Bauern mit freundlichem Abschiedswink und ging zögernden Schrittes ins Dorf hinein.
Oh!, welch großartige und doch gleichfalls so ängstliche, verzagte Gefühle mein Herz bestürmten. Alles war so unverändert geblieben, die kleinen, von Gärten umgebenen Häuser, die stillen Straßen, und dort, inmitten des Dorfes, auf dem großen freien Platz stand die hohe Kirche, dessen in meiner Kindheit so oft gehörtes Glockengeläut noch oft in der Fremde in meinem Geiste wiedererklungen war. Ich setzte mich auf die steinernen Stufen der Kirche.
So friedlich das Leben hier gelebt wurde, so still und besonnen die Menschen hier dahergingen. Und wie rein die Luft hier war, wie belebend sie die Lungen füllten, frisch und duftend wehte ein lauer Windstoß von Wald und Feld ins Dorf hinein.
Ja, dachte ich bei mir, hier in dem trauten heimatlichen Dorf würde für mich alles gut werden. Hatte doch das Leben hier einst dem Knaben glückliche Jahre beschert, warum sollte es dem erwachsenden Mann nun versagt bleiben?
Und als die Kirchenglocke über mir mit einem mir vertrauten lauten Klang die volle Stunde verkündigte, regten sich in mir fromme, von neuer Hoffnung beflügelte Gedanken, die gleich einem Gebet sich in meinem Geist hintereinander reihten:
Heimat, ich bitte dich, weise mich, den du einen Fremden meinst, da du mein Antlitz nicht mehr wiedererkennst, nicht von dir.
Sei wie die liebende Mutter, die den verlorenen Sohn, der aus fremden Ländern unverrichteter Dinge zurückkehrt, enttäuscht von des Welten Gang, müde der Menschen leerem Getue, auf ihrem mütterlichen Schoss ausweinen lässt und den Verzagten mit liebevollen Worten Trost bereitet!
Ihr guten, redlichen Menschen, verweigert nun nicht euer freundliches Lächeln dem ernsten, langsam mit gesenkten Kopf dahingehenden Mann, das ihr ihm einst, als er ein junger Knabe war und fröhlichen Gesichts und hüpfenden Schrittes an euch vorbeisprang, so offen und gerne zeigte.
Nehmt mich, den Fremden, den Verstoßenen, wieder auf in eure Gemeinschaft, der er einst entrissen wurde.
Die dieses Dorf umgebenden weiten Wiesen und Wälder erwecken in mir, wenn ich euch durchschreite, erneut die Lebensfreude, die ich als Kind so stark gefühlt!
Mein liebes Mädchen.
Es wird sich schon alles für mich richten. Ich bin guter Hoffnung! Und wenn bald alles gut ist, wird auch zwischen uns wieder alles gut werden!
20. Oktober
Der schöne Tag verging wie im Fluge, so viel hatte ich zu besehen und wiederzuentdecken. Das Haus meiner Kindheit stand noch!
Ich verweilte lange davor und schaute mit träumendem, sinnendem Blick zu seinen Fenstern hoch. Hinter diesen sicheren Mauern hatte ich unbekümmerte Jahre verbracht, in einer Ecke war mein Bett gestanden, in dem ich des Abends müde vom Spiel schlafen gegangen und von dem ich am Morgen voller Tatendrang und Vorfreude aufgestanden war. Der Anblick des neben dem Haus gelegenen, von einem halbhohen Zaun umgebenen Gartens erinnerte mich daran, dass ich dort als Knabe ein kleines Bäumchen gepflanzt hatte, für das ich große Sorge getragen hatte in der Hoffnung, es würde einst zum stattlichen Baum heranwachsen.
War es zwischenzeitlich zu einer kräftigen Gerte herangediehen? Hatte es sich entfaltet?
Vorsichtig öffnete ich die Gartenpforte und schlüpfe dahinter. Doch als ich zu der Stelle kam, wo ich das Bäumchen vor so vielen Jahren gepflanzt hatte, war da nur steinige Erde.
Ein sich im Haus öffnendes Fenster und daraus erklingende wüste Stimmen zwangen mich, fluchtartig aus dem Garten und von dem Haus wegzugehen.
21. Oktober
Ich tat heute einen langen Spaziergang durch die Umgebung.
Wie gut ich mich hier noch auskannte! Ich ging aus dem Dorf heraus durch die Felder runter zum Fluss.
An seinem Ufer hatte ich oft als Junge gesessen, auf einem Grashalm kauend und einem selbst gemachten Rindenboot nachschauend, das über Stromschnellen tanzte und rasch flussabwärts trieb. Es war mir, als wäre es gestern gewesen, und doch: Wie viel Zeit ist seitdem vergangen!
Der Fluss floss nun gemächlicher dahin, sein Wasser war trübe, ein Geruch von Fäulnis und Verrottung stieg von ihm auf. Tiefhängende, kahle Äste neigten sich über ihn, vermoderte Baumleichen schwappten in dem schwarzgrünen Gewässer.
Ich folgte dem Flussbett bis in den am Dorf beginnenden nahen Wald hinein. Die restlichen Stunden des Tages verbrachte ich in seiner Abgeschiedenheit.
Hinter moosbedeckten Steinen bereitete ich mir aus grünem Farn ein Lager und streckte mich darauf aus. Es dämmerte, und der Abend wurde zur Nacht, schwarze Dunkelheit senkte sich über den Wald. Bleich war des Mondes schwach durch die im Winde sich leicht bewegenden Kronen der Bäume dringender Schein. Der Wald und ich waren eins.
Zwischen seinen hohen Tannen- und Laubbäumen hatte ich als Kind viel Zeit verbracht.
Zusammen mit einem guten Kameraden war ich Herrscher über dieses große geheinmissvolle Reich gewesen, Schulter an Schulter hatten wir es durchstreift und waren auf die höchsten Bäume geklettert. Welch glückliche Zeit das gewesen war! Damals hatte ich die Freundschaft, die mich mit einem anderen Jungen verband, das Glück, das ich im Spiel mit ihm teilte, als etwas Selbstverständliches angesehen, als würden diese Freundschaft und mein Lebensglück für immer währen. Ach, wie unschuldig ist doch des Kindes Sinn, wie leichtsinnig ist doch das Kind, das ganz in der Gegenwart aufgeht und der Zukunft keinen Gedanken opfert!
Aber kann man es denn dafür tadeln? Ist es nicht jedes Kindes Recht glücklich und sorglos zu sein, denn aus dem Glück seiner Kindheit schöpft der Mensch seine Kraft und seine Lust am Leben.
Nun habe ich schmerzlich erfahren, wie teuer eine solche Freundschaft ist, wie vergänglich das Kindheitsglück ist und all seine Freuden. Die Erinnerung an die tiefe Freundschaft, die mich hier in diesem Dorf mit einem anderen Jungen verbunden hatte, ließ mich das Gesicht und die Gestalt meines Kindheitsfreundes lebhaft vor mir sehen. Was wohl aus ihm geworden war, aus dem rothaarigen sommersprossigen Jungen, der immer so voller toller Einfälle und Streiche gewesen war, diesem lustigen lebensfrohen Kerlchen? Nun, ich werde es herausfinden, morgen in der Früh werde ich die Straße aufsuchen, in der er mit seiner Familie gelebt hat, vielleicht immer noch lebt. Es wird ein frohes Wiedersehen sein, wie lange haben wir uns nun schon nicht mehr gesehen, und doch ist es mir, als könnte sich zwischen mir und ihm nichts verändert haben. Schworen wir doch einst in eben diesem Wald uns ewige Freundschaft. Kinder waren wir damals, aber mit welchem großen Ernst und welcher Feierlichkeit hatten wir unseren Freundschaftsbund geschlossen! Des anderen Arm um den Leib, nah waren wir beisammengesessen und hatten den Bund lebenslanger Treue miteinander besiegelt. Die Jahre mögen uns älter gemacht haben, doch eine solche Freundschaft wie die unsrige kann die Zeit nicht aufheben. Ein beinah heiteres, übermutiges Gefühl bemächtigte sich meiner.
Mein Kindheitsfreund würde mich mit offenen Armen bei sich aufnehmen, unsere Freundschaft würde mit neuer Innigkeit aufflammen und mit ihr mein Lebensglück beginnen!
Ich bin zurückgekehrt, mein guter Freund, schon bald sehen wir uns wieder!
24. Oktober
Oh, du grausames Schicksal, warum peinigst und bedrängst du den Menschen so arg, dass er diese Welt nicht mehr ertragen kann und von ihr scheiden will?
Du Verteiler menschlichen Glücks und Leids, warum hältst du die Wagschale, in der eines Menschen Leben abgewogen wird, nicht im Gleichgewicht. Dem einen Menschen füllst du nur die eine Wagschale, die des Glücks und der Freude, leicht und unbeschwert geht er durchs Leben, dem anderen nur die andere Wagschale, die des Leides und Ungemachs. Er trägt das schwere Gewicht tapfer auf seinen Schultern, doch du füllst sie übervoll, sodass ihr Gewicht den armen Menschen unter sich erdrücken muss.
Ich war gleich am Morgen, wie ich es vorgehabt hatte, zum Haus meines Kindheitsfreundes gegangen. Mit weichen Knien, voller Vorfreude hatte ich vor der Tür gestanden.
Wie bitter wurde ich enttäuscht! Eine hagere Dame mit strengem Gesicht hatte mir geöffnet und mich, als ich den Grund meines Herkommens erläuterte, ohne Umschweife, in fast schroffen Ton über die Angelegenheit aufgeklärt: Die betreffende Familie lebe hier schon seit Langem nicht mehr, sie seien vor Jahren weggezogen, wohin wisse sie nicht, die Sache habe großes Aufsehen im Dorf erregt, die damit angefangen hatte, dass die Eltern sich tagein, tagaus lautstark gezankt hätten, furchtbare Zustände müssten das gewesen sein, so das zur damaligen Zeit im Dorf herumgehende Gerücht, eines der Kinder, der Sohn, hätte sich daraufhin das Leben genommen; er war in der Schule, wie es später rauskam, auf teuflische Weise geärgert worden, war wohl alles zu viel geworden für das junge, schwache Herz, aber so sei nun mal das Leben, die Starken leben, die Schwachen nehmen sich das Leben!
Welch harte, unerbittliche Ansicht aus ihrem letzten Satz gesprochen hatte, und wie scheußlich war er vorgetragen worden! Den Mund, der diese Worte ausspie, hatte eine unmissverständliche hämische Regung umgarnt, der Ansatz eines spöttischen Lächelns, als beinhalte dieser Satz eine versteckte Pointe voll Geist und Witz, die, wenn man nur den nötigen Verstand besaß, sie zu erraten, köstlich amüsieren musste. Sie zählte sich unweigerlich zu den starken, einer überlegenden Sorte von Menschen, die die Machenschaften des Lebens bis ins kleinste Detail durchschauen und über die vom Leben gegrabenen Fallgruben mit großer Genugtuung und Leichtigkeit schwungvoll hinwegspringen, um sich dann nochmals dem Rand des gerade überwundenen Hindernisses zu nähern und denen, die so dämlich gewesen waren, hineinzufallen, ihr schadenfrohes geringschätziges Lächeln zu zollen. Alles, was ich an den Menschen abstoßend finde, was mich bei ihnen anekelt, erfüllte diesen Menschen, wurde von dieser Frau aus allen Poren ihrer Haut ausgedünstet, ja, es umgab diesen Menschen eine Geruchswolke menschlichen Unverstandes, diesem penetranten Gestank waren alle übelriechenden Flüssigkeiten beigemischt, den der Mensch alltäglich ausschwitzt. Arroganz, Unverstand und Unvermögen. Es sind solche Menschen, die andere, charakterschwächere, zugrunde richten, es sind solche Ansichten, die dazu führen, dass die Existenz dem leidenden Menschen unerträglich und darum, wenn völlig zerstört, freiwillig beendet wird.
So wie ich ist auch Bernard von dem Satz „Die Starken leben, die Schwachen nehmen sich das Leben“ zur Weißglut aufgebracht und empört, der Arme hat ganz und gar die Fassung verloren und tobt und wütet wie ein toller.
Eine andere mehr besonnene und sehr kummervolle Stimme spricht mir aus dem Herzen: Oh, mein guter Kindheitsfreund, was haben die falschen Menschen dir angetan!
Wie warst du doch voll von Träumen, von denen du mir in unermüdlichem Redestrom oft kundtatest in den gemeinsam verbrachten glücklichen Tagen unserer Kindheit. So viel erhofftest du dir von deinem bevorstehenden Leben, du erbautest Schlösser und mächtige Burgen in deiner Vorstellung, von deren Pracht und Größe du mir berichtetest. Wort für Wort, Stein auf Stein erbautest du sie vor meinen Augen, bis zum Himmel reichten ihre Türme. Was hättest du nicht alles Großartiges vollbringen können, wenn man dich aufgemuntert und dir beigestanden hätte, deine Träume zu verwirklichen, doch stattdessen hob man das Fundament aus, auf dem deine Fantasiegebäude standen, man nahm dir die Lebensfreude und in deinem Inneren stürzten sämtliche zum Himmel strebende Türme ein. Ich erhoffte in dir, meinen Erlöser von Schmerz und Leid zu finden, nun ahne ich mit grauenvoller Gewissheit, wie vergeblich du selbst lange auf einen solchen Erlöser aus deiner eigenen Lebensqual harrtest, er kam nicht.
Der freundliche Stern, der mir in der Dunkelheit leuchten sollte, ist schon längst hinter schwarzen Wolken für ewig erloschen. Wehe dir, Welt, dass du ein solches helles, verheißungsvoll leuchtendes Gestirn von deinem weiten Firmament nimmst!
?. Oktober
Nur noch in Gesellschaft mit Werther und Bernhard finde ich Trost, wir verstehen uns, wir sind uns einig geworden. Wir sprechen die gleiche Sprache.
Dem Dorf blieb ich fern, da mich die dort lebenden Menschen anwiderten, in deren Mitte ein Mitmensch zugrunde gerichtet worden war, die diesem Zugrunderichten tatenlos zugesehen, manche sogar daran teilgenommen hatten, da ich diesen Menschen ihre Mitschuld ansehen konnte und beim Anblick dieser blutbefleckten Geistesschlächter von großer Übelkeit befallen wurde.
Der Wald ist mir hingegen lieb, seine Kühle und seine von der Jahreszeit bedingten zunehmenden Kahlheit ist mir angenehm.
Ich habe heute Nacht von meiner Mutter geträumt, in diesem Traum war sie wieder gesund und wohlauf, wir sprachen miteinander und waren guter Dinge. Als ich aufwachte, fror ich erbärmlich, meine Stirn war heiß, kalter Schweiß rann mir den Rücken runter. Meine Glieder waren steif und schmerzten. Ein mich durchschüttelnder Husten hatte mich befallen. Die Verfassung meines Körpers war mir gleichgültig, warum den Körper, diese Schale des Geistes, pflegen und hegen, wenn der Geist von einer tödlichen Krankheit befallen ist, an dem er zugrunde gehen wird?! Ich bereue ein wenig, diesen Satz geschrieben zu haben, Werther flüsterte ihn mir ein, aber ich werde ihn nicht zum Unkenntlichen überstreichen, auch wenn ich weiß, dass darin eine Lüge enthalten ist.
Denn die meinen Geist angefallene Krankheit muss nicht unbedingt tödlich enden, es gibt eine Medizin, es ist nur, dass das Fläschchen Hoffnung, das mich bisher tropfenweise am Leben gehalten hat, sich bis auf einen einzigen Tropfen gelehrt hat. Aber so lange dieser eine Tropfen goldenen Saftes hinter dem braunen Glas auf dem Boden der Flasche noch hin und her fließt, so lange dieser belebende Extrakt noch nicht gänzlich ausgesaut ist oder als eine Sinnestäuschung, als fahles Wasser ausgespien in der Erde versickert, ist er, mein Geist aus der Flasche, eben noch zu retten. Der geträumte Traum ist der letzte Tropfen, den ich schmecken und kosten werde.
November
Ich war bei den Behörden. Meine Mutter lebt! Sie wohnt, so wurde mir gesagt, in einem Dorf, es liegt ganz in der Nähe. Ich werde mich sofort auf den Weg machen, um sie zu besuchen.
Er schmeckt süß auf der Zunge, der goldene Tropfen!
Der Weg zum Dorf ist mir Freud und Leid zugleich, mal scheint er mir schwer begehbar und voller Krümmungen, dann gehe ich langsam und verzagt daher, mal schreite ich zügig vorwärts auf eben gepflasterten Steinen.
Der Himmel dieses Tages, findet Werther, ist undeutbar, vage, ungewiss, bald Licht, bald Schatten. Ich gebe ihm Recht, zwischen finsteren, meine Wanderung begleitenden Wolkenmassen versucht das Licht hindurchzudringen, nur für kurze Augenblicke ist es dem Sonnenlicht vergönnt, sich auf der Erde in hellem Schein zu ergießen.
Bernhard gefällt die den Himmel beherrschende, drohende Schwere, der Himmel zeige nun sein wahres Gesicht, meint er; ich verstehe, was er damit sagen will, ein dunkler beunruhigender Himmel gehört über der Menschen Welt.
Als ich in mein Ziel erreiche, hat das Licht scheinbar über die es bekämpfende Dunkelheit gesiegt, die finsteren Heerscharen sind zurückgedrängt, der Sonnen Lichtspeere durchbohren mit züngelnder Flammensspitze den von langem Kampf geschwächten Leib des dunklen Feindes und verkünden mit eindringlichem triumphalem Lichtenschall ihren Sieg der Erde. Doch schon nahen am fernen Horizont neue gewaltige, finstere Heeresmassen, die entscheidende Schlacht steht also noch bevor.
Das Dorf ist lieblich anzuschauen jetzt im Sonnenschein, alte Bäume, dessen bescheidenes grünes Blättergewand der Herbst mit gelben und rötlichen Farbflecken großzügig betupft hat, recken sich in vielen der die kleinen Häuser umgebenden Gärten. Mein Weg führt mich an des Dorfes Kirche vorbei, die mich mit kurzem fröhlichem Glockenspiel grüßt, und einem Wirthaus, aus dem lautes angeregtes Stimmengewirr grölt. Ich passiere dicht von Menschen mit lachenden Gesichtern besetzte Stühle um Tische eines Cafés. Erschrocken bleibe ich stehen: An einem der Tische sitzt der alte Mann aus der Stadt des Niemandslandes! Zeitung lesend, die Zeitung hebt sich abrupt, als ich stehen bleibe, schnell über seinen Kopf. Schon will ich näher gehen um ihn genauer zu betrachten, ist er es der alte schlaue Fuchs? da kommt ein Mädchen aus dem Wirtshaus heraus und setzt sich an seinen Tisch.
Na also, es muss ein Irrtum sein, denke ich und eile weiter, er kann es nicht sein, es ist nicht der einsame alte Mann aus der Stadt.
Vor den Häusern spielt lauthals eine Schar Kinder.
Auf meinem Weg durch dieses Dorf zu meiner Mutter begleitet mich der Menschen Fröhlichkeit, ihr ausgelassenes Lachen, ihre lebensfrohe Heiterkeit, bis zu dem Haus, in dem man mir gesagt hat, dass sie ein Zimmerchen bewohnt, meine Mutter.
Im Garten dieses Hauses, auch dieses Haus hat einen Garten, sitzen ein paar Männer und eine Frau auf Klappstühlen, sie stehen an Fröhlichkeit den anderen Bürgern dieses Dorfes in nichts nach, ja, sie erwecken den Eindruck, als wären sie die fröhlichsten, lustigsten im ganzen Dorf, wie sie da sitzen, Bier trinkend, schallend lachend. Doch all ihre Fröhlichkeit verendet mit einem Schlag, als hätte ich diese trunkenen Sinne mit einem kalten Schauder zu sich gebracht, ihr Lachen verendet, eine Welle von Ernst und Ablehnung schlägt mir entgegen, als ich mein Anliegen stammelnd hervorpresse.
Sie wohnt da oben, antworten die ob meines Erscheinens aus ihrer lüsternen Lustigkeit Gerissenen, deuten mit unsicheren Armen zum Dachgeschoss des Hauses und schauen mich erst fragend und erschrocken an, dann betreten in die Runde. Im Vorbeigehen sehe ich, wie sie die Bierflaschen in ihren Händen auf den Tisch stellen, als wäre ihnen die Lust am Biertrinken plötzlich vergangen.
Ich betrete das Haus und ersteige voller quälender Spannung die zerschundenen Treppenstufen, die ins Dachgeschoss führen, schon stehe ich unmittelbar vor der Tür, auf dem der Name meiner Mutter steht. Für eine lange Zeit bringe ich es nicht über mich, einen Laut von mir zu geben, lausche mit angehaltenem Atem, das Ohr an das raue Holz gelegt, kein Geräusch vermag ich aus dem Inneren des Raumes zu vernehmen. Schließlich nehme ich all meinen Mut zusammen und klopfe an. Lange bliebt mein vorsichtiges Klopfen unbeantwortet, schon glaube ich, dass hinter dieser Tür kein Leben ist, da fragt jäh eine schwache Stimme: „Wer da?“
Diese einem kraftlosen Windhauch gleichende Stimme erkenne ich als die Stimme meiner Mutter, nur mit aller Mühe vermag ich zu erwidern: „Dein Sohn.“
Erneut muss ich mich gedulden, endlich wird mir die Tür für einen Spalt aufgetan.
Was ich dahinter sehe, will ich nicht beschreiben. Der Einblick, der mir in den winzigen Raum gewährt wird, der Ausdruck in den furchtsam geweiteten Augen, die mir aus einem vom Wahnsinn entstellten und gealterten Gesicht entgegenstarrten, offenbaren mir, was ich bisher nicht wahrhaben wollte: Das Ausmaß menschlichen Leidens kennt keine Grenzen.
So ist es also nur der Tod, der uns erlösen kann.
Ich floh aus diesem Dorf, diese fröhlichen Bürger dieses Dorfes verdammend, dass sie das jammervolle, elendige Dasein, einem in ihrer Mitte lebenden Menschen so kalt und unberührt lässt, ich verdammte und verfluchte mich selbst, der ich außerstande war zu helfen, da er sich selbst nicht zu helfen vermochte.
Der Himmel war schwarz und düster, so hatten sie also doch den endlichen Sieg davongetragen, die finsteren Heeresmassen, ein dumpfes Donnern war ihr grimmiger, der Erde grollender Siegesruf.
Der letzte Schritt
„Nun steht er hier an tiefer Schlucht und blickt hinab auf das vom bleichen Licht des Mondes beschienene, steinige Geröll.
Der Entschlossene hebt das fahle Antlitz dem Mond entgegen, bang ist sein Ruf: Ich danke dir, Mond, du Freund der Leidenden, dass du mir bei meinem einsamen Vorhaben leuchtest, in deinem milden Licht, in düsterer Nacht schließe ich getrost die müden Augen zum ewigen Schlaf. Der Wind braust heulend durch die Bäume des dunklen Waldes, die Nacht ist kühl, der menschliche Verstand ist klar in seiner letzten Stunde.“
Werther hält im Reden inne. Seine ausdrucksvollen Worte geben mir Mut, nun in der plötzlichen Stille schwindelt es mir. Für einen Moment erweckt der tiefe Abgrund zu meinen Füßen ein Grauen in mir, dann gewinne ich das Gleichgewicht zurück und mit ihm verschwindet die plötzliche Angst. Ein kalter Schauder durchfährt mich, ich spüre die Anwesenheit meines Kindheitsfreundes.
Hinter mir, irgendwo in der mich umgebenden Dunkelheit, steht er schweigend, abwartend. Werther und Bernhard sitzen nebeneinander auf einem Stein. Bernhard hält den Kopf gesenkt, eine Hand hat er über die Augen gelegt, der große Mann scheint bedrückt.
Werther fährt fort, er weiß wohl, dass ich seiner Zurede bedarf: „So geht er also aus dieser Welt, die ihm die Menschen fremd und unerträglich gemacht haben, er wird sich von hohem Felsen werfen, zur weichen Erde nieder, die ihn betten wird in ihren warmen Schoß. Nur zu, nur zu, was zauderst du noch, du sagtest selbst, der Tod sei des leidenden Menschen Erlöser! Mich erlöste er aus unglücklicher Liebe, dich befreit er aus liebloser Einsamkeit!“
Aus der Dunkelheit raunt der Geist der Vergangenheit leise und verworren: „Gedenke unserem Freundschaftsbund, folge mir nun auf dem dunklen, ungewissen Pfad, den ich vor dir gegangen!“
„Ja!“, ruf ich zurück in den finsteren, leblosen Wald. „Der Freundschaftsbund, er vereint uns!“
Was ist es, was mich zögern lässt, meinen letzten, den endgültigen Schritt zu tun? Warum schweigt Bernhard so hartnäckig, jetzt in diesen alles entscheidenden Minuten, wo ich seinen Rat sosehr bedarf? Habe ich mich in ihm getäuscht?
„Bernhard, warum schweigst du?“
Der Gefragte erwidert daraufhin monoton, ohne den Kopf zu heben, beide Hände drückt er auf Augen und Stirn, was geht in ihm vor? Weint er gar, der sonst so unerbittliche Mensch?
„Junger Mann, wenn du dein Leben nimmst, dann tust du es aus nachvollziehbaren, verständlichen Gründen, schuldlos, denn die schlechten Menschen haben dich dazu gebracht, sie richteten dich zugrunde, zu allererst jene, die dich in diese Welt zeugten, deine Erzeuger, sie zerstörten dich und werden nun zu deinen Mördern, aber nicht nur sie, alle deine Mitmenschen sind verantwortlich für deinen Tod; eine Existenz, in der alle Hoffnung zertrampelt ist, wie in der deinigen ist sinnlos, an einem solchen, alle Hoffnungen und Freuden genommenen Dasein muss der Mensch unweigerlich zugrunde gehen.“
Bernhard schaut zu mir auf, in seinen Augen ist ein Ausdruck, den ich nicht deuten kann.
Dann sagt er, sich erhebend und hinter den Vorhang der Nacht zurücktretend: „Aber bedenke, verloren ist nur der, der sich selbst verloren gibt.“
„Verloren, ja“, ruf ich ihm nach, „ich bin verloren! Sie haben mich alle zugrunde gerichtet!“
Ich lausche in die Dunkelheit, sind da noch andere Stimmen als die eurigen, die in meiner Sache etwas zu sagen haben, dem schon Gesagten widersprechen oder Zuspruch tun?
Nein, keine anderen, bedrohlich ist die mich umgebende Stille. Ängstlich schau ich mich um. Aus der zwischen den dicht beieinander stehenden Tannenbäumen vollkommen dunklen Nacht schwebt mir ein bleiches Antlitz entgegen. Die irren Augen sind starr und fordernd auf mich gerichtet.
„Was willst du, Mutter, ich kann dir nicht helfen!“
Ich schließe die Augen und sehe ein edles, gütiges, aber nun sehr ernstes Gesicht vor mir.
Mein liebes Mädchen! Ach, wärst du jetzt bei mir und würdest wie schon einmal deine mütterlichen Arme um mich schließen, mich, den Fallenden, halten! Mit dir fühlte ich, wie lebenswert das Leben sein kann. Mein liebes Mädchen, ich hoffe, du wirst glücklich, verzeih mir Vergangenes, wir scheiden, ohne Abschied zu nehmen.
Nun gut, Werther, Bernhard, ich bin bereit, begleitet mich mit schönen, gewaltigen, der Menschheit zürnenden Worten in den Tod!
Ich werde ihn tun, den alles Leiden beendenden Schritt.
Ich bin Werther:
„Ich geh voran! Geh zu meinem Vater, zu deinem Vater; dem will ich’s klagen, und er wird mich trösten, bis du kommst, und ich fliege dir entgegen und fasse dich und bleibe bei dir vor dem Angesichte des Unendlichen in ewigen Umarmungen“.
(Werther am Tage seines Todes in Goethes Werk: Die Leiden des jungen Werther.)
TEIL 4:
dAS ERWACHEN
1.
Werter schlug angstvoll die Augen auf, schweißgebadet erwacht er aus unruhigem Schlaf. Er hatte geträumt, er wäre gefallen, von einer Felskante hinab, durch schwarze Dunkelheit, in endlose Tiefe. Langsam kommt er nun zu sich, setzt sich im Bett auf, auf dem er liegt und schaut sich um.
Es war nur ein Traum, kommt ihm der beschwichtigende Gedanke, und nimmt ihm die furchtbare Angst. Nur ein Traum, es ist alles gut. Beruhigt gleitet sein Blick durch das kleine Zimmer, das nun sein Zimmer ist. Es war jetzt sein neues Zuhause, in diesem Raum hatte er sich auf Anhieb wohl gefühlt, als der Alte ihn gleich bei ihrer Ankunft hineingeführt hatte. Alles hatte ihm an diesem Raum gefallen, die hellblau getünchten Tapeten, der knarrende Holz Fußboden, die altmodische, ein klares, sanftes Licht verströmende gläserne Deckenlampe und vor alledem dieses Doppelbett, es erinnerte ihn an Klassenfahrten und Jugendherbergen.
Werter legte sich zurück auf das Bett und begann über die bevorstehenden Ereignisse nachzudenken.
Viel wusste er nicht, doch dass was der Alte ihm gesagt hatte, reichte ihm sich ein Bild von dem zu machen, was ihn heute Abend erwartete. Man hatte ihm gesagt, dass noch andere junge Menschen in diesem Haus lebten, sie waren aber heute auf einem längeren Ausflug und würden erst am Abend zurückkommen. Für heute Abend war dann eine Versammlung im großen Saal vorgesehen, damit man den Neuen den anderen vorstellen konnte. Werter ängstigte sich vor diesem Treffen. Von Minute zu Minute verstärkten sich sein lähmender Selbstzweifel und die Angst bei dieser Begegnung einen schlechten Eindruck zu machen. Diese Befürchtungen wurden aber auch schon gleich darauf von einer Art euphorischen Gewissheit weggefegt, dass, ganz egal was für eine Figur er abgeben würde, man ihm freundlich gesinnt war.
Es war zum ersten Mal seit langem dass er sich vor einer bevorstehenden Begegnung mit Menschen nicht nur ängstigte, sondern auch fast so etwas wie Vorfreude verspürte.
Was ihn so fühlen ließ wusste er selbst nicht. Seitdem der Alte ihm versicherte hatte er würde ihm helfen, atmete er freier, sein Leben erschien ihm nicht mehr hoffnungslos. Voller banger Zuversicht schaute er nun in die Zukunft. Es war ihm, als man ihn in dem Raum alleine gelassen hatte, klar geworden wie gut und richtig es gewesen war, dass er ja gesagt hatte.
Er stand vom Bett auf und trat ans Fenster. Mit leuchtenden Augen blickte er in den herbstlichen Garten und wiederholte leise immer wieder die Worte des Alten: Ab jetzt wird alles besser werden.
Dann warf er sich zurück auf die weiche Matratze des Bettes und befühlte mit den Fingern die Wand an dem es stand. Diese Wand gab ihm Geborgenheit, er empfand fast so etwas wie Dankbarkeit gegenüber diesen vier beständigen, harten Mauern die ihn von der Außenwelt abschirmten. Endlich umschlossen ihn wieder Wände, in denen er allein sein konnte, zwischen denen er Zuflucht suchen durfte, wann immer er es ihm danach war und die er verlassen konnte, z.B. um da draußen in dem Garten, der sich um das ganze Haus ausbreitete, spazieren zugehen.
Ein vorsichtiges aber bestimmtes Klopfen an der Tür schreckte ihn aus diesem Zustand unbekümmerter Seligkeit auf, aus diesem Halbschlaf indem er, in dieser ihm umgebenden Stille und Geborgenheit, wieder versunken war. Als hätte man ihn in einer unanständigen Tätigkeit gestört, fuhr er aus seiner liegenden Stellung hoch und taumelte vom Bett runter.
Gespannt blickte er zur Tür die sich kurz darauf öffnete. Es war der Alte, Herr Leopold, er hatte sich umgekleidet, nun trug er einen roten Wollpullover und eine braune Korthose. Das spärliche Harr war frisch gewaschen und ordentlich nach hinten gekämmt.
„Wir sind alle beisammen. „Kommst du dann runter Werter?“
„Ja, ich komme,“ kam die hastige Erwiderung.
Aus dieser Antwort war, wie schon am Bahnhof, eine große Achtung gegenüber dem fragenden herauszuhören, nun verriet die schwache Stimme auch die nervöse Aufregung die in dem sprechenden mit plötzlicher Stärke heran wuchs.
Herr Leopold ging voraus, Werter heftete sich an seine Fersen, seine neu gewonnene Zuversicht war verflogen, nun beherrschte ihn nur noch eine schreckliche Vorahnung: Ich werde mich blamieren, ich schaff das nicht. Er verspürte, als sie die knarrenden Wendeltreppen herunter gingen, ein großes Verlangen danach zu schlafen, am liebsten wollte er zurück gehen, in den warmen sicheren Raum und sich wieder hinlegen und ganz nah an die Wand drücken.
Doch gleich einem jungen Sohn der dem Vater, dessen Stärke er bewundert, zeigen will das er ein guter Sohn ist, das er mutig ist und tapfer, und sich aus diesem Wille heraus überwindet etwas zu tun vor dem er sich fürchtet, folgte nun Werter dem altem Mann, im Bestreben etwas zu leisten was seines Erachtens über seine Kräfte ging.
Es war ein geheimnisvolles, wunderliches, außergewöhnliches Haus durch das sie gingen, auf dem Weg in den, in der Mitte des Hauses gelegenen Saal. Das alte Herrenhaus sprach und regte sich ohne Unterlass, wenn von Menschen Füßen betreten. Die abgewetzten Dielen knarrten und bogen sich in den langen schmalen Gängen.
Die schwere Tür zum Saal quietschte in den rostigen Angeln als Herr Leopold und Werter sie öffnete. Der sich dahinter erstreckende Saal war rechteckig, wie alles rechteckig war in diesem Haus. Etwas aber, abgesehen von seiner Größe, unterschied und dadurch bevorteilte diesen Saal von den anderen Räumen des Hauses.
Die gewölbte, von mehreren Säulen, getragene Decke, die in gleich große Vierkanten eingeteilt war. Diese Vierkante traten durch Linien hervor, an denen, in gleichmäßigen Abständen, steinige Rosen die Decke schmückten.
Werter nahm, als er zusammen mit Herr Leopold herein kam, die Schönheit des Saales gar nicht wahr. Er hatte wichtigeres zu beachten. In der Mitte des Saales saßen Menschen auf Stühlen, die sich den Hereinkommenden zuwandten und beim Anblick des Fremden unterdrückte Kommentare austauschten. Auf diese kleine Versammlung richtete Werter seine volle Aufmerksamkeit.
„Oh ist das stickig hier!“ schimpfte Herr Leopold. „Frank hast du wieder die Vorhänge vorgezogen?“
Ein bärtiger junger Mann auf einer der Stühle gab zu dass er die Vorhänge zugezogen hatte, die Sonne wäre zu heiß.
„Nein, nein, Luft und Licht tut uns Menschen gut!“
Herr Leopold ging von Fenster zu Fenster, es waren deren vier in der zur Außenseite gelegenen Wand des Raumes. Energisch zog er die schweren Vorhänge die die hohen Fenster verbargen, beiseite. Es bereitete ihm etwas Mühe die alten Fenster zu öffnen, der alte Mann musste all seine Kraft anwenden, um die widerspenstigen Griffe zu drehen. Weit stieß er die Fenster auf.
Frische, kühlende Luft strömte in den warmen Raum, das helle Tageslicht schien herein und machte die tausenden von Staubpartikel erkennbar, die flimmernd in der Luft schwebten.
Ein zufriedenes „Ah!“ ausstoßend lehnte Herr Leopold sich aus dem Fenster das er zuletzt geöffnet hatte, tief ein und mit übertriebener Wollust ausatmend. Für mehrere Minuten schaute er in scheinbarer Selbstvergessenheit hinaus. Werter stand immer noch unschlüssig an der Tür, den Kopf verlegen dem Alten zugedreht, als wartete er darauf dass dieser ihm sagen sollte, was nun zu tun sei.
Plötzlich öffnete sich die Tür erneut, vor der er abwartend verblieben war. Das geschah so unerwartet und mit so großer Wucht, dass Werter von der schwungvoll aufgerissenen Tür in den Rücken gestoßen wurde. Der Urheber dieser unbeabsichtigten Attacke war eine junge Frau, die sich, als sie Werter entdeckte, sogleich für ihr Versehen entschuldigte:
„Hat es wehgetan?! Ich konnte doch nicht wissen dass du da hinter der Tür standest! Ich bin Cecilie. Bist du der neue? Man hat mir von dir erzählt“!
Werter blickte ein wenig verschreckt in das hübsche Frauengesicht dessen Augen ihn mit durchdringender Intensivität von Kopf bis Fuß musterten. Statt etwas zu erwidern nickte er nur kurz.
Seine Wangen waren über und über von einer, durch diesen unvorhergesehenden Vorfall hervorgebrachten Schamesröte entflammt. Unterdrücktes Raunen, leises Flüstern und Tuscheln aus der Mitte des Saales machte für ihn die Situation noch peinlicher. Die junge Frau lächelte ihm aufmunternd zu.
„Komm gehen wir zu den anderen!“
Die beiden gesellten sich zu den anderen zwischen denen auch Herr Leopold auf einen Stuhl Platz genommen hatte. Das Flüstern verstummte als Werter und die junge Frau sich setzten.
In die erwartungsvolle Stille hinein, erklang Herr Leopolds Stimme, laut und deutlich.
„Da wir nun alle beisammen sind, können wir ja anfangen. Wie ihr seht haben wir einen neuen unter uns.“
Alle Blicke richteten sich bei diesen Worten auf Werter, der, als er sich bewusst wurde dass alle ihn anschauten, die Augen senkte und nervös die in seinem Schoss liegenden Händen ineinander verkrampfte. Er war froh dass der Alte gleich darauf weiter sprach.
„Ich dachte dass wir uns alle mal der Reihe nach vorstellen, und dass auch Werter ein bisschen von sich erzählt.“ Werter fühlte ein unangenehmes, stechendes Prickeln auf der Haut. Der Gedanke dass er alleine vor diesen fremden Menschen reden musste, gefiel ihm überhaupt nicht. Da er aber wusste, dass es für ihn kein Entkommen gab, begann er in großer Eile zu durchdenken was er sagen sollte.
Mein Name ist Werter und bin 19. Jahre alt, stellte er sich gedanklich erstmals selbst vor, verbesserte sich aber sofort, da er fand dass dieser Satz sich irgendwie komisch anhörte.
Ich heiße Werter und bin 19. Jahre alt. Ich bin in Deutschland geboren, war gerade in Venedig gewesen auf eine Klassenfahrt, nein, unterbrach er sich selbst. Dass wird zu lang, wie ich heiße und wie alt ich bin reicht. Also, ich heiße Werter und bin 19. Jahre alt.
Er wiederholte diesen einen Satz sicherheitshalber gleich mehrmals in seinen stillen, tief in seinem inneren gelegenen Kämmerchen, in das er sich immer zurückzog, wenn er sich auf eine Begegnung mit Menschen vorzubereiten hatte. Bis er davon überzeugt war dass er ihn jederzeit fehlerfrei auch laut vortragen konnte. Aber sogleich kamen ihm neue Bedenken. Was wenn mehr von ihm erwartet wurde, sollte er mehr sagen, würde er es schaffen?
In solche und ähnliche Überlegungen vertiefte er sich sosehr, dass er vergaß was um ihm herum geschah, seine Ohren verschlossen sich der Stimme des Alten, ihr Klang wurde schwächer und schwächer, bis Werters Bewusstsein sie nicht mehr wahrzunehmen vermochte. Das schrille, kratzende Geräusch, von einem über den Fußboden geschobenen Stuhlbein, beendet schlagartig Werters gründliche, innerliche Vorbereitung. Zu sich kommend schaute er verwirrt auf das dickliche Mädchen, das sich gerade von ihrem Stuhl erhoben hatte. Die großen schwermütigen Augen auf eine Stelle an der gegenübergelegenen Wand gerichtet, begann sie mit ihrer Vorstellung, in sich überstürzenden, hervor gepressten Sätzen.
„Ich heiße Sabine, bin 23. Jahre alt, bin in München geboren und aufgewachsen. Ich bin seit einem halben Jahr hier. Meine Hobbys sind Cello spielen und lesen.“
Kaum hatte sie den letzten Satz herausgewürgt, setzte sie sich wieder hin und strich sich eine Haarsträne ihres langen braunen Haares zurecht. Dann beschäftigte sie sich mit dem goldenen Armring den sie um das rechte Handgelenk trug. Den Blick fest auf den Schmuck gerichtet, mit den Fingern darauf herum tastend, haarte sie der Dinge die da kommen mochten.
„Dass war ja kurz und bündig,“ sagte Herr Leopold an das Mädchen gerichtet, die schnell zu ihm aufschaute bevor sie mit verdoppelten Eifer mit ihrem Armring spielte, als wollte sie dadurch zum Ausdruck bringen das sie keinesfalls vor hatte mehr zu sagen.
„Frank machst du dann weiter?“
Ein junger bärtiger Mann, derselbe den der Alte vorhin wegen den zugezogenen Vorhängen getadelt hatte, stand langsam auf.
Er machte eine Gruß Geste in Richtung Werter, die aber unnatürlich wirkte, da die sie ausführende Hand nah am Körper gehalten wurde und sozusagen im Versteckten sich zum halbherzigen Gruß erhob. Sein Vollbart und seine dichte Haarmähne gaben seiner Erscheinung etwas Ungepflegtes. Ein Eindruck der von den Kleidern, die er anhatte, eine verschlissene Hose und ein ihm etwas zu großem Hemd, verstärkt wurde. Als hätte er eingesehen dass der erste Akt seines Auftritts nicht so gekonnt lässig rüber gekommen war wie beabsichtigt, verzichtete er im Laufe seiner Vorstellung auf weitere schauspielerischen Einlagen.
Beide Arme schlaff am Körper runterhängend, die Beine wie ein stramm stehender Soldat nah beieinander, erzählte er unter anderem, dass er 25. Jahre alt sei, in Berlin geboren, dort und in ein paar anderen Städten aufgewachsen, mit 16. Jahren von Zuhause abgehauen sei, weil seine Alten sich andauernd gezankt hätten und dass ihm total angenervt hätte, darum sei er eben abgehauen.
Es war um einiges redseliger als das Mädchen, sprach lauter, die Sätze kamen flüssiger und sicherer von seinen Lippen, in fast gleichgültiger Tonart.
Doch plötzlich, aus irgendeinem, seinen Zuhören unverständlichen Grund, brach er mitten in einem Satz ab und schwieg daraufhin beharrlich. Er hatte gerade gesagt, ich bin seit 2. Jahren hier und es geht mir immer … es war an dieser Stelle das er unverwandt verstummt war.
Gleich darauf setze er sich hin.
Der nächste in der Runde war ein blonder, groß gewachsener junger Mann der sich die ganze Zeit über darin abgewechselt hatte etwa schelmisch in die Runde zu grinsen, oder gelangweilt zur Decke zu starren. Scheinbar unbeteiligt fragte er: „Bin ich jetzt dran?“
Als der Alte ihm das bestätigte, streckte er sich ausgiebig.
„Ok.“
Im Stuhl halb liegend die langen Beine ausgestreckt, sagte er halbwegs zu Werter gewandt:
„Hallo! Ulrich, 22, schon viel zu lange hier…was kommt jetzt? “ er tat als müsste er nachdenken, als versuchte er sich daran zu erinnern was die anderen außer ihrem Namen und Alter noch erzählt hatten.
„Ach ja dass war’s. Ich habe schon mit 15 Frauen geschlafen!“
Alle außer Werter und dem Altem fingen an zu lachen. Werter tat es gut dieses Lachen zu hören, es löste seine Anspannung und nahm ihm etwas von seiner Beklemmung. Herr Leopold schaute zwar vorwurfsvoll drein, schmunzelte aber dann doch ein wenig, wahrscheinlich hatte er solch einen Spruch von dem jungen Mann erwartet. An die blonde junge Frau gerichtet fragte er: „Du hast dich Werter schon vorgestellt?“ Die junge Frau stieß ein lachendes „Ja!“ aus. „Kann man wohl sagen.“ Werter entschuldigend zulächelnd und gleichzeitig das Haarband das ihren Pferdeschwanz zusammenhielt lockernd, sagte sie: „wenn ich im Haus bin musst du aufpassen dass ich dich nicht überrenne oder beim durchgehen einer Tür an der Wand platt drücke.“
Ihr gold blondes Haar fiel über ihre Schultern, bevor ihre flinken Hände es mit Hilfe des Haarbandes erneut vereinten. Werter konnte ihr nichts erwidern, sonst hätte er sagen müssen: ich heiße Werter und bin 19. Jahre alt. Es war nämlich der einzige Gedanke der nun schon seit geraumer Zeit in seinem Kopf herumgeisterte.
Einerseits brannte er darauf diesen Gedanken aussprechen zu dürfen, anderseits graute ihm vor dem Moment in dem der Alte ihn aufordern würde, sich vorzustellen. Herr Leopold der dass spürte, wollte seinem Schützling ein langes qualvolles Warten ersparen.
„So Werter, jetzt erzähl uns mal ein bisschen von dir.“
Werter erhob sich mit unsicheren Beinen. Da er fürchtete seine Hände würden seine innere Unsicherheit verraten, erschien es ihm am geratesten sie zu verbergen. Aber wohin mit ihnen? Erst wollte er sie in die hinteren Hosentaschen stecken, doch in seiner Erregung glitten die klamen Hände an der strammen oberen Taschennaht ab. Eine Weile tat er so als hätten sie ihren vorgesehenen Platz tatsächlich gefunden, indem er sie ganz fest gegen seinen Hintern drückte. Das Verstecken seiner Hände bereitete Werter soviel Sorgen, dass er mit seiner Vorstellung nicht beginnen konnte. Erst als seine Hände in den vorderen Hosentaschen sicher aufbewahrt waren, glaubte er bereit zu sein. Er hatte sich ja lange genug auf diesen Moment vorbereitet, doch jetzt wo es galt, wo alle Augen auf ihn gerichtet waren, wollte der auswendig gelernte Satz einfach nicht heraus. Der arme Junge stand stille mit gesenktem Kopf da, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Beim Anblick dieses jungen Mannes, dessen Körpersprache Mitleid erregende Hilflosigkeit ausdrückte, wurden sämtliche ihm zugewandten Gesichter ernst und betroffen. Man verstand nur zu gut wie schwer es ihm fiel, da vor der Versammlung zu stehen. Es war allen Anwesenden eine Erleichterung als der Alte dem verzagten zur Hilfe kam.
„Du brauchst nicht deine ganze Lebensgeschichte erzählen, Werter.“
Werters Lippen bewegten sich daraufhin, doch kein Laut kam heraus. Seine Augen flackerten über den Boden, als lägen die fehlenden Worte dort verstreut und er müsste sie sich zwischen den Füssen der umsitzenden und unter den Stühlen zusammensuchen. Dann endlich brachte er es flüsternd aus sich heraus. „Ich heiße Werter und bin 19. Jahre alt.“
2.
Werter saß in der gläsernen Laube im Garten und las. Eine Woche war verstrichen seit dem ersten Treffen mit den anderen Menschen, die zusammen mit ihm das große Haus bewohnten.
Die meiste der vergangenen Zeit hatte er in seinem Zimmer oder wie jetzt in der Laube lesend verbracht oder, sich seinen Gedanken hingebend, still und ganz in seiner eigenen inneren Welt versunken vor sich hingeschaut.
Er hielt sich nach wie vor ganz für sich selbst, außer bei den tagtäglichen Mahlzeiten, die man zusammen einnahm, war er so gut wie nie mit den anderen jungen Menschen zusammen.
Seine Mitbewohner versuchten so gut es ging, den Neuen in ihre kleine Wohngemeinschaft zu integrieren, aber alle gut gemeinten Bemühungen waren bisher vergebens gewesen. Werter redete kaum ein Wort, und wenn er sprach, dann offenbarte sich in dem, was er sagte, solch Desinteresse an seinen Mitmenschen und seiner Umwelt, dass eine Unterhaltung mit ihm ganz unmöglich war. So hatten die anderen jungen Menschen ihn mehr und mehr in Ruhe gelassen. Herr Leopold bemühte sich mit unverminderter Anstrengung um Werter, bei Tisch sprach er immer wieder den Schweigenden in seiner herzlichen, direkten Art an.
Oft stöberte er ihn auch an all den einsamen Orten auf, wohin Werter sich im Laufe eines Tages zurückzog. Werter selbst machte keinerlei Anstalten, sich den anderen zu nähern, was Herrn Leopold bekümmerte und verstimmte. Es kam vor, dass der alte Mann seinen jungen Schützling verließ, verärgert mit dem Kopf schüttelnd.
Werter spürte, dass sein Verhalten die anderen befremdete und dass er wie schon so oft zuvor im Begriff war, sich von einer menschlichen Gemeinschaft auszuschließen. Diese Wahrnehmung spornte ihn aber nicht dazu an, sich mehr zu öffnen, im Gegenteil, sie brachte ihn dazu, sich noch mehr abzukapseln.
Fast ununterbrochen hatte er den ganzen Tag in der Gartenlaube gesessen.
Ein milder sonniger Herbsttag ging nun seinem Ende zu, die warmen Sonnenstrahlen des Mittags hatten sich im Laufe der Abendstunde aus dem Garten zurückgezogen. In der kleinen Laube war Zwielicht in ein schattiges Halbdunkel übergegangen. Werter saß auf einem hölzernen Gartenstuhl, das Buch, in dem er gelesen hatte, hatte er beiseite gelegt, da es nun zum Lesen zu dunkel geworden war. Er saß etwas vorn übergebeugt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, seine zu Fäusten geschlossenen Hände drückten sich auf beide Wangen, der Kopf war wie so oft gesenkt, sein Blick bohrte sich in den steinernen Fußboden.
So ganz in sich selbst versunken fand ihn Herr Leopold, als er auf der Suche nach dem im Haus Vermissten die Laube betrat. Werter bemerkte gar nicht, dass jemand in die Laube gekommen war, erst als die gläserne Tür in ihrem Rahmen, bei ihrem Schließen leise klirrte, richtete er sich aufschauend auf. Vor ihm stand Herr Leopold, seine alten Augen blickten freundlich, aber voller Missbilligung auf den jungen Mann hinab. Der Alte ergriff einen an der Wand stehenden Stuhl und setzte sich Werter nah gegenüber, der sofort schräg zur Seite schaute.
Eine Weile saßen sie sich so schweigend gegenüber, der eine den Oberkörper ein wenig zur Seite gedreht, um so besser dem direkten Blick des anderen ausweichen zu können.
«Werter, ich habe gehört, dass du heute außer zum Mittagessen den ganzen Tag hier allein für dich rumgesessen hast.»
Ein kurzes Nicken.
«So kann es nicht weitergehen. Wir wollen alle das Beste für dich, das weißt du, aber Junge, du musst auch einen Einsatz machen, sonst kommen wir kein Stück weiter. Warum hältst du dich die ganze Zeit von uns fern?»
Gleichgültiges Achselzucken, das junge, blasse Gesicht blieb verschlossen und abweisend. Keine Regung in ihm verriet Einsicht oder Verständnis für das, was der Alte gesagt hatte,
nur das schnelle, wiederholte Zucken der Augenlider bewies Anteilnahme am Gesagten.
Jeden anderen hätte dieses kurze, hochmütige Nicken aufgebracht, nicht aber Herrn Leopold.
Er saß nicht zum ersten Mal einem jungen Menschen gegenüber, der auf eine Anrede nur mit Achselzucken oder Bewegung des Kopfes reagierte. Für viele Jahre arbeitete er nun schon mit innerlich erstarrten jungen Menschen, und er hatte verstanden, dass es nicht bloßer Trotz war, der ihr teilnahmsloses Verhalten begründete, sondern das Unvermögen, anders auf menschliche Zuwendung zu reagieren. Er irrte sich nicht in dem jungen Mann.
Werther sah sehr wohl ein, dass der Alte Recht hatte, dass es falsch von ihm war, sich die ganze Zeit vor den anderen zu verstecken, doch die Gründe, warum er es tat, wollte er niemandem anvertrauen. Zuzugeben, dass er die Nähe anderer Menschen nicht aushielt, da er fürchtete, von ihnen verletzt zu werden, und auch einfach nicht wusste, wie er sich in ihrer Gesellschaft aufzuführen hatte, und nicht gelernt hatte, mit ihnen zu reden, nein, das brachte er nicht über sich.
Sosehr Herr Leopold die ernsten stummen, Schulter zuckenden jungen Menschen durchschaute, sosehr war er sich gleichfalls darüber im Klaren, dass es galt, ihnen mit klaren Worten nahe zu bringen, dass sie sich im Irrtum befanden, dass diese Welt nicht das leidvolle Jammertal war, das sie in ihr sahen, und ihr Leben nicht ein Krankenlager, auf dem sie dahinsiechen mussten, sondern von dem, wann immer sie wollten, sie schon bald genesen und sich erheben konnten.
«Ist es das, was du die ganzen Stunden durchliest?»
Herr Leopold beugte sich zu dem neben Werters Stuhl liegenden Buch, um es aufzuheben.
Werters Blicke hefteten sich voller Eindringlichkeit auf das kleine Büchlein. Gebannt verfolgte der junge Mann, wie der Alte es in die Hand nahm, von der Rückseite auf die Vorderseite umdrehte und nah vor Augen hielt. «Die Leiden des jungen Werther. Hah!», stieß Herr Leopold grimmig hervor, als hätte er diesen Titel befürchtet.
Das Büchlein auf der letzten Seite aufschlagend, die vielen dünnen Seiten zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt einmal kurz und an sich vorbeirauschen lassend, sagte er leise:
«Ein gefährliches Buch. Besonders für leidende Menschen.»
Der Alte schaute vom Buch auf. «Ist es deswegen, weshalb du dich Werter nennst?»
Der Gefragte nickte.
«Du identifizierst dich also mit diesem Werther.»
Diese Frage wurde nicht nur mit einem sehr kräftigen Nicken, sondern auch mit einem leisen, aber gut hörbaren Ja beantwortet.
«Ich habe dieses Buch auch einmal gelesen,» gab der Alte zu, indem er das Büchlein erneut aufschlug und darin mit leicht zusammengekniffen Augen las, die beiden Falten zwischen seinen Augen gruben sich noch tiefer in die Stirn.
«Und so wie du es jetzt verband ich mich damals mit dieser leidenden Hauptperson.»
Herr Leopold durchblätterte das Buch ein zweites Mal, langsamer und mit einem nachdenklichen Ausdruck im Gesicht. Manchmal blieb sein Blick an einer der Seiten sinnend hängen, als würde ihr Inhalt ihn an etwas erinnern. Doch plötzlich klappte er es zu und legte es von sich.
«Genau das macht es so gefährlich!», rief Herr Leopold in beginnender Erregung. «Dass der Leser sich in der leidenden Hauptperson wiedererkennt und so die Weltanschauung dieses Werthers zu seiner macht! Der Schmerz eines Menschen wird in diesem Buch doch verherrlicht, als wäre Leiden etwas Erstrebenswertes, als sollte man sich seinem Unglück ganz hingeben, ja als wäre es das Höchste für uns Menschen unglücklich zu sein und uns am Schluss auf grausiger Art den Garaus zu machen. Alles dummes Zeug!»
Der Alte kam immer mehr in Rage, die grauen krausen Haare hüpften auf seinem sich hin und her bewegenden Kopf auf und ab. «Aber weißt du, wir sind keine erfundenen Buchpersonen, wir sind lebende Menschen. Und – wir leben nicht in Büchern! Dieser Werther da im Buch», der Alte machte eine abfällige Bewegung in Richtung des Buches, «dieser erfundenen Person ist sein Leiden vom Schriftsteller, dem Goethe, vorgeschrieben, das ist große Dramatik, große Dichtkunst. O ja, aber mit unserer Wirklichkeit darfst du das nicht vergleichen! Wir müssen unser Leben beim Schopf packen», rief Herr Leopold, die Arme ausstreckend, seine Hände krallten in der losen Luft nach dem scheinbar unsichtbaren Schopf des Lebens. «Zugreifen müssen wir!»
Der junge Mann schaute dem Alten die ganze Zeit mit aufmerksamen, fast staunenden Augen an.
«Morgen», sagte Herr Leopold, stand auf und stellte seinen Stuhl wieder gegen die Wand, «morgen zeige ich dir mal die Welt von einer anderen Seite, als du sie bisher gesehen hast!
So und jetzt gehen wir ins Haus. Hier ist es ja bald so dunkel, dass man über seine eigenen Beine stolpert!»
Der alte und der junge Mann gingen gemeinsam aus der Laube durch den Garten dem erleuchteten Haus entgegen, an Bäumen und Büschen vorbei, die in der hereinbrechenden Nacht, undeutbare schattenhafte Formen angenommen hatten.
3.
„Welch ein schöner Tag!“ rief Herr Leopold gutgelaunt nachdem er die Haustür weit aufgerissen hatte.
Der alte Mann trat ein paar Schritte vors Haus und schaute mit frohen Augen in den frischen Morgenhimme, der von weißen Wolkenfetzen überzogen war.
Er war wie üblich früh aufgestanden und nun schon seit längerem, im Mantel, mit einem Gehstock in der Hand und Hut auf dem Kopf, ausgehbereit.
Voller Ungeduld drehte er sich dem Haus wieder zu und klopfte mit seinem Stock gegen die offene Haustür.
„Was ist los da drinnen? Werter, Cecilie seid ihr soweit?!“
Werter mit einem vom Schlaf zerknitterten Gesicht, die Haare ungekämmt und wirr, in frisch gewaschenen Sonntagskleidern, stolperte aus dem Haus. „Guten Morgen Werter!“ begrüßte ihn der Alte und lächelte ihm wohlwollend zu. „Cecilie steht wohl immer noch vorm Spiegel?“
„Ich glaube ja“, sagte der junge Mann schüchternd und kniete sich schmunzelnd nieder um sich die Schuhbändel zu binden. Die beiden Männer mussten sich noch eine Weile gedulden bevor die erwartete aus dem Haus kam. Werter schaute der jungen Frau bewundernd entgegen.
Sie sah gut aus in ihrem roten, bis zu den Knien reichenden Filzmantel, ihre Beine bedeckten eine schwarze Strumpfhose, die Füße steckten in zwei verschieden farbigen, abgelaufenen Stoffschuhen.
Ihre langen blonden Harre hatte sie wie üblich hinten zu einem Pferdeschwanz vereint, die Lippen waren rot geschminkt, ihr lebhaftes, schönes Gesicht drückte unbeschwerte Lebensfreude aus. „Ach ihr wartet auf mich. Hätte ich dass gewusst dann hätte ich mich beeilt“!
Kurze Zeit später saßen die drei nebeneinander im Wagon einer Straßenbahn, die sie in die Innenstadt brachte. Mit jeder Station die sie dem Stadtkern näher kamen, füllten sich die Wagons mit den zusteigenden Menschen. Bei ihrem Einstieg war die Sitzreihe ihnen gegenüber noch unbesetzt gewesen, nun drängten sich drei Menschen auf ihr zusammen.
Werter, der am Fenster neben dem Alten saß, hatte sich auf Anhieb unwohl gefühlt, als man sich ihm gegenüber gesetzt hatte. Seine Augen richteten sich starr aus dem Fenster oder hefteten sich minutenlang an die Reklamen Plakate die über den Fenstern angebracht waren. Er übersah die Menschen ihm gegenüber, wollte sie einfach nicht wahrnehmen,
Der Alte neben ihm hatte die Hände auf seinen Stock übereinander gelegt, der zwischen seinen Knien hervorragte.
Interessiert musterte er die drei Menschen vor ihm. Ganz links am Fenster, saß ein Mann in feinem Anzug, eine braune Aktentasche auf den Knien, in einer Zeitung lesend.
Neben ihm saß eine ältere Dame und neben ihr wiederum, am äußersten Rand der Sitzbank, ein Jugendlicher, der sich, kaum hatte er sich gesetzt, Ohrenstöpsel in die Ohren steckte von denen laute Musik herausströmte.
Herr Leopold schaute von einem zum anderen, auch Werter warf er einen kurzen Blick zu. Er sah ein wenig besorgt aus, vielleicht spürte er wie unerträglichem dem jungen Mann die Situation war.
Die ältere Dame die ihm direkt gegenüber saß, sprach der Alte zuerst an.
„Welch schönes Wetter wir doch haben, man kann gar nicht glauben dass es schon Mitte Oktober ist, meinen sie nicht auch?“
Diese Bemerkung war der Anfang eines längeren Gesprächs über das Wetter der letzen Woche. Es stellte sich heraus dass die beiden alten Menschen darüber einiges auszutauschen hatten.
Werter hörte dem Gespräch aufmerksam zu, es verwunderte ihn mit welcher Natürlichkeit und Offenheit diese Menschen miteinander redeten, die sich doch eigentlich Fremd waren. Auf den ersten Blick hatte er die Dame unausstehlich gefunden, er sah nun ein dass er sich geirrt hatte. Sie war ein freundlicher und redseliger Mensch.
„Aha der amerikanische Präsident kommt zu Besuch!“
Es war der Herr Leopold der, nachdem die alte Frau bei einer Station ausgestiegen, mit dieser Aussage gekommen war. „Ist er denn bei uns willkommen“? Werter schaute gespannt auf die Zeitung die den feingekleideten Mann verbarg und deren Titelseite lautete: der amerikanische Präsident kommt zu Besuch.
Die Zeitung senkte sich jäh, zwei zornige Augen richteten sich auf den Alten.
„Natürlich ist er bei uns Willkommen!“
Die Zeitung säuberlich zusammen faltend, behauptete der strenge Mann dass es für dieses Land gut wäre einen Präsident wie Bush zu haben, Bush wäre ein stolzer Präsident, stolz auf sein Land, ein solcher Präsident, so der feine Mann, würde es nicht zulassen dass sein Land von Ausländern überschwemmt werden würde, wie es hier schon seit Jahren der Fall wäre.
„Sind ja alles Nichtsnutze, wenn mir einer von den dunkelhäutigen begegnet …“ der Mann war erregt, auf seiner Schläfe trat eine Blutader geschwollen hervor.
Werter verabscheute diesen Menschen. Als der Alte entgegnete dass er nicht derselben Meinung war und sich zwischen den beiden Männern eine fast hitzige Diskussion entfachte, spürte Werter ein plötzliches Verlangen seine eigene Meinung zu äußern.
Dieser Wunsch war ihm neu, zum ersten Mal seit langen, befremdete ein Gespräch zwischen Menschen dass er mit anhörte ihn nicht, vielmehr erweckte sein Interesse.
Werter erlebte staunend, welch wunderlicher Fortgang das Streitgespräch nahm. Heer Leopold vermochte den streitsüchtigen Mann nicht nur zu besänftigen, sondern, trotzt dass sie so verschiedenen Meinungen waren, sich mit ihm auf brüderlicher Art zu einigen. Auf eine den Ausländern feindlich gesinnte Äußerungen des im wütenden Ton sprechenden Mannes, erwiderte der Alte gelassen: „Es spiele keine Rolle ob wir einen anderen Glauben haben, eine andere Hautfarbe oder aus einer anderen Kultur kämmen, eins verbindet uns, nämlich die Tatsche Mensch zu sein, wir müssen uns trotzt unserer Verschiedenheiten respektieren und anständig zueinander sein.“ Diese friedfertige Meinung entwaffnete den wütenden Mann, er beruhigte sich, und gab sogar zu dass der Alte zum Teil Recht hatte.
Bevor er ausstieg, wünschte er Herr Leopold einen guten Tag, es war deutlich: des alten Mannes angenehme Wesen, seine klugen Argumente hatten ihm Achtung eingeflösst.
„Siehst du“ sagte Herr Leopold. „Man darf die Menschen nicht wegen ihrer Unzulänglichkeiten und Macken hassen, man muss mit ihnen reden.
Dem Musikhörenden Jungen tippte er gleich darauf leicht aufs Knie.
„Das ist zu laut!“
Der in viel zu großen Kleidern gekleidete Junge nahm sich die Hörer aus den Ohren.
„Heh!“ Zu laut, die Musik, “ wiederholte der Alte freundlich aber bestimmt.
„Ach was, “ warf Cecilie ein, „ist doch echt gute Musik.“
„Findest du?“ Die schmollende Grimasse auf dem Gesicht des Jungen verschwand.
Begeistert schaute er das ihm gegenüber sitzende Mädchen an.
Den Walkman aus der Tasche nehmend und die Musik leiser machen nannte er den Namen der Gruppe. Cecilie und der Junge unterhielten sich nun für den Rest der Fahrt über Musik. Manchmal mischte sich Herr Leopold in ihr Gespräch ein und erzählte von der
Zeit als er noch jung gewesen war, und was für Musik er da gehört hatte. „Beatles wir waren alle verrückt nach ihnen!“
Cecilie kicherte:
„Die sahen mit ihren Topffrisuren aus wie Mutterjungen!“
Der junge Musikliebhaber:
„Zugegeben, die sahen nicht gerade aus wie Rockstars, aber gute Musik konnten die schon machen.“
Werter hatte große Freude daran, ihnen zuzuhören.
Die Bewunderung die er für diese Menschen fühlte, die so offen und heiter miteinander umgehen konnte, wuchs in seinem Inneren.
Dieser heiteren Gesellschaft gegenüber setzte sich ein älterer Mann. Er war in einen grell farbigen, etwas schmuddeligen Trainingsanzug gekleidet, sein Gesicht war aufgedunsen, unrasiert, und stark gerötet, die Haare fettig. Beim Anblick dieses Menschen regte sich etwas in Werters Unterbewusstsein. Eine jähe Furcht stieg in ihm auf, erst wusste er nicht warum, als ihm aber der suchende Blick des Mannes für einen kurzen Moment begegnete, begriff Werter dass er sich in diesem Menschen wieder erkannte.
Er verstand dass dieser Mensch einsam und hilflos war und am Leben verzweifelte, dass er litt, wie er selbst all die Jahre gelitten hatte. In diesen Augen spiegelte sich die gleiche dunkle Leere wieder die Werters Augen verdunkelt hatten.
Herr Leopold fragte nachdem er den Mann für geraume Zeit eingehend betrachtet hatte:
„Geht es dem Herrn gut?“ Der gefragte antwortete nicht, doch dass Verschränken der Arme auf der Brust und dass bösartige verächtliche Schnaufen war Antwort genug.
Werter wusste nur zu gut, was diese unschöne Gehabe, dieser trotzige demonstrativ aus dem Fenster gerichtete Blick zu bedeuten hatte. Es war ein lautloser Schrei um Hilfe.
4.
Die drei waren im Stadtkern aus der Bahn ausgestiegen, nun saßen sie um einen kleinen, runden Tisch vor einem Cafe an dem andauernd Menschen vorbeigingen.
Warmes Sonnenlicht erwärmte die raue, würzige Herbstluft, der Himmel war wolkenlos, von kräftigem, betäubendem Blau, es war ein herrlicher Tag geworden, wie Herr Leopold heute Morgen vorausgesehen hatte. Der alte Mann saß zufrieden da und schlurfte ab und zu an seiner Tasse Kaffe. Cecilie löffelte mit großer Hingabe an einem Eisbecher. Werter schaute der jungen Frau dabei zu, die Tasse Kaffe um die er gebeten hatte schenkte er vorerst keine Beachtung.
Er genoss es hier zusammen mit dem Alten und seiner Tochter friedlich beisammen zu sitzen und so ein Teil einer kleinen Gemeinschaft zu sein.
„Das ist wirklich super Eis“ sagte Cecilie entzückt und ließ sich das gerade in den Mund gelöffelte Eis auf der Zunge zergehen.
„Willst du mal probieren, Werter?“
Sie schob kurzerhand den ganzen Eisbecher dem jungen Mann hin und drückte ihm den Löffel ihn die Hand.
Werter verneinte in seiner schüchternden, höfflichen Art.
„Du bist ja komisch“, meinte das Mädchen. „Na ja ich verdrücke es gern allein.“
Eine Weile aß sie schweigend, ihre Augen verfolgten interessiert den gutausehenden Kellner der sich, mit einem Papierblock voller Bestellungen in der Hand, gestresst durch die vielen dicht besetzten Tischen zwängte, bevor er im inneren des Cafes verschwand.
Plötzlich sagte sie: „Der Mann vorhin der sich uns gegenüber setzte, der im schmutzigen Trainingsanzug, was war mit dem los? Warum war der so unfreundlich?“
„Er war einsam“, sagte Werter überstürzt.
Diese Aussage war einfach so aus ihm herausgeplatzt, als wäre sie in ihm bereitgelegen.
Cecilie schaute Werter mit schrägem Kopf verständnislos an.
„Wenn er einsam ist warum reagiert er dann so mies?!“
„Werter hat recht“ stimmte Herr Leopold seinem jungen Schützling bei, indem er die Tasse aus der gerade getrunken hatte vorsichtig absetzte.
„Es war ein einsamer Mensch. Er reagierte so grob, weil ihm die Einsicht fehlt, dass andere Menschen ihm helfen können.“
„Der Mann mit der Zeitung mit dem du dich rum gestritten hast, war auch nicht viel besser“ warf Cecilie naserümpfend ein.
„Es mag so ausgesehen haben“ erwiderte der Alte.
„Seine Stimme war die Stimme eines eigensinnigen Menschen, doch wie ihr mit anhörtet, er ließ sich von mir, seinem Mitmenschen, noch beeinflussen.
Die wahre Stimme menschlichen Unverstands ist aber die, die schweigt, es ist eine für andere Menschen unhörbare Stimme, die nur die stummen, einsamen, ausgeschlossenen Menschen in sich selbst vernehmen.“
Werter starrte betreten vor sich auf die Tischplatte, als gälte die Belehrung ihm allein, als rede man über ihn und nicht über die fremden Menschen in der Straßenbahn.
Ungestüm streckte er die Hand zur Kaffeetasse aus. In einer unkontrolierten, kantigen Bewegung führte er sie zum Mund.
Der Kaffe schwappte über den Tassenrand und rann an der Tasse hinab.
Der Alte sprach nach einer kurzen Pause weiter, seine regen Augen
gingen andauernd zwischen seiner Tochter und Werter hin und her.
„Seht euch um, es gibt sie überall die einsamen Menschen.
Ihre Hilflosigkeit, ihre Verlorenheit spricht ihnen aus dem Gesicht.
Nichts ist auffallender als der einsame Mensch.“
Cecilie drehte neugierig den Kopf nach allen Seiten, als gälte es etwas außerordentlich sonderbares ausfindig zu machen.
Werter schaute sich nicht um. Warum auch. Er hatte sie schon vorhin bemerkt. Die Einsamen.
Cecilie entdeckte sie erst jetzt.
„Da ist ein einsamer! Und da drüben noch einer!“
In der an ihrem Tisch vorbeiströmenden Menschenmenge waren viele einsame Menschen, mit unglücklichen, gehetzten Gesichtern, manche von ihnen trugen Tüten in den Händen oder hatten einen Rucksack auf den Schultern.
In der sie umgebenden Geselligkeit wirkten sie verloren. Eiligen Schrittes gingen sie ihres Weges, als flüchteten sie vor etwas.
„Na du tust ja so als wären einsame Menschen Verbrecher“, sagte der Alte tadelnd. „Nein es ist kein Verbrechen einsam zu sein, manchmal werden wir Menschen einsam ohne es zu wollen. Wir müssen uns aber bemühen dass es besser wird.“
„Warum gibt es so viele einsame Menschen?“ wollte Cecilie wissen.
„Hah, dass ist eine gute Frage!“
Gedankenverloren schaute der alte Mann vor sich hin, als müsse er sich die Antwort genau überlegen.
Dann sagte er: „Warum es so viele einsame Menschen gibt, ich sag euch meine Meinung: Die Anforderungen an uns Menschen werden immer höher geschraubt. Der starke, schöne, erfolgreiche Mensch wird wie noch nie vergöttert, der gescheiterte noch nie wie heutzutage verstoßen und ausgegrenzt. Dieser Selbstverwirklichung Drang trägt dazu bei das die Eltern ihre Erziehungspflichten vernachlässigen und das führt wiederum dazu dass die Jugendlichen, die jungen Erwachsenden, die Erwartungen die die Gesellschaft an sie stellt nicht zu erfüllen vermögen. Das ist der springende Punkt“, meinte Herr Leopold indem er erst Cecilie dann Werter energisch ansah.
„Die Erziehung junger Menschen verschlechtert sich, die Erwartungen an sie, was sie in ihrem Leben zu leisten haben, werden immer höher, das stimmt einfach nicht mehr überein.
Deswegen gibt es immer mehr verlorene, missglückte Existenzen.“
Werter beobachtete eine Taube die zu seinen Füssen vom Tisch herab gefallende Krümel aufpickte. Als Cecilie ihm ein zweites Mal einen Löffel Eis darbot, öffnete er Geistesabwesend den Mund.
5.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück ging Werter auf sein Zimmer, um zu lesen.
Er setze sich auf den Stuhl nah am Fenster und nahm sein geliebtes Büchlein, seinen Goethe, zur Hand. Eine Weile saß er still lesend da, doch er merkte schon bald, dass es ihm schwer fiel, sich zu konzentrieren. Immer öfter schaute er vom Buch auf. Da er glaubte, der frische Morgen, der mit strahlender Helligkeit durch das Fenster flutete, und die kräftigen bunten herbstlichen Farben des Gartens draußen, machten ihm die eingeschlossene Enge des Raumes unerträglich, zog er die dicken Vorhänge vor, um bei dem dumpfen Licht der Deckenlampe sich in seine Lektüre wie gewöhnlich für Stunden ganz vertiefen zu können.
Doch das Ausschließen des schönen Tages half nicht, die geschriebenen Sätze zu beleben, sie blieben ausdruckslos, uninteressant. Die ihm Buch beschriebene Welt vermochte nicht wie sonst, den Lesenden aus der wirklichen Welt, in der er lebte, zu entführen, die überschwänglichen Gefühle der leidenden Hauptperson erweckten in Werter nicht wie sonst innere Begeisterung. Ja, er fand all diese Gefühlsergüsse künstlich und unnatürlich. Der Inhalt des Buches verblieb für Werter schwarze Schrift auf weißen Seiten.
Das Vorziehen der Vorhänge bewirkte das Gegenteil dessen, was Werter sich davon erhofft hatte, seine innere Unruhe, der ihn erfüllende Unrast verdoppelten sich. Kaum hatte er sich wieder hingesetzt, fühlte er sich in den ihn umschließenden Wänden gefangen. Dieser Raum, der ihm bisher ein willkommenes Zuhause gewesen war, ödete ihn heute an.
Entschlossen riss er die Vorhänge beiseite und öffnete das Fenster, weit beide Fensterflügel aufstoßend, Licht und Luft strömten herein.
Nachdem er Bäume und Himmel eingehend betrachtet hatte, ging er ruhelos im Raum hin und her, vom Fenster zur Tür und wieder zurück. Immer wenn er bei der Tür angelangt war, blieb er horchend stehend, die Hand leicht auf der Türklinke gelegt.
Bis zum heutigen Tag war es ihm egal gewesen, was die anderen in diesem Haus lebenden Menschen so alles im Laufe eines langen Tages unternahmen, nun, vor seiner Tür stehend, hätte er allzu gern erfahren, was in den anderen Räumen dieses Hauses vor sich ging.
Was machen sie wohl jetzt, Cecilie, der Alte und die anderen? Sollte er hinausgehen?
Alleine den ganzen Tag in seinem Raum zuzubringen, wie es seine Gewohnheit war, erschien ihm heute keine erfreuliche Aussicht.
Werter entschied sich schließlich dafür, seinen Raum zu verlassen.
So leise wie möglich öffnete er die Tür und trat hinaus. Auf dem Weg zum großen Saal war er immer wieder kurz davor umzudrehen, doch an diesem Tag siegte die Neugierde über die Angst. Die Tür zum großen Saal war für Werter das letzte Hindernis, das es zu überwinden galt.
Die Schwelle dieser Tür zu übertreten wagte er für viele bange Minuten nicht, da er nicht wusste, was ihn dahinter erwartete.
Er suchte nach Gründen, warum er das, was er vorhatte, nicht tun sollte. Erst meinte er sich zu müde, um dieses Wagnis zu unternehmen, er sah aber ein, dass dies kein eigentlicher Grund war, um zurückzukehren, vielmehr eine Ausrede, um sich vor etwas zu drücken, was ihm unangenehm war.
Die Einsicht, dass es einfach keine guten Gründe für eine Rückkehr in seinen Raum geben konnte, und ein stärker werdender Wunsch, einfach die Tür aufzureißen, vor der er stand, egal, was danach passiere, brachten ihn dazu, alle Bedenken fahren zu lassen, die Tür zu öffnen und die Schwelle zum großen Saal zu überschreiten.
Seine größte Furcht, dass alle im Saal versammelt waren und sein unerwartetes Auftauchen einiges Aufsehen erregen würde, erwies sich als ein Hirngespenst, vor dem er sich umsonst geängstigt hatte. Nur ein Mensch war im Saal zugegen, durch dessen hohe und breite Fenster der Strahl der Morgensonne blendend hell hereinfiel.
Ein bärtiger, junger Maler stand an einem der Fenster vor seiner Staffelei, auf dem er mit einem langen Pinsel geschäftig herumpinselte. Es war Frank, mit dem Werter, wie auch mit den anderen, außer dem Alten und Cecilie, bisher kaum ein Wort gewechselt hatte.
Der junge Maler entsprach nun ganz dem Bild, das man von einem jungen Künstler hat, der sich völlig seiner Kunst hingibt. Seine Kleider waren bunt und voller Farbenflecken, sein dichter, lockiger Haarschopf wie immer ungekämmt.
Er sah kaum auf, als Werter hereinkam und sich ihm zaghaften Schrittes näherte. Ganz leise, um den Malenden bei seiner Arbeit nicht zu stören, trat Werter hinter den jungen Maler. Da er es sich nicht getraute, ihn anzureden, begnügte er sich damit, hinter ihm zu stehen und ihm beim Malen zuzusehen. Frank, der wohl bemerkt hatte, wer hereingekommen war, fragte, ohne im Malen innezuhalten: «Ist dir da oben in deinem stillem Kämmerlein zu langweilig geworden, oder was?»
«Ja.»
«Das ist ja keine Bombe, ich würde total irrewerden, wenn ich den ganzen Tag allein in einem Raum sein müsste. Mit was vertreibst du dir eigentlich die Zeit da oben?»
«Ich lese.»
«Lese? Den ganzen ollen langen Tag. Das muss ja irre spannend sein, was liest du denn, einen Krimi oder was?»
«Nein. Ich lese Die Leiden des jungen Werther, von Goethe.»
«Goethe!? Du sitzt da von morgens bis abends und liest Goethe?!»
Der junge Maler fuhr jäh herum, den Pinsel in der Hand und bespritzte dabei den Boden mit einem Reigen winziger Farbtropfen.
Werter blickte in ein fassungsloses Gesicht, dessen braune Barthaare von Farbflecken bunt gesprenkelt waren.
«Ja, ich lese das Buch nun schon zum vierten Mal.»
«Zum vierten Mal. Bist du toll?!»
Werter wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
«Ist nicht wahr!», sagte Frank und betrachtete Werter für eine gute Minute eingehend, als bestaune er einen seltenen Museumsgegenstand. Dann drehte er sich wieder seiner Malerei zu, tränkte seinen Pinsel mit frischer Farbe und fuhr unverdrossen fort, mit wilden ungestümen Pinselstrichen die noch weißen Stellen auf dem Blatt zu bemalen.
«Sieht du, was ich da male, hast du ’ne Idee, was das darstellen soll?»
Werter trat näher an das Bild heran. Obwohl der Maler beim Bemalen des Blattes weder an Farbe noch Mühe gespart hatte, oder vielleicht gerade deswegen, schien es ihm erst unmöglich, die vielen darauf verlaufenden Striche zu etwas Erkennbarem zu vereinigen.
Als er aber lange genug darauf gestarrt hatte, glaubte er, etwas ausmachen zu können:
«Es ist ein Labyrinth und nur dieser Weg, der rote hier», Werter fuhr mit dem Zeigefinger über das Blatt hinweg, «führt aus dem Labyrinth heraus»!
«Ein Labyrinth», sagte Frank, indem er einen Schritt von seiner Malerei zurücktrat und es mit abschätzendem Blick begutachtete. «Ham, nun ja, warum nicht.»
Mit geschnörkelter Schrift schrieb er ganz unten seinen Namen Frank Plenzel. Grinsend drehte er sich wieder Werter zu.
«Weißt du, Werter, um ehrlich zu sein, ich habe selber nicht die leiseste Ahnung. Das, was ich da male, ist abstrakt, modern! Vor Kurzem hatte ich meine erste Ausstellung hier in der Stadt, und ich sag dir, hatte ich Panik! Weißt du, wovor? Dass ich mit irgendeinem ollen Kunstfreak vor meinen Bildern stehen würde und der mich fragen würde, was denn das darstellen sollte und was ich mir dabei gedacht hätte! Und genau das passierte dann auch. Es kamen ’ne Menge Leute, alles drängte sich vor meinen Bildern zusammen, mitten in dem Haufen stand ich. Und dann fragt so ein alter Opa mit Hornbrille doch wirklich: Ja, ob denn der junge Künstler nicht etwas über das Bild sagen konnte. Peinliches Schweigen. Zum Glück nuschelte irgendeine Tante neben mir: Das iss ’ne römische Galeere, oder? Und ich laut: Ja, ganz genau, also das ist eine römische Galeere, ein Schiff also, und nachdem ich kurz nachgegrübelt hatte, kam es aus mir heraus: Es ist eine römische Galeere, die auf einer Autobahn dahinrudert, Altzeit trifft auf Neuzeit. Seitdem mach ich es immer so, ich lass die Leute erst mal ’nen Vorschlag machen!»
Frank schlug Werter auf die Schulter: «Genial was?»
Der junge Künstler lachte vergnügt, bevor er sich wieder ganz seiner Malerei widmete, aus der, nach Werters Empfinden, die vielen Irrgänge eines Labyrinths bald noch deutlicher hervortraten. Werter lächelte verstohlen. Dieser Frank ist wirklich ein netter Kerl, dachte er bei sich, und bereute gleichzeitig, dass er sich all die vergangenen Wochen so abweisend ihm gegenüber benommen hatte.
6.
Tiefe, melodische Töne, die im Saal mit einem Mal erklangen, vom Streichen eines Bogens über die Saiten eines Cellos hervorgebracht, ließen Werter erschrocken herumfahren.
Ein Mädchen saß auf einem Stuhl mitten im Saal und spielte auf einem Cello, das zwischen seinen Beinen lehnte. Werter war sosehr mit dem Maler und dessen Bild beschäftigt gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass hinter ihm jemand in den Saal getreten war. Unentdeckt hatte das Mädchen sein Musikinstrument ausgepackt, sich gesetzt und erst mit dem ersten Bogenstrich ihre Anwesenheit verraten.
Frank rief, ohne sich umzudrehen: «Herrlich, Sabine, wenn du anfängst, auf deinem ollen Cello rumzukreischen, kriege ich immer Zuckungen und male die absolut besten Bilder!» Gleich darauf raunte er Werter hinter vorgehaltener Hand zu. «Sabine ist so ’ne Art virtuoses Wunderkind mit dem Cello. Die hat schon mehrere Konzerte in der Stadthalle gehalten. Als die hierher gekommen ist, hat die sich wie du, immer auf ihrem Zimmer versteckt. Dann hat der Alte ihr dieses Cello geschenkt, und immer wenn sie darauf spielt, verwandelt sich die graue Maus in Sabinchen Mozart!» Frank zwinkerte verschmitzt mit den Augen.
«Aus der wird mal was ganz Großes!»
Werter brauchte dem Mädchen nicht lange beim Spielen zuzusehen, um zu verstehen, dass Frank in keiner Weise übertrieben hatte. Die junge Frau war wirklich eine Meisterin auf ihrem Instrument. In der einen Hand hielt sie den Bogen, den sie entweder leicht über die Saiten hüpfen ließ oder mit ihm fest und lang anhaltende Bewegungen vollführte. Die Finger der anderen Hand tanzten auf den Seiten oben am Hals des Instrumentes flink auf und ab.
Helle jauchzende Töne wurden von dunklen schwermütigen abgelöst. Dem Cello entströmte eine vielfältige, wunderbare Musik, die jeden Zuhörer in ihren Bann nahm.
Werter fand nicht nur die Musik zauberhaft, die das Mädchen dem Cello entlockte, sondern auch das Mädchen selbst, wie es dasaß und mit großem Geschick auf seinem Instrument spielte, fast gänzlich umhüllt von seinen langen, bis weit über die Schulter reichenden, dunkelbraunen, geschmeidigen Haaren.
Werter ging zu der jungen Frau hin und setzte sich auf einen Stuhl, der nahe bei ihr stand. Immer wenn sie mit einem Musikstück fertig war, schaute sie kurz auf, bevor sie mit einem neuen begann. In diesen kurzen Zwischenräumen trafen sich die Blicke der jungen Musikerin und ihres andächtigen Zuhörers. Beim ersten Mal hatte Werter schnell weggeguckt, doch bald hatte die lebhafte, kraftvolle Musik seine Scheu verdrängt und in Begeisterung verwandelt.
Jedes Mal, wenn sie nun hochschaute, hielt er ihrem Blick stand und lächelte sogar ein wenig, um ihr zu zeigen, wie sehr ihm ihre Musik gefiel. Die Musikerin schien das zu spüren, denn sie lächelte zurück und spielte mit großer Eingebung ein Stück nach dem anderen.
Werter saß ihr all die Zeit mit glücklichem, verklärtem Gesichtsausdruck gegenüber.
Als die junge Frau vom Spielen ermüdet war, legte sie den Bogen zur Seite.
Werter hätte gerne geklatscht, getraute sich aber nicht. Seine Unsicherheit, die solange der ihm gegenüber sitzende Mensch sich auf seine Tätigkeit konzentriert hatte, nicht fühlbar gewesen war, kam nun mit aller Schwere wieder über ihn. Sie waren sich ja, obwohl sie nun schon seit Wochen im selben Haus lebten, noch fremd und kannten sich nur vom Sehen.
Eine Weile saßen sie sich still gegenüber. Als Sabine das Cello wieder in seine Hülle einpackte, fragte sie Werter, ob er auch ein Instrument spiele.
«Nein.» Nach einer kurzen Pause, in der beide verunsichert zu Boden schauten, sagte Werter: «Du spielst sehr gut.»
«Danke.»
Erneut entstand ein drückendes Schweigen, beide hofften darauf, dass der andere etwas sagen würde. «Wie lange spielst du schon?»
«Ich habe schon mit zehn Jahren angefangen, Cello zu spielen. Aber dann für eine längere Zeit fast überhaupt nicht gespielt. Erst seitdem ich hier bin, kann ich wieder jeden Tag so viel üben, wie ich will.»
Die Tür zum großen Saal wurde schwungvoll aufgestoßen. Cecilie und Ulrich kamen hereingestürmt. Werter schreckte bei ihrem Hereinkommen zusammen. Er hatte Ulrich, den blonden selbstbewussten jungen Mann, seit dem Vorstellungsgespräch nur bei den gemeinsamen Mahlzeiten gesehen. In der ersten Woche hatte Ulrich, wann immer sich eine Gelegenheit geboten hatte, den Neuen in seiner direkten Art angeredet und ihn oft aufgefordert, mehr mit den anderen zusammen zu sein. Da aber Werter selbst nie auf die anderen zugegangen war und sich weiterhin im Zimmer verkrochen hatte, war Ulrichs Interesse sehr bald erloschen.
Werter hatte auch bald das dunkle Gefühl bekommen, dass Ulrich nicht viel für ihn übrig hatte, da er ihn kaum noch beachtete.
«Da schau her», sagte Ulrich, als er jetzt zusammen mit Cecilie reinkam. «Da sitzen sie schön beisammen, unsere Künstlernaturen!»
Cecilie sah erstaunt auf Werter. «Hallo, Werter!»
«Hallo», erwiderte Werter schüchtern.
Ulrich warf sich auf eine an der Wand stehende Couch, Cecilie setzte sich im Schneidersitz neben ihn. Der blonde junge Mann streckte sich lang aus, die Hände faltete er hinter seinem Kopf zusammen. Die beiden begannen über eine Person zu reden, die Werter nicht kannte.
Cecilie lachte manchmal hell auf. «Woher weißt du das?», fragte sie.
Ulrich räkelte sich. «Ich hab das der doch angesehen. Seitdem ich da arbeite, vergöttert die mich doch. Heute: Herr Wilhelmson, Sie sind die große Hoffnung dieser Firma. Wenn die nicht meine Chefin wäre, würde ich glatt glauben, die will was von mir!»
Cecilie stieß dem Liegenden neckisch den Finger in den Bauch. «Einbildung!» Ulrich erhaschte die Hand des Mädchens und zog sie an sich. «Die hat mir diese riesige Reklamekampagne für Morella zugeteilt. Die Keksfabrik.»
«Nee echt?»
«Ja, ich hab auch schon so ’ne Idee. Stell dir vor, da sitzen zwei Männer ganz oben in einem Hochhaus. Aus Keksen!»
Mit lauter den ganzen Saal beherrschender Stimme beschrieb der junge Mann seine Reklameidee. Cecilie schien sie sehr lustig zu finden, denn sie krümmte sich auf dem Sofa vor Lachen. Werter beobachtete die beiden auf dem Sofa angespannt. Sie fingen an, im Chor ein bekanntes Poplied zu singen. Sich im Liegen auf den Bauch wälzend, den Kopf in eine Hand stützend sagte Ulrich, Werter dabei fixierend: «Ist ja echt toll, dass du dich auch mal blicken lässt. Ist dir da oben zu langweilig geworden was?»
«Hab ich ihn auch schon gefragt», kam es vom Fenster. Frank malte immer noch an seinem Bild. «Was pinselte du da schon wieder?» Ulrich sprang vom Sofa auf und schlenderte zu dem jungen Maler ans Fenster.
Nachdem er das Bild kurz, aber eingehend betrachtet hatte, sagte er: «Das ist eine Stadt bei Nacht, oder?» Frank warf Werter einen vielsagenden Blick zu. «Du sagst es.»
«Ehrlich, Frank, du bist der neue Picasso!» Im nächsten Augenblick hatte Ulrich auch schon wieder das Interesse an dem Bild verloren. Sich den anderen zuwendend fragte er: «Sollen wir heute Abend alle zusammen ins Kino gehen?!»
«Hey, das machen wir!» Cecilie war hellauf begeistert. Auch Frank schloss sich an. Alle Blicke richteten sich erwartungsvoll auf Sabine und Werter. Ulrich setzte sich zu ihnen: «Sabine, du bist diesmal dabei? Wir gucken auch keinen blöden Actionfilm an.» Das Mädchen hatte gerade ihren Bogen gelockert und fuhr vorsichtig mit den Fingern über ihn hinweg.
Es war unmöglich ihr eine Reaktion anzusehen, war sie dabei über eine Antwort nachzudenken, hatte sie überhaupt den Vorschlag zur Kenntnis genommen? Ihre langen Wimpern verdeckten die auf den Bogen gehefteten Augen, ihr bleiches Gesicht war wie so oft ausdruckslos. In ihrer schlichten, aber bestimmten Art, nein sagend, kniete sie sich nieder und verstaute den Bogen in der Instrumentenhülle.
Werter sagte zur Verblüffung aller Anwesenden ja, als Cecilie vom Sofa her fragte: «Werter, du kommst aber mit, oder? Ich würde mich echt freuen.»
7.
Im Kino war jetzt am Abend viel los. Am Kiosk stand man Schlange, gestresste Angestellte drückten Getränkebecher und Snacks in ungeduldig ihnen entgegen gestreckte Hände.
Kleine und große Gruppen vergnügter Menschen bevölkerten den großen Vorraum des Kinos. Zwei aufgeregte Kinder jagten einander laut schreiend hinterher. In einer Ecke saß auf einer in einem Halbkreis verlaufenden Sitzbank ein junger Mann zwischen zwei anderen jungen Menschen.
Die Situation indem er sich befand war ihm ungewohnt, das war ersichtlich, seine Augen schwirrten haltlos umher. Er saß auffallend steif und aufrecht und erweckte dadurch den Eindruck als würde er sich nicht recht wohl fühlen in dieser geselligen Runde.
Zwar lächelte er immer wieder, sein Lächeln wirkte aber irgendwie erzwungen, aufgesetzt, da es sehr schnell wieder von seinen Lippen verschwand und ein ernstes, beinah ängstliches Gesicht zurückließ. Es war deutlich wie sehr er sich bemühte sich dem Verhalten der anderen anzupassen, und dass die anderen ihrerseits alles taten damit es ihm in ihrer Gemeinschaft gefiel. Sie zogen ihn immer wieder in ihr Gespräch ein, damit der schweigende sich nicht ausgegrenzt fühlte. Die junge Frau fragte ihn ob er Lust auf Popcorn hätte. Ein etwas schmuddelig aussehender junger Mann, in dessen braunen Vollbart ein gelber Farbklecks auffiel, klatschte der jungen Frau eine Hand auf das Knie. „Schnaps Idee Cecilie. Bei den Schlangen dauert dass ungefähr ne gute Stunde.“ Sie schelmisch angrinsend fügte er noch hinzu: „Ok. du kannst dich ja anstellen in der Zeit in der du da rum stehst haben wir uns den Film zweimal rein gezogen. Wir erzählen dir nachher wie er endete!“ Cecilie schaute zu der belagerten Kassetheke rüber. Genervt mit den Augen himmelnd sagte sie; „Manchmal wäre es echt ein Vorteil wenn man allein auf der Welt wäre.“ Sich halb aus der sitzenden Stellung aufrichtend winkte sie mehrmals einer Gruppe sich angeregt unterhaltenden Männer zu, aus der sich bald darauf ein junger, blonder Mann löste, der schnell auf die drei in der Ecke zukam.
Bei ihnen angekommen entschuldigte er sich, dass er solange weg gewesen war. „Musste die Jungs vom Verein doch begrüßen.“ Ich spiele Fußball fügte er mit einem Blick auf Werter erklärend hinzu. „2.Liga“!
„Ullrich„ bat Cecilie mit flehender Kindermine. „Wir hätten gerne Popcorn. Frank meint dass die Schlangen zu lang wären.“
„Zu pessimistisch Junge, “ lachte Ullrich. „Wetten ich bin in weniger als fünf Minuten mit den Händen voller Popcorn zurück.“ Er sah den gelbbärtigen herausfordernd an. Frank schüttele entschieden mit dem Kopf.
„Das schaffst du nie. Fünf Stunden ok, aber fünf Minuten?! Nie im Leben!
„Du wirst schon sehen“ entgegnete Ullrich und strich sich selbstbewusst durchr`s Haar.
„Werter kommst du mit?“
Werter stand auf. Zusammen gingen die beiden zum Kiosk an dem die Menschen in langen Schlangen eingereiht darauf warteten dass die Reihe an sie kam. „So jetzt schau zu und lern“, raunte Ullrich Werter zu. Werter sah fassungslos zu wie Ullrich, als wäre es dass selbstverständlichste der Welt, an all den in Reihen stehenden Menschen vorbei spazierte bis vor zur Kasse. „Zwei Popcorn bitte“ Der Kassierer gaffte Ullrich voll spöttischer Arroganz an, ohne einen Finger zu rühren. Ein dicklicher Mann, der ganz vorne in der Schlange hinter Ullrich stand, rief ihm erbost zu, er sollte sich gefälligst wie alle andere hinten anstellen. Ullrich erklärte daraufhin in einem sehr beherrschten, sachlichen Ton dass er der Sohn des Kino Besitzers wäre. Den immer noch zögernden Verkäufer schüchterte er mit den Worten ein: Nun mach schon, oder soll ich meine Vater runter holen. Du willst doch nicht etwa deinen Jobb verlieren? Außerdem. In der Zwischenzeit wird die Schlange nicht gerade kürzer.
Sekunden später hatte er das gewünschte in den Händen.
„Selbstbewusstsein, Werter, darauf kommt es drauf an“ sagte Ullrich als er zusammen mit Werter wieder zu den andern ging.
„Mit Selbstbewusstsein kann man alles erreichen! Man muss richtig draufgängerisch sein, Dinge ausprobieren, auch wenn es manchmal daneben geht. Wenn ich was kapiert habe dann dass. Hier nimm.“
Werter nahm dankend den ihm hingehaltenen Popcornbecher entgegen. „Du fandest das vielleicht nicht so gut?“ Der junge Mann legte Werter Kameradschaftlich den Arm um den Hals. „He? Bin ich für dich ein unverschämter Kerl?“ Werters ernste Züge zerflossen zu einen offenen Lächeln. Es kam vom Herzen. „Nein überhaupt nicht.“
Ulrich zog Werter noch näher an sich. „Weist du Werter, ich find es echt toll dass du mitgekommen bist. Ich hatte es früher auch nicht so einfach, glaub mir, hab Drogen genommen und allerlei Mist gebaut. War ne schlimme Zeit. Aber ich bin mit der Hilfe des Alten da raus gekommen. Man darf halt nicht aufgeben! Man muss kämpfen!
Ich erzähl dir davon ein anderes Mal. Jetzt ist nicht die Zeit dazu.“
Cecilie und Frank kamen ihnen lachend und feixend entgegen. „Du bist der beste“ fand Cecilie, gab Ullrich zur Belohnung einen Kuss auf die Wange und schnappte sich den Popcornbecher den sie triumphierend Frank unter die Nase hielt.
„Na Frank, was sagst du jetzt?“
Frank griff sich gelassen eine Handvoll Popcorn.
„Mogeln gilt nicht.“
8.
Ein kräftiger Wasserstrahl schoss aus dem Hahn in das Spülbecken, indem das Wasser langsam anstieg. Der junge Mann legte seine Hände in das warme Wasser und bewegte sie leicht hin und her.
Ein angenehmes Gefühl durchlief seinen ganzen Körper.
Stille stand er da und genoss dieses Gefühl tiefster Zufriedenheit.
Das Klappern von in die Küche herein getragenen Tellern erinnerte ihn an die Arbeit die er zu verrichten hatte.
„Wo ist das Spülmittel?“
„Im Schrank unter dem Spülbecken“ Ullrich stellte dass voll gestapelte Tablett dass er herein getragen hatte auf der Küchenbank ab. Als dass Wasser, mit ein paar Tropfen aus der Spülmittelflasche, in ein weises Schaum Gebirge verwandelt worden war, versenkte Werter darin einen Stapel Teller und begann sie mit einem Lappen gründlich zu reinigen. Ullrich schnappte sich ein Handtuch.
Ein Gähnen unterdrücken sagte er: „Das ist eigentlich Frauenarbeit was wir da machen, he, Werter? Cecilie sollte dass jeden Tag alleine machen.“
Er hatte dass natürlich nur im Spaß gesagt, wohl um die gerade in die Küche hereinkommende junge Frau zu provozieren, die sich nun auf Zehenspitzen so leise wie möglich an Ullrich heranschlich.
„Weist du Werter ich glaub ich heirate Cecilie, dann habe ich jemand der für mich spült und meine stinkenden Strümpfe wäscht.“
Ullrich tat so als merke er es nicht, welche Gefahr sich hinter seinem Rücken zusammenbraute. Werter stellte lächelnd einen gerade gespülten Teller auf die Ablage. Dabei drehte er sich halbwegs zu Ullrich um und entdeckte Cecilie, die ihm verschmitzt zu blinzelte und, zum Zeichen dass er sie nicht verraten sollte, den Zeigefinger auf ihren Mund legte.
„Wenn dass Cecilie hören würde“ sagte Werter mit gespielter Besorgnis, „dann würde ich nicht gerne in deiner Haut stecken.“
Im gleichen Augenblick sprang Cecilie mit einem übermütigen „Ahh!“ von hinten auf Ullrich, die Arme um seinen Hals schlingend.
Der lachte laut auf und lief mit dem Mädchen als Rucksack kreuz und quer durch die Küche.
Die beiden jungen Leute vollführten dabei einen wilden Tanz.
Werter schaute ihnen dabei zu. Ihre grenzenlose Lebensfreude, ihr lebhaften Stimmen und fröhliches Lachen, die ungezwungen Art mit einander umzugehen, begeisterte den ernsten, jungen Mann. Seitdem er mit diesen Menschen, die er bewunderte, mehre Stunden jeden Tag zusammen war, erschien ihm sein Leben verändert. Er wollte so sein wie sie, er wollte sich der Schwere die ihn all die Jahre hinabgedrückt hatte, endlich entledigen und genauso fröhlich und unbesorgt in den Tag hinein leben wie sie es taten! Hier in diesem Haus zwischen diesen Menschen hatten er erfahren was ein menschliches Leben zu bieten hat, an Glück, an Freude, an Möglichkeiten! Aber die Schwere, diese seelische Last wollte ihn noch nicht freigeben. Sie verdammte ihn auch weiterhin zum stillen, unbeteiligten Zuschauer, auch jetzt wo er sich doch am liebsten in ihr Spiel eingemischt hätte. Nachdenklich wendete Werter sich ab. Verstreut, langsam, ohne richtig bei der Sache zu sein, setze er mit seiner Arbeit fort.
„Hey lass mich runter“ rief Cecilie hinter ihm, „wir müssen Werter beim Abwasch helfen!“ Ullrich und Cecilie traten ganz außer Atem an den Spültisch heran, jeder mit einem Handtuch in der Hand. Eine Weile wurde in geschäftigem Schweigen abgespült und abgetrocknet.
„Werter, wie findest du eigentlich den Alten, “ fragte Cecilie unvermittelt. Bevor der gefragte hätte antworten können, redete die junge Frau eifrig weiter. „Du kennst ihn ja noch nicht so lange, aber er ist wirklich nett. Hat ein gutes Herz, ganz ehrlich. Er bringt aus allen Menschen immer das Beste heraus. Das war bei allen hier so.“ „Cecilie hat recht“, sagte Ullrich der dabei war das abgetrocknete Geschirr in die Schränke zu verstauen. „Der Mann ist was ganz besonderes. Der kommt an alle Menschen ran. Versteht sie. Man Werter, als ich hier ankam, vor paar Jahren war ich total durchgedreht!“
„Bist du schon lange hier?“ fragte Werter.
„Ja bald fünf Jahre. Der hat mich sozusagen aus dem Rinnstein geholt. Ich war fertig damals. 17. Jahre alt und völlig am Ende. Getrunken und schlimmer noch Drogen genommen, immer häufiger. Und ich war zu der Zeit extrem aggressiv. Bin bei allem explodiert.
Es schepperte laut als Ullrich mit etwas zuviel Kraft die Schublade, indem er das Besteck eingeordnet hatte, zuwarf.
„Ich kann mich noch darin erinnern“ bestätigte Cecilie, bedächtig auf den Teller in ihren Händen blickend, bevor sie ihn vorsichtig ins Regal stellte. „Ich hatte richtig Angst vor dir.“
Werter fiel es schwer nachzuvollziehen dass Ullrich, ein in seinen Augen so geglückter vollkommener Mensch, es einmal so schwer gehabt hatte. „Was war mit dir?“
„Was mit mir war?“ Ullrich setze sich auf die Tischkante und trommelte mit den Fingern gegen das Holz. Ich hatte keinen Schimmer was ich anfangen sollte, meine Eltern waren von Morgens bis Abends bei der Arbeit. Niemand hat mir nen Tipp gegeben. Und anstatt irgendwas Vernünftiges anzufangen hatte ich den ganze Tag nur eins im Kopf, Fun haben. Ich war jede Nacht durchgehend auf Partys und hab gesoffen bis zum umfallen.“
Cecilie wedelte mit ihrem Handtuch erregt in der Luft rum. „Mir ging es auch so. Als meine Eltern sich trennten, wohnte ich bei meiner Mutter. Mit hat jemand gefehlt der mir sagte wo es lang geht. Meine Mutter war doch selber total Orientierungslos. Das ist ja dass große Problem für die Jugend. Mann ist jung und dumm!“
Sie lachte, wurde aber sofort wieder ernst. Werter verstand die beiden nur allzu gut. Es tat ihm gut zu wissen dass es noch andere Menschen gab, die wie er in ihrer Kindheit gelitten hatten und die es geschafft hatten darüber hinweg zu kommen. Er sah auch mit plötzlicher Klarheit ein, wie wichtig es war, dass vergangene hinter sich zu lassen, auch wenn es einen noch sosehr beschäftigte.
Mit einem entschlossenen Ruck zog er den Stöpsel aus dem Spülbecken. Das dreckige Wasser verschwand gurgelnd und schmatzend im Sog des Ausgusses.
9.
„Wie geht es dir”, fragte Herr Leopold den jungen Mann, dem er in seinem Arbeitszimmer in einem Sessel gegenüber saß.
Gegen das Fenster des Raumes prasselte ein wilder Herbstregen, die kahlen Zweige eines nah am Haus wachsenden Baumes schlugen vom Wind gepeitscht gegen die dünne Glasscheibe.
„Mir geht es gut“ antwortete der junge Mann und lächelte sein sanftes schüchterndes Lächeln.
„Hoi wie schummrig es hier ist. Ich sehe dich ja kaum“, sagte der Alte aufstehend.
Die beiden Sessel standen in einer Ecke des Raumes, das
weis-graue, kraftlose durch das Fenster sickernde Tageslicht erreichte sie kaum.
„Es ist noch nicht Mals Abend und schon so dunkel draußen“.
Geschwind ging Herr Leopold zur Tür und betätigte den Lichtschalter. Zufrieden setze der er sich zurück in seinen Sessel und nickte Werter freundlich zu. „So jetzt ist es besser.“
Der junge Mann erwiderte seinen direkten Blick. Mit großen, offenen Augen schaute er den alten Mann gerade und aufrichtig an. Er empfand eine große Ehrfurcht vor diesem Menschen, der soviel von diesem Leben verstand, dass er selbst noch so wenig durchschaute.
„Ich möchte ihnen danken Herr Leopold! Für alles was sie für mich getan haben. Ich habe mich bisher doch noch gar nicht bedankt!“ Die Stimme des jungen Mannes war brüchig vor Rührung.
„Es gibt kein Grund sich dafür zu bedanken“. Herr Leopold machte eine fast unwillige Handbewegung. „Das einzige was ich tue ist euch jungen Menschen zu zeigen wo es lang geht. Du willst sicherlich wissen warum ich hier in diesem großen Haus junge Menschen um mich versammle, anstatt in einem Alterheims mit anderen Senioren Bridge zu spielen!“
Herr Leopold setzte sich im Sessel zurecht.
„Nun erstens bin ich ein alter Mann und wie alle alten Männer fürchte ich nichts mehr als die Einsamkeit. Junge Leute um mich zu haben, ist die beste Medizin gegen das Altwerden. Weißt du Werter, nichts ist schlimmer als die Einsamkeit, die Einsamkeit ist dass nichts, die Leere. Desto älter wir Menschen werden desto größer wird unsere Angst davor. Ich will dir nichts verschweigen Werter, ich war lange einsam in meinem Leben. Ich verkroch mich vor der Welt wie ein blinder Maulwurf, wollte von meinen Mitmenschen nichts wissen. Nicht dass ich nicht hätte können. Oh doch, ich konnte mit den Menschen reden, mit ihnen Zusammensein, mich mit ihnen amüsieren und unterhalten.
Ich wollte nur nicht, da ich mich selbst am höchsten schätzte.
Ich hatte einfach geglaubt ich käme ohne sie aus. Für viele Jahre ging das alles gut, ich war junger Student, in den Büchern habe ich mir das geholt was ich vom Leben brauchte.
Dann aber eines Morgens wachte ich auf in meiner kleinen Wohnung, es war totenstill und dunkel, weil ich immer alle Vorhänge vor die Fenster zog. Ich hatte einen schrecklichen Traum geträumt, ich werde ihn nie vergessen, es ist mir als hätte ich ihn erst gestern geträumt. Lass mir ihn dir erzählen: Ich befand mich auf einem riesigem freien Platz auf dem eine große Anzahl Menschen herumliefen. Diese vielen Menschen gingen ohne Ausnahme alle alleine daher, mit zu Boden gerichteten Augen. Aus ihren Gesichtern war all Menschlichkeit verschwunden. Schau raus Werter, in den regnerischen Himmel. Siehst du wie grau und trostlos er ist?
Werter nickte heftig mit dem Kopf.
„Nun in diesen Gesichtern war die gleiche Leere. Es waren allesamt abweisende unfreundliche Gesichter, nirgendwo auch nur das leiseste Lächeln! Diese Menschen gingen in die verschiedensten Richtungen über den Platz, sie eilten über den Platz, ihre Wege überkreuzten sich andauernd, aber niemand dieser Menschen sagte ein einziges Wort oder blickte auf wenn sie einander passierten. Sie schienen sich ganz und gar zu übersehen, oder wollten einander nicht wahrnehmen. Werter, ich kann dir gar nicht beschreiben wie abscheulich diese Menschen waren! Als ich damals aufwachte, sah ich ein, dass ich zu genau so einem abscheulichen, grässlichen, innerlich erstarrten, abgestorbenen Menschen geworden war und ich ekelte mich vor mir selber!
Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich in einem Nichts lebte,
da war nichts, hörst du, nichts außer die Stille und die Dunkelheit.
Aber glaub nicht ich hätte mich aus dieser Erkenntnis heraus verändert. Oh nein! der Mensch ist schwach, wenn er sein Irrtum einsieht, lässt er sich noch mehr fallen, er findet allein nicht die Kraft sein Leben zum besseren hin zu verändern. Und wenn er sein scheußliches Leben nicht verändern kann will es beenden. Ich stellte mich noch am Abend auf eine Autobahnbrücke, ja dass tat ich, ich brauch dir wohl nicht zu sagen warum.“
„Aber sie sind nicht gesprungen?!“
„Nein das bin ich nicht, aber ich wäre. So wie ich euch nun helfe, half mir damals ein alter Mann, seine strengen Worte werde ich nie vergessen. Er redete mir nicht gut zu, nein, nein, bei weitem nicht. Wie er damals zu mir hintrat sehe ich noch heute bis zum kleinsten Detail vor mir. Ich stand da am Geländer und zitterte. Er trat zu mir hin, legte mir seine Hand auf die Schulter und sagte: Junger Mann wenn du wüstet was diese Leben alles zu bieten hat, würdest du dass nicht tun. Als ich vom Geländer zurücktrat, weinend, ich hab geheult wie ein Schosshund, drückte er mir Geld in die Hand, du wunderst dich Werter, dass sehe ich dir an, nun, es mag sich komisch anhören. Also, bevor er mir aber das Geld gab, musste ich ihm versprechen dass ich eine Reise unternehmen würde. Ich tat diese Reise, ich bin durch ganz Europe gereist. Ich habe da unzählige Menschen kennen gelernt, Bände mit wildfremden Menschen geknüpft, manche die ich auf dieser Reise kennen gelernt habe, sind immer noch meine Freunde! Und durch diese Menschen habe ich das Leben von einer anderen Seite kennen gelernt wie ich es bisher noch nicht gekannt hatte.
Der Sessel knirschte leise als der Alte sich nun zu Werter vorbeugte. „Weißt du junger Freund, es ist dass was für uns Menschen so wichtig ist. Um das Leben zu verstehen müssen wir es gelebt haben, um zu wachsen als Mensch, müssen wir mit den Menschen gelebt haben! Mein Retter gab mir damals die Möglichkeit das zu verstehen. Diese Welt und die Menschen kennen zu lernen und dadurch auch mich selbst.“
Herr Leopold verstummte. Werter, der den Alten solange dieser geredet hatte aufmerksam angesehen hatte, schaute nun zum Fenster, sein Blick wurde fern und Abwesend, als dachte er über die Botschaft des gehörten nach.
„Oh, bevor ich es vergesse“ sagte der Alte, indem er aufstand und zu seinem Schreibtisch ging. Gleich darauf kam er zurück und überreichte Werter einen Briefumschlag.
„Hier Werter, an dich. Der Brief kam heute Morgen“.
Werter sah den Alten verdutzt an, mit ungläubiger Miene, nahm er den Brief entgegen. Nur für Sekunden ruhte sein Blick auf der feinen schnörkeligen Schrift auf der Vorderseite des Briefumschlages, schon hatte er sie wieder erkannt.
Voll banger Freude rief er aus: „Von meinem lieben Mädchen!
Ja, es ist von ihr, von Veronika!“
Hastig und voller wilder Ungeduld riss er den Brief auf und entfaltete die Blätter.
Rasend schnell flogen seine Augen über die Sätze, Zeile für Zeile. Sein Gesicht, das im Anblick des Briefes erst voller Sorge gewesen war, hellte sich schlagartig auf.
„Sie ist mir nicht böse!“ verkündigte er laut und voller Erleichterung.
„ Sie will mich besuchen. Wir werden uns wieder sehen!“
An diesem Abend eröffnete Werter dem Alten, das er an einem Schauspiel schreibe, mit dem Titel: „Die stillen Leiden des jungen Werters.“
„Endet es denn gut“, hatte Herr Leopold daraufhin gefragt. „Ja“, hatte Werter mit fester Stimme geantwortet.
„Es endet gut“
10.
Die große Stadt war voller Geräusche pulsierenden Menschlichen Lebens. Durch die Einkaufstrassen hastete die bunte Einkauflüsternde Menschenmenge. Der Verkehr der vielen Autos bewegte sich, von den Ampeln geleitet und aufgehalten, stockend durch die Stadt.
Unter der Erde aus dunklen Tunnels fuhren überfüllte Untergrundbahnen in erhellte Stationen ein. Die Wagons hielten, die Türen öffnete sich, Scharen von Menschen, deren Gesichter im künstlichen Licht krank und blass wirkten, drängten sich heraus und hetzten den Ausgängen entgegen.
Hinter den dicken Mauern, eines außerhalb des Stadtkerns liegenden Hauses, drang der Lärm all dieses, die Stadt erfüllende Menschliche Leben, nur abgeschwächt, dumpf.
Das steinerne alte Haus, von seinen hohen Mauren von der Welt abgeschirmt, umgeben vom stillen, herbstlichen Garten, erschien wie ein Tempel der Ruhe, eine Stätte des Friedens.
Betrat man dieses Haus und ging die alte hölzerne Treppe herauf, durch den langen dunklen Gang zum großen Saal, dessen Tür in den rostigen Angeln quietschte wenn man sie öffnete, traf man dort drei Künstler an, die sosehr in ihre Arbeit vertieft waren dass sie wohl kaum bemerkt hätten das man Hereingekommen war.
Schon seit vielen Tagen waren sie mit einer gemeinsamen Arbeit beschäftigt.
Ein junger Mann saß schreibend an einem Schreibtisch. Manchmal hob er den Kopf und schaute grübelnd vor sich hin. Ein anderer stand im blauen farbverklecksten Kittel vor einer Staffelei an einem Bild malend. Eine junge Frau durchblätterte auf dem Boden kniend, Notenhefte, ihr Cello lag neben ihr.
„Bravisio!“ rief der junge Maler indem er das Bild von der Staffelei nahm. “Selbst Picasso würde mich für dieses Kunstwerk beneiden. Wenn das kein Stimmungsbild für menschliche Freude ist, dann weiß ich nicht wie es sonst aussehen soll“.
Das Bild unterm Arm ging er zum jungen Mann am Schreibtisch. „Zufrieden Werter?“
Der schreibende besah sich dass Blatt das von frischen, kräftigen Farben bemalt war. „Halt es ein bisschen weiter weg, die Zuschauer sehen es ja von unten, und außerdem aus Entfernung. So, ja, noch ein paar Schritte. Es ist gut, das ganze Bild strahlt wie ein glücklicher Mensch, sehr gut“ lobte der Betrachter.
„Bist du mit den anderen Bildern auch fertig?“
„Ja, Hass und Trauer hab ich gestern gemalt, die hast du ja schon gesehen. Angst habe ich noch nicht, mach ich noch heute, yeah, ich weiß auch schon genau was für Farben ich dafür verwende.
Frank eilte zurück zu seiner Staffelei und spannte ein neues Blatt ein. Den Pinsel in einen Farbtopf tunkend fragte er: „Was wird dass eigentlich für ein Schauspiel, wenn man fragen darf.
Werter hielt im Schreiben inne. „Es ist eine Tragödie. Ich nenne es „die stillen Leiden des jungen Werters“. Aber es endet gut!“
„Endet gut. Na wunderbar, “ fand Frank und klatschte den Pinsel aufs Papier.
„Und dafür brauchst du diese ollen Stimmungsbilder?!“
„Genau. Und die Musik die Sabine zusammensucht.“
Eine schwache Herbstsonne brach am grauen Himmel zwischen den Wolken hervor und badete die drei jungen Menschen in ihr fliesendes Licht. Für Stunden, nur unterbrochen vom Mittagessen das ihnen mit den Worten: „Es gibt Essen Künstler!“ angekündigte wurde, waren sie an der Arbeit. Sabine spielte am Nachmittag verschiedene Stücke auf ihrem Cello, die sie aus einem Stapel von Notenheften ausgewählt hatte. Werter, der ihr vom Schreibtisch zuhörte, beratschlagte mit der jungen Musikerin zu welcher Szene dieses oder jenes Stück passen könnte.
Das Schauspiel wurde an diesem Tag vollendet, das letzte noch fehlende Stimmungsbild menschlicher Angst im schwindenden Licht des ersterbenden Tages gemahlt, die passende Musik für sämtliche Szenen wurde gefunden.
.
11.
„Mann, ich krieg ganz weiche Knie, wenn ich sehe, wie groß das hier ist!“
„Das nennt man Lampenfieber, Frank“, sagte Cecilie belehrend. Die beiden standen auf der Bühne eines kleinen Theatersaales.
Unter ihnen reihten sich die leeren Zuschauerbänke, die den ganzen Saal ausfüllten und nach hinten hin leicht in die Höhe anstiegen.
„Hier passen gut fünfhundert Leute rein“, schätzte Frank.
„Der Alte kriegt wirklich alles hin. Wenn’s morgen voll wird, brauch ich Beruhigungspillen!“
Ein junger Mann kam von hinten auf die Bühne. Langsam näherte er sich: „Sind da noch andere Stimmen als die eurigen, die in meiner Sache was zu sagen haben, dem schon Gesagten widersprechen oder Zuspruch tun?“
„Was babbelst du da?“, wunderte sich Frank. „Wir haben gerade die Anzahl geschätzt, die hier reinpasst …“ Weiter kam er nicht.
Cecilie schubste ihn an. „Idiot, das ist doch ein Prolog, Werter spielt Werther, und jetzt bist du dran.“
Frank schlug sich vor die Stirn. „Natürlich. Oje, ich hab den gesamten ollen Monolog vergessen.“ Die Handflächen gegen die Schläfe drückend versuchte er, sich an seine auswendig gelernten Sätze zu erinnern. „Ah, jetzt hab ich es: Ich liebe dich … eh …“
„Nein, das ist der Monolog meiner Mutter“, mischte sich Werter ein, wir sind jetzt in der Geisterszene.
„Was für ’ne Geisterszene?!“ Frank sah völlig verwirrt aus.
„Ich dachte, jetzt kommt die Szene, wo dieser miese Kerl seine Frau verlässt. Mann, wie soll ich denn das alles behalten, ich spiele deine Mutter, diesen Geist, den Clown, das vermischt sich in meinem Hirn zum totalen Monologenbrei.“
Cecilie zog genervt die Augenbrauen in die Höhe.
„Ich schlage vor, er spielt nur den Clown, dann bringt er wenigstens eine Rolle glaubwürdig rüber. Ja, warum eigentlich nicht. Sabine kann ja die anderen Rollen übernehmen.“
„Ich muss doch die Musik spielen“, erhob Sabine sanft Einspruch, die sich von einem Vorhang verdeckt auch auf der Bühne befand.
„Frank, das schaffst du schon“, meinte Werter.
„Du brauchst dich nur anzugucken, dann weißt du, welche Rolle du gerade spielst. So wie du jetzt rumläufst, in den weißen Tüchern, ähnelst du meiner Mutter überhaupt nicht.“
„Gut für sie“, grinste Frank. „Deine Mutter ist also kein Gespenst?!“
„Nein“, sagte Werter bestimmt. „Ihr geht es nicht so gut. Aber ich werde ihr helfen. Bald.“
„Ich schlage vor, wir üben jetzt weiter“, hörte man Sabine hinter dem Vorhang sagen. „Es ist ja immerhin unsere letzte Probe.“
„Ist es nicht so, dass eine schlechte Generalprobe Glück bringt“, überlegte Frank laut, „also dass alles dann glänzend bei der Aufführung läuft, ich glaub, ich hab das irgendwo gehört.“
„Verlass dich nur nicht drauf“, lachte Cecilie. Und jetzt konzentrier dich auf deine Rolle. Dein Prolog fängt an: So scheidet er also aus dieser Welt …“
Beim zweiten Durchgang saß die Geisterszene wie gegossen. Dann verschwanden Cecilie und Frank hinter der Bühne, um sich neu umzukleiden. Werter stellte eine Staffelei mitten auf die leere Bühne und darauf eines von Franks Stimmungsbildern. Jetzt sollte sich eigentlich die Bühne verdunkeln und nur ein Scheinwerfer sein grelles Licht direkt auf das Bild richten, anstatt dessen wurde die ganze Bühne von einem romantischen Rot überflutet. Werter gestikulierte protestierend in der Luft herum, mit Armen und Händen eine Art Zeichensprache vollführend. Daraufhin öffnete sich ein Fenster in einem rechteckigen Kasten am anderen Ende des Saals hoch über den Zuschauerbänken an der Decke.
Ullrich streckte seinen blonden Kopf heraus. „Ist was falsch?“
„Das ist hier doch kein Romeo-und-Julia-Stück“, rief Werter ihm lachend zu. „Ein Scheinwerfer auf das Bild, sonst dunkel.“
Cecilie trat neben Werter.
„Ullrich, was machst du eigentlich da oben. Deinen Mittagsschlaf?“
Ullrich winkte den beiden auf der Bühne zu. „Mein Fehler! Ich hab da was verwechselt.“
Das Fenster ging zu und gleich darauf wurde das einsame Bild auf der Staffelei von einem Scheinwerfer treffend beleuchtet.
Der Rest der Generalprobe verlief ohne unvorhergesehene Zwischenfälle. Kaum war der letzte Monolog gesagt, zwängte Ullrich seinen Oberkörper aus dem Fenster des Glaskastens, von dem er das Bühnenlicht bedient hatte. „Bravo Leute!“, lobte er laut in die Hände klatschend. „Dass ging ja wirklich gut, außer meinem kleinen Ausrutscher! Und jetzt hole ich Pizza, was Werter?“
„Pizza?!“ Frank im Clownkostüm schleckte sich mit der Zunge um den Mund. Für mich Peperoni!“
Cecilie sah Werter bittend an. „Wir könnten alle eine Pause gebrauchen.“
„O. k.!“, willigte der strenge Regisseur ein, „aber danach machen wir weiter.“
Kurze Zeit später saßen sie alle auf der Bühne um Pizzaschachteln herum und schlangen verführerisch duftende Pizza in sich hinein.
„Mann, das ist die beste Peperoni-Pizza, die ich seit Jahren gegessen habe“, sagte Frank mit vollem Mund. „Wo hast du die geholt, Ullrich?“
„Beim Italiener in der Heldenstraße. Ich bin da manchmal mit meiner Freundin, der macht die beste Pizza in der Stadt.“
„Hast du eine Freundin?“, fragte Werter.
Ullrich jonglierte mit einer Cola-Flasche. „Jupp, hab ich dir noch gar nicht erzählt. Schon seit zwei Jahren. Ich stell sie dir mal vor. Nettes Mädchen.“
Werters und Cecilies Blicke trafen sich wie zufällig. Sie hatten sich kurz angeguckt, ohne recht zu wissen warum.
„Wenn du sie nicht nett finden würdest, wärst du wohl kaum mit ihr zusammen“, sagte Cecilie und biss genüsslich in ihr Pizzastück.
„Schlaues Mädchen“, lachte Ullrich. „Na ja, muss ja nicht unbedingt sein. Manchmal ist man ja auch mit jemand zusammen aus anderen Gründen. Es ist ja nicht immer wirkliche Liebe.“
„Sollte es aber sein“, sagte Sabine, die beim Essen gleichzeitig in einem Notenheft blätterte.
„Find ich auch“, meinte Werter mit dem Zeigefinger gegen den Deckel der Pizza Schachtel knipsend.
„Auf jeden Fall, wenn man eine Familie gründet.“
Ullrich rollte sich auf den Rücken und schaute zur Decke.
„Ja klar, sollte sein, ist es aber leider selten. Es gehen doch so viele Ehen in die Brüche, weil die Menschen das Zusammenleben verlernt haben.“
Die Aufführung des Theaterstücks: Die stillen Leiden des jungen Werter
Herr Leopold gab seinen langen Mantel und seinen Hut beim Kleiderstand ab. Er hatte sich fein gemacht, seinen besten Anzug angezogen, auf seinen blank geputzten Lackschuhen glänzte das goldene Licht der vielen Lampen. Sorgfältig strich er sich sein spärliches Haar nach hinten und schloss sich den Menschen an, die zum Theatersaal strömten. Der Theatersaal war eine halbe Stunde vor der Aufführung schon fast voll. Die Luft war erfüllt von den vielen Stimmen der miteinander plaudernden Menschen, die darauf warteten, dass der rote schwere Vorgang, der die Bühne verdeckte, sich öffnen würde. Auf seinem Weg zur vordersten Bank, wo ein Sitzplatz für ihn reserviert war, wurde der Alte immer wieder von Menschen, die ihn kannten, kurz aufgehalten, dann schüttelte man sich angeregt die Hände und wechselte ein paar herzliche Worte miteinander. Minuten bevor die Vorstellung beginnen sollte, senkte sich eine erwartungsvolle Stille über den Saal, der sich bis zum letzten Platz angefüllt hatte. Nur vereinzelte Gespräche wurden mit unterdrückten Stimmen fortgesetzt, die erst abrupt abgebrochen wurden, als der Vorhang aufschwang.
Es begann nun ein Schauspiel, das die Zuschauer von der ersten Szene an beängstigte und verwirrte. Man hatte zwar vor der Vorstellung darüber geredet, was man wohl zu sehen bekommen würde. Eine Tragödie ist es, „Die stillen Leiden des jungen Werther“ heißt es, hatte der eine und andere auf eine gestellte Frage geantwortet, und vielleicht noch gleich hinzugefügt: nach Goethes Roman sicherlich.
Doch der, der vermutet hatte, es drehe sich hier um eine Dramatisierung von Goethes Werk „Die Leiden des jungen Werther“, wurde nun gewahr, dass er sich geirrt hatte. In diesem Schauspiel stellte ein junger Mann seine Verzweiflung am Leben auf einer Weise dar, die Goethes poetische Dichterwelt fern lag.
In der ersten Szene standen ein Mann und eine Frau mitten auf der Bühne in enger Umarmung. Ein warmes rotes Licht hüllte sie ein, zauberhaft spielte ein Cello aus dem Hintergrund. Plötzlich löste sich der Mann aus der Umarmung, stieß die Frau, die sich mit den Worten „ich liebe dich“ ihm entgegenwarf, von sich und verschwand im Dunklen.
Die verlassene Frau trug etwas in den Armen. Ein Kind? Eine Puppe. Die Bühne wurde verdunkelt; als sie sich wieder erhellte, kniete die Frau am Boden. Doch war es dieselbe Frau, die gerade eben noch so glücklich, so sorglos in den Armen des Mannes gelächelt hatte?
Die Zuschauer schauten neugierig auf die Bühne. Sie war kaum wiederzuerkennen, ihr Haar war ergraut, das Gesicht gealtert.
Die Arme musste wahnsinnig geworden sein, mutmaßten die Zuschauer und glaubten auch den Grund ihres Zerfalls zu kennen: Der Schmerz der Trennung wird dazu geführt haben.
Welch absonderliche Töne wurden dem verborgenden Cello jetzt entlockt, grell, schreiende Töne, scheußlich! Man wollte sich die Ohren zuhalten! Die von den Zuschauern in ihrem Leid Durchschaute legte das Kind in ihren Armen zu Boden und verschwand.
Die Bühne wurde dunkel, dann blendend hell. An der gleichen Stelle, wo die Mutter das Kind gelegt hatte, lag nun zusammengekrümmt ein junger Mann. Aha, das wird er sein, der junge Werther, vermuteten die Zuschauer, der sich so unglücklich verlieben wird, wie im Buch!
Wo ist seine verehrte Lotte? Man setzte sich zurecht, der eine und andere Herr lockerte den Schlips, man räusperte sich und hustete diskret. Doch was um Himmels willen tat der junge Mann da oben? Er sprang auf und schrie die im Saal anwesenden Menschen mit kreischender Stimme an: „Glaubt ihr, ich würde euch mit meinem Schmerz unterhalten?!“
Die Zuschauer schreckten zurück, nur ein alter Mann ganz vorne lächelte gelassen, als wäre des jungen Mannes Wutausbruch gerechtfertigt, als gäbe es gar keinen Grund, daran Anstoß zu nehmen. Auf der Bühne wurde es schlagartig dunkel.
In der Zeitung stand am nächsten Tag, dass dieser überraschende schockierende Anfang angekündigt hätte, was zu erwarten gewesen war. Der Kritiker, der diesen Artikel schreiben würde und nun unter den Zuschauern saß, der kleine Mann ganz links in der zweiten Reihe schrieb in seinen Notizblock: Man wird durch diesen Anfang regelrecht aus seiner Alltagswirklichkeit herausgerissen. Man ist durcheinander, weiß nicht, was dies bedeuten soll. Wie wird es wohl weitergehen?
Eine Szene, in der der blasse junge Mann allein im Halbdunkel auf der Bühne saß und zu sich selbst sprach, wurde von einer anderen abgelöst, in der ein Clown laut lachend und Witze reißend über die Bühne hampelte. Kann es sein, überlegte eine dick geschminkte ältere Dame, die direkt hinter Herr Leopold saß, dass man den Clown auf die Bühne geschickt hat, um ein bisschen Humor in dieses allzu ernste Schauspiel zu bringen, um für etwas Aufheiterung zu sorgen? Ein Mann in der letzten Reihe schüttelte verärgert (?), verunsichert (?) mehrmals mit dem frisch frisierten Kopf. Andere taten es ihm nach. Was sollte das Theater?!
Der Kritiker schrieb noch am selben Abend in seinem Resümee: Erst nach und nach begannen die Zuschauer zu verstehen, was sich da auf der Bühne vor ihren ungläubigen Augen abspielte. Kein Schauspiel im Sinne eines erdachten Dichterwerkes, sondern selbst erlebte Realität. Es war kein erfundenes Gefühlsdrama, was sich da oben abspielte, es war eine von den Menschen zum Leben gerufene Tragödie, die auf der Bühne ihren unaufhaltsamen Fortgang nahm; der junge Mann litt nicht, weil in dieser oder jener Szene der Autor des Manuskripts ihm Schmerz und Leiden verschrieben hatte, er litt wirklich, seine Gefühle waren nicht vorgetäuscht.
Diese Interpretation des Kritikers entsprach der Wahrheit.
Es wurde den Zuschauer klargemacht, dass dieser blasse junge Mann da auf der Bühne all diesen Lebensschmerz, den dieses Schauspiel versuchte zu verdeutlichen, an Leib und Seele durchlitten hatte. Szene für Szene verwandelte sich die Entrüstung der Zuschauenden in Anteilnahme für diesen jungen Menschen, dem das Schicksal so übel mitgespielt hatte.
Sie bewunderten seine Offenheit, seinen Mut, ihnen seine innersten Gefühle zu offenbaren. Sie verabscheuten den Mann, den Vater, der in manchen Szenen aus dem Hintergrund, sozusagen aus sicherer Entfernung, seines Sohnes Zerfall beiwohnte. Sie freuten sich, als ein liebes Mädchen auf der Bühne erschien und Werters müden Kopf auf ihren Schoß, eine friedliche Szene lang, Ruhe gönnte.
Sie bestaunten die Bilder, die zwischen den einzelnen Szenen von einem Scheinwerfer grell beschienen auf einer Staffelei standen und in deren kräftigem Farbenspiel die Gemütsstimmung Werters so gekonnt erkennbar wurde. Sein Hass auf seine Mitmenschen, seine Freude, seine Angst waren in die Bilder sichtbar hineingemalt.
Sie lauschten andachtsvoll dem verborgenden Cello, auf dem so meisterhaft gespielt wurde, und das mit verschiedenartigem musikalischem Ausdrucksvermögen jede Szene begleitete. Und es stockte ihnen der Atem, es ging sogar ein deutlich vernehmbares ängstliches Raunen durch die Zuschauerreihen, als Werter, am ganzen Körper bebend, sich an den Bühnenrand stellte, als wäre es ein Abgrund, in den er sich zu stürzen gedachte.
Wollte er so seinem irdischen Schmerz und Leid ein Ende setzen? Zwei geisterhafte Gestalten, die hinter ihm standen, drängten ihn, den Schritt zu tun, von dem er sich noch scheute; unablässig redeten sie auf ihn ein, um ihn zum Selbstmord zu verleiten.
Der eine Geist verkündigte: „So scheidet er also aus dieser Welt, die ihm die Menschen fremd und unerträglich gemacht haben, gleich wird er sich von hohem Felsen werfen, zur Erde nieder, die ihn betten wird in ihren warmen weichen Schoss!“
Die Zuschauenden in den hinteren Reihen reckten die Köpfe, in den vorderen zog man die Beine an sich. Würde Werter sich vor ihre Füße stürzen?! Gebannt und regungslos beobachtete man den jungen Mann am Bühnenrand, in dessen totenblassem, verzehrtem Gesicht furchtbare Selbstqual heraussprach.
Wie groß war das Erstaunen der versammelten Menschen, als ein älterer Mann in der ersten Reihe aufstand, eilig die Treppen der Bühne erklomm und dem nun laut schluchzenden Schauspieler väterlich die Hand auf die Schulter legte.
„Komm, Hermann, lass uns von hier weggehen.“
Ein reges Geflüster schwirrte durch die Luft. War diese Einlage vorgesehen, oder war der Alte, da sich niemand anders aufgewappnet hatte, aus eigenem Antrieb die Bühne raufgegangen, um den am Abgrund stehenden Menschen zu retten?!
Hatte er dieses Theater für wirklich gehalten? Es war doch nicht mehr als eine Szene in einem Schauspiel, oder? Solche und ähnliche Fragen flüsterte man sich gegenseitig zu. Als der alte Mann auftauchte, stoben die Geister auseinander. Der junge Mann ließ sich von dem weißhaarigen Alten vom Bühnerand wegführen. Der Vorhang fiel, das Schauspiel war mit dieser Szene beendet.
Der Kritiker schrieb abschließend in seinem Resümee:
Nachdem der Vorhang gefallen war, herrschte für mehrere Minuten eine völlige Stille im Saal. Es war eine Stille des Nachdenkens, um mich herum saßen nachdenkliche, von dem Gesehenen und Gehörten tief betroffene Menschen. Ich habe Leute von einem Schauspiel noch nie so ergriffen gesehen wie nach „Die stillen Leiden des jungen Werter“. Es dauert seine Zeit, bevor sich die Menschen von all den verwirrenden Eindrücken zu erholen vermochten, die auf ihre Sinne in der vergangenen Stunde eingewirkt hatten.
Es war deutlich, dass sie begriffen oder zumindest zu begreifen versuchten, dass dieses Schauspiel, das sie gerade gesehen hatten, eine Anklage an sie alle war, aber gleichfalls auch eine Auforderung, so wie der Alte es vor ihren Augen getan hatte, einem sich am Abgrund befindenden Mitmenschen zu helfen und nicht zuzusehen, wie er sich in die Tiefe stürzt.
Nach bedeutungsvoller Stille fingen die Zuschauer an zu klatschen, erst leise und verhaltend, als getrauten sie sich nicht recht, doch schon bald steigerte sich das begeisterte Klatschen der vielen Menschen zu einem tobenden, nie enden wollenden Beifallsturm. Der Vorhang öffnete sich, die Schauspieler hatten sich dahinter versammelt. Herr Leopold war bei ihnen, sich gegenseitig an den Händen fassend, verbeugten sie sich.
Inmitten von ihnen stand ein junger Mann, der sich des dunklen Gewandes von Werther entledigt hatte.
Er strahlte vor Freude.
Die anderen Stimmen:
Der Clown: Um es gleich vorneweg zu nehmen. Ich bin nicht so, wie er mich so blöde dargestellt hat. Also ich bin kein Clown oder so was. Warum er mich Clown genannt hat?
Keine Ahnung. Natürlich versuche ich, mich beliebt zu machen, aber es war nicht irgendwie so, dass ich andauernd in der Klasse Witze gerissen hätte. Das kommt bei mir ganz natürlich, das Lustigsein.
Es tut mir aufrichtig leid, was auf der Klassenfahrt zwischen mir und ihm passiert ist. Wir haben uns falsch verstanden, eigentlich waren wir die besten Freunde. Nur, es hat sich halt alles irgendwie in die falsche Richtung entwickelt. Ich dachte, jetzt sind wir Freude, und dann tut er so, als kenne er mich nicht. Dass er bis zum Hals in Problemen steckte, woher sollte ich denn das wissen. Er hat mir das ja nie vermittelt. Ich dachte, er zeigt mir die kalte Schulter, und außerdem war da die Sache mit dem Mädchen. Wir mochten sie beide sehr gern, aber sie war andauernd nur mit ihm zusammen. Man hätte fast meinen können, die waren ein Paar. Dann habe ich halt versucht, ihm eins auszuwischen. Das war alles nicht so gemeint, wie es rübergekommen ist. Ich will ehrlich sein: Er ist ein toller Kerl, voller Intelligenz und richtig lustig kann er auch sein.
Aber manchmal hatte man das Gefühl, man redet gegen eine Wand, dann hatte er sich total verschlossen, was mich immer irre provoziert hat.
Das ist eigentlich alles, was ich sagen wollte.
Das liebe Mädchen: Der Leser kennt mich als das liebe Mädchen. Ich heiße Veronika.
Ich habe sein Tagebuch nicht nur einmal, sondern gleich mehrmals gelesen. Das Gelesene hat mich zutiefst erschüttert! Wenn ich doch nur gewusst hätte, was er all die Zeit durchging! Man glaubt, man kennt einen Menschen, und dann das.
Es war immer so schwer, sich ihm zu nähern, alle, die ihn kannten, empfanden das so. Auch ich. Obwohl wir uns schon damals so vertraut waren. Er hat sich nie wirklich geöffnet, das war echt schade, denn, ganz ernst, ich sage das jetzt nicht nur so, er ist ein ganz besonderer Mensch. Ich habe das immer gemerkt, wenn ich mit ihm redete. Er sagte nie ein undurchdachtes Wort, seine Weltanschauung hat mich sehr beeindruckt. Ich fand es aber auch schade, dass er halt nie mal losließ, einfach mal was sagte, was ihm gerade einfiel.
Ich war immer sehr gern mit ihm zusammen, manchmal aber habe ich gewünscht, er wäre nicht andauernd so ernst und fast traurig.
Er redete immer sehr leise, als hätte er Angst gehabt, dass andere, außer mir, ihn hören könnten. Dass er sich auch sonst so still und schüchtern verhielt, fand ich ja ehrlich gesagt schon komisch.
Im Nachhinein, nachdem ich sein Büchlein gelesen habe, verstehe ich ihn besser. Ein Mensch, der so viel Schlimmes erlebt hat, kann einfach nicht lustig und locker sein wie andere Menschen. Das, was man erlebt hat, prägt einen ja irgendwie, oder?
Es hat mich sehr geschockt, dass er glaubte, ich wäre ihm böse oder beleidigt auf ihn wegen der Geschichte mit den Kartenspielern in Venedig. Das war überhaupt nicht der Fall. Er konnte doch nichts dafür, dass die ekligen Männer versucht haben, mich …
Ich will mich gar nicht daran erinnern. Ich war ihm ganz im Gegenteil dankbar, keine Spur böse. Er hat mich ja da rausgeholt, bevor es zu spät war. Wenn er doch damals im Krankenhaus nicht weglaufen wäre, als ich aufwachte.
Ich wollte ihn gar nicht ausschimpfen! Nein, überhaupt nicht, ich war froh darüber, ihn an meinem Bett zu sehen. Die ganze Nacht hat er da bei mir gesessen, das war wirklich toll von ihm. Ich habe ihn sehr lieb, nachdem er an dem Morgen plötzlich verschwand, wurde mir klar, wie lieb ich ihn habe und wie viel er mir bedeutet. Ich hatte aber keine Ahnung, dass auch ich ihm so viel bedeute, wie er das in seinem Büchlein so oft beschrieben hat. Er hat ja so selten Gefühle gezeigt, ich verstehe jetzt, dass er gegenüber mir und den anderen Leuten so zurückhaltend war, weil er einfach Angst hatte, man würde ihn irgendwie verletzen.
Die Zeit in K. muss schrecklich für ihn gewesen sein. Ganz allein ihn dieser riesigen Stadt.
Hätte er doch nur die Briefe, die er angefangen hatte, abgeschickt, dann wäre ich ihm sofort nachgereist und mit ihm nach Hause gefahren. Und er hätte all die schrecklichen Erlebnisse mit seiner Mutter und dem Kindheitsfreund in seinem Heimatdorf nicht erleben müssen.
Aber zum Glück gibt es Menschen, wie Herr Leopold.
Er hat meinem Freund das Leben zurück geschenkt und ihm die Augen geöffnet für die Schönheit und all die Möglichkeiten die ein menschliches Leben bietet.
Ich werde dem alten guten Mann ganz herzlich danken, wenn ich bald zu Besuch komme. Aber erst werde ich Herman ganz fest in meine Arme drücken. Und küssen werde ich ihn, auf den Mund, damit er endlich versteht wie gern ich ihn habe.
"Die stillen Leiden des jungen W." © spreemann 2016
Alle Rechte beim Autor.
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Tag der Veröffentlichung: 01.02.2016
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