Die Flucht.
Teil 1.
Schnell legte er den Hörer auf. Man hatte ihm von ihrer bevorstehenden Flucht erzählt, und nun gab es keine Zeit zu verlieren. Es gab keine Zeit, nachzudenken über das Warum: warum sie so etwas tun konnte und warum gerade jetzt und warum in solcher Weise; Im Geheimen zu flüchten, ohne um Einverständnis zu bitten oder Abschied zu nehmen. Es blieb keine Zeit, das Handeln der Frau in Frage zu stellen, nun war es Zeit, selber zu handeln. Der Junge! Wenn jemand sie von der Flucht abhalten konnte, dann der Junge. Der Mann mit dem unglücklichen, bärtigen Gesicht eilte durch die Wohnung zum Zimmer des Kindes. Er stieß die Tür auf. Auf seinem Bett saß das Kind, untätig, die kleinen Hände im Schoss, ein kleiner, blasser, schlanker Junge, mit starr blickenden, traurigen Augen, die nun vom Fenster zum Mann in der Tür hinüber sahen. «Komm schnell!“ Der Junge gehorchte, doch so starr und gleichgültig, wie der Blick aus seinen Augen war, waren auch seine Bewegungen. Langsam und seltsam mechanisch stand der Junge auf, zog sich an der Eingangstür Jacke und Schuhe an und folgte dem vorauseilenden Mann hinaus auf die Straße. In den Straßen der Stadt lagen bräunliche Reste des vergangenen Winters, ein trockener, lauer Frühlingswind fegte entlang den Häuserwänden. Sie hatten nicht weit hinunter zum Hafen der Stadt, an dem das große Schiff bereit war, abzulegen und seine lange Reise über den Ozean anzutreten. Der Mann ärgerte sich über die unbeholfenen, langsamen, fast trägen Schritte des Jungen, er nahm ihn an die Hand und zwang ihn so, neben seinen weiten, ausholenden Schritten zu rennen, um mithalten zu können. «Wir dürfen nicht zu spät kommen!» sagte er eindringlich, mehr zu sich selbst als zu dem Jungen, «Deine Mutter muss bei Dir bleiben!» Der Mann war entrüstet, wütend und enttäuscht: Sie hatten sich doch geeinigt, dass sie den Jungen bald wieder zu sich nehmen würde, das hatte sie ihm versprochen. Es war eine Notlösung gewesen, dass das Kind bei ihm wohnte, er konnte sich nicht um das Kind kümmern, nicht auf Dauer. Die Mutter hatte das eingesehen, und nun das! Nun wollte sie sich davon machen, ohne ein Wort, spurlos verschwinden. Das Handy des Mannes klingelte. Ohne innezuhalten nahm er es mit seiner freien Hand aus der Tasche und drückte es sich ans Ohr. «Wir sind auf dem Weg.» sagte der Mann mit hastiger Stimme, in der die Aufregung mitklang, in der er sich befand. «Ja, der Junge ist bei mir, wenn jemand sie aufhalten kann, dann er. Wie kann sie das tun?!» fragte der Mann, den Jungen hinter sich herziehend «Wir hatten eine Verabredung.» Die Hand des Kindes mit eisernem Griff umschlossen, eilte er vorwärts. Bei Rot überquerte er eine Straße, ein Auto bremste scharf und hupte, das Kind schrak zusammen, der Mann beachtete es nicht. Angestrengt lauschte er in das Handy hinein, immer wieder schüttelte er den Kopf. «Neu anfangen,», sagte der Mann ungläubig, «sie wollte also neu anfangen!» Dann sagte er beruhigend, besänftigend: «Freundin oder nicht, es war richtig, dass du mir davon erzählt hast, da brauchst du keine Gewissensbisse zu haben. Es war richtig und vernünftig von dir, eine gute Freundin muss manchmal auch ein Geheimnis preisgeben, das man ihr anvertraut hat. Und ihm, hast du ihm auch davon erzählt?! Ja, ah, das hättest du vielleicht lieber nicht tun sollen, » sagte der Mann, «ich hoffe, dass er nicht auch noch kommen wird. Da hinten ist es! Das Schiff!» Der Mann legte das Handy zurück in die Tasche. Die Straße, auf der sie gingen, führte leicht abwärts zum Meer, vorbei an einer großen Containerverladeanlage, nah am Kai an einer Fischmarkthalle, von der ihnen ein unangenehmer Geruch entgegenwallte, vorbei an dem Kontor der Wasserschutzpolizei und dem daneben gelegenen Souvenirshop. Dann endlich hatten sie ihn erreicht, den breiten und offenen Anlegeplatzes des Linienschiffes. Das große Schiff lag bewegungslos am Kai, seine weißen Decks waren noch menschenleer. Auf dem Platz aber, vor dem Schiff, herrschte ein reges Treiben. Aus parkenden Autos wurde Gepäck ausgeladen, Menschen verabschiedeten sich voneinander. Unaufhörlich betraten die Reisenden das Gebäude, von dessen zweitem Stock ein gläserner Verbindungstunnel zum Schiff führte. Der Mann drängte sich mit dem nun erhitzten und sehr verschreckt wirkenden Jungen an den Menschen vorbei. Sie wird in der Wartehalle sein, dachte er bei sich, nicht hier draußen, wo man sie leichter sehen kann. Die Bankreihen in der Wartehalle waren eng besetzt und doch sah der Mann sie sofort, denn sie stand alleine mit ihrem Koffer an der noch geschlossen Schleuse zum Verbindungstunnel und wartete, dass er geöffnet wurde. Ungeduldig fieberte sie dem Augenblick entgegen, in dem die gläserne Tür geöffnet werden würde und sie, nachdem sie ihre Fahrkarte und ihren Pass gezeigt hatte, diesen leeren und langen Tunnel hinab gehen konnte in den Bauch dieses großen Schiffes hinein, in dem ein Zimmer auf sie wartete, dessen Tür sie zuschließen konnte. Doch bisher war sie immer noch gefangen, zwischen dieser Glastür und dieser Stadt, deren Straßen und Häuser ein Gefängnis für sie geworden waren. Da sie sich immer wieder nervös umschaute, sah sie den Mann und das Kind aus der Menge auf sich zukommen, und in dem Augenblick, in dem sie die beiden erblickte, dachte sie wieder an Flucht, doch dann gab sie diesen Gedanken auf, denn wohin hätte sie jetzt fliehen können? Ihr Körper wurde steif, und ihr Gesicht wurde von der gleichen Blässe befallen, die auch im Gesicht ihres Sohnes zu sehen war, der immer noch an der Hand des Mannes ging.
Sie ähnelten sich sehr, das Kind und die Mutter, der gleiche zerbrechliche, zarte Körperbau, die gleiche blasse, fast krankhaft fahle Hautfarbe und der gleiche Gesichtsausdruck voller trauriger Ängstlichkeit. Ihre halblangen, leicht rötlichen Harre hingen ihr wirr herab, unter ihren Augen lagen tiefe und dunkle Ränder, die von schlaflosen Nächten und ausgelebten Ängsten zeugten. Als der Mann mit dem Kind bei ihr angelangt war, redete er lange auf sie ein, erst in einem beinah freundlichen Ton, dann, als sie nur dastand und uneinsichtig mit dem Kopf schüttelte, wurde er vorwurfsvoll, und seine Stimme erregte sich, er zeigte mit der Hand befehlend zum Ausgang zur Stadt hin, doch sie rührte sich nicht, schaute durch ihn hindurch, als höre und sehe sie ihn nicht. Der Mann wollte sie berühren, doch sie wehrte ihn ab. Da beugte sich der Mann zu dem Jungen an seiner Seite, den er nun los ließ, und er sagte leise zu ihm, dass seine Mutter mit diesem großen Schiff sie verlassen wolle, für immer. Er solle zu ihr hingehen und es nicht zulassen. Der blasse Junge nahm die Worte in sich auf, mit einer plötzlichen Wachheit und Aufmerksamkeit, nickte dann mehrmals, als hätte er genau verstanden, was zu tun war, wie wichtig die Aufgabe war, die er bekommen hatte. Dann trat er zu seiner Mutter, schlang die Arme um ihre Hüfte und schmiegte seinen Kopf an ihren Bauch. So standen sie da, Mutter und Sohn, regungslos, die Hände der Mutter hangen neben dem Kind seitlich herab, sie reagierte erst nicht auf seine Umarmung, unschlüssig und verunsichert. In ihrem Gesicht zuckten unaufhörlich die Gesichtsmuskeln. Zum Mann sagte sie: „Weißt du, die letzten Jahre waren furchtbar, aber der letzte Winter...noch nie habe ich so gelitten, und in dieser furchtbaren, langen Zeit habe ich endlich verstanden, dass es niemals aufhören wird. Ich bin aufgewacht wie aus einem langen Alptraum und weiß nun, dass Flucht die einzige Rettung für mich ist. Ich muss weg. Versteh mich doch bitte!“
Die Glastür vor ihr wurde geöffnet und der lange, weite, einladende Tunnel zum Schiff war damit frei. Doch sie rührte sich nicht, legte ihre zitternden Hände auf den Kopf des Jungen, streichelte ihn sanft und voller Liebe. «Dann geh, aber nimm das Kind mit!» sagte der Mann mit brüchiger Stimme. «Ich kann und darf ihn nicht bei mir behalten!» Die Mutter stand nur da, das Kind weiterhin streichelnd, das sie so innig umarmte und die kleinen Arme nicht von ihr lösen wollte. Die Minuten verstrichen, die anderen Reisenden gingen an den dreien vorbei, fröhlich sich unterhaltend, nachdem sie Fahrkarten und Pässe gezeigt hatten, den Tunnel hinab ins Schiff hinein. «Ich kann ihn nicht mitnehmen.» sagte die Frau schließlich, voller Schmerz, «Wenn ich es tue, wird er ganz sicher hinter uns herkommen». Und wieder verstrichen endlos wirkende Minuten der Unschlüssigkeit, des Nichtwissens, was tun. Dann stand er plötzlich vor ihr, von draußen war er gekommen, ohne dass sie ihn gesehen hatte, eine gedrungene, untersetzte, kräftige Gestalt, und er hob die breite, behaarte Hand und schlug die Frau ohne Vorankündigung ins Gesicht. Drohend und kalt sagte er: «Du bist meine Frau, ob du willst oder nicht, und du wirst hierbleiben, bei mir und dem Kind, hier in dieser Stadt. Und nun komm!». Sie gehorchte, mit langsamen, mechanischen Bewegungen folgte sie dem Mann zum Ausgang hin, in einer Hand hielt sie das Kind, mit der anderen zog sie den schweren Koffer. Der andere Mann, mit dem unglücklichen, bärtigen Gesicht, blieb zurück. Hilflos sah er ihnen nach. Voller Schuldbewusstsein und Zweifel an sich selbst stand er da und dachte, dass es alles ganz anders hätte kommen können. Er malte sich aus, wie er mit dem Jungen an der Hand die Treppen zum Wartesaal hoch ging, sie an der Glastür stehen sah, ängstlich, nervös, unruhig, wie er daraufhin dem Jungen eine Fahrkarte kaufte. Er malte sich in schmerzlicher Reue aus, wie er dann mit dem Jungen zu ihr hin ging, mit einem freundlichen Lächeln ihr ihre Angst nahm und wie er mit Bestimmtheit und voller Verständnis zu ihr sagte: „Geh, aber nimm den Jungen mit!“ Sie: „Ich kann nicht, wenn ich es tue, wird er ganz sicher hinter mir her kommen!“ Er: „Er wird es nicht, ich verspreche es dir.“ Er stellte sich ihre Freude vor, ihr vor Freude, Dankbarkeit und Erleichterung aufleuchtendes Gesicht, so dass sie ihn küsste zum Abschied und ihn umarmte und dann mit dem Jungen, nachdem sie Fahrkarte und Pass gezeigt hatte, den langen Verbindungstunnel zum Schiff, zu ihrer Freiheit, zu ihrem Neuanfang hinab eilte und sich dann noch mal zu ihm umwandte, winkte und lachte.
Und mit einem Gefühl von Schuld und von Schwäche, mit dem Gefühl, versagt zu haben, machte er sich auf den Heimweg durch die Stadt. Wie er so mit gesenktem Kopf durch die Straßen ging, sah er nicht, dass an den Zweigen mancher Bäume schon kleine Knospen hervorgekommen waren, die der Frühling erweckt hatte und die nun von einem Neuanfang der Natur Kunde taten.
Teil 2.
Langsam, mit feuchten, leicht zitternden Händen legte er den Telefonhörer auf. Minutenlang saß er vor dem Telefon, sein Rücken krumm gebeugt. In dem bärtigen, unglücklichen Gesicht, grub sich das Unglück, der Lebensschmerz, noch tiefer ein. Er konnte sich keine Gedanken über das, was man ihm gerade mitgeteilt hatte, machen, da war nur diese stumme, kalte, sich in seinem ganzen Körper ausbreitende Fassungslosigkeit. Seine Schuldgefühle hatte er in den letzten Wochen versucht zu verdrängen, nun, mit dieser entsetzlichen Mitteilung, kamen sie erneut hervor, in aller Schwere und Deutlichkeit, und er machte nicht mal den Versuch, sich zu verteidigen. Man hatte ihn gebeten, zum Strand zu kommen, man warte dort auf ihn. Mühsam raffte er sich auf und ging hinaus. Es war ein frischer Morgen, noch sehr früh, aber schon hell, eine graue, kraftlose, diffuse Helligkeit, verströmt von einem weiß-grauen, monotonen Himmel. Die Stadt wirkte hässlich in diesem Licht, dreckig. Jetzt nachdem der letzte Schnee geschmolzen war, waren die Straßen voller Dreck, Schutt, Kies und Müll, vom Winter zurückgelassen, vom Frühling aufgedeckt und entblößt. Er hatte es nicht eilig. Mit eigenen Augen das Unfassbare zu sehen und bestätigt zu bekommen, wollte er nicht, denn es würde bedeuten, dass alles zu spät war, dass jetzt niemand mehr was ändern könne. Das rostige, eiserne Drehtor, am Eingang des zum Meer grenzenden Schwimmbades, quietschte laut, als er es drehte und durch es hindurch ging. Das Restaurant, die Umkleidekabinen waren leer und still, Türen und Fenster fest verriegelt, die Badesaison begann erst mit der Wärme des Sommers. Aber unten am Strand waren Menschen, sie standen zu Gruppen vereint. Als der Mann sich ihnen näherte, drehten sich einige zu ihm um und eine junge Frau ging ihm hastig entgegen. Er sah sie nicht an und erwiderte nicht ihre Begrüßung. Im tiefen, feinkörnigen Sand stolperte er unbeholfen an ihr vorbei, zu dem leblosen Körper hin, um den die Polizisten standen. Rüde drängte er sie beiseite, blieb abrupt vor dem Körper in einem schwarzen Leichensack stehen und starrte auf das bläulich-blasse und stark aufgedunsene Gesicht, an dem nasse, rötliche Haarsträhnen klebten. Die junge Frau war neben ihn getreten und mit den gestammelten Worten „Das ist von ihr für dich“ drückte sie ihm einen Briefumschlag in die Hand, den er sofort entgegennahm und aufriss, um den an ihn gerichteten Brief zu lesen. „Ich bekam auch einen, “ sagte die junge Frau, „sie wollte, dass wir uns keine Vorwürfe machen, aber ich fühle mich so schuldig. Ich glaube, sie wusste von uns, glaubst du, dass sie deswegen...? War ich eine schlechte Freundin gewesen, wir hätten sie damals fliehen lassen sollen, meinst du nicht?“ Der Mann ließ diese Frage, dieses Bedürfnis nach Trost, nach Besänftigung, unbeantwortet, mehrmals las er den Brief, dann faltete er ihn zusammen, ging ganz nah zu dem rauschenden und strömenden Meer hin, trat in den durchweichten, matschigen, braunen Sand. Das Wasser drang ihm durch die Schuhe und Strümpfe. Dort stand er und blickte auf die schwarz-grünen Fluten.
Manche der Sätze aus dem Brief wiederholten sich in seinem Inneren, mit der Stimme der toten Frau sprachen sie zu ihm: „Weißt du noch, als wir als kleine Kinder am Meer spielten? Mit kindlicher Phantasie hatten wir davon geträumt, das Meer zu überqueren, als Entdecker bis nach Amerika zu segeln oder zu einem anderen fernen Land. Das Meer ist Freiheit, Weite, unendliche Weite.“ Der Mann erinnerte sich und lächelte schwach. Die nächsten, sich in ihm wiederholenden Sätze aus dem Brief zeichneten in sein Gesicht einen verzweifelten, verunsicherten Ausdruck. „Mach dir keine Vorwürfe. Ich habe Dir verziehen und ihr auch. Und außerdem, was zwischen Euch war, hat nichts mit meiner Flucht zu tun. Du hast verantwortungsbewusst gehandelt, an das Kind gedacht. Aber ich musste fliehen, konnte nicht bleiben. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Wenn das Leben zur Qual wird, will man fliehen, und wenn die Flucht nicht gelingt, versucht man es von Neuem! Ich werde los schwimmen, der Freiheit entgegen, meinem Neuanfang entgegen, dem anderen Ufer entgegen und wenn ich es auch diesmal nicht schaffe, komme ich auf jeden Fall nicht zurück, und es wird dann ein Unglück sein. Ein Unglück, wie es jedem passieren kann!“ Der Mann schüttelte einige Male mit dem Kopf, zweifelnd, verneinend.
Die Sätze der toten Frau, die Sätze aus dem Brief, sprachen weiter. „Ich habe keine Angst vor dem Tod, weißt du, ich glaube, der Tod ist die schönste und größte Freiheit, sogar noch schöner und größer als das Meer. Mach dir also keine Vorwürfe! Stell dir einfach vor, ich habe es geschafft zum anderen Ufer zu kommen, du weißt, was ich für eine gute Schwimmerin bin!“
Der Mann mit dem unglücklichen, bärtigen Gesicht lächelte erneut, doch im Begriff sich umzudrehen, vom Meer zum Strand, streifte sein Blick den schwarzen Leichensack zwischen den ihn umstehenden Menschen, und sein Lächeln gefror.
©Spreemann 2012
Texte: spreemann
Tag der Veröffentlichung: 30.08.2012
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