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Schwarze Engel



Patrica trat durch die Haustür heraus auf die nächtliche Straße. Schnell ging sie von dem Haus weg, das ihr Zuhause gewesen war, für mehr als ein Jahr. Von dem Mann in dem Haus, der ihr Geliebter gewesen war für diese Zeit. Patrica würde nie zurückkommen. Sie hatte ihn zurückgelassen. In der Wohnung, in der sie zusammen soviel Zeit verbracht hatten, nah beinander. Soviel miteinander gesprochen hatten sie, sich geliebt, berührt, so unzählige Male, am Tag, in der Nacht. Patrica ging schneller und versuchte, ihre Gedanken zu kontrollieren. Dieses eine Gefühl. Das ihr größter Feind war, wenn sie ging, wenn sie von den Männern wegging. Diese Männer verließ. Dieses Gefühl war jetzt am stärksten, ein Gefühl von...ja, was war es? Jedes Mal anders, niemals gleich, bei jedem Mann anders. Triumph, Stärke, Erleichterung, Reue, Mitleid, jedes Mal anders. Mal mehr von dem einen, mal mehr von dem anderen, Manchmal schwächer, manchmal stärker, so stark, dass sie es betäuben musste. Aber eins war immer gleich. Ihr Gehen wurde jedes Mal begleitet von einer dunklen Furcht, tief aus ihrem Unterbewusstsein kommend, eine Furcht davor, zurückzukehren. Bei diesem Mann keine Reue, kein Mitleid, nur Triumph und Erleichterung und ein Anflug der altbekannten, inneren Furcht, doch diesmal war es nur wie ein kalter Windhauch, der kurz und schwach ihren Körper durchdrang. Patrica atmete auf. Nachdem das Haus außer Sicht war, ging sie langsamer und war bereit, diese vergangene Zeit mit diesem Mann abzuschließen. Ihn zu vergessen. Es würde einfach sein. Sein nicht mehr junges, kantiges, fleischiges Gesicht, mit den traurigen, naiven, trüben Augen, seine schwere Gestalt, seine tollpatschigen Hände, sein süßlicher Geruch. Und seine Stimme. Die Stimme, mit der sie sich all diese Monate unterhalten hatte, die Stimme, die ihr geschmeichelt und sie umsorgt hatte, diese liebevolle, unsichere, nach Bekräftigung suchende Männerstimme. Patrica ging zu ihrer eigenen Wohnung, auf den nächtlichen, einsamen Gehwegen, befreit, aufatmend, zufrieden mit sich selbst - sie hatte alles ausgeführt, wie von ihr verlangt. Ihre Arbeit war getan. Sie freute sich auf die Belohnung und auf eine Dusche. Lange würde sie sich duschen , lange und ausgiebig das warme Wasser über ihren Körper fließen lassen, sich einseifen, wiederholte Male, um diesen letzten Mann, seine Berührungen, seine Körpersäfte, seinen Geruch, seine Küsse wegzuwaschen, sich davon zu befreien, für immer.

Patrica saß mit einer Freundin auf einer Bank. Das aufdringliche Vogelzwitschern aus den Lautsprechern störte die beiden im Gespräch. Im Kreis liefen die Spaziergänger, denn der Park war kreisförmig, ein von Grün und Blumen umgebener Rundweg, mit Bänken. Aus einem riesigen Bildschirm, inmitten des Parks, leuchtete eine warme Sonne. Ein Kind versuchte, eine Blume in einem Blumenbeet abzuknicken. Eine rote Rose. Vergeblich. Das Gummi bog sich. Ein Ball rollte schnell auf dem flachen Grün zwischen zwei anderen spielenden Kindern. Eine Illusion von Natur und Harmonie, dem die Menschen sich, aus Mangel von Alternativen, hingaben. Patrica trocknete mit dem Hemdsärmel ihrer roten Jacke die Tränen der Freundin. „Du musst die Gefühle kontrollieren lernen.“ sagte sie bestimmt zu ihr. „Du darfst nicht zu ihm zurückkehren, hörst du! Es würde gegen den Vertrag verstoßen.“ Die Freundin versprach unter Tränen, dass sie nicht zu ihm zurückkehren würde, auch wenn sie ihn liebte.

„Ich liebe dich.“ sagte der junge Mann, kniend vor Patrica und drückte die Hände Patricas fester. „Werde meine Frau!“ In sein Gesicht, das von unten zu ihr aufschaute, hatte sich ein bekannter Ausdruck geheftet. Patrica fand diesen Ausdruck immer so lächerlich, so kindisch. In den Gesichtern der Männer mischten sich Gefühle von Schönheit und Stärke, gepaart mit der Furcht und der Hoffnung des schwachen Menschen, der Angst davor, alles zu verlieren. Da war sie, in den Augen, die Abhängigkeit von ihr. Die Saat ging in ihm auf, die sie gepflanzt hatte, in der vergangenen, zusammen verbrachten Zeit. Die Saat der schwarzen Engel, die diese Männer veränderte. Patrica hatte es auch bei diesem Mann Tag für Tag mit ansehen können. Nun war es vollbracht. Patrica sah jetzt einen geeigneten Augenblick zu sagen, was sie zu sagen hatte. Heute war der letzte Tag. Diese verletzenden Worte, die man ihr aufgetragen hatte zu sagen, diese brutalen, tiefe Wunden reißenden Worte, nur auf diesen Mann zugeschnitten, die sie auswendig lernen hatte müssen. Nicht ausdenken, nicht formulieren, das hatten andere für sie getan, nur aussprechen, wie eine Schauspielerin, in einem Film. Sie musste es glaubhaft machen, sich in die Worte hineinleben, das war alles, was sie zu tun hatte, und Patrica hatte gelernt, verletzende Worte auszusprechen. „Ich bin nicht die Frau, die deine Phantasien und Pläne wahrmachen kann!“ Sie entwand sich ihm und verließ den jungen Mann, der sprachlos, wehrlos, bewegungslos und in gekrümmter kniender Haltung zurückblieb. Hastig verließ Patrica die Wohnung und das Haus und eilte durch die nächtlichen Straßen, es regnete, Nebelschwaden lagen über den Häuserdächern, es war die Aktivität der Reinigungsflugzeuge im Himmel, die Stadt wurde gewaschen. Patricia zog kühle, nasse Luft ein und atmete sie aus. Genüsslich trank sie diese Luft und zuhause duschte sie lange und ausgiebig. Beim Duschen würde dieser Mann von ihr abfallen, wie eine zweite überflüssige Haut. Patricia trank aus einem Glas eine in Wasser aufgelöste Tablette, beim Duschen, denn das helle Lachen dieses Mannes wollte nicht weichen, seine zärtliche behutsame Stimme wollte nicht verstummen. Zu lange Zeit waren sie zusammen gewesen. Die Tablette half. Seine Stimme, sein Geruch, seine Zärtlichkeiten, alles wurde aus und von Patricas Kopf und Körper gewaschen und floss ab durch den Abfluss in die trüben, dunklen Rohre des Vergessens.

Patrica saß auf der Bank im Park, in dem die Spaziergänger weiterhin im Kreis gingen und der Ball der spielenden Kinder zu schnell rollte und warte auf die Freundin. Sie würde nicht kommen. Patrica wusste es und erschrak vor der Gleichgültigkeit dieses Gedankens. Die Freundin war zu dem Mann zurückgekehrt. Ich hatte sie gewarnt, aber sie wollte nicht hören. Patrica war nicht traurig, nur wütend. Wütend über die Dummheit der Freundin. Und sie erschrak, dass sie nur Wut fühlen konnte über den Verlust der Freundin, nichts anderes, noch nicht einmal Trauer. Die Lautsprecher waren still heute Abend. Die Kinder spielten still, stumpf kickte das eine Kind den Ball zum anderen. Der grüne Park wirkte auf die Menschen so ohne Geräusche, wie ein Abbild eines sterilen, weit entfernten Trugbildes, beängstigend, entblößt, falsch, unvollkommen, da ein Teil im Puzzle fehlte, das ihr Gehirn versuchte zusammenzufügen. Die Menschen lauschten wartend, stille. Ich werde sie besuchen, um Abschied zu nehmen. Ein letztes Mal sie sehen, um Abschied zu sagen, nahm sich Patrica vor. Sie war meine letzte. Die letzte Freundin.

Patrica glitt in einem Taxi auf einer Straßenschiene zu einer höher gelegenen, die steil anstieg. Das Taxi kletterte in rasanter Geschwindigkeit nach oben, in diesem Verbindungsknäuel von Schienen, diesem Schienennetz, das die Hunderte von Etagen und Ebenen der Stadt verband und vernetzte. Grelle Farbreklame an den Wänden der immensen Hochhäuser, das Scheinwerferlicht der tausende auf den Schienen sich bewegenden Autos, die Straßenlaternen, die Ampeln, erzeugten ein zuckendes Wirrwarr und Chaos von Licht. Patrica versuchte nicht hinabzusehen, aus dem Auto heraus, das aus ihrer Sicht scheinbar in der Luft schwebte, da die schmale Schiene, unter dem Auto, für sie nicht sichtbar war. Ihr schwindelte es von den Bewegungen des Autos. Ganz dort unten war die Erde, Ebene 1, dort lebte sie, dort war ihr Zuhause, nicht hier oben.
„Auf welche Ebene?“ - „Ebene 103“ sagte Patrica. Der Taxifahrer hob die Augenbrauen. Patrica sah sein Erstaunen im Rückspiegel, abgelöst von seiner Neugierde. „Zur Müllhalde, also.“ Der Taxifahrer grinste. „Ich nenne sie so, diese Ebene, Müllhalde für menschlichen Abschaum. Was wollen sie da? Da hoch fahre ich sonst nur die Männer, die zu den Prostituierten wollen. Abscheulich das Pack!“ Patrica erwiderte nichts. Sie sah den Ring an seinem Finger, an der Hand, die fuhr. Der Ring trug das Merkmal ihrer Organisation. Dieser Mann war mit einem der schwarzen Engel verheiratet. Sie hatte es gespürt. An diesem Mann, die Einwirkung war deutlich. Dieses eigene Wesen, diese Rohheit. Diese eigentümliche Stärke. Die Saat war in ihm aufgegangen. Wie lange hatte man ihm gegeben, bevor sein schwarzer Engel ihm seine Flügel nahm? Schwarzer Engel. Patricia lächelte. Eine schöne, aufregende Bezeichnung. Sie war stolz, zu dieser Armee der schwarzen Engel zu gehören. Die Macht zu besitzen, emporzuheben zu einer nie erreichten Höhe und herab fallenzulassen, in eine unendliche Tiefe. Das Taxi war auf der Ebene 103 angelangt. Die Beifahrertür öffnete sich, Patrica blieb aber sitzen, angeekelt vom dem ihr entgegen wehenden Gestank. Gestank von Verwesung und Schmutz. Patricia hielt den Atem an. Ihren Augen schweiften über die verdreckten Straßen und schwarzen, alten Häuser, eingebettet zwischen sich auftürmenden Müllhalden. Ja, was wollte sie hier? Einen letzten Blick werfen auf ihre Freundin, in einem der Räume, mit den durchsichtigen Wänden aus verschmutztem Glas? Wie sie da lag in einem Zustand zwischen Tod und Leben. Dalag für die einsamen, verlassenen Männer, die kamen für kurze Zeit, taten was sie tun wollten und schnell wieder gingen. Was sollte sie da? Und da war die Angst, hier auszusteigen und hier bleiben zu müssen. Wusste sie doch, dass das hier die Hölle war, die Hölle für die, die sich nicht an den Vertrag hielten. Sie gehörte hier nicht hin. Sie war ein schwarzer Engel! Kein verstoßener, kein gestürzter. „Fahren sie zurück!“ sagte Patrica, „Ich habe mich in der Ebene geirrt. Fahren sie zurück!“

Patrica lag im Bett, neben dem Mann, mit dem sie seit 7 Tagen zusammen war. Innerlich war sie voller Aufruhr. Sie versuchte, ihre Gefühle zu ordnen, zu kontrollieren, es gelang ihr nicht. Sie begriff nicht, was in ihr vorging. Sie musste handeln. Den Mann verlassen, bevor es zu spät war. Gehen, ohne den schlafenden Mann zu wecken, dessen Worte sie gleichfalls begehrte und fürchtete. Seine Worte waren stärker gewesen als die ihrer Organisation, die aus ihrem Mund zu ihm gesprochen hatten, in den vergangenen Tagen und Nächten, in all den Gesprächen. Der Morgen war blass, zwischen den Vorhängen des Fensters stahl sich ein graues, vorsichtiges Morgenlicht ins Zimmer. Patrica richte sich halb auf und stütze den Kopf in die Hände und betrachte den Schlafenden. In seinem bärtigen, vom Leben geprägten Gesicht, dessen Augenhöhlen mit dunklen Schatten umzeichnet waren, war ein ihr fremder Ausdruck. Sie konnte dieses Andere, dieses Fremde in den Zügen des Schlafenden nicht deuten. Sie fühlte die Angst noch heftiger. Schwach küsste sie seinen Mund, er erwachte. Sie erschrak, stand schnell auf, suchte nach Worten. Er blickte sie an, ernst, erwartungsvoll, wissend. Sie stotterte nur etwas Unverständliches, dann sah der Mann das von langem, schwarzem Haar umgebene Gesicht der Frau noch blasser werden. Sah wie die schlanke, engelhafte Gestalt im weißen Nachthemd sich gegen die Wand stützte, wankte, dann zusammenbrach und auf dem Boden zusammensackte. Der Mann wusste, er hatte gesiegt. Er ging zum Fenster, riss die Vorhänge beiseite, öffnete weit das Fenster. Beugte sich hinaus, atmete tief die Luft ein. Ein schwarzer Engel war gefallen. Einer von diesen, die emporhoben, um zu zerschmettern. Sein Feind hatte eine aus seiner Schar verloren. Der Mann sprach ein Gebet des Dankes in den grauen Himmel. Er drehte sich um, zu der am Bett immer noch kauernden, in sich zusammengesackten Frau. Er fühlte Mitleid.


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Tag der Veröffentlichung: 22.07.2011

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