Die Prophezeiung.
König Ferfarel stand auf dem höchsten Turm seines Schlosses in Saratasch seiner Hauptstadt und schaute über sein Land, genannt Kerdonien, das Land der Seher. Saratasch, die funkelnde Stadt, war um und auf einem Berg aus weißem Marmor gebaut. Die Häuser und Straßen wanden sich in ansteigenden Kreisen den Marmorberg hinauf, auf dessen Spitze das Schloss thronte. Der Grund für seinen malerischen Namen waren die vielen Wasserfälle, die sich aus einer nah am Schloss entspringenden Quelle ergossen und über viele kleine und große Steinbetten geleitet durch die Stadt hinabströmten. An Sonnentagen glitzerte und funkelte das Sonnenlicht im schnell fließenden Wasser.
Bis weit zum Horizont und darüber hinaus reichten die klugen Augen des alten Königs, über fruchtbare Wiesen und Felder hinweg, und weiter über weite dichte Waldgebiete. Mit Wonne und Freude, mit Stolz und tiefer, von Herzen kommender Liebe betrachteten die königlichen Augen das Land und ergötzten sich an seiner Schönheit und Vielfältigkeit. Königs Ferfarels Augen waren von einer tiefen kraftvollen Bläue wie der Himmel an einem strahlenden Sonnentag. Er sah mit ihnen viel weiter und klarer als die Augen eines Normalsterblichen es vermochten. König Ferfarel war vom Stamme der Seher, ein altes Geschlecht, das schon seit jeher über Kerdonien regierte. Die Seher hatten die Gabe zu sehen, so weit sie wollten. Sie sahen die Menschen in weit entfernten Dörfern, wie sie auf dem Felde arbeiteten, sie sahen die Tiere im Walde, sie sahen die Geier schwebend über klüftige Berge. Nichts, war es noch so weit entfernt, blieb ihnen verborgen.
König Ferfarels Gesicht zerfloss zu einem warmen Lächeln, er hatte ein Kind erblickt, das am Fuße des grauen Gebirges, hunderte Meilen vom Schloss entfernt, eine Herde Schafe hütete. Am unteren Ende eines steinigen Abhangs auf einer grünen Wiese, weit verstreut, graste friedlich die Schafherde. Ihr junger Hirte saß auf einem Stein und schnitzte aus einem Stück Holz eine Figur. König Ferfarels Augen verweilten eine Weile bei diesem harmonischen Anblick, bevor sie weiterwanderten, die hohen Berge des grauen Gebirges hinauf, enge dunkle Pfade und tiefe Schluchten entlang. Das graue Gebirge bildete die Grenze zu Kerdonien und war eine Welt in sich, eine dunkle Welt. Schwer und dicht lagen grau-schwarze Wolken über und zwischen den Bergen und verhüllten sie. Nur die Augen eines Sehers konnten die nebligen Schwaden durchdringen. Jeden Tag durchforschte König Ferfarel die grauen Berge mit besonderer Achtsamkeit, denn er wusste, dass von dort seinem Land die größte Gefahr drohte. Das graue Gebirge wurde von den Bewohnern von Kerdonien auch das Schattenreich genannt. Unheimliche Geschichten, Sagen und Gerüchte gingen darüber von Mund zu Mund. Erzählungen, die so alt waren wie das Land selbst. Nicht nur der König fürchtete das graue Gebirge und die dunklen Geheimnisse, die es barg. Doch für die Bewohner Kerdoniens war es eine vorübergehende Furcht, die nur eintrat, wenn man an kalten Wintertagen draußen den Schneesturm heulen hörte. Nur einer wusste, dass die Gefahr eine reelle war. König Ferfarel. Am Sterbebett seines Vaters hatte er von seinem Vater das furchtbare Geheimnis erfahren, das die Seher von Generation zu Generation zu tragen hatten.
„Sohn“, hatte der sterbende König damals gesagt, als der junge Prinz Ferfarel sich nah zu ihm gebeugt hatte. „Mein geliebter Sohn, höre, was ich dir nun sage, und vergiss es nie. Es gibt eine Prophezeiung, die uns einst ein Schicksalsbote überbrachte, ein Phönix, ein Drachenwesen.“
„Sie gibt es also wirklich?!“
„Ja, mein Sohn, es gibt sie, und sie sind die Beschützer Kerdoniens.
Doch höre, was ich dir nun sage. Über unserer Familie liegt ein Fluch!“
Prinz Ferfarel war bei diesen Worten zusammengezuckt, unwillkürlich hatte er seine Hand den kalten schweren Händen des sterbenden Vaters entzogen. „Ein Fluch?!“
„Ja, mein Sohn“, flüsterte sein Vater, dessen Gesicht grau und verfallen war und aus dem mit der Preisgabe des Geheimnisses, das er ein langes Leben lang alleine hatte tragen müssen, das letzte Licht, die letzte Lebenskraft, zu entschwinden schien.
„Komm näher, mein Sohn.“
Prinz Ferfarel beugte sich ganz nahe zum Mund des Vaters.
„Wisse, wir Seher waren einst viel mächtiger, als wir es nun sind. Einst hatten wir die Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken. Der erste König von Kerdonien missbrauchte diese Gabe, um seine Macht und seinen Reichtum zu vergrößern. Dreimal erhielt er Warnungen von den Schicksalsboten, den feuerroten Drachenwesen, zweimal missachtete er sie und spottete dem Boten, der sie überbrachte. Das dritte Mal ließ er den Phönix durch Pfeilschüsse verjagen. Einer der Pfeile traf den Phönix und der Drache fiel tot aus den Lüften nieder zur Erde. Im Anblick des blauen Blutes, das um den toten Phönix herum in die Erde Kerdoniens sickerte, kam der stolze Herrscher zu sich, doch es war zu spät. Voller Furcht erstieg er den höchsten Turm seines Schlosses und richtete seinen Blick in die Weite, um die Zukunft zu erfahren.
Doch er vermochte es nicht, schwach fühlte er sich, hohl und leer. Eine Zeit verging, und schon hoffte der Übeltäter, dass der Verlust seiner Gabe, in die Zukunft zu schauen, die einzige Strafe sei, die ihm zuteilwerden würde. Doch eines Tages fand man auf dem Innenhof des Schlosses einen rot glühenden Stein, auf dem folgende Botschaft eingeritzt war:
Durch die Missachtung der Warnungen wurde in den grauen Bergen das Böse geboren, durch den Spott reifte es, und durch das vergossene Blut des dritten Boten wurde das Böse stark und lebendig. Einst wird es aus den Bergen niedersteigen, um Blut mit Blut zu vergelten.
Der reumütige König lebte seit diesem Tag zurückgezogen in seinem Schloss. Ein Jahr, nachdem er diese furchtbare Prophezeiung erhalten hatte, sammelte er seine treusten Männer und ritt dem grauen Gebirge entgegen. Die Bauern, die an den Füßen der Berge wohnten, sahen ihn mit seinem kleinen Gefolge, die steilen Hänge erklimmen und in das dichte graue Wolkenmeer eintauchen. Niemand sah ihn je wieder, niemals kehrte er zurück.“
„Er wollte bestimmt das Böse bekämpfen bevor …!“, flüsterte Prinz Ferfarel, dem das, was sein Vater erzählt hatte, wie ein spannendes Märchen vorkam.
„Ja, mein Sohn“, sagte sein vom Leben müder Vater. „Doch es hat ihn verschlungen, und wer weiß, wann es aus den Bergen niedersteigen wird, um mehr Blut zu fordern.“
Bis ins kleinste Detail hatte sich dieses letzte Gespräch mit seinem Vater in König Ferfarel Gedächtnis eingeprägt. Und immer, so auch jetzt, als er die kahlen steinigen Engpässe und Schluchten der grauen Berge mit den Augen durchkämmte, wünschte König Ferfarel, sein Geschlecht hätte die Gabe behalten, in die Zukunft zu blicken, und besäße noch das Vermögen, eine kommende Gefahr zu erkennen, bevor sie über das Land hereinbrach.
Prinzessin Sibele, die Tochter König Ferfarels, stand in ihrem Gemach auf einem Stuhl vor einem großen rechteckigen Spiegel. Die emsigen Hände ihrer Kammermädchen machten sich an dem weiten Hochzeitkleid aus glänzender Seide zu schaffen, das sie trug.
Sibele war ein sehr lebendiges, hellhäutiges Mädchen, noch nicht zwanzig Jahre alt, mit schwarzen geschmeidigen Haaren und den kraftvoll blau leuchtenden Augen ihres Vaters.
So wie er besaß auch sie die Gabe, in die weite unendliche Ferne zu blicken. Doch das tat sie selten. Das junge Mädchen hatte mehr Interesse an den Dingen in ihrer Nähe, an den Personen und Gegenständen, die sie umgaben, als die, die unerreichbar in der Ferne weilten. Von aus der Ferne drohenden Gefahren, dunklen Geheimnissen und unheimlichen Gerüchten wollte sie gar nichts wissen, dafür war sie zu lebensfroh, und außerdem war sie zu sehr mit den schönen Seiten des Lebens beschäftigt, wie zu dieser Stunde ihr prachtvolles Hochzeitkleid.
An diesem Tag war sie so froh und glücklich wie niemals zuvor. Als sie da vor dem Spiegel stand, in prachtvollem Weiß, schlug ihr junges Herz so schnell und leicht im Überfluss der übermütigen Gefühle. Aber nicht nur die Freude an ihrer anmutigen Gestalt oder an dem wertvollen Kleid, das sie trug, ließ sie so fühlen, der Gedanke an das, was sie die nächsten Tage erwartete, war der größte Grund ihrer Heiterkeit. Sie sollte heiraten, in zwei Tagen. Ihr Bräutigam war nach Meinung der Prinzessin der schönste, anmutigste Mann, den es in ganz Kerdonien gab. Und da waren alle Frauen in Kerdonien mit ihr einig: Prinz Leopold vom Waldvolk galt als der begehrenswerteste Junggeselle Kerdoniens. Prinzessin Sibele war es egal, dass er nur ein sogenannter Erdmensch war, ein Waldläufer mit sehr großen seltsam geformten Füßen. Das Waldvolk war mit der Natur, mit Erde und Wald wie eins, das Leben in der freien Natur hatte ihre Gestalt geformt. Frauen wie Männer waren groß gewachsen mit überlangen kräftigen Gliedmaßen, ihre Haut war von braun-grüner Tönung. So wie das Herschergeschlecht, das Volk der Seher, hatte auch das Waldvolk eine besondere Gabe. Sie besaßen das Wissen über die Heilkraft der Natur. Kranke kamen aus ganz Kerdonien zu ihnen in den Wald, um wieder zu genesen. In diesem Zusammenhang hatten sich die junge Prinzessin und Prinz Leopold auch getroffen. Die Prinzessin war im jungen zarten Alter von einer schweren Krankheit befallen und in die Obhut des Waldvolkes gegeben worden. Die tiefgrünen Augen Prinz Leopolds hatten die himmelsblauen Augen des jungen Mädchens gefangen. Nach der Genesung der Prinzessin waren sie oft zusammen ausgeritten und ihrer Zuneigung füreinander war gewachsen.
Immer wieder musste Prinzessin Sibele daran denken, welch ein Gesicht ihr Vater gemacht hatte, als sie ihm die Gefühle, die sie für Prinz Leopold hegte, gestand.
„Vater, ich bin verliebt!“
„Oh?! In wen denn?“
„In Prinz Leopold, den Waldläufer! Er ist so süß, er hat grüne Haut, kann auf jeden Baum klettern und mit den Vögeln sprechen. Ich liebe ihn! Ich will ihn heiraten!“
König Ferfarel war ein gutmütiger Mensch und ein liebevoller Vater. Zwar war Prinz Leopold von einem anderen Volk, das mit dem aristokratischen Herschervolk der Seher wenig gemeinsam hatte. Sie unterschieden sich nicht nur vom Aussehen, sondern auch durch ihre viel freiere Lebensart. Das ganze Jahr lang lebten sie tief im Wald, im Sommer in Baumhäusern hoch in den Bäumen, im Winter unter der Erde, in einem Labyrinth aus tief unter der Erde verlaufenden Gängen und Hohlräumen. Sie aßen mit den Händen und schliefen auf Farnlagern auf der Erde.
König Ferfarel wusste aber von der Treue und Ergebenheit, die die Waldläufer seinem Geschlecht schon seit Jahrhunderten entgegenbrachten. So befürwortete er die Heirat.
König Ferfarel wollte sich abwenden, um hinabzusteigen, das Sehen in die Ferne hatte seine Augen ermüdet. Seinem Land drohte keine unmittelbare Gefahr, glaubte er beruhigt. Die grauen Berge waren leblos, kahl und verlassen wie immer. Schon war der König im Begriff, die Treppen des Turmes hinabzusteigen, da erstarrte er und stand still, den Kopf leicht zur Seite gedreht, als horche er auf etwas. Der Grund dafür war aber nicht ein Geräusch, sondern der Flimmer eines Bildes, das seine Augen erfasste, als er sich von den grauen Bergen abgewandt hatte. Für weniger als eine Sekunde hatte sein wacher Blick dieses unscharfe Bild wahrgenommen, als seine Augen sich von den grauen Bergen gelöst hatten.
So schemenhaft, so undeutlich war es gewesen, dass der König sich dieses Bild nicht verdeutlichen konnte, als er bewegungslos dastand und versuchte, sich zu erinnern. Dann mit einmal konnte er Einzelheiten aus diesem verschwommenen Bild zu einem Ganzen vereinen, das ihn beunruhigt und verstört hatte: Ein junger Hirte, der im Gras lag mit geschlossenen Augen, als schliefe er, Schafe, deren weißes Fell von roten Flecken besprenkelt war. König Ferfarel stieß einen Schrei des Entsetzens aus und stürzte zurück an die Turmzinnen. Mit verzweifelter Hast richtete er seinen Blick zu der Stelle, an dem er den jungen Hirten und seine Herde erblickt hatte. Was er nun sah, entlockte ihm einen zweiten Schrei, voll Angst und Fassungslosigkeit. Der junge Hirte schlief nicht, er war tot, die Schafe hingemetzelt mit brutaler Gewalt, von furchtbaren Wesen, die dort vorbeigekommen waren und dessen breite Spuren quer durch die Wiese verliefen. Die Augen des alten Sehers folgten dieser Spur, und bald sah er sie: eine Horde von dunklen Gestalten, grässliche schwarzhäutige Kreaturen, die eiserne Waffen in ihren Händen trugen und in deren verunstalteten Gesichtern der Ausdruck unmenschlicher Grausamkeit und Brutalität eingeprägt war. Niemals zuvor hatte König Ferfarel solche Wesen gesehen. Nur einer aus dieser schwarzen Armee besaß ein eher menschliches Aussehen, und doch war nichts Lebendiges, nichts Menschliches mehr an ihm. Es war ihr Anführer, der vorneweg ritt. Sein Gesicht war von toter Blässe, hohle Löcher, wo die Augen hätten sein sollen.
Doch König Ferfarel erkannte ihn wieder, denn der blinde Anführer war von seinem eigenen Geschlecht. Der schuldbeladene erste König Kerdoniens war zurückgekehrt.
Voll Schauder stand König Ferfarel da und betrachte aus weiter Ferne diese Gestalt. In schwarzer Rüstung ritt er auf einem Höllentier, das einer riesigen Spinne glich und dessen glotzende tellergroße Augen für seinen blinden Reiter sahen. Nur mit Mühe konnte König Ferfarel sich von diesem tödlichen Zauber lösen, der von dieser dunklen Armee ausging. Endlich gelang es ihm, und er rannte und stolperte die Treppen des Turmes herab.
Minuten später läuteten die Alarmglocken von der Burg, dessen eindringliches Läuten von den Kirchenglocken in der Stadt beantwortet wurde.
All die Glocken hallten tief und schwer, das Geläut schwoll an und ließ die Stadt stillstehen. Mensch und Tier gefror das warme Blut in den Adern, denn sie alle ahnten, was es bedeutete – eine furchtbare Bedrohung näherte sich.
Außerhalb der Reichweite der Alarmglocken, am Waldrand, an der Grenze zum Reich des Waldvolkes, schritt ein groß gewachsener junger Mann in grünem Wams und mit einem von Wind und Wetter gegerbten vertrauenerweckenden Gesicht. Es war Prinz Leopold, der Waldhüter. Er war dabei, seine alltägliche Pflicht zu erfüllen, die Grenzen seines Landes abzuschreiten, um sich zu vergewissern, dass alles beim Rechten war.
Über seinen breiten Schultern hing ein langer Bogen aus dunklem Holz, auf seinem Rücken war ein Köcher mit Pfeilen befestigt. Der junge Mann kam zügig voran, seine langen muskulösen Beine ermöglichten ihm ein schnelles Vorwärtskommen. Frohen Mutes schritt er dahin, voll Vorfreude für die kommende Zeit, leicht und unbeschwert waren die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen. Abwechselnd sang und pfiff er eine heitere Melodie vor sich hin, wurde aber darin unterbrochen, als plötzlich ein großer Tumult über ihn ausbrach. Irgendetwas Dickes und Schweres kam vom Himmel durch die Baumkronen der Bäume herab. Brechende Äste, Laub und herabfallendes Geäst regnete auf den jungen Waldläufer nieder. Verwundert blickte Prinz Leopold nach oben. Bevor er ausmachen konnte, was die Ursache des Tumults war, landete oder vielmehr plumpste es vor seine Füße, überrollte sich einmal, bevor es schließlich im weichen Waldboden Halt fand. Es handelte sich um ein Welietor, eine Kreatur, nicht unähnlich einem kleinen Hund, dessen Fortbewegungsart aus einer Mischung aus Hüpfen und Fliegen bestand. Es besaß zwei kleine Flügel und sehr kräftige Beine, mit denen es, vom regen Flattern seiner Flügel begleitet, hohe flatternde Sprünge vollführte. Die Welietoren waren sehr treue und sehr anhängliche Lebewesen für die menschlichen Wesen. Solch ein Welietor, ein besonders wohlgenährtes Exemplar, war durch den Wald auf Prinz Leopold zugesprungen und bei seiner Landung etwas unglimpflich gelandet.
„Wlau! Du bist es!“, lachte Prinz Leopold, denn das Tier war ein gern gesehener Freund. „Du hast mir aber einen Schrecken eingejagt, ich dachte schon, ein Baum stürzt auf mich!“
Wlau gab ein paar aufgeregte Belllaute von sich, richtet sich auf, nahm einen herumliegenden Ast und begann sorgfältig, aber mit deutlicher Hast, Zeichen in den weichen Boden zu ritzen.
„Du hast eine Botschaft für mich?“, sagte der junge Waldläufer erstaunt und trat näher an Wlau heran, um die Zeichen zu entziffern. Es waren Zeichen aus dem Veritas, eine Zeichensprache, die alle Lebewesen in Kerdonien beherrschen mussten, um, konnten sie sich nicht verbal verständigen, sich doch auf dieser Art gegenseitig verständlich zu machen.
Drei Zeichen ritzte Wlau, der Welietor, in den weichen Waldboden, den Ast fest in seinem starken Gebiss haltend. Prinz Leopold las. Das erste Zeichen bedeutete Gefahr, das zweite gab den Ort an, wo die Gefahr sich befand, und das dritte, um welche Gefahr es sich dabei handelte.
Prinz Leopold deutete die Zeichen, laut vor sich sprechend: „Gefahr auf dem großen Weg, feindliche Armee.“
Der große Weg führte erst an den grauen Bergen entlang, dann quer durch Kerdonien bis zu seiner Hauptstadt, in der König Ferfarel residierte.
„Das hört sich ja gar nicht gut an“, sagte der junge Waldläufer nachdenklich. „Ich werde in die Stadt gehen, um Genaueres zu erfahren.“
Er streichelte seinem treuen Welietor beruhigend den kleinen Kopf, der ihn aufgeregt anbellte, dann lenkte er seinen Schritt aus dem Waldrand hinaus und ging im schnellen Tempo auf einem ausgetretenen Pfad entlang, der sich zwischen grünen Hügelketten hinab zur Königstadt dahinschlängelte. Schon von Weitem konnte er das drohende, wilde Geläut der vielen Glocken hören, und mit ihm kam die Gewissheit, dass Wlaus Botschaft ernst zu nehmen war.
Kerdonien war nicht nur die Heimat des Volkes der Seher. Viele andere Völker lebten hier in Eintracht zusammen. Kerdoniens Grenzen waren für alle offen, die in Frieden und mit guten Absichten kamen. In den Städten lebten die verschiedensten Menschenarten beisammen: die dunkelhäutigen kleinen Waneser vom Stamm der Steppenmenschen, in harmonischer Nachbarschaft mit den dreibeinigen Jokuris vom Volk der Halbmenschen oder die Magiker, die ursprünglich aus dem Land der roten Seen stammten. Und noch viele andere Völker nannten Kerdonien ihre Heimat.
Kedrich, ein junger Magiker, eilte durch die verstopften Straßen der Stadt. Er war zusammen mit seiner Familie vor vielen Jahren nach Kerdonien geflüchtet, als der Krieg zwischen den Magikern und den von ihnen unterdrückten Kobolden ausgebrochen war. Kedrich war ein selbstbewusster junger Mann, fleißig und willensstark, der sich wie sein Vater ganz der Wissenschaft der Magie versprochen hatte.
Als der Alarm gekommen war, hatte er vor dem Stadttor mit seinem Freund Furid von einem Stand aus Talismane und Amulette verkauft. Er stand gerne hier, der Strom, der Ein- und Ausreisenden nahm selten ab, das Geschäft lief gut, und es gab immer etwas Interessantes zu sehen.
Der heutige war wie jeder andere Tag gewesen, morgens hatte er seinen Verkaufsstand aufgebaut, die Sonne war warm im Osten aufgegangen. Reisende, Händler, Reiter, Fußvolk waren durch das Tor gekommen und gegangen. Mit beherzten Rufen hatten Kedrich und Furid die magischen Wirkungen ihrer Waren angepriesen: Halsbänder und Ringe, die die Person, die es trug, vor Krankheit und Verderben schützen sollten.
Gegen Mittag setzten sie sich hinter den Stand ins Gras, streckten die Füße aus und begannen, ihr mitgebrachtes Essen auszupacken. Doch es war den beiden nicht vergönnt geblieben, in Ruhe zu essen. Ohne Vorwarnung hatten erst die Glocken der Burg, dann mit vereinter Kraft auch die Glocken der Stadt angefangen zu läuten, und sowohl die Reisenden als auch die beiden Freunde in einen Zustand der Verwirrung und beginnenden Furcht versetzt. Diejenigen, die schon die Stadt verlassen hatten, waren umgekehrt, diejenigen, die sich auf dem Weg zur Stadt befanden, beschleunigten ihren Schritt, um noch rechtzeitig hinter die schützenden Mauern zu gelangen, bevor die Tore geschlossen wurden. Kedrich und Furid packten in aller Eile ihren Stand zusammen, luden alles auf eine Handkarre und machten sich auf den Heimweg, voll Neugierde, was der Alarm und die Aufregung zu bedeuten hatten. Zu Hause angelangt erfuhr Kedrich von seiner Mutter, dass Vater sich schon auf den Weg zum Schlossplatz gemacht hatte, wie vorgeschrieben in solchen Fällen. Wenn die Alarmglocken läuteten, musste sich jeder waffentaugliche Mann zum Schloss begeben. Kedrich drängte sich durch die überfüllten Straßen zum Schlossplatz. Dicht standen dort die herbeigeeilten Männer beisammen, in ihrer Mitte, auf einer kleinen Erhöhung, stand der Herold des Königs.
Immer wieder, mit lauter eindringlicher Stimme wiederholte dieser den Befehl des Königs: „Eine feindliche Armee ist im Anzug, jeder waffenfähige Mann muss am morgigen Tag zu früher Stunde sich zu den Garnisonen des Schlosses begeben, um dort Waffen und Rüstzeug zu erhalten.“ Kedrich suchte vergeblich nach seinem Vater, er konnte ihn im Gedränge nicht finden. Auf dem Rückweg nach Hause stieß er fast mit einem groß gewachsenen jungen Mann zusammen. Es war einer von dem Waldvolk, das erkannte Kedrich sofort. Aber warum befand sich ein Waldhüter in der Stadt? Das Waldvolk verließ ihr Reich, den Wald, sehr selten, dies war bekannt. Hatten die Alarmglocken ihn hierher gelockt?!
Kedrich machte sich nicht weiter Gedanken darüber, die Mitteilung des Herolds erfüllte ihn ganz. Wer waren die Feinde? Wie groß war ihre Anzahl und wie nah waren sie der Stadt gekommen? Hoffentlich ist Vater schon zu Hause, dachte Kedrich, um mir diese Fragen zu beantworten.
Bei dem Waldhüter, dem Kedrich begegnet war, handelte es sich um niemand anderen als um Prinz Leopold, Sohn des Waldkönigs. Er hatte den Weg zur Stadt in großer Hast zurückgelegt, doch die Tore waren bei seiner Ankunft schon geschlossen gewesen. Erst als er seinen Namen genannt hatte, war ihm Einlass gewährt worden.
Die Wachen bestätigten ihm die Zeichen, die Wlau, sein Freund, in die Erde geschrieben hatte.
Sorge um seine Geliebte, um Prinzessin Sibele, erhitzte des jungen Mannes Blut. Sofort wollte er zu ihr, um sie zu sehen und zu beschützen. Beim Schloss angekommen wurde er sogleich zum König in den großen Saal vorgelassen. König Ferfarel stand am Fenster und schaute mit gedankenverlorenem Blick auf den Hof, auf das Gedränge der hin und her eilenden Bediensteten und Soldaten. Sein treuester Ratgeber stand neben ihm, sie unterhielten sich leise.
Als Prinz Leopold eintrat, drehten sich die beiden Männer zu ihm um, und der König begrüßte seinen baldigen Schwiegersohn kurz, aber freundlich. Auf den jungen Mann zugehend fragte er: „Du weißt, was uns droht?!“
„Nur von den Gerüchten; es sei eine feindliche Arme im Anmarsch auf die Stadt?!“
„Kein Gerücht, es ist die Wahrheit!“, versicherte der König. „Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.“
Prinz Leopold wusste, wie scharf die Augen der Seher die entferntesten Dinge erkennen konnten, und erkundigte sich nach der Größe und Art des Feindes. König Ferfarel trat ganz nah zu ihm.
„Prinz Leopold, du kennst die Sage vom ersten König, meinem Ahnen, von seinem Verbrechen gegen die Schicksalsboten und wie er in den grauen Bergen verschwand?“
Der Gefragte nickte. „Ja, die Sage kenne ich.“
„Nun“, sagte König Ferfarel, „es ist keine Sage.“ Der alte König schien von plötzlichem Unbehagen und nervöser Unrast erfüllt, abrupt drehte er sich um und ging zum Fenster zurück. Mit dem Rücken zum Saal sagte er: „Er ist zurückgekehrt, er führt die Armee an. Die Prophezeiung ist …“ Der König beendigte den Satz nicht, als wäre es ihm nicht erlaubt, weiterzusprechen.
„Werden die Männer bewaffnet?“, fragte Prinz Leopold ungeduldig. Der Anführer der feindlichen Armee war ihm egal, er wollte wissen, welche Verteidigungspläne gemacht, ob alle Vorkehrungen getroffen wurden. Vielerlei Fragen brannten auf seiner Zunge, er verstand nicht, warum König Ferfarel sich so schweigsam und geheimnisvoll gab, warum er ihm den Rücken zukehrte.
„Werden die Männer bewaffnet“, fragte er erneut.
König Ferfarel schwieg weiterhin, schwerfällig stützte er sich mit beiden Händen auf die Fensterbank, den Blick starr auf den Hof gerichtet. Der junge Waldhüter schaute fragend den neben dem König still dastehenden Ratgeber an, der aber nur leicht mit den Schultern zuckte.
„Sie können auf mein Volk zählen!“, verkündete Prinz Leopold, außerstande, seine Ungeduld weiter zu beherrschen. „Ich werde noch heute das Waldvolk zu den Waffen rufen! Morgen werde ich mit ihnen hier eintreffen!“
Da endlich antwortete König Ferfarel, ohne sich dem Prinzen zuzuwenden. „Nimm nur die Männer im kriegstüchtigen Alter, keine jungen, nur die alten und erfahrenden, die jungen lass im Schutz des Waldes zurück.“
Als Prinz Leopold kurz darauf durch die Gänge des Schlosses zum Gemach von Sibele ging, versuchte er, sich des Königs sonderliches Benehmen zu erklären.
Keine jungen Männer, warum hatte er das so besonders betont?! Und war wirklich der erste König von Kerdonien der Anführer der feindlichen Armee. Und wie konnte das möglich sein?! Der junge Waldhüter dachte an die Geschichten der Alten seines Volkes. Geschichten und Sagen voll Wunder und Geheimnisse. Er war ein Waldhüter, im Wald geboren und aufgewachsen, mit den Kräften der Natur vereint und vertraut. Wohl wusste er, dass viele der Sagen und Geschichten, die man sich in Kerdonien erzählte, mehr Wahrheiten enthielten, als die meisten annahmen. Im Laufe seines kurzen Lebens hatte er verstanden, dass Kerdonien Geheimnisse in sich barg, die kein Sterblicher erklären konnte und die man mit eigenen Augen erfahren musste, um an ihre Existenz zu glauben. War die Sage vom ersten König Kerdoniens solch ein Geheimnis, eine Sage, die sich nun als Wahrheit entpuppte?
Bei goldenem Kerzenschein saßen sich Prinz Leopold und Prinzessin Sibele in Gemach der Prinzessin gegenüber und wechselten zärtliche, tröstende Worte miteinander. Über ihnen auf dem großen Turm stand König Ferfarel der Seher. Bis spät in die Nacht starrte er in das dunkle Land unter sich. Seine Augen sahen den Feind nahen, und der Kummer, was kommen würde, ging dem alten Herrscher tief ins Herz.
Die Stadt war still, doch die Menschen schliefen nicht. Schlaflos wälzten sich Männer und Frauen auf ihren Lagern oder saßen beisammen, wie Prinz Leopold und Prinzessin Sibele, dem morgigen Tag entgegenbangend.
Es war gegen Morgengrauen, als sich König Ferfarel aus seiner stumpfen Erstarrung löste. Seine Augen fühlten sich schwer an, sie wollten ihm vor Müdigkeit zufallen. Hinter den blauen Silhouetten der Berge am Horizont stieg der rote Feuerball der Sonne auf und blendete ihn.
Die kraftvolle Feuerkugel schien sich von den Bergen zu lösen und nahm stetig an Größe zu. Hoch am noch dunklen Himmel näherte er sich dem Schloss, der Feuerball aus rotgelb züngelnden Flammen. Plötzlich wurde es König Ferfarel klar, dass es nicht ein Sonnenaufgang war, den er da mit ansah. Die rote, sich hoch am Himmel dem Schloss schnell nähernde Kugel aus Licht und Feuer nahm mehr und mehr Konturen an, wurde zu einem riesenhaften Vogel, dessen mächtige Flügel und massiger Körper aus Hunderten von Flammen zu bestehen schienen. König Ferfarel erschrak zutiefst, als er erkannte, dass es ein Phönix war, ein Schicksalsbote. Mit banger Erwartung harrte er des Feuervogels, der kurz darauf vom hohen Himmel zu ihm niederstieg und auf dem Turm landete.
Zum ersten Mal in seinem Leben sah König Ferfarel mit eigenen Augen einen Phönix, stand Angesicht zu Angesicht mit diesem sagenhaften Wesen.
Der Phönix sprach, und sein Atem war ein heißer Luftzug, der dem König entgegenwallte. „König Ferfarel vom Geschlecht der Seher. Schließe deine Augen und sehe die Zukunft.“
König Ferfarel tat, wie ihm geheißen. Und es war ihm, als würde ein dunkler Vorhang vor seinen Augen abfallen. Er sah vor seinem inneren Auge Bilder. Er sah ein Schlachtfeld, er hörte das Schmerzensgeschrei der Sterbenden und Verwundeten. Er sah sich selbst inmitten dieses Schlachtfeldes liegen, bleich und regungslos. Er sah die rauchenden Trümmer seiner Stadt und wollte die Augen öffnen, um aus diesem Albtraum zu erwachen. Doch er konnte es nicht. Kaum war das eine furchtbare Bild verblasst, entstand ein neues.
Er sah die schwarzen Kreaturen, wie sie durch seine Stadt wüteten, und hörte die Angstschreie derer, die vor ihnen flüchteten.
„Meine Tochter!“, rief der alte König außer sich. „Wo ist sie?“
Da sah er sie, sie lebte! Zusammen mit zwei jungen Männern lief sie dem schützenden Wald entgegen. Der eine der Männer war Prinz Leopold, Blut floss aus einer Wunde an seiner Brust. Den anderen kannte der König nicht.
„Es ist Kedrich vom Volke der Magiker, einst wird er der größte und mächtigste Magiker Kerdoniens werden.“
War es das Schicksalswesen, das zu ihm sprach?
„Deine Tochter, Prinz Leopold vom Waldvolk und Kedrich, der Magiker, werden den Widerstand gegen die dunklen Mächte leiten. Für viele Jahre wird der Kampf dauern, bis zu dem Tag …“
König Ferfarel sah diesen Tag kommen, und Angst und Verzweiflung wichen aus seinem alten, faltigen Gesicht.
„So wird alles gut“, sagte der alte König, und als er seine Augen aufschlug, war der Phönix verschwunden.
Texte: spreemann
Tag der Veröffentlichung: 15.11.2009
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