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Nächtlicher Besuch






Es war kurz vor Mitternacht, als die Türglocke läutete.
Ich rüttelte meinen Mann, der schon fest eingeschlafen war, wach und fragte ihn,
ob er an die Tür gehen könne.
"War bestimmt nur ein Klingelstreich", murmelte er und schnarchte schon wieder leise weiter.

Als ich mich schließlich entschlossen hatte, das Klingeln zu ignorieren, schellte es wieder und diesmal noch nachdrücklicher.

Auf meine Frage durch die Gegensprechanlage, wer denn dort sei, hörte ich zunächst nur ein Schniefen und dann Gelis Stimme.

Sofort drückte ich auf den Türöffner und im nächsten Moment stand meine beste Freundin vor mir.

"Kann ich ein paar Tage bei Euch bleiben? Ich habe Markus verlassen", fragte sie mit zitternder Stimme.

Gelis Geschichte




Geli und ich waren schon seit dem Kindergarten beste Freundinnen.
Geli mit ihren feuerroten Haaren und dem hitzigen Temperament war die Anführerin, von der ich, eher schüchtern und zaghaft, mich gerne mitreißen liess.

Manchmal war Geli ein wenig neidisch auf das schöne und moderne Haus, in dem ich mit meiner Familie wohnte.
Das Elternhaus von Geli war ein alter Schwarzwälder Bauernhof.
Nun ja, wenigstens mussten sie nachts nicht nach draussen auf den Hof gehen, um das "stille Örtchen" zu besuchen, sondern sie hatten einen neuen Anbau in dem sich ein "Plumpsklo" befand. In diesem Anbau stand auch eine Badewanne, die am Samstag in die Küche getragen werden musste.
Das Wasser wurde in Kesseln angewärmt und damit die Wanne gefüllt.
Angefangen mit dem Vater, der das älteste Familienmitglied war, durfte dann einer nach dem anderen ein Bad nehmen. Da Geli die jüngste war, kam sie als letzte dran. Das Wasser war dann eher grau - und Kernseifenflöckchen schwammen oben.

Geli wünschte sich nichts mehr, als ein richtiges Badezimmer, wie wir es daheim hatten.

Überhaupt war das Leben auf dem Bauernhof nicht das, was sie sich vom Leben erhoffte.
Sie wollte mehr: Abenteuer, einen Mann wie Roy Black - in den sie unsterblich verliebt
war - einfach ein wunderschönes Leben.


Als Geli siebzehn war, kam ihre Tante Hilde, vom Bodensee zu Besuch. Sie hatte dort einen reichen Gastwirt geheiratet. Leider war ihre Ehe kinderlos geblieben und sie interessierte sich sehr für ihre jüngste Nichte.

Da Geli erst im Herbst ihre Ausbildung als Verkäuferin anfangen sollte, beschloss die Tante, sie für mindestens zwei Monate mit an den Bodensee zu nehmen.

Natürlich war meine Freundin Feuer und Flamme. Endlich würde sie mal aus dem "Mief" daheim rauskommen.

Dass sie in der Gastwirtschaft ihrer Tante als Bedienung arbeitete, machte ihr sehr viel Spaß.

Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass eine neue "feuerrote" Bedienung in dieser Wirtschaft arbeitete und deshalb wurde die Kundschaft noch zahlreicher.

Vor allem, ein männlicher Gast - schwarzhaarig und mit Grübchen im Kinn - wurde Stammgast.
Sein Name war zwar nicht Roy, sondern Bernd, aber ansonsten sah er Roy Black ein wenig ähnlich.


In dieser Zeit hörte ich von meiner Freundin nicht sehr viel. Ab und zu kam eine Postkarte mit recht wenig Aussage.

Spät abends im August rief sie mich dann an.
"Oh Anne, ich bin so verliebt. Er sieht aus wie Roy Black und wir sind so oft wie möglich zusammen."
"Habt ihr schon...?", fragte ich und hoffte, auf diese Frage eine negative Antwort zu bekommen.
Nach einer langen Pause - ich dachte schon, sie hätte aufgelegt - kam die Antwort:
"Ja, und es war einfach super!"
Danach beendete sie dieses Gespräch sehr schnell, weil es sonst zu teuer würde - ihre
Begründung.

Einen Tag vor Antritt ihrer Lehre kam Geli wieder zurück.
Sie sah nicht gut aus. Hatte abgenommen und war sehr blass, was ihre Sommersprossen noch betonte.
Ich machte mir Sorgen um sie. Nach dem euphorischen Anruf, vor ein paar Wochen, hatte ich etwas anderes erwartet.
"Was ist los, dir geht es doch nicht gut?"
Sie brach regelrecht zusammen.
"Wir wollten heiraten aber sein Vater drohte ihn zu enterben. Sie sind katholisch und ich bin evangelisch. Das geht nicht!"
"Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter, ich dachte heute gibt es sowas nicht mehr!",
antwortete ich entsetzt.
Geli schüttelte traurig den Kopf, "es ist so", antwortete sie resigniert.
Glücklicherweise war sie nicht schwanger, das hätte alles noch verschlimmert.

Ein paar Jahre später - ich studierte zu dieser Zeit in Freiburg - bekam ich die Einladung zu Gelis und Markus Hochzeit.
Sie hatte ihn auf dem "Tanzboden" kennengelernt und nun heirateten sie.
Markus war alles andere als ein Roy Black-Typ aber ich fand ihn sehr sympathisch.
Sie führten eine harmonische Ehe und bekamen zwei Söhne.

Inzwischen hatte ich auch geheiratet und wohnte etwa einhundertfünfzig Kilometer entfernt von meiner Freundin. Ab und zu telefonierten wir miteinander und besuchten uns.
Geli war glücklich und zufrieden dachte - und hoffte - ich.


Nun, nach so vielen Jahren, war die Tante, die sehr alt geworden war, gestorben.
Da sie keinerlei Nachkommen hatte, wurde Geli als Alleinerbin eingesetzt.
Nach bald fünfundzwanzig Jahren kam sie, das erste mal, wieder zum Bodensee.
Dort begegnete sie - es war wohl unausweichlich - ihrer ersten großen Liebe, Bernd,
wieder.
Seine Ehe war am Ende und da seine Eltern längst tot waren, glaubte er, dort wieder anknüpfen zu können, wo es vor Jahren geendet hatte.
Auch Geli war Feuer und Flamme. Bernd war immer die Liebe ihres Lebens gewesen und plötzlich rückte die Erfüllung dieses Traumes so nahe.


Schon nach ein paar Wochen wurde Geli klar, dass die Realität anders aussah.
Bernd war schlicht und ergreifend ein Macho und ein Pedant.

Sie beauftragte einen Makler, das Anwesen zu verkaufen.

Zu Markus traute sie sich nicht mehr zurückzukehren. Deshalb landete sie zunächst bei uns.

Da saßen wir nun in unserem Wohnzimmer. Müde und missgelaunt.
"Was machst du auch so einen Sch....?" fragte ich wütend. "Markus ist doch total in
Ordnung".
"Meinst du, er nimmt mich zurück?", fragte Geli zaghaft.
"Keine Ahnung, so gut kenne ich ihn nicht". Meine Antwort.

Mein bester Ehemann befasste sich mit dieser Geschichte.
Er rief Markus an und erklärte ihm, dass seine völlig ver- und zerstörte Ehefrau
bei uns gelandet ist.

Zwei Tage später stand Markus vor unserer Tür und wollte nichts anderes als Geli wieder nach Hause zu holen.

Inzwischen haben die beiden ihren dreißigjährigen gefeiert und sie sind - so glücklich -
wie man halt sein kann - miteinander.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.09.2012

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