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solar eclipse







Prolog


***




Es war so kalt, eiskalt...
Ich erfror. Es war, als wolle die Kälte meinen Körper zersprengen, ihn zerbersten. Mein ganzer Körper zitterte, er schüttelte sich beinahe schon.
Ich konnte nichts mehr fühlen, nichts mehr spüren. Wo waren meine Arme noch gleich...?
Meine Sinne waren betäubt und geschwächt durch diese Kälte... Wie ein weißer Schleier, der mir die Sicht vernebelte, die Nerven betäubte...
Und doch schmerzte es.
Ich blinzelte. Mein Blick war verschleiert von kleinen Eispartikeln, die glitzernd auf meinen langen Wimpern lagen.
Langsam atmete ich ein. Es stach und war so unangenehm... Ich konnte die Luft nicht mehr spüren, die mir in die Nase strömte.
Meine Arme waren bedeckt mit einer hauchdünnen, glitzernden Eisschicht. Und mit Gänsehaut.
Die dünne Haut unter meinen Nägeln, die sonst immer hell war, war jetzt bläulich.
Neben meinem Kopf, meinem Gesicht, lag eine kleine Blutlache, umringt mit kleineren Blutspritzern. Das Blut war schon fast gefroren. Es roch nach Eisen, ganz schwach...
Ein Wunder, dass ich überhaupt noch etwas riechen konnte...
Ein Gedanke formte sich in meinem Kopf, nahm Gestalt an.
War das mein Blut...?
Irgendetwas war da in mir, was ausbrechen wollte. War es die Kälte...? Ich wusste es nicht, dennoch war ich mir sicher, dass es etwas mit ihr zu tun hatte.
Es war etwas gewaltiges, zerstörerisches, blutrünstiges. Etwas, was mich veränderte. Ich hatte furchtbare Angst...
Meine Augen waren starr geöffnet. Ich fand nicht die Kraft, sie zu schließen.
Es schneite und hagelte nicht. Der Himmel war pechschwarz, verdeckt mit Wolken. Noch nicht einmal die Sterne konnte ich sehen.
Heute Nacht gab es keinen Mond. Es war Neumond.
Aber warum war es nur so kalt...?
Die Nächte hier waren nie so gewesen. Was ging hier vor?
Ein stechender, schneidender Schmerz zog sich durch meinen Körper und meinen Geist.
Es war, als würde ich von tausenden, spitzen, kalten und scharfen Eiszapfen durchbohrt werden.
Ich wollte schreien, aber es gelang mir nicht. Nichts gelang mir. Ich war verloren.
Der Schmerz und die Kälte wurden stärker.
Würde ich jetzt sterben? War dies hier mein Ende?
Konnte gut möglich sein.
Ich wollte das nicht. Nein, ich wollte es einfach nicht!
Mit aller Kraft kämpfte ich gegen das an, was in mir vorging. Was sich in mir ausbreitete.
Egal, was es war, ich wollte, dass es verschwand.
JETZT SOFORT!
Wer hatte das nur angerichtet? Gott? Wohl kaum.
Ich versuchte, mich zu erinnern. Es klappte nicht. Zu viele Schmerzen, zu kalt...
Die Angst, die die ganze Zeit wie eine große, bedrohliche und keinesfalls wärmende Flamme in mir gelodert hatte, breitete sich nun aus wie ein Lauffeuer. Es war eine Flammenflut, die durch meinen Körper tanzte und züngelte. Meine Angst wandelte sich in Panik.
Mein Atem ging keuchend und stoßweise.
Ich wollte nicht sterben! Bitte, noch nicht!
"Sie wehrt sich.", sagte eine Stimme.
Sie war mir nahe und ziemlich leise. Beinahe zärtlich. Sie gehörte einem Jungen.
"Sie kann sich nicht dagegen wehren. Das ist unmöglich.", ertönte eine andere, ebenfalls männliche Stimme.
Ich versuchte, das schreckliche Gefühl in mir, den Schmerz, die Kälte zu vertreiben, alles abzustoßen, alles zu verdrängen. Es sollte mir fernbleiben!
Ich wollte um mich schlagen, die Monster vertreiben, die mir zuschauten und nichts taten.
"Helft mir", wollte ich schreien, "Macht, dass es aufhört!"
Ich konnte nicht.
"Sie wehrt sich aber."
Schritte, die sich näherten. Es wurde geflüstert. Ich konnte nichts verstehen.
Eine glühend heiße Hand legte sich auf meine Stirn.
Wie gut diese Hitze mir tat!
Auf meiner Haut würde mir jetzt wohl alles "heiß" erscheinen, deshalb hatte ich keine Ahnung, ob diese Hand wirklich warm war.
"Beruhige dich. Lass es zu. Wehre dich nicht dagegen.", sprach jemand zu mir.
Das war wohl ein Witz gewesen. Was sollte ich denn sonst tun?!
Plötzlich überkam mich eine Ahnung. Die Ahnung, dass diese Menschen, die bei mir waren, nicht gut waren. Dass etwas nicht mit ihnen stimmte.
Ich wollte ihnen Schimpfwörter an den Kopf schmeißen. Das konnte ich doch sonst so gut.
Aber aus meinem Mund kam nichts. Kein einziges, mickriges Geräusch.
Ich war wehrlos, wie eine Puppe. Jene Erkenntnis machte mich wütend.
"Bitte. Lass es zu. Vertreibe es nicht.", sagte der jemand wieder.
"Das kann nicht wahr sein. Sie kann sich nicht wehren.", sagte die andere Stimme wieder.
"Sie tut es."
"Kann sie sich noch erinnern?"
"Ja. Es kann aber sein, dass sie bald ihr Gedächtnis verliert."
Was? Was redeten die beiden da? Ich wollte mein Gedächtnis nicht verlieren! Meine ganzen Erinnerungen an meine Familie, meine Freunde, meine Katzen... Überhaupt an mich und mein Leben!
Nein, das konnte ich nicht zulassen. Das wollte ich nicht.
"Es müsste schon längst verloren sein."
"Ist es aber nicht. Wie gesagt, sie sträubt sich. Sie ist außergewöhnlich stark."
"Was sollen wir jetzt tun?"
Erst war es still, dann folgte die Antwort.
"Abwarten."
Abwarten. Ich wollte nicht abwarten. Der Schmerz und die Angst brachten mich beinahe um.
Was war nur geschehen? Daran konnte ich mich nicht mehr erinnern? Mist. Mein Gedächtnis begann schon, zu schwinden. All meine mühsam gesammelten Erinnerungen...
Was ging nur in mir vor...? Was war mit mir los? Und warum war ich noch nicht tot, wenn es doch so kalt war?
Immer mehr Fragen stürmten meine Gedanken.
Natürlich bekam ich keine Antwort. Ich würde abwarten müssen.
"Lass uns gehen. Sie wird schon noch alle Erinnerungen verlieren. Das hier

wird sie wohl kaum überstehen oder abhalten können."
Was sollte das heißen?
"Na gut. Versteckt ist sie auch. Lass uns gehen."
Sie ließen mich alleine. Ließen mich zurück. Ließen mich sterben.
Ich hörte, wie die beiden Fremden sich erhoben. Ihre Schritte entfernten sich.
Und ich war allein mit meinem Elend.
Ich wollte nicht sterben, und doch wurde mir klar, dass ich es musste, wenn ich von diesem Leid befreit werden wollte.
Also strengte ich mich an. Ich gab auf, wünschte mir, dass endlich alles vorbei sein würde.
Um mich herum wurde es schwarz...


Kapitel eins


***




Amylyn




Meine Geschichte beginnt mit meinem Ende...



Die einzigen Gegenstände, die ich noch besaß, waren ein fast leerer Kugelschreiber, ein alter, verpackter Muffin, ein Tampon und ein zusammengeknautschtes Tempotaschentuch. Ach ja, die kleinen Kieselsteinchen nicht zu vergessen, die über den Boden rollten, wenn sich der große Laster in eine Kurve legte.
Niemals, und wenn ich sagte, niemals

, dann meinte ich das auch so, hätte ich gedacht, so zu enden.
Gefangen in einem muffigen, dreckigen Laster, verlassen und allein. Naja, nicht ganz verlassen.
Ein Typ hockte neben mir, der mich offenbar bewachen sollte.
Sein Blick war auf sein Handy gerichtet, das er in der Hand hielt.
Verdammt! Sein Handy! Der hatte wenigstens noch eines! Meines war mir von dem schmierigen Typen, der den Laster fuhr, abgenommen worden. Mit meiner Handtasche!
Der alte Muffin war herausgepurzelt. Als der Fahrer das gesehen hatte, hatte er sarkastisch gesagt:
"Och, den kannst du behalten. Dann hast du was zum essen!"
Lachend war er dann verschwunden, hatte die Plane befestigt. Und dann hatte sich der Laster auch schon in Bewegung gesetzt.
Den Tampon, das Rotztuch und den Kuli hatte ich in meiner Hosentasche gefunden. Wow. Sehr hilfreich.
Ich räusperte mich.
Der Bewacher, mein eigener Gefängniswächter, hob den Kopf und musterte mich.
Der Typ schien der Sohn des Mistkerls zu sein, der mich hierher befördert hatte.
Ganz ehrlich, süß war er ja schon mit seiner hellbraunen Strubbelfrisur. Nein, nicht nur süß, er war absolut unwiederstehlich. Leicht braungebrannt war er auch. Die Augen waren grünbraun. Er lächelte mich kurz und schüchtern an, senkte dann wieder den Kopf.
Halloooo? Hatte ich mich gerade versehen?!
Der Typ, der zu meiner Entführermeute gehörte, hatte mich angelächelt!
Ich meine, klappt ` s noch?! Mich hier drin hocken lassen und dann einen auf braven, netten Bubi machen?!
Ich erhob mich, strich mir meine silberblonden, glatten Haare über die Schulter und marschierte zu ihm.
Wenn man das noch marschieren nennen konnte, in diesem schwankenden Ding.
"Sag mal, was habt ihr eigentlich mit mir vor?", fragte ich und bemühte mich nicht einmal, freundlich zu klingen.
Warum sollte ich?
Er zuckte mit den Schultern und sah nicht auf.
Wie unfreundlich war der denn?!
"Ich hab mit dir geredet, Freundchen. Was, verdammt nochmal, habt ihr mit mir vor?!"
Jetzt beugte ich mich schon zu ihm herunter.
Er schaute auf und blickte mir fest in die Augen.
"Ich weiß es nicht."
Er widmete sich erneut seinem Handy zu.
"Habt ihr hier wenigstens was zum essen? Chips oder so? Mit Fleisch würd ich mich auch zufriedengeben!"
Er deutete auf meinen alten Muffin.
"Du hast genug zum essen."
Das war ein übler Scherz. Das war doch die Höhe!
"Wenn du mir nicht sofort was zum essen gibst, esse ich dich! Eigentlich bin ich keine Kannibalin, aber mein Magen fühlt sich ziemlich leer an!"
Er grinste mich an.
"Sollte das eine Anmache sein?"
Oh, dieser Typ raubte mir echt den letzten Nerv.
"Nein, das war ne Drohung!", zischte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Ich habe hier nichts für dich zum essen.", sagte er achselzuckend.
"Wie heißt du eigentlich?", fragte ich, um das Thema zu wechseln.
"Du willst mich also doch anmachen."
"Waaas? Nein! Ich hab nur nach deinem Namen gefragt! Also, wie heißt du?"
"Jesus.", antwortete er.
Mein Mund klappte auf. Ja klar, dann war ich Cleopatra!
Er prustete los. Lachte der etwa gerade über mich?!
"Schau nicht so! Ich heiße nicht Jesus! Ich bin Gabriel."
Na, noch besser. Erzengel Gabriel.
"Sag ma, bist du etwa gläubig?"
Er prustete los.
"Nein, bin ich nicht. Übrigens, ich heiße auch nicht Gabriel. Ich bin Nic."
"Aha. Und wie alt bist du bitte?"
"Geht dich doch nichts an, oder? Und du bist also Amylyn Jackson, hab ich recht?"
"Woher kennst du meinen Namen?"
Er zog etwas aus seiner Hosentasche. Oh! Mein Blackberry!
"Du hast rumgeschnüffelt?!", schrie ich.
Mit meiner lauteren, leicht rauen Stimme klang das besonders wütend.
"Aber selbstverständlich. Ich muss mich doch über das Opfer informieren."
Das Opfer?!
"Keine Sorge, ich habe dein Handy wieder ausgeschaltet. Könnte ja doch sein, dass dich jemand suchen könnte. Und wenn du dich nicht sofort wieder auf deinen Hosenboden setzt, werfe ich das gute Stück in hohem Bogen hier heraus."
Das hatte gesessen. Mein wunderschönes Touchsceen-Handy, für das ich knapp sechshundert Dollar hingeblättert hatte und für das mich jeder beneidete...
Schnaubend lies ich mich neben ihm nieder.
"Warum setzt du dich neben mich?", fragte er gelangweilt.
"Warum nich? Du hast nich gesagt, wohin ich mich setzen soll! Jetzt kann ich wenigstens zugucken, was du auf deinem Handy spielst. Und dich schlagen, wenn du was falsches sagst."
Er kicherte. "Na, dann..."
Nic roch ziemlich gut. Er hatte ein Männerparfum aufgetragen, das weder aufdringlich noch zu mild roch. Es war perfekt. Außerdem roch er nach Wald.
Wie konnte es sein, dass dieser wunderschöne, niedliche Typ der Sohn eines wiederwärtigen Ekels war?
"Der Fahrer is dein Vater, oder?", fragte ich.
"Wie kommst du denn darauf? Nein, ist er nicht."
Schweigen. Piepen von Handytasten. Ein Schaukeln.
"Wie viel Uhr haben wir?"
"Ein Uhr nachts."
"Wohin fahr´ n wir und wie lange

fahr´ n wir noch?"
"Wohin wir fahren bleibt ein Geheimnis. Wie lange noch, weiß ich nicht genau. Kann aber noch ein wenig dauern."
"Bekomm ´ ich dann was zum essen?"
"Du nervst, weißt du das?"
"Verdammt, ich hab Hunger, man!"
"Du hast deinen Muffin."
Dieser blöde Typ regte mich sowas von auf! Was sollte die ganze Kacke überhaupt? Warum wurde ich entführt?
Plötzlich wurde ich von der Müdigkeit übermannt. Meine Augen fielen zu. Lange würde ich sie nicht mehr offen halten können.
"Schlafe ein wenig und ruhe dich aus.", sagte Nic zu mir, als hätte er meine Gedanken gelesen.
" ´ Kay...", murmelte ich und rollte mich wie ein Kätzchen neben ihm zusammen.
Dass der mir ja nicht auf falsche Gedanken kam!

Ich wurde von einem harten Rütteln aus dem Schlaf gerissen. Der Scheißlaster war wieder irgendwo drübergefahren!
Ich blinzelte gegen das Sonnenlicht an, das durch einen Spalt zu uns hinein schien und direkt auf meinem Gesicht lag.
Langsam setzte ich mich auf und streckte mich. Mein Rücken schmerzte.
"Ah, auch schon wach?", fragte Nic.
"Witzig. Blödmann."
"Hatte ich ein Glück, dass ich nicht hier schlafen musste...", sagte er und warf mir einen vielsagenden Blick zu, der mir offenbar eins auswischen sollte, wofür auch immer.
Was für ein Idiot!
Ich ignorierte ihn und starrte in eine Glasscherbe. Mein Gesicht spiegelte sich in ihr.
Mittelgroße blaue Augen, dichte dunkle Wimpern. Eine gerade Nase, die an der Nasenspitze leicht abgerundet war. Meine Augenbrauen waren leicht nach oben gezogen.
Die Lippen waren rötlich, wie immer. Meine Unterlippe war voller als meine geschwungene Oberlippe. In meinem Kinn war senkrecht dieser kleine Schatten.
Das Haar umrandete mein leicht kindlich wirkendes Gesicht.
Wenigstens sah ich noch normal aus. Ich wollte hier nicht verrecken!
Nach einiger Zeit wurde es mir zu langweilig. Ich erhob mich und wanderte herum, bis der Anhänger wackelte und ich hinfiel.
Nic kicherte leise.
Ich bedachte ihn mit einem zornigen Blick und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die mir in der Kehle und den Augen brannten.
Trotzig setzte ich mich hin und schlang die schlanken Arme um meine Beine.
Warum wurde ich entführt? Warum

? Was hatte ich getan und was hatten sie mit mir vor?
Wie es wohl meiner Mom gerade ging? Vermisste sie mich sehr? Und was war mit Aidan, meinem kleinen Bruder? War er jetzt froh, dass ich weg war, weil er in meinen Sachen herumwühlen konnte?
Und...
Was war mit Micha?
Micha. Als ich an ihn dachte, schnürte sich meine Kehle fest zu.
Ich hatte mich damals auf den ersten Blick in ihn verliebt, und das war vor drei Jahren gewesen. Da war er zehn gewesen und ich dreizehn.
Es war mir peinlich, dass ich in ihn verliebt war. Nein, so konnte man es auch nicht sagen. Es war mir nicht peinlich. Aber ich konnte mit niemandem darüber reden, weil ich nicht wollte, dass andere schlecht über mich dachten.
Drei Jahre Altersunterschied. Und er war auch noch jünger. Und er ging mir vielleicht nur bis zur Nasenspitze.
Aber was sollte es? In dreißig Jahren würde sich keiner mehr darum scheren, dass er jünger war! Es würde nicht auffallen. Mein Vater war auch fünf Jahre jünger als meine Mutter.
Ich hatte Micha schon vorher gekannt, er war ein Freund von meiner besten Freundin.
Wir hatten uns recht gut verstanden, uns unterhalten, miteinander über Witze gelacht... Er ging auf die Nachbarschule, die direkt neben meiner lag. Glücklicherweise klebten unsere Pausenhöfe dicht aneinander, deshalb konnte ich ihm manchmal "Hi" sagen.
Wenn ich nun an sein dunkelbraunes, mittellanges, feines Haar, die großen, dunklen, rötlich-braunen Augen und die braungebrannte, reine Haut dachte, wurde ich nervös.
Ich wollte ihn wiedersehen. Ich wollte nachhause! Ja, ich wollte sogar in die Schule!
"He. Brauchst du ein Taschentuch?", fragte mich Nic plötzlich.
Erschrocken hob ich den Kopf. Er nickte mit vorgestrecktem Kinn. Langsam fuhr ich mit den Fingerspitzen über mein Gesicht. Es war nass, ich hatte geheult!
Hastig schüttelte ich den Kopf und griff nach meiner gebrauchten Rotzfahne.
"Nein, danke. Ich hab ja das hier.", sagte ich sarkastisch und wischte damit über mein Gesicht.
Starr wie eine Statue glotzte Nic mich an. Danach drehte er seinen Kopf weg.
Ich hörte trotzdem, wie er lachte.

Die Zeit wollte überhaupt nicht vergehen. Mir war langweilig, ich hatte keine Beschäftigung. Ich war in diesem mudffigen Laster gefangen! Noch nicht mal mein Handy gaben sie mir! Nein, ich könnte ja eine Hilfe-SMS schreiben, und das, obwohl ich nicht einmal wusste, wo ich war!
Mir blieb nichts anderes übrig, als Nic zuzusehen, zu schlafen und die Steinchen wegzuschnicken.
Zu Essen hatte ich auch schon länger nichts mehr bekommen. Mein Magen knurrte laut und zog sich schmerhaft zusammen. Wenn er nicht bald gefüllt werden würde, würde ich Nic tatsächlich aufessen.
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus.
Wütend stapfte ich zu meinem alten Muffin, riss das Papier auf und schob mir das Gebäck in den Mund. Ohne lange zu kauen, schluckte ich ihn hinunter.
Mein Gesicht musste bestimmt blau anlaufen, weil der Muffin einen großen Teil meiner Speiseröhre einnahm.
Das störte mich aber im Moment am allerwenigsten. Ich war einfach nur froh, etwas in meinen Magen zu bekommen.
Zu sehr war ich danach enttäuscht, dass mein Magen noch immer laut knurrte. Der Muffin hatte nicht viel geholfen.
"Bitte gib mir etwas zu essen!", flehte ich Nic an.
Ja, ich weiß, dieses Flehen lag unter meiner Würde, ruinierte meinen Stolz. Aber ich fühlte mich dreckig.
Nic verrollte die Augen, erhob sich und ging zu der Scheibe, die den Fahrerraum von dem Hänger abtrennte.
Er öffnete die Scheibe und sagte zu dem Mann, der fuhr:
"He, Jose. Hast du was zu essen für die nervige Göre? Irgendwas? Sie soll uns ja nicht vom Fleisch fallen. Du weißt, sie hat noch einiges vor sich."
Was meinte er denn bitte damit?! Na warte!
"Nee, für die hab ich nichts. Wir dürften morgen ankommen, das hält sie noch aus.", sagte Jose.
Nic klappte das Fenster zu und wandte sich mir zu. Er zuckte mit den Achseln.
"Morgen kannst du essen."
Da konnte ich mich nicht mehr halten. Angetrieben von meinem schmerzenden Magen wanderte ich zum Fenster, riss es auf und brüllte laut und möglichst unfreundlich:
"Hören Sie mir mal zu, sie misslungener Arsch! Ich hocke hier seit zwei Tagen drinnen und warte auf was zum essen! Wenn ich nicht bald etwas bekomme, klettere ich hier durch und erwürge Sie höchstpersönlich! Also fahren Sie gefälligst an eine Tankstelle, bewegen ihren faulen, fetten Hintern und holen mir was zum essen, aber dalli!"
Der Typ kicherte nur in sich hinein. Er schien überhaupt nicht zu reagieren. Ich wartete eine Weile, schlug dann das Fenster zu und brüllte laut:
"Gut, ich gebe Ihnen eine Stunde!"
Nic grinste mich an. Am liebsten hätte ich es ihm von der Visage gewischt.
Schmollend ließ ich mich auf dem schmutzigen Lasterboden nieder. Ich dachte an Micha.
Wie es wohl wäre, jetzt bei ihm zu sein?
Während ich überlegte, verlor ich den Faden zu Micha. Stattdessen entwickelte ich Fluchtpläne.
Nach einer halben Stunde Überlegen kam die Erleuchtung.
Das Muffinpapier.
Ich gesellte mich zu Nic und fragte möglichst beiläufig:
"Sag mal, was habt ihr denn für ein Nummernschild?"
Er guckte mich misstrauisch und ahnend an.
"Warum sollte ich dir das verraten? Du willst nur hier heraus."
"Stimmt, das will ich. Aber ich kann es nicht. Wie sollte ich das hinbekommen? Selbst, wenn ich die Nummer auf eurem Schild wüsste, würde das nichts helfen."
"Warum willst du es dann wissen?"
Hmmm. Gute Frage.
"Weißt du, ich habe eine Schwäche für die Buchstaben auf Nummernschildern. Ich will immer wissen, was darauf steht und ob sie vielleicht Namen bilden."
Oh, man. Wie hätte ich nur denken können, ihn damit auszuschmieren? Das klappte doch nie im Leben!
"Sorry, unseres ergibt keinen Namen, Oder findest du, dass "428 CGJ South Carolina" wie ein Name klingt?"
Kaum waren die Worte draußen, schlug er sich eine Hand vor den Mund.
Mein Gott, die dümmste Idee aller Zeiten hatte geklappt!
"Danke.", murmelte ich lächelnd.
"Mist. Naja, du kommst hier nie weg."
Er grinste.
Haha. Idiot.
Ich kroch zu meinen vier Schätzen zurück, die eigentlich nur noch drei waren. Das Rotztuch hatte ich benutzt, es galt nur noch als halbes. Und den Muffin hatte ich aufgegessen.
Mit dem fast leeren Kuli kritzelte ich auf dem Muffinpapier herum.
Ich hoffte, dass irgendjemand dieses Papier hier finden würde. Jemand, der verrückt geug war, würde mir vielleicht folgen und mir hier heraushelfen.
Aber... Wer würde das schon machen?
"Was machst du da?", fragte Nic interessiert und musterte meinen Kuli.
"Ich zeichne. Darf man etwa seine Hobbies nicht verrichten, wenn einem langweilig ist?", murrte ich.
Hastig zeichnete ich eine hübsche Blume. Zum Gück hatte ich wirklich Talent im Zeichnen.
Nic erhob sich und musterte mein Werk.
"Oh. Okay. Ist hübsch."
Er huschte wieder zurück.
Als er wegguckte, kritzelte ich hastig das Schilder-Kennzeichen auf den Zettel, meinen Namen, mein Alter, und dass ich dringend Hilfe benötigte, weil ich entführt wurde.
"Wie weit bist du denn schon mit deiner Zeichnung?", fragte Nic.
"Geht dich nichts an."
Er stand stöhnend auf und kam auf mich zu.
Shit, shit, shit! Was sollte ich jetzt machen?!
So schnell es ging, rückte ich näher an den Rand des Lasters, dorthin, wo die Plane befestigt war.
Ich riss sie zur Seite und warf das Papier heraus, schaute ihm hinterher.
Es segelte schnell in der Luft, flatterte herum. Viele Autos rauschten an uns vorbei. Durch ihren Wind flog das Papier weiter. Es ging seinen Weg.
Hoffentlich den Richtigen.
Es wäre wunderbar, wenn es jemand finden würde und mir tatsächlich folgen würde.
Dabei war ich mir so sicher, dass es niemand tun würde. Bestimmt würde es am Straßenrand liegen, wo die Autos über es fuhren und es zusätzlich platt walzten.
Nic zischte.
"Du Miststück. Ich weiß, was du getan hast!", schrie Nic.
Ich lächelte ihn freudestrahlend an.
"Gut, nicht? Wie schön, dass ich den Muffin hatte!", grinste ich und tätschelte mir die Schulter.
Er starrte mich wütend an.
"Naja, wird dir sowieso nichts helfen. Falls das Ding jemals gefunden wird, sind wir schon über alle Berge."
Jetzt grinste er. Diesmal tätschelte er sich die Schulter.
Kräftig biss ich die Zähne aufeinander. Mistkerl!
Gut, aus meinem Plan würde also nichts werden. Aber einen Versuch war es ja wert gewesen.

Die angeblich letzte Nacht im Laster war genauso unangenehm wie die anderen beiden. Lange Zeit konnte ich nicht einschlafen. Die Plane schlug flatternd gegen den Wagen, das Rütteln und der Lärm der anderen Autos störten mich.
Nic saß auf seinem Posten und wachte über mich. Er würde erst weggehen, wenn ich schlafen würde, das wusste ich.
Er hatte mir eine alte, stinkende Kamelhaardecke über den Körper gelegt. Das Ding wiederte mich an, aber es war besser als nichts. Nachts war es nicht gerade warm.
"Du nervst mich.", flüsterte ich leise zu Nic.
"Du mich auch. Du bist ganz schön gerissen, weißt du das?"
Das klang in meinen Ohren wie ein Kompliment. Vielleicht war es ja auch eines gewesen.
"Ich weiß."
Einige Zeit herrschte Stille.
"Ich bin froh, dass ich dich bewachen muss. Es hätte schlimmer kommen können. Letztes Jahr hatten wir zwei Typen hier. Die sahen aus wie Bodybuilder. Es war nicht ganz einfach, mit denen fertig zu werden. Ich habe ganz schön was abbekommen."
Er lächelte.
Jetzt wurde ich doch neugierig.
"Was? Du bist mit zwei von denen fertiggeworden?"
Er nickte.
"Ja. Kaum zu glauben, was?"
"Ach, du verschaukelst mich! Du bist ein Angeber!"
"Gut, dann glaube mir eben nicht."
"Mach ich auch nich."
Grinsend bettete ich meinen Kopf auf den harten Boden. Der Laster schaukelte heftig. Mein Ohr schmerzte.
"Hast du ein Kissen für mich?", fragte ich Nic.
"Hmm, nein. Ich kann dir höchstens den zusammengerollten Schlauch geben."
"Ist besser als nichts."
Er trug den Schlauch zu mir. Ich legte meinen Kopf darauf ab und war erstaunt, wie weich er im Gegensatz zu dem Boden war. Es war, als wäre ich im Himmel!
"Hast du auch eine Familie?", fragte ich.
Nic sagte längere Zeit lang nichts. Er sah traurig aus.
"Nein. Ich habe sie bei einem Brand verloren."
"Das tut mir leid."
Und das tat es mir wirklich. Niemand hatte so etwas verdient.
"Weißt du, ich vermisse meine auch. Ich vermisse sogar die Schule. Unmöglich, nich? Es ist schrecklich, von seiner Familie getrennt zu sein. Hoffentlich macht sich Mom nich verrückt."
Er brachte ein trauriges Lächeln zustande, das wohl glücklich aussehen sollte. Tat es aber nicht.
"Deine Mutter macht sich bestimmt schlimme Sorgen. Sei froh, dass sich überhaupt jemand um dich sorgt."
Nach diesen Worten schwiegen wir wieder.
Mom... Wie es ihr wohl ging?
Es tat mir so leid... Aber ich konnte ja auch nichts dafür, entführt zu werden...
Ich rappelte mich auf, zog meinen Schlauch und die ekelhafte Kamelhaardecke mit und legte alles neben Nic ab. Dann kuschelte ich mich erneut unter die Decke und rollte mich zusammen.
Ein sanftes Lächeln lag auf Nics Lippen.
"Glaubst du, jemand findet meinen Zettelund folgt uns?", wollte ich wissen.
"Wer weiß? ich hoffe natürlich, nicht."
"Haha."
"Schlaf jetzt. Morgen hast du einiges vor dir."
"Was habt ihr mit mir vor? Warum?"
Er schluckte. Seine warme Hand legte sich auf meine Stirn. Zärtlich strich sie darüber wie bei einem kleinen Kind, das getröstet werden musste.
"Ich darf dir nicht sagen, was mit dir passieren wird. Aber eines kann ich dir erzählen: Es wird dir unmöglich erscheinen. Und es wird dir absolut nicht gefallen."
Na toll. Das hörte sich ja sehr vielversprechend an.
"Warum?", wimmerte ich.
Ich versuchte, die Tränen zu unterdrücken, die in meinen Augen brannten. Gegen die Trauer und die Verzweiflung hatte ich schon längst verloren.
"Um dir wehzutun. Um dich zu quälen, um dich auf ihre

Seite zu ziehen. Es tut mir so leid. Ich bin auch nur ihr

Sklave."
Ich machte mir erst gar nicht die Mühe, mehr über alles zu erfahren. Das morgen würde schlimm genug werden.
Ich wollte nicht, dass man mir das antat. Ich wollte es nicht. Würde ich meine Familie dann je wiedersehen? Was war mit Micha? Würde ich es aushalten, ihn nie wieder zu Gesicht zu bekommen?
Als ich an ihn dachte, zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. In meiner Kehle knisterte es.
Ein leises Schluchzen huschte über meine Lippen.
So unmöglich es war, in Nics Gesicht konnte ich lesen, wie sehr es ihm leid tat. Wie viel Mitleid er mit mir hatte. Mitleid. Wozu war das gut? Mir würde es sowieso nichts mehr helfen.
"Warum wehrst du dich nicht gegen sie

?", brachte ich über die Lippen.
"Weil sie mich dann vernichten. Das muss ich verhindern. Ich habe meiner Familie versprochen, für sie alle weiterzuleben. Und das will ich tun."
Seine Hand an meiner Stirn beruhigte mich.
Erst jetzt begriff ich.
Nic war nicht schlecht, nicht böse. Er wollte mir das hier nicht antun. Er musste

es.
Plötzlich hatte ich Mitleid mit ihm

.
"Schlaf jetzt. Bis morgen.", flüsterte er.
Ich schloss die Augen.
Leider nicht für sehr lange Zeit.

Ich wurde von der hässlichen Stimme meines Entführers, Jose, aus dem Schlaf gerissen.
Er klang wütend.
"Los, aufstehen. Sofort! Mitkommen!"
Was...?
Mühsam öffnete ich meine Augen, blinzelte gegen das nicht allzu helle Licht an.
Ich sah Füße.
"Los jetzt! Ich kann auch anders mit dir umspringen!"
"Lass sie in Ruhe, Jose.", ertönte Nics Stimme.
Langsam rappelte ich mich auf, angetrieben von der Angst.
Jose bohrte mir einen Stock in die Rippen.
Unter Schmerzen erhob ich mich und streckte mich kurz.
"Mitkommen.", schnauzte Jose.
Ich folgte ihm, dicht vor Nic, der nicht gerade glücklich wirkte.
Wo waren wir hier?
Vor uns lag eine große Wiese mit saftigem, grünen Gras. Überall waren Hügel und Wiesen, keine oder wenige Bäume. Nur ein besonders großer Baum mit üppigem Blätterdach ragte in den Himmel empor.
Das hier war eine friedliche, schöne Erscheinung, unterstrichen durch den makellos blauen Himmel. Aber das, was mir jetzt bevorstand, was auch immer es war, würde nicht schön sein. Das wusste ich.
Wir gingen und gingen. Ich wusste nicht, wie lange. Die ganze Zeit über sagte niemand etwas.
Irgendwann schmerzten meine Beine.
Nic drückte mir, zu meinem Trost, ein belegtes Brötchen in die Hand, in das ich gierig biss. Wenigstens meinem Bauch ging es besser.
Nach einer Weile legte mir Jose seine rauen Finger über die Augen.
"Was soll das, Sie Mistkerl? Nehmen Sie Ihre dreckigen Griffel von mir!", zischte ich und schlug um mich.
Doch dieser lachte nur höhnisch und führte mich.
Es war die ganze Zeit über schön hell gewesen. Doch plötzlich wurde es stockdunkel. Wo waren wir?
Waren wir in einem Haus, in einem Tunnel? Oder etwa unter der Erde?
Auch hier liefen wir wieder lange.
Es roch leicht modrig und feucht, es war kühler als vorhin. Irgendwo hörte ich, wie etwas tropfte.
Also waren wir doch unter der Erde. Verdammt, wie sollte ich hier je wieder herausfinden?!
"Ich vertraue sie dir an, Niclas. Steck sie in das Vorbereitungszimmer. Gleich kommen die anderen."
Er löste seine Hand von meinem Gesicht. Sehen konnte ich trotzdem nicht viel.
Nic nahm meine Hand und führte mich durch dunkle Gänge, bis wir vor einer hölzernen Türe standen, was für diesen Ort höchst ungewöhnlich war.
Er öffnete die Türe, die knarrte.
"Das hier... wird nicht schön.", murmelte er leise und schob mich in den dunklen Raum.
Jetzt bekam ich Panik. Furchtbare Panik. Bis jetzt hatte ich doch auch keine gehabt!
Nic schlüpfte zu mir in den Raum. Er schloss die Türe hinter uns.
"Werde ich sterben?!", sprudelte es aus mir.
"Wie man es nimmt..."
Oh nein, das klang nicht gut. Ich war definitiv zu jung zum sterben! Was war mit meiner Familie?! Das konnte Nic doch nicht zulassen!
Feuchte, heiße Tränen strömten über mein Gesicht.
"Bitte nicht! Ich... Ich will doch meine Familie... Und, und... Ich will... Was ist mit Micha...?"
Er legte mir besänftigend eine Hand auf die Schulter, was leider gar nichts brachte.
"Ssshhh. Wer ist denn Micha?"
Mein Gott, ich war kurz vor dem sterben und da fragte er mich DAS?!
"Hallooooo? Geht´ s noch?! Hilf mir hier heraus und stell mir keine Fragen!"
"Ich darf dir nicht helfen. Die Regeln..."
"Scheiß auf die beschissenen Regeln!", giftete ich.
"Ich kann nicht."
Danke auch. Super.
Das hier ging mir alles viel zu schnell. Vor kurzem war ich entführt worden, einfach so. Dann war ich hals über Kopf in diese Dreckshöhle gezogen worden und jetzt hockte ich in einem gruseligen Raum, in dem sie irgendetwas haarsträubendes mit mir machen wollten.
War ich vielleicht doch nur in einem schlimmen Traum gefangen? Womöglich lag ich ja doch zuhause in meinem Bett und träumte vor mich hin.
Meine Geschichte war absolut nicht nach meinem Geschmack. Diese hier hatte überhaupt keine Einleitung, in der die Familie, die Umgebung, die Wohnung und alles beschrieben wurde. Nein, die hier (MEINE!!!!) begann mit dem Ende. Was war das nur für ein Mist? Ich konnte es einfach nicht fassen!
"Ich werde dir zur Seite stehen, versprochen. Ich werde mit dir hier warten, bis du alles hinter dir hast.", sagte Nic.
"Ich hasse dich. Dafür, dass du mich freiwillig bewacht hast, dafür, dass du mir nicht hilfst!"
Er nickte traurig.
"Ich weiß, dass du mich hasst. Und ich weiß auch, dass ich das verdient habe. Es tut mir leid."
Gerade wollte ich etwas erwiedern, da näherten sich Schritte. Die Schritte von mehreren Personen.
Mein Herz hämmerte mir hart und schmerzend gegen die Brust, es wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Hoffentlich würde ich an einem Herzinfarkt sterben und nicht an dem, was diese... Monster mit mir vorhatten.
Ich weiß. Ich war schon ein stolzes Ding.
Meine Finger krallten sich in meine Oberschenkel. Nic drückte leicht meine Hand.
"Es tut mir so leid..."
Zum X-ten mal. Kapierte er nicht, dass mir das nichts helfen würde?!
Das Klacken der Schritte vermischte sich mit Gemurmel. Ich wollte gar nicht hören, was geredet wurde.
Aufeinmal verstummten die Schritte.
Hatten sie es sich anders überlegt? Wollten sie mir doch nichts tun? Waren sie abgebogen, verschwunden?
Die Erleichterung hatte keine Zeit, sich in meinem Körper zu verbreiten.
Die Türe wurde knarzend aufgerissen.
Ein leiser Schrei entwischte meinen Lippen, die ich kurzdarauf fest zusammendrückte. Nic murmelte irgendetwas, genau konnte ich es nicht verstehen. Es war mir auch egal.
Eine Frau und zwei weitere Männer traten ein. Die Männer waren groß und bemuskelt. Wozu die wohl dienten? Ich wollte es mir gar nicht ausdenken...
Die Frau war klein und dunklehaarig. Sie lächelte mich freundlich an, als wäre heute ein normaler Tag wie jeder andere. Naja, vielleicht war er das für sie auch.
Sie kam näher, trat auf Nic zu.
Ich rückte näher an ihn, meine Finger krallten sich in seinen Oberschenkel.
"Hallo, Niclas. Vielen Dank, dass du sie so liebevoll für uns bewacht hast.", sagte die Frau freundlich.
Ihre Augen hatten die Farbe von einem undefinierbaren, hübschen Grün, das irgendwie vertrauensvoll wirkte.
Pah, was dachte ich denn da?! Sie war ein Monster! Ein Monster, das mich töten wollte!
Nun wandte sie sich an mich. Ich presste mich noch mehr an Nic.
"Hallo. Wenn ich mich vorstellen darf, ich bin Michelle. Und wie heißt du?"
Ich presste die Lippen so fest aufeinander wie möglich. Auf keinen Fall würde ich ihr das sagen! Niemals!
Sie lächelte wieder.
"Niclas? Weißt du den Namen dieses Mädchens?", fragte Michelle.
Nic nickte kurz.
So unmerklich wie möglich rammte ich ihm meinen Ellbogen in die Rippen. Er ignorierte mich.
"Sie heißt Amylyn Jackson, Miss."
Michelle nickte.
Sie schaute mich freundlich und mitleidig zugleich an.
"Amylyn. Das, was dir gleich widerfahren wird, wird vielleicht... etwas unangenehm sein. Aber danach wirst du dich besser fühlen. Du wirst dich an nichts erinnern können, was dir in deinem Leben passiert ist. Du wirst sozusagen neu geboren."
Ich würgte.
"Nein, ich will das nicht! Lassen Sie mich einfach in Ruhe! Ich möchte nachhause! Warum ich?!", schluchzte ich.
Mein Gesicht war tränenüberströmt.
"Ich kann dich gut verstehen. Man sagte mir, dass ich damals auch Angst hatte. Aber wer hat denn keine Angst...?"
Sie trat näher.
All meine Muskeln spannten sich an, machten sich bereit für einen möglichen Kampf.
"Set, Lars, möchtet ihr das übernehmen? Seid vorsichtig, tut ihr nicht weh."
Die beiden Männer kamen auf mich zu.
Nic erhob sich und versuchte, seine Hand von meiner zu lösen.
"Nein!", flüsterte ich fast lautlos, "Ich will nicht!"
"Du hast keine Wahl.", flüsterte er zurück.
Ich griff wieder nach seiner Hand, die er mir entzogen hatte. Ängstlich, panisch krallte ich mich an ihr fest. Mit dem Daumen strich er über meinen Handrücken.
"Es tut mir leid. Du musst jetzt loslassen."
Ich ließ nicht los.
"Ich muss auf die Toilette.", spuckte ich aus.
Die beiden Männer, die nun direkt vor mir standen, starrten mich ausdruckslos an.
"Mein Gott man, ich muss pinkeln!", brüllte ich.
Nein, eigentlich musste ich nicht. Aber das war vielleicht meine einzige Chance, hier wieder heraus zu kommen. Zu fliehen. Irgendwie.
"Ähm... Michelle, was sollen wir tun...?", fragte einer der Männer.
"Lasst sie nicht. Wir hatten schon einmal den Fall, dass jemand versucht hat, hier heraus zu kommen. So dringend kann es nicht sein."
Die beiden packten mich grob an den Armen und zogen mich weiter nach hinten in den Raum.
Meine lauten Angstschreie erfüllten den Raum. Ich wehrte mich gegen den Griff der Männer, aber es half nichts. Ich hatte keine Chance.
"Nic!", brüllte ich.
Er schaute mich traurig und entschuldigend an.
"Bitte... Passt auf sie auf.", sagte Nic mit brüchiger Stimme.
"So gut wir können.", antwortete Michelle.
Nics Blick ruhte noch kurz auf mir, dann wirbelte er herum und verließ den Raum. Nein!
Er hatte mich echt allein gelassen. Aber was sollte man denn von einem Entführer sonst erwarten? Dass er mir Beistand leistete und ruhig mit mir Händchen hielt...?
"Es wird alles wieder gut werden.", sagte Michelle freundlich und tätschelte meinen Arm.
Hastig zog ich ihn zurück.
Meine Panik lies mein Herz so schnell schlagen, dass ich dachte, es würde meine Brust zersprengen.
Das Muffinpapier hatte nichts geholfen. Nein...
Wie war ich überhaupt auf den idiotischen Gedanken gekommen, es könne etwas helfen?! Ehrlich, ich war zu dumm!
"Was machen Sie mit mir?!", schrie ich hysterisch.
Niemand antwortete.
"Ich möchte zu meiner Mom! Bitte! Ich... Ich möchte Micha... Ich will Micha sehen! Bitte!"
"Wer ist Micha?", fragte Michelle interessiert.
Ich war stumm. Das würde ich ihr nie verraten. Zu viele Informationen.
Sie richtete sich an die beiden Männer, die mich festhielten.
"Sorgt dafür, dass sie diesen Micha so schnell wie möglich vergisst."
Nein! Niemals! Micha würde ich nie, nie, NIE vergessen! Niemals!
Set und Lars hoben mich auf etwas hartes. Sie drückten mich fest runter. Mein Rücken traf auf harten, kalten Stein.
"Nein, nein! Bitte nicht, bitte! Lassen Sie mich in Ruhe, ich flehe sie an! Ich möchte doch nur nachhause! Und wo ist Nic, verdammt! Er hat mir versprochen, bei mir zu bleiben!"
Niemand sagte etwas.
Michelle trat in die Dunkelheit. Ich konnte sie nicht mehr sehen. Bald kam sie zurück, mit etwas spitzem in der Hand.
Meine Lippen zitterten, mein Körper bebte.
Jemand hielt mir die Augen zu. Ich schrie, wollte zubeißen, um mich schlagen, aber ich wurde festgehalten. Ich war wehrlos. Scheiße!
Etwas spitzes stach in meine Schläfe. Es war unangenehm und schmerzte stark.
Meine eigenen Schrei hallten in dem dunklen, feuchten Raum.
Wenn sie mich schon töten wollten, sollten sie es wenigstens schnell machen!
"Gut. Ihre Erinnerungen werden bald schwinden. Sie wird sich an nichts erinnern können."
Nein! Nein! Bitte, nein! Ich wollte meine Familie, meine Freunde, MICH und Micha niemals vergessen! Wie konnten sie mir dies verweigern?!
Schritte entfernten sich und kamen dann wieder.
"Das Serum wird schnell wirken.", sagte Michelle.
Ich wusste nicht, ob sie mich oder die Männer gemeint hatte.
"Bald hast du es überstanden, Mädchen."
Diesmal wurde mir etwas in den Arm gespritzt, was nicht ganz so schmerzhaft war.
Ein weiteres Mal entfernten und näherten sich Michelles Schritte.
"Und jetzt das Experiment.", sagte sie voller Ehrfurcht und Stolz.
Mir wurde übel. Experiment?
"Du wirst etwas ganz besonders sein, Amylyn. Diesen Tropfen, den ich dir einspritzen werde, wurde vom Mond hierher gebracht. Er stammt aus dem Kern des Mondes und ist der erste und einzige, der von uns je gefunden wurde. Wir wissen nicht, was mit dir passieren wird, aber wir hoffen für dich und für uns, dass es etwas Gutes sein wird."
"Sie wird das erste und letzte Experiment für das hier

sein.", sagte einer der Männer.
"Richtig, Set. Sie ist etwas besonderes."
Ich konnte das Lächeln aus ihrer Stimme hören. Mir wurde schwindelig.
Es war leise, still. Lange Zeit.
Ich wagte nun gar nicht mehr, mich zu wehren. Ich hatte verloren. Ich war

verloren.
"Jetzt.", sagte Michelle stolz.
Etwas spitzes, scharfes wurde mir in die Haut über meinem Herzen gebohrt. Es durchdrang knackend meinen Brustkorb.
Der Schmerz raubte mir den Atem. Ich schrie, so laut ich konnte.
Mein Brustkorb reichte ihnen nicht. Sie drangen vor, bis in mein Herz, das von dem spitzen Gegenstand berührt wurde.
Unter meinen Schreien hörte ich, dass Michelle etwas drückte. Im selben Moment drang etwas leichtes, kaltes in mein Herz, umschloss es mit einer eiskalten Schicht.
Meine Schreie endeten abrupt. Ich wollte etwas sagen, konnte es aber nicht.
Binnen von wenigen Sekunden war mein Körper eiskalt und hart. Hilfe!
"Mein Gott! So etwas habe ich noch nie gesehen! Ist das normal?!", fragte eine Männerstimme.
"Nein. Nein, so etwas kann nicht normal sein. Das Experiment... Es... Es wirkt."
Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Mein Bewusstsein war noch voll da, meine Augen waren leicht geöffnet. Jemand hatte die Hand von meinen Augen genommen.
Um mich herum war fast alles schwarz, ich sah nicht viel.
Ich vernahm den Geruch von etwas metallischem. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass es rot war. Mein Blut.
Ich war noch cnicht tot. Ich konnte noch denken. Und ich dachte an Micha.
Ich prägte mir sein wunderschönes Gesicht ein, sein Lachen, den Klang seiner Stimme. Alles.
Mein beschädigter Körper begann heftig zu zittern.
Ich hatte keine Schmerzen mehr. Sie waren von dieser Kälte überlagert.
Michelle und die anderen beiden waren noch da, ich konnte sie deutlich spüren. Sie staunten.
Was war los mit mir?! Was hatten sie mit mir getan? Warum war ich so kalt?!
Plötzlich...
Explosionsartige Schmerzen verbreiteten sich in meinem Körper, strömten durch meinen Kopf, meine Muskeln, alles. So etwas hatte ich noch nie gespürt.
Ich wollte schreien, in etwas beißen, aber ich konnte mich nicht regen.
Wenn ich nun wenigstes in Ohnmacht fallen würde...!
Es war, als wurde ich von tausenden, spitzen Eiszapfen durchbohrt.
Auf meinen Wimpern lag eine dünne Schicht Eis, durch die ich nichts sehen konnte.
Der rasende Schmerz war wie ein eiskaltes Feuer, das sich mörderisch durch meinen Körper schlängelte. Es züngelte und tanzte in mir, so heftig, dass ich fast sterben wollte.
Aber ich wollte nicht sterben! Nicht, solange es meine Familie und Micha gab!
"Sollen wir sie einfach so liegen lassen und abwarten?", fragte jemand.
Niemand antwortete.
Die Kälte wurde noch schlimmer, sie verbreitete sich zusammen mit dem Schmerz überall. Schrecklich, diese Kombination.
Trotz der hefitgen Schmerzen konnte ich noch eigenartig klar denken.
Jemand legte mir eine Hand auf die >Stirn. Sie war heiß, glühte. Oder kam mir das nur so vor, weil ich so kalt war?
"Sie ist noch bei vollem Bewusstsein. Sie hat noch all ihre Erinnerungen.", sagte Michelle.
"Ist das normal?"
"Nein. So etwas habe ich noch nie erlebt."
Es

breitete sich weiter in mir aus.
Nein, weg! Ich wollte, dass es aufhörte! Es sollte verschwinden! Es gehörte nicht zu mir, es war nicht normal! Raus aus meinem Körper!
Mit aller Kraft kämpfte ich gegen die Kälte, den Schmerz an. Versuchte, beides aus mir zu vertreiben.
Erfolglos.
Als ich an meine Familie dachte, erschrak ich.
Verdammt, ich wusste nicht mehr, wie meine Mutter aussah! Wie hieß mein Bruder nochmal...?
Teile der Erinnerung verschwanden, die von meiner Familie.
Aber nicht die von Micha. Ich wusste ganz genau, wie er aussah, wie er sprach, wie er lächelte.
Mist. Ich wusste nicht mehr, wo ich wohnte.
Mit aller Macht schlug ich die Kälte von mir. Weg!
Sekunden, Minuten vergingen, ohne dass etwas passierte. Oder waren es möglicherweise schon Stunden?
Auf jeden Fall nahm der Schmerz nicht ab. Er wurde immer schlimmer. Meine Erinnerungen weniger.
Weiterhin kämpfte ich gegen das in mir an, versuchte, es zu vertreiben.
Plötzlich wusste ich wieder, wie meine Mutter aussah.
Freundlich, blondes Haar, jung. Meine Mom.
Mein Bruder hieß Aidan. Gut... Ich hatte meine Erinnerungen wieder.
"Oh

."
"Was siehst du?!"
"Sie wiedersetzt sich. Sie ist stark. Es sind schon drei Stunden vergangen, und sie kann sich noch immer an alles erinnern. Spritzt ihr noch etwas von dem Serum. Spritzt besonders viel gegen diesen Jungen, Micha."
Nein!
Etwas spitzes wurde in meine Schläfe gedrückt.
Nein, Micha! Ich würde ihn nicht vergessen, auch wenn mich dieser Schmerz hier umbringen sollte! Schlimmer noch war mein seelischer Schmerz!
So heftig wie nie drängte ich es

von mir. Hau ab...
Nach einer Weile wurde ich müde. Mein Verteidigungssystem sackte ab, wurde kleiner, schwächer. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ich alles vergessen würde... Bis ich sterben würde...
Micha...
Meine Gedanken waren nicht länger klar. Ich hörte alles hallend.
Mein Tod nahte.
"Soll ich einmal nach dem anderen Mädchen schauen?"
"Welches Mädchen meinst du? Wir haben drei weitere hier."
"Das andere Experiment. Das Mädchen, dem wir die Sonnenperle verabreicht haben.", sagte einer der Männer.
"Ach. Sie

. Nein, lasst sie. Sie wird bereits überwacht. Offenbar scheint es drüben ähnliche Schwierigkeiten zu geben wie bei Amylyn."
Dann war es wieder still. Mein Kopf brummte.
Wir war schwindelig. Ich wollte meine Augen schließen, aber es ging nicht.
Meine Mutter... Wie sah sie noch gleich aus? Wie hieß mein Bruder?
Wer war... Micha?
Nein! MICHA! Nicht er!
"M..."
Michelle und die beiden anderen stießen erstaunte Laut aus.
Ich begriff, dass ich gerade versucht hatte, zu sprechen.
Mein Tod kam immer näher.
"M...i..."
Entsetztes Zischen.
Um mich herum war fast alles schwarz, nicht wegen des Raumes.
Eine Eisschicht umschloss meine Gedanken, meine Erinnerungen.
"Micha... Micha!"
Und dann wurde mir die Erlösung geschenkt...

"... ie konnte das nur passieren?!"
"Die beiden sind stark, viel zu stark! Unsere Experimente..."
"Setzt sie zusammen in einen Raum! Wir werden sehen, was passiert! Entweder sie töten sich gegenseitig, oder sie verhungern! Schafft sie nur weg von hier!"
Dieser kurze Austausch war das erste, was ich hören konnte. Hören...?
Ich hätte gedacht, ich wäre tot. Warum konnte ich... hören?
Jemand zerrte mich grob auf die Beine.
Wenigstens war die Kälte weg.
"Sie hat einen großen Teil ihrer Erinnerungen verloren. Aber an einiges kann sie sich noch erinnern. Sie war viel stärker, als wir jemals gedacht hatten. Genauso wie das andere Mädchen. Melanie, so heißt sie doch?"
"Ja. Komm, wir geben ihr einen neuen Namen. Sie soll ihren alten nie wieder hören."
"Nennen wir sie Loona."
"Gut. Und Melanie haben wir Sunny genannt."
"Einverstanden. Steckt sie in das Zimmer, in dem Sunny sitzt."
Die starken Arme zerrten mich weiter.
"Haaalt!", schrie jemand.
Schritte.
"Ich... Ich begleite sie.", sagte die Stimme wieder, die einem Jungen zu gehören schien.
Irgendwoher kannte ich diese Stimme doch... Woher bloß?
Jemand griff nach meiner Hand.
"Alles wird gut, Amylyn.", sagte er.
"Nenn sie nicht so! Ab heute heißt sie Loona."
Amylyn... Dieser Name kam mir seltsam vertraut vor.
Wir liefen einige Zeit.
Nach einer Weile schaffte ich es, meine Augen zu öffnen. Es war dunkel und feucht.
Langsam drehte ich meinen Kopf in die Richtung, in der der Junge sein musste.
Er war groß, hellbraunes Haar, grünbraune Augen. Wo hatte ich ihn denn schon mal gesehen...?
Er lächelte mich an.
"Siehst du, du hast es überstanden."
Was redete er da?
Überstanden? Was denn? Ich fühlte mich doch gut. Sehr gut. Nur... Etwas kalt.
"Wie heißt du?", fragte ich.
War das... meine Stimme? Ich hatte sie nie zuvor gehört... Eigenartig.
"Ich bin Niclas. Nic. Du... Kannst dich nicht mehr erinnern."
Er klang traurig.
Nic... Ich kannte diesen Namen.
Jemand riss eine Türe auf und stieß mich grob hinein.
Ich warf dem Jungen, Nic, einen fragenden Blick zu. Ehe er etwas sagen konnte, wurde die Türe zugeschlagen.
Es war stockdunkel hier drinnen. Dennoch konnte ich sehen. Mein Blickfeld war leicht blau. Ich erkannte Umrisse.
Was war mir passiert? Und warum konnte ich mich an nichts erinnern? Was war vor meinem Erwachen gewesen?
Etwas blitzte in meinen Gedanken auf. Das wunderschöne Gesicht eines Jungen.
Mein Gott, Micha!
Wie hatte ich ihn nur vergessen können?!
Micha. Ich sah meine Erinnerungen an ihn vor meinem geistigen Auge. Aber immer dort, wo ich eigentlich stehen sollte, war es schwarz. Nein, nicht nur dort. Alles war schwarz, die komplette Umgebung, bis auf Micha.
Ich konnte mich an alle Einzelheiten von ihm erinnern. Aber nicht an mich selbst.
Nur an ihn. Seltsam...
"Wer ist da?", ertönte eine scheue Stimme.
Ich zuckte erschrocken zusammen.
"Ähm... Loona.", sagte ich.
"Verschwinde, lass mich allein!"
Ich folgte dem Klang der Stimme. Er führte mich weiter in den Raum hinein.
Weit, weit hinten konnte ich Licht sehen. Helles, schönes Licht. Wie hypnotisiert ging ich darauf zu, bis ich in einem weiteren, kleinen Raum war.
Er war durchflutet von hellem Licht.
"Aah! Lass mich in Ruhe!", schrie jemand direkt neben mir.
Hasti richtete ich meinen Blick auf sie.
Ein Mädchen, etwa in meinem Alter.
Ihre schönen, goldroten Locken fielen ihr locker über die schmalen Schultern.
Vereinzelte Sommersprossen zierten ihre Nase.
Ihre Lippen waren rosa.
Dieses Mädchen strahlte wunderbare Wärme aus, und das nicht nur vom Aussehen. Ich spürte, dass es ihr Körper war.
"Ich... Ich wollte dich nicht erschrecken. Tut mir leid."
Sie schaute zu mir hoch. Ich erschrak. Ihre Augen hatten die Farbe von einem hübschen Rot, das mit Gold gesprenkelt war.
Sie pustete sich ihren geraden Pony aus der Stirn.
Plötzlich fiel mir wieder ein, was die Männer draußen über sie geredet hatten. Sie war ein Experiment, genauso wie ich.
"Du... Du... Wer bist du?"
"Ich bin Sunny."
Meine Alarmglocken schrillten. Das Mädchen hieß nicht Sunny.
"Nein... Du heißt Melanie."
Ein Würgen ertönte. Das Mädchen hatte ihre Augen weit aufgerissen. Ihr Atem ging schnell.
"Mel... anie... nein, ich heiße Sunny! Ich kenne keine Melanie!"
"Du bist

Melanie."
Sie schien wütend zu werden.
"Nein!"
Mit einem Ruck erhob sie sich und stürzte auf mich zu.
"Was ist das für ein Schmerz?! In meinem Kopf?!", brüllte sie unter goldenen Tränen.
"Ich weiß es nicht, Melanie."
"Aaaaaahhh!"
Sie stürzte sich auf mich. Ihre heißen Hände legten sich kräftig um meinen Hals. Sie glühten auf meiner Haut. Sie war heiß! Was war mit ihr?
Erschrocken hielt sie inne.
"Du... Du bist eiskalt.", stellte sie fest und entfernte sich hastig von mir.
Sie sank an der Wand auf den Boden, schlang die dünnen Arme um die Beine, vergrub ihr Gesicht darin.
Lange Zeit saß ich weit weg von ihr und starrte sie erschrocken an.
Dann kroch ich lautlos zu ihr hinüber und hockte mich neben sie.
Ich nahm die gleiche Haltung ein wie sie.
Was war nur passiert mit mir?
Als ich versuchte, mich zu erinnern, kroch ein schrecklicher Schmerz in meinen Kopf. Ich schrie auf.
Um mich zu beruhigen, legte ich mir eine Hand an mein Herz.
Und erschrak. Dort schmerzte es.
Plötzlich, ohne dass ich es wollte, strömten Erinnerungen auf mich ein. Erinnerungen, die ich nicht kannte und die mir doch so vertraut waren...
Jemand hatte mich festgehalten, in einem dunklen Zimmer. Jemand hatte mir etwas Spitzes in mein Herz gerammt. Sie hatten mich Experiment genannt.
Ich war... vor meinem Erwachen hier jemand anderes gewesen. Und... Der Junge von vorhin hieß Nic. Ich kannte ihn. Er hatte mich... bewacht?
Es waren zu viele Erinnerungen. Aber ich ließ sie alle passieren, in meinen Kopf strömen.
"Du?", sagte ich zu Melanie.
"Hmm?"
"Kannst du dir bitte meinen richtigen Namen merken? Ich heiße Amylyn."
Sie nickte.
"Ja... Und kannst du dir Melanie merken? Danke, dass du mir meinen richtigen Namen wieder gegeben hast."
"Gern geschehen."
"Entschuldige, dass ich vorhin ausgerastet bin."
"Mach ich."
"Danke."
"Bitte."
Aufeinmal hatte ich das merkwürdige Gefühl, in Melanie eine Verbündete gefunden zu haben. Eine Verbündete gegen... Gegen die

da draußen...
Lange Zeit sagte keine von uns beiden etwas. Melanie schluchzte wieder in ihre Beine und ich grübelte über meinen Namen.
Amylyn, Amylyn, Amylyn...
Je öfter ich den Namen dachte, desto stärker wollte ich mich an das erinnern, was vor dem hier gewesen war. Ich kramte in meinem Kopf, auf der Suche nach der verborgenen Türe, die mir einen Weg zu meinem früheren Leben öffnen würde.
Erst fand ich nichts. Ich suchte und suchte, erfolglos.
Bis ich einen kleinen Schimmer entdeckte. Es war ein Schlüssel. Ich strengte mich an, ging tief in mich, versuchte, mich mit aller Gewalt zu erinnern.
Amylyn, Amylyn...
Und etwas geschah.
Die schwarze, bisher verborgene Türe wurde ruckartig geöffnet. Schmerz machte sich in meinem Kopf breit.
All meine Erinnerungen sprangen mir entgegen. Meine Familie, mein Bruder Aidan, mein Dad, die Entführung mit dem Laster...
Alles war wieder da.
Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen. Ich hatte es geschafft!
Eilig erzählte ich Melanie von meinem früheren Leben. Sie lächelte und freute sich mit mir.
Es war ein wunderbares Gefühl, wieder alles zu wissen. Dennoch keimten viele Fragen in mir auf. Was war ich jetzt? Was hatten sie mit uns vor?
Und... Wie ging es Micha? Ja, Micha, mein Micha.
Ich konnte ja nicht wissen, was gleich passieren würde...
Von draußen ertönten Stimmen, die sich aufgeregt vermischten.
Ich erhob mich und schlich zur Türe, legte mein Ohr daran. Melanie sah mir neugierig nach.
"Doch, wenn ich es dir doch sage!"
"Aber das kann nicht wahr sein! Wie ist das passiert?! Das ist unmöglich!"
"Nein, es stimmt!"
"Wie haben diese wiederlichen Menschen uns nur gefunden?"
"Ich weiß es nicht. Komm, wir werfen den Jungen zu den Experimenten. Mal sehen, was sie mit ihm anstellen."
Bei dem Wort "Experimente" schnürte sich mein Magen zusammen.
"Bist du sicher?"
"Ja, die beiden sind bestimmt außer sich, sie werden ihn gleich töten."
Kurze Zeit später ertönte ein Schrei. Der Schrei eines Jungen.
Mein Herz schlug schneller vor Aufregung. Was hatten sie da nur vor?
"Nein, bitte lasst mich! Ich will nicht, bitte!", schrie der Junge.
Seine Stimme hallte in der Höhle, ich konnte nicht sagen, ob die Stimme schön war.
Schritte näherten sich.
"Bitte! Ich will nicht!"
Und dann traf es mich wie ein Blitz.
Diese Stimme gehörte Micha. Sie hatten Micha! Mit geballter Kraft schlug ich auf die Türe vor mir ein.
"Lasst ihn!", brüllte ich unter Tränen.
Ein spöttisches Lachen von draußen, dann wurde die Türe aufgerissen und Micha zu uns geschleudert. So schnell, wie sich die Türe geöffnet hatte, schloss sie sich wieder.
Ich warf einen instinktiven Blick zu Melanie. Sie saß nun lauernd an der Wand, mit leuchtenden Augen.
Sie wirkte überhaupt nicht mehr freundlich. Eher... agressiv, wild...
"Micha!", rief ich und schlang einen Arm um seinen schlanken Körper.
Im selben Moment kam Melanie auf uns zu.
Michas Atem traf auf meine Haut, warm und angenehm. Mir wurde schwindelig. Er war hier, bei mir. Mein Micha. Es war unglaublich...
"Was... Amylyn...?", hauchte er verwirrt.
Ich schloss ihn in meine Arme, schützend, wachsam.
"Melanie, bitte. Er will dir nichts tun. Was ist überhaupt los mit dir? Er ist doch nur ein Mensch!"
Melanie zuckte zurück.
"Ich... Es tut mir leid, Amylyn. Ich... Ich habe mich nicht unter Kontrolle gehabt. Ich habe solche Angst, hege solchen Hass... Ich weiß nicht, was ich tun soll..."
Sie kauerte sich an ihrem Platz zu einer kleinen Kugel zusammen und vergoss schon wieder Tränen.
"Amylyn.", flüsterte Micha.
Ich schob ihn sanft von mir und musterte ihn.
Er war... Er war gewachsen, er war nun fast so groß wie ich! Was hatte ich nur alles verpasst?!
"Wie bist du hierher gekommen?!", wollte ich wissen.
Er lächelte.
"Dad und ich waren auf dem Weg zu Bekannten. Mitten auf dem Highway ist uns ein Muffinpapier an die Scheibe geflogen und dort hängen geblieben. Wir mussten an die Seite fahren und ihn entfernen. Dad wollte ihn in den Mülleimer werfen, aber ich habe ihn aufgehalten. Tja, und dann sind wir dem Wagen, in dem du warst, der nur wenige Meter vor uns gefahren ist, hinterher. Dann sind wir hier gelandet. Dad ist noch draußen und versteckt sich vor diesen... Menschen...? Er wird uns alle retten, versprochen."
Das konnte nicht wahr sein. Das war ein Scherz.
Mein Mund klappte auf.
"Das ist nicht dein Ernst, oder?"
"Doch, mein voller Ernst.", grinste er.
Seine dunklen Augen musterten mich.
"Du bist... anders geworden.", stellte er fest.
"Aha.", murmelte ich nur.
Ich konnte mich nicht an seinem hübschen Gesicht sattsehen.
Tränen des Glücks tropften aus meinen Augen. Micha fing eine auf, wischte sie jedoch gleich wieder an seiner Hose ab.
"Die war eiskalt.", sagte er und lächelte schief.
Jetzt konnte ich mich nicht mehr halten. Ich umarmte ihn, schlang meine Arme um ihn, lehnte mein Kinn an seine Schulter. Ich spürte seine Hände auf meinem Rücken.
"Ich hab dich vermisst.", schluchzte ich in sein T-Shirt hinein.
Ich hielt ihn noch immer fest, küsste seine Schulter, presste mich an ihn. Meine kalten Tränen tränkten sein Oberteil.
"Äh... Ich habe dich auch vermisst, denke ich.", murmelte er.
Oh. Hastig wich ich vor ihm zurück.
Der Grund für meine plötzliche Zurückweisung...
Er wusste nicht, wie ich für ihn empfand. Ich hatte nie Gelegenheit dazu gehabt, es ihm zu sagen. Nein, ich hatte es ihm nie sagen wollen. Ich hatte Angst davor.
Und dann diese Umarmung, die wie ein Blitz gewesen war. Oh man, ich hatte ihn völlig überrumpelt.
Jetzt legte ich nur noch eine Hand auf seine und sagte:
"Ich verspreche dir, dass du hier wieder herauskommst. Dafür werde ich sorgen."
Er lächelte.
"Musst du nicht. Dad wird uns schon retten."
Zu meiner eigenen Überraschung umschloss er meine Hand mit seiner und drückte sie leicht.

Impressum

Texte: Das Bild habe ich bearbeitet.Die Personen habe ich mir ausgedacht.
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für eine mir seeeehr wichtige Person, die mich jedes mal erneut verzaubert.

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