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In der dunkelsten Nacht,
die jemals herrschte,
werden nur die Menschen,
die die Gabe besitzen selbst die verschlossenen Türen zu öffnen,
die Perle in der Muschel erkennen...




D

as strenge, fesselnde Augenpaar im Spiegel lässt mich nicht los, es verfolgt mich, selbst wenn ich die Lider senke. Seufzend lasse ich mich in den Sessel fallen, auf dem ein altes Tierfell liegt, das sanft über meine Haut streift. Es riecht nach Heimat und doch…
Ich will hier nicht zuhause sein, es ist nicht meine Bestimmung. Diese Tatsache brennt schon seit Jahren in meinem Inneren.
Alles, was in eine falsche Richtung verlaufen kann, hat diese gnadenlos eingeschlagen und ich stehe außerhalb; am Rande des Schicksals, unfähig in irgendeiner Weise auf das Geschehen einzugreifen. Ich habe absolut keine Kontrolle mehr; ich kann mich einfach nicht mehr erinnern.
Der vertraute Blick aus den kaffeebraunen Augen trifft mich mitten ins Herz, genau dort, wo ich mich schon immer am meisten vor ihm schützen wollte. Doch die Mauern, die ich um meine Seele in die Höhe gebaut habe, beginnen noch in derselben Sekunde zu reißen. Mit jedem Wimpernschlag spüre ich, wie die Risse sich immer weiter in sie hineinbohren, ich bilde mir fast ein, von der anderen Seite schon die ersten Lichtstrahlen durchschimmern sehen zu können.
Es passiert viel zu schnell, die Bilder wirbeln ungeordnet in meinem Kopf herum, ohne sich dabei zusammenzusetzen.
Die Augen- es sind meine, dennoch sind sie mir fremd.
Jeder Versuch, die Mauern zu erhalten, scheitert kläglich, nie habe ich so wenig Selbstbeherrschung wie jetzt. Lautlos fallen sie in sich zusammen, doch der Schrei, der über meine Lippen kommt, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.
Ein Fehler.
Der Schrei war ein Fehler.
Gleich würde…- hektisch wird das verwaschene, rote Laken des Zeltes zur Seite gerissen und mit schnellen Schritten stürmt ein alter Mann, auf dessen Kopf schon die ersten silbergrauen Haare zu sehen sind, auf mich zu. Zwischen seinen Augen, in denen der Zorn wild funkelt, ist eine tiefe, gerade Falte entstanden, die sich bis zu seinem Haaransatz zieht und dort von ein paar Strähnen umspielt wird.
Ich wage es nicht, Joe zu fragen, wieso er denn so außer sich ist; die Antwort ist mir bereits kristallklar.
Joe stützt sich mit geballten Händen auf der Tischplatte ab, vor der ich sitze. Durch den Spiegel versucht er meinen Blick einzufangen, doch ich starre nur eingeschüchtert auf die Muskeln, die unter seiner Haut angespannt zucken.
Seine Stimme ist kratzig und rau, sie jagt mir einen Schauer über den Rücken: „Kannst du mir erklären, wieso du jedes Mal schreist, wenn du vor einem Spiegel sitzt?!“
Meine Hände zittern, obwohl ich sie in meinem Schoß gefaltet habe.
„Nein, Sir…“
Zischend atmet er aus: „Verdammt noch mal, wieso tust du dann so etwas Sinnloses? Das ist nur dein Spiegelbild, nur deine Augen! Kein Monster, keine Geister oder sonst etwas! Das bist nur du!“
Das bin nur ich…


Bin ich das wirklich?
Ich will nicht hier sein und bin es trotzdem.
Meinen eigenen Willen verbiege ich, verstecke mich hinter einer Fassade aus Lügen, die mich dazu zwingen, hier zu bleiben und das zu tun, was wohl meine Aufgabe ist: Tanzen.
Mit diesem Druck erschlage ich alle meine Träume und Hoffnungen, Wünsche und Gefühle. Zurück bleibt nur graue, verschwommene Leere; die Asche aus alldem, was ich mal hatte, an das ich mich aber kaum noch erinnern kann.
Mein Leben begann mit sieben Jahren, als ich in den Zirkus kam.
Alles andere spielte von da an keine Rolle mehr…

Das

bin nur ich.


„Nur ich“, wiederhole ich seine Worte und sie haben absolut keine Bedeutung für mich, ich spüre nur die Sehnsucht nach Veränderungen.
„Genau“, Joe hört sich so an, als habe er sich einigermaßen beruhigt, doch ich bin trotzdem zu schwach, um ihn in die Augen zu sehen.
Ich zwinge mich unterworfen zu nicken.
„Es tut mir leid, Sir. Ich versuche mich zu bessern.“
Meine Entschuldigung lässt er durchgehen, wahrscheinlich nur, um endlich die restlichen Vorbereitungen für den Auftritt kontrollieren zu können.
„Mädchen, ich weiß, dass du einen guten Willen hast und nur der zählt! Eines Tages, wirst du mit deiner Vergangenheit abschließen können, ich weiß nicht, was dir passiert ist, aber es wird sich irgendwann ändern.“
Das hoffe ich auch…


Damit hebt Joe seine Fäuste wieder von der Holzablage und marschiert zügig über den weichen, staubigen Streuboden davon, nicht ohne das Zeltlaken erneut eindrucksvoll schwunghaft zur Seite zu befördern und dann so zu befestigen, dass jeder in das Zelt hineinschauen kann.
Ich will gerade nach Rose rufen, damit sie mich für die Show schminkt, als ich neben Joe, der unmittelbar vor dem Zelteingang stehen geblieben ist, Kyles markante Statue wahrnehme.
Er trägt wieder seine samtweiche, dunkelblaue Jacke mit Silberknöpfen, auf denen Adler ihre Schwingen ausbreiten und eine Hose, aus festem, schwarzen Stoff. Seine rechte Hand ist mit einem Handschuh aus dunkelbraunen Leder überzogen, mit denen er die Raubvögel tragen kann, ohne sich dabei zu verletzen; das ist sein Beitrag zu der Zirkusshow: eine unglaubliche Aufführung mit Adlern, die durch die Lüfte fliegen, als wären sie in Freiheit.
Die beiden unterhalten sich leise, während ich den Gedanken nicht abschütteln kann, dass er wohlmöglich schon die ganze Zeit vor dem Zelt steht und wieder einmal alles mitbekommen hat.
„Gut, dann sage ich ihm bescheid“, ich höre Joes heiseres Krächzen, kurz darauf seine stampfenden Schritte und erwarte, dass auch Kyle sich entfernt, doch als ich den Blick erhebe, steht er im Eingang des Zeltes und schüttelt nur mit verständnislosen Blick den Kopf, so dass seine blonden Strähnen, in denen sich das Licht verfängt, hin und herschwingen. Dabei fallen sie ihm in die tiefblauen Augen, die mich skeptisch mustern.
Seine Arme sind streng ineinander verschränkt.
„Weißt du was ich nicht verstehe, Pearl? Wieso du nicht schon längst abgehauen bist!“
Er hebt abwehrend die Hände, als ich die Lippen zu einer Antwort öffne: „Sag jetzt nichts dazu! Alles, was du jetzt dazu sagen würdest, wäre sowieso gelogen, oder? Es wäre nichts als einer deiner kläglichen Versuche die Wahrheit schillernder darzustellen, als sie ist“, er macht eine kurze Pause, räuspert sich, „Ich kann es zwar verstehen, wir haben eine ähnliche Vergangenheit… Aber ich spüre, dass es dich bald auch noch vollkommen auffrisst.“
Wortlos wendet er sich ab und verlässt leise das Zelt.
Aber ich spüre, dass es dich bald auch noch vollkommen auffrisst.


-*-


Rose ist schon immer die Person gewesen, an die ich mich gewendet habe, wenn alle anderen zu sehr in den Vorbereitungen versunken sind und dabei ihre Manieren vergessen. Doch heute kann ich einfach nicht mit ihr reden, egal wie sehr ich mich darauf konzentriere, meine Gedanken in Worte zu fassen, sie bleiben mir in der Kehle kleben und krallen sich dort mit eisernem Griff fest.
Etwas in mir verdonnert mich zum Schweigen, während Rose mit gezielten Bewegungen Puder auf die Wangen pinselt, meine Wimpern tiefschwarz tuscht und anschließend auf meine Lippen zartrosafarbenen Lippenstift aufträgt.
Sie ist schon immer der Meinung gewesen, dass ein so junges, hübsches Mädchen (das ich in ihren Augen wohl bin) nicht noch zusätzlich mit exotischen Farben angemalt werden muss.
„Ist das so in Ordnung, Perle?“, sie liebt es mich so zu nennen.
Noch immer bin ich nicht in der Lage zu sprechen, deshalb nicke ich ihr nur kurz zu.
„Soll ich dir die Haare hochstecken?“
Wieder nur kurzes Nicken, meine Gedanken hängen immer noch an Kyle.
Er kann doch nicht wissen, was in meiner Vergangenheit passiert ist!
Woher auch?
„Gut.“
Eine halbe Stunde später betrachtet sie mich ein letztes Mal mit ihrem prüfenden, aber dennoch freundlichen Blick, dann sagt sie mit ihrem typischen, zufriedenen Unterton: „Ja, so kann ich dich gehen lassen. Es fehlt nur noch die Maske.“
Damit verschwindet sie für einen kurzen Moment hinter einem dunklen Trennvorhang und kommt mit einer kleinen, hölzernen Schachtel zurück. Das kastanienbraune Holz glänzt in dem dämmrigen Licht, das in dem Zelt herrscht.
Pearl

steht mit geschwungenen Silberlettern auf der alten Schachtel.
Rose hält sie mir hin, dabei schenkt sie mir ein halbherziges Lächeln: „Ich gehe dann mal. Für mich gibt es nichts mehr zu tun.“
Mit klammen Fingern nehme ich die Holzschachtel entgegen und schon dreht sich die kleine, zierliche Frau um, um zu gehen. Mit jedem Schritt hüpfen dabei ihre feuerroten Locken.
„Rose!“, krächze ich; der Klos sitzt immer noch in meinem Hals fest.
Sie bleibt stehen und lächelt mich an, wobei das beruhigende Grün ihrer Augen vertraut funkelt: „Ja, meine Perle?“
„Ich… Danke!“, meine Stimme ist nicht lauter, als das sanfte Wispern des Windes, wenn er über die weiten Sommerfelder streift.

-*-


Das Stimmengewirr in dem Showzelt wird zunehmend lauter, doch ich blende es gekonnt aus. Unglaublich wie wenig mich die Worte der Leute interessieren, vor denen ich gleich mein Können unter Beweis stellen muss. Stattdessen bohre ich die Spitze meiner weichen Tanzschuhe in den nachgiebigen Boden und zwinge mich dazu, weiterzuatmen.
Ein, aus, ein, aus…


In den Händen halte ich die lindgrüne Maske, die unterhalb der ausgesparten Augenpartie ein leichtes Violett annimmt; sie ist mit Pailletten verziert und mit glitzernden Steinchen bestickt, die in dem matten Licht sanft glänzen.
Zartrosafarbene Federn, beinahe schon weiße, sind an der Maske befestigt und flattern im Wind, der durch das Zelt weht.
Als mir klar wird, dass ich gewissermaßen mein Gesicht in den Händen halte, beginne ich zu frieren, als ob der Winter mich plötzlich persönlich mit seinen eiskalten Armen festhält.
Ich möchte nicht, das mich die Menschen da draußen nur mit der Maske wahrnehmen, mich nur oberflächlich betrachten, als hätte ich kein Leben, keinen Charakter. Als wäre das Tanzen meine einzige Aufgabe.
Und doch…
Jedes Mal, wenn ich sie aufsetze, verschwimmt die Welt um mich herum zu einem Meer aus Farben. Meine ganze Geschichte, meine Vergangenheit, alles vergesse ich, wenn ich durch die Maske in das Nichts starre und tanze. Es ist kein angenehmes Gefühl, diese Leere und doch fühlt man sich so leicht, so unbeschreiblich frei, dass der Wunsch, einfach davonzulaufen, für einen Moment -kürzer als der Flügelschlag eines Schmetterlings- verblasst.
Man hört den leisen Ruf des Herzens nach Freiheit, aber man ist in dieser kurzen Zeitspanne so vollkommen versunken, dass man das Gefühl hat, man würde sich in der Luft auflösen.
Und dieses Gefühl ist so unglaublich, dass ich es kaum in Worte fassen kann.
Sämtliche schwarze Flecken tauchen vor meinen Augen auf, doch ich blinzele sie weg, während ich die Maske hochhebe und in das Mondlicht halte.
Sie ist wunderschön…
Doch um einiges schöner als die glänzende Muschelschale ist die Perle selbst…


Mit diesen Worten höre ich seine wispernde Stimme wieder durch die Lüfte rauschen.
Doch jede weitere Erinnerung bleibt fern.

-*-


„Los, Mädchen, du bist dran! Auf was wartest du? Eine schriftliche Einladung? Soll ich dich vielleicht noch reintragen, oder was?!“
Die bebende Stimme reißt mich aus meiner schwerfälligen Trance, in die ich verfallen bin, während ich versuche, das Flüstern einer Person zu zuordnen.
Ich kenne sie und doch fehlt mir jeder Bezug zu ihr…
Wie gelähmt stehe ich da und versuche zu ignorieren, dass ich wohl schlichtweg kläglich aussehen musste:
Ein zierliches, gebrechliches Mädchen in ihrem violetten, kurzen Seidenkleid mit der hauchdünnen, schwarzen Strumpfhose und der Maske im Gesicht, während ihr die Tränen lautlos über die gepuderten Wangen fließen und leise auf den Streuboden niedertropfen.
Aber ich spüre, dass es dich bald auch noch vollkommen-


„Pearl!“
Aufbrausend baut sich Joe vor mir auf, sein Blick trifft mich wie ein elektrischer Schlag, fährt mir energisch durch die Blutbahnen.
„Was bildest du dir eigentlich ein, dich so… gehen zu lassen?! Auch du bist nur ein kleiner Teil hier von! Mädchen, es war schon immer schwer mit dir! Hörst du mir überhaupt… Pearl!“
Grob packte er mich an den Schultern, schüttelte mich, als wäre ich eine leblose Puppe.
„Du bist jetzt dran, verstehst du?!“, brüllte er mir ins Gesicht, seine Worte erreichen mich nur schwach.
„Sir… ich weiß auch nicht, was los ist. Es tut…“- seine Hand schnellt in unglaublicher Geschwindigkeit auf mein Gesicht zu und ehe ich seinem Schlag ausweichen kann, beginnt der Schmerz in meiner linken Wange siedend heiß zu brennen.
Ungläubig schießen meine Finger an die Stelle, wo seine Hand mein Gesicht berührt hat.
Er hat mich geschlagen…

wird mir nüchtern klar, doch der Schmerz lässt ein leises Glöckchen in meiner Seele erläuten.
In dem nächsten Augenblick bohren sich seine knöchrigen Finger in meinen Rücken, schubsen mich mit eiserner Kontrolle auf den Artisteneingang des Showzeltes zu, genau wie man Schafe zum Abschlachten zusammentreibt.
„Immer dieses Drama um dich! Kannst du nicht einfach mal das tun, was man dir sagt?! So schwer ist das auch nicht! Immerhin bekommt das scheinbar jeder außer dir prima hin!“
Immer wieder stolpere ich über meine eigenen Füße, ich habe nicht den leisesten Schimmer, wie ich es schaffen soll gleich zu tanzen, geschweige denn, auf dem Trapez das Gleichgewicht zu halten, doch das scheint Joe nicht zu interessieren.
Als ich vor dem Vorhang des Showzeltes stehe und mir immer noch Joes stechenden Blick im Rücken bewusst bin, wird mir klar, dass ich scheitern werde. Irgendetwas an dieser Situation ist anders als sonst, aber ich weiß nicht was…
Das ohrenbetäubende, hysterische Schreien der Adler vermischt mit den aufgeregten Stimmen der Zuschauer dröhnt aus dem Inneren des gigantischen Zeltes.
Kyles Auftritt neigt sich dem Ende zu, der Moderator nennt noch einmal seinen Namen, dann verebbt das Flügelschlagen. Die Adler werden in ihre Käfige gesperrt.
Ich gehe ein paar Schritte vor, gleich wird der Moderator eine kurze Pause einsetzen und das wird das Zeichen an mich sein…
Joe lässt zufrieden über den Sieg seiner Macht über meine Psyche die Finger knacken.
Wieder habe ich auf ihn gehört- letztendlich ist das jedes Mal der Fall.

-*-


Die Zeit vergeht wie in Zeitlupe, die Geräusche werden immer leiser und verstummen schließlich ganz. Wie durch einen Schleier verschwimmen die Details vor meinen Augen.
Ich nehme kaum wahr, wie Kyle an mir vorbeiläuft, bis er neben Joe steht; rieche kurz seinen vertrauten Duft nach Nadelwäldern, in denen puderiger Schnee auf der weichen Erde liegt. Vermischt mit Zimt.
Unwillkürlich muss ich lächeln… So riecht er immer.
Ich weiß nicht, ob ihm das schon mal jemand gesagt hat, aber dieser Geruch macht wahnsinnig. Mich zumindest.
Er weckt etwas in mir, was vorher nur vor sich hin geschlummert hat.
Gerne würde ich ihm das alles klar machen, egal wie albern und kitschig es ist.
Mein Blick wandert über meiner Schulter zu seinem Gesicht mit den Meeraugen, doch statt dem Lächeln, das ich erwartet habe, finde ich nur Zorn und Abneigung in seinen Zügen wieder.
Ich weiß, dass diese Emotionen nicht mir gelten, denn Kyle starrt Joe zornig an.
Woher kommt seine plötzliche Wut?
Doch während ich im Showzelt verschwinde, findet mich meine Vergangenheit urplötzlich wieder.

Es schneit.
Kleine, weiße Flocken fallen herab, verfangen sich in meinem dunklen Haar, das mir immer wieder vor die kaffeebraunen Augen fällt und an meinem Hals klebt.
Egal, wie oft ich versuche es aus dem Gesicht zu streichen, es bleibt dort.
Mein unregelmäßiger Atem wird zu Nebelwolken, die dem weißen Himmel entgegenfliegen, doch egal wie viel Anstrengung mich das Rennen kostet, laufe ich weiter und weiter.
Ich denke nicht daran, stehen zu bleiben.


Er muss hier irgendwo sein ist der Einzige Gedanke, der mich immer wieder anspringt und nicht loslassen will.



Gefangen zwischen der Realität und den Erinnerungen gehe ich mit wackligen Schritten voran; der Moderator redet und redet, ich frage mich, wann er wohl endlich aufhört, doch ich zwinge mich weiterhin ruhig zu bleiben.

Die Nadelbäume um mich herum sind in ein wunderschönes Tannengrün getaucht, auf dem sich weiße Flecken häufen wie Puderzucker. Der Anblick macht mich beinahe schwindelig, aber der Druck weiterzurennen ist immer noch so überwältigend, dass ich nachgebe.



Das Trapez hängt unmittelbar vor mir; ich berühre mit den Fingerspitzen das weiche Holz und umschließe es schließlich fest. Genau wie immer.
Meine Brust hebt und senkt sich unglaublich schnell.

Meine weichen Lederstiefel sinken bei jedem Schritt einige Zentimeter in den Schnee, so dass es unheimlich viel Kraft kostet. Aber mein Wille ist entfesselt.
Ungebändigt verfolge ich die regelmäßigen Fußspuren, die gerade wie eine Linie an den Bäumen vorbeiführt.
Ich finde dich.
Egal wo du bist.
Lautlos lache ich vor mich hin.



Surrend wird das Trapez in die Höhe gezogen, ich hänge zunächst etwas hilflos daran, doch nach und nach führt mein Körper wie von allein die Bewegungen aus.
Ich frage mich, ob die Zuschauer eine Ahnung davon haben, wie anstrengend es für mich ist, nicht loszulassen.
Wissen sie, dass meine Gedanken nicht hier sind?
Natürlich nicht.

„Es ist sinnlos, sich zu verstecken! Und das weißt du genauso wie ich! Durch den Schnee sehe ich deine Spuren!“, rufe ich, der Wind verschluckt sofort meine Worte.
Trotzdem bin ich mir sicher, dass er mich gehört hat, weit weg kann er definitiv nicht sein.



Und doch heften sie ihre Blicke an mich, vergessen, dass auch ich ein Mädchen mit einem Leben bin. Sie haben kein Interesse daran, meine Probleme kennenzulernen; ich bin nur diese Künstlerin, die ihr Leben auf der Bühne verbringt.
Und solche Mädchen haben keine Probleme.
Aber ich weiß es besser.

Langsam beginnt meine Lunge zu brennen, die Flammen steigen meine Kehle hinauf, aber diese Hitze ist bei der winterlichen Kälte durchaus angenehm.
Ich werde nicht langsamer.



Das Trapez schwingt durch die Luft und ich führe die Kunststücke mit mechanischen, emotionslosen Bewegungen vor, die jedes Körnchen Leidenschaft verloren haben.
Dieses Mal wird Joe keine positive Rückmeldung bekommen, doch das war mir von Anfang an klar…
Es ist mir erschreckend gleichgültig.

Ein paar Meter später verlaufen die Spuren in einer perfekt geformten Kurve nach rechts, zu einer kleinen Lichtung.
Dort entdecke ich ihn.



Sollen die Leute doch bemerken, dass auch Artisten Fehler machen können.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie das gerne vergessen und an mich Ansprüche stellen, als wäre ich eine Maschine. Ohne Herz.
Vielleicht kommen sie dann auch auf die Idee, dass ich in meinem Leben nicht nur tanze.
Dass ich auch noch gerne andere Dinge tun würde.
Ganz andere Dinge.
Dass ich eigentlich nicht einmal hier sein will.

Wieder muss ich lachen, als der zehnjährige Junge erschrocken den Kopf hebt. Zusammengekauert sitzt er vor einer alten Tanne, die dünnen Arme um die Knie geschlungen.
Ein paar Flocken bedecken sein helles Haar und ein paar Krümel von seinen geliebten Zimtkeksen kleben an seinem Mundwinkel..
Ihm muss eiskalt sein, doch ich höre sein leises Lachen.



Durch ein kleines Loch in dem Stoff des Zeltes sehe ich den nachtschwarzen Himmel, der von lauter Sternen übersät ist. Ihr silbernes Licht verblasst neben den grellen Scheinwerfern, die auf mich gerichtet sind.
Gerne würde ich versuchen, sie zu berühren, doch stattdessen klemme ich die Stange des Trapez in die Winkel meiner Knie und lasse den Oberkörper nach hinten sinken, sodass ich kopfüber in der Luft hänge.
Mein Körper ist angespannt, meine Muskeln drohen zu reißen.

„Komm´ mal her, Pearl. Ich will dir was zeigen“, ich gehorche seiner Stimme und setze mich neben ihn in den Schnee.
Seine Hände sind verschlossen, als ob er einen Gegenstand in der Hand hält.
Meine Vermutung wird bestätigt, während er vorsichtig einen Finger nach den anderen zur Seite spreizt und die Schneekristalle in seiner warmen Handfläche zu schmelzen beginnen.
In seinen kleinen Händen liegt eine blaugrauglänzende Muschel.



Einen Wimpernschlag später löst sich die Maske von meinem Gesicht.

„Das…Sie ist schön, die Muschel“, bringe ich unter tiefem Erstaunen hervor. Weitere Worte finde ich dafür nicht.
Er nickt zustimmend.
„Doch um einiges schöner als die Muschelschale ist die Perle selbst, kleine Schwester…“, sagt er dann, und klappt die Schale mit einer geübten Bewegung auf.
…Die Tränen streichen über mein Gesicht…



Mit einem dumpfen Geräusch kommt die Maske auf dem Boden auf; augenblicklich fühle ich mich meinem Publikum ausgeliefert, ihre Blicke durchbohren mich regelrecht.
Hinterlassen tiefe Löcher in meiner Seele und ich kann wieder nichts dagegen tun…
Hilflos wandert mein Blick durch das Zelt, bis er schließlich an einem Augenpaar hängen bleibt, das durch ein Loch in dem Außenlaken hervorlugt.

Seine blauen Augen lachen mich freundlich und unglaublich aufrichtig an.
Ich erkenne sie…genauso wie sein Gesicht!
„Nicht weinen, Schwester!“



Kyle- es ist Kyle.

-*-


Wir stehen einige hundert Meter vor dem

Nadelwald; er wartet auf irgendeine Reaktion von mir, doch ich betrachte nur die Wipfel der Bäume, die noch unerreichbar erscheinen. Doch ich sehe trotzdem einige getrocknete Nadeln zu Boden rieseln.
Noch trennen mich von der Zukunft viele Schritte…
„Bist du sicher, dass du endlich abhauen möchtest, kleine Schwester? Ich will nicht, dass du irgendetwas später bereust, dass du deine Vergangenheit vermisst…“, sagt er, wobei ich die Besorgnis in seiner Stimme höre.
Und doch rechnet er nicht damit, dass ich meine Meinung ändere.
Das werde ich auch nicht…
„Kyle, meine Vergangenheit vermisse ich schon mein ganzes Leben lang…“
Schweigend betrachte ich die Maske in meinen Händen; mein anderes Gesicht, das ich endlich ablegen will und genau das tue ich auch, ohne sie länger auf dem steinigen Boden zu betrachten...
Stattdessen wende ich mich an Kyle:„Und du wirst mir dabei helfen, mich wieder zu erinnern. Es gibt noch so viele Fragen... Wieso hast du mir nicht gleich gesagt, dass ich deine“-„Später."
Er lächelt.

Unsere Schatten, die von der Sonne auf den Kies gepinselt werden, ziehen sich unglaublich in die Länge, direkt auf die Nadelbäume zu, deren Zweige schon von glitzernden Schnee bedeckt sind.
Wir laufen ihnen hinterher.

-*-



Impressum

Texte: Die Rechte liegen ganz allein bei der Autorin!
Bildmaterialien: Cover: von cassijane unter Verwendung von http://bt16.deviantart.com/art/Masked-II-270671275 Vielen Dank, dass du dir so viel Zeit genommen hast, mir so ein wunderschönes, passendes Cover zu machen!
Tag der Veröffentlichung: 09.09.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die das Gefühl kennen, nur oberflächlich betrachtet zu werden...

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