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Prolog

 

„Die Legende besagt,

dass es einmal zu jedem von uns ein Gegenstück gab.

Es heißt,

dass alles im Gleichgewicht war

und die Harmonie mit der Natur für Reinheit sorgte.

Das ist vorbei.

In dieser Zeit herrscht Verrat und Korruption, meine Liebe.

Willst du etwas, dann hol es dir.

Was willst du?“





Kapitel 1




Ich hasse Samstage. Ich habe noch nie einen Samstag erlebt, an dem ich in Ruhe aufwachen, mir ein leckeres Frühstück mit süßer Johannisbeermarmelade, von meiner Mutter selbst zusammengekocht, mit frisch verlaufener und warmer Butter auf einem gerade gebackenem Brot machen konnte. Das geht nur in den Ferien. Und nur montags. Aber meine Samstage haben es in sich. Aber so richtig. Beispiel: Samstag, der 4. Juni letzten Jahres: mein Bruder zettelt den legendären letzten Streit zwischen meinen Eltern an, die sich erst auf Teufel komm raus mürbe quatschten (oder besser gesagt schrien), um sich dann liebevoll zu versöhnen mit leider unüberhörbarem Ende (ich werde jetzt nicht weiter ins Detail gehen, jedenfalls waren wir bloße neun Monate später zu viert) um ihre Ehe dann qualvoll auslaufen zu lassen. Dann beschloss meine Mutter, Elane, dass, ich zitiere: „Eine Ehe mehr wie Rock’n’Roll und weniger wie Rumba“ sein sollte. Ich weiß bis heute nicht, wie sie darauf kam, weil meine Mum weder Rock’n’Roll noch Rumba kann. Das einzige, was sie wirklich beherrscht, ist Cha Cha Cha womit sie auch erfolgreich meinen Vater Markus dazu bewegen konnte sie zu heiraten. Schlechte Entscheidung, wenn ich bemerken darf, da selbst ich, als ich noch jünger und unerfahrener war bemerkte, dass meine Mutter und mein Vater wohl die schlechteste Mischung seit Caroline Beil und Pete Dwojak waren! Meiner Meinung nach, sollte man eine Beziehung erst nach dem Marmeladen-test festlegen. Denn wenn dem geliebten Menschen der Lieblingsaufstrich nicht gefiel, konnte man’s gleich wieder vergessen. Nun guuut, bisher hatte ich noch keine nennenswerte Beziehung, die länger als drei Stunden ging und die auch nur, weil Christen Crover sich zu sehr einer schon gruselig aussehenden Bowle bedient hatte. Dieser Abend endete unendlich peinlich auf einem Polizeirevier wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss. Mehr will ich dazu aber nicht sagen. Glaubt mir, es ist besser so. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass ich überhaupt keine Verehrer habe oder so, aber die meisten waren dann doch nur Vollpfosten. Jedenfalls war es auch ein Samstag, der mein Leben durcheinander brachte. Ich liebte mein Leben. es war einfach, schön. Ich hatte einen älteren Bruder, Ferris. Und zwei kleine süße Schwestern. May ist zwöllf Jahre alt, im Januar wird sie neun. Abel hingegen wurde im März letzten Jahres geboren; liebt Toastbrot und meine BHs. Ähnlich Kevin, unserem großen Briard-Colliemix, der mehr Fell besitzt, als er im gesamten Jahr über verlieren könnte. Nun ja, das ist also meine Familie. Hund eingeschlossen. Und ich liebe sie vom ganzen Herzen. Dann wurde ich ganz plötzlich und unverhofft aus meinem wundervoll idyllischem Zuhause herausgerissen. Aber eins nach dem anderen. Der Freitag vor dem unglücklichen Samstag war vollkommen und wirklich schön. Wir kamen aus dem Urlaub zurück. Alles war gewohnt. Alles war toll. Am Abend sank ich nach der heißen Dusche in mein Bett und schlief zufrieden ein. Mein Fenster stand weit, so wie ich es gewöhnt war. Ein Fehler. Ein großer Fehler.


Ich wachte langsam auf. Meine Decke war fest um mich geschlungen. Mir war ein wenig kalt, was darauf schließen ließ, dass es wohl ein kühler Tag werden würde. Das machte nichts, ich hatte eh vor gehabt heute nur ein bisschen rumzuliegen, zu lesen und ganz gemütlich durch den Tag zu schlurfen. Dann spürte ich aber etwas an der Hand, was ich mir nicht erklären konnte. Gras- es fühlte sich an wie Gras. Ich streichelte ein bisschen darüber. Kein Zweifel. Verwirrt schlug ich die Augen auf. Da lag doch tatsächlich auf einer Wiese, streichelte ein bisschen das saftige Gras und starrte gegen einen Stein. Mag sein, dass ich eine Weile weg war, aber ich konnte mich genau erinnern- in meinem Bett zuhause, gab es weder taufeuchtes Gras, noch Steine. Also tat ich das, was jeder normale Mensch an meiner Stelle getan hätte: ich stieß ein lautes „Hä!“ aus und richtete mich ruckartig auf. Was wiederum ein Fehler war, na gut, ein Fehler gewesen wäre, da ich nicht einmal dazu kam, da ich schon wieder mit solchen Wucht in das Gras und gegen diesen blöden Stein zurück gestoßen wurde, dass ich mir gehörig den Kopf anschlug. Diese Beule würde sicherlich nicht vor Schulbeginn wieder verschwunden sein. Ich ließ mich auf den Rücken fallen. Meine Arme lagen jeweils in rechten Winkel neben meinem Kopf. Ich sah es schon vor mir. Alle würden sich kranklachen und mich fragen, wogegen ich denn diesmal wieder gelaufen sei. Schön, mag ja sein, dass ich einmal auf eine Harke getreten war und mir spektakulär slapstickmäßig die Birne anschlug oder einmal einen Baum übersehen hatte, der mir, sozusagen, plötzlich über den Weg gelaufen war, aber das war doch noch lange kein Grund, um mich noch Jahre später damit aufzuziehen. Nun kam der nächste Gedanke. Welcher Vollpfosten hielt es für nötig, mich um mein erstes wunderschönes Aufstehen mit selbst gekochter süßer Johannisbeermarmelade auf warmen frisch gebackenem Brot mit zerlaufender Butter zu bringen?! Oder noch besser: wo war ich überhaupt?! Irgendwie war mir die Lust vergangen mich abermals aufzusetzen und diesen ganzen Fragen schon so früh am Morgen nachzugehen- ich ja schließlich lernfähig. Und so ließ ich meinen Kopf zur Seite kippen und erblickte zu meiner Freude einen gut gebauten Jungen mit erstaunlich riesigen Ohren, der über meinen, jetzt schon vertrauten, Felsbrocken linste. Ich hatte Durst. Moment, was wollte Spock hier und was verdammt, hatte er mit meinem Zimmer angestellt?! Aber ehe ich den Mut aufbringen konnte, meinen Entführer zu fragen, nahm er mich einfach in seine Arme und trug mich weg. Und das ohne irgendwelche Beschwerden. Marc Fendrick hatte das mal versucht und war dann unter mir zusammen gekracht, als würde er keine elfengleiche Fünftklässlerin tragen, sondern einen zwei Tonnen Fels- ähnlich dem, hinter dem wir gerade noch Schutz gesucht hatten. Zurück zu Spucki, der nebenbei ein sehr viel eindrucksvolleres Gesicht hatte, als Original-Commander Spock im Dienst. Es war markant und doch hatte es irgendeine Weiche, die ich nicht näher beschreiben kann. Sorry aber auch. Seine Löffel waren lang, so lang, dass sie über seinen Kopf hinaus noch etwa fünf Zentimeter ragten und sich an den Spitzen in sich selbst drehten. Der wohl größte Wassertropfen seit Menschen Gedenken riss mich aus meinen Gedanken, indem er mir mitten ins Gesicht platschte und mich fast ertränke, denn ich begann donnernd zu husten, was sich ziemlich ungünstig macht, wenn einem der Mund zugehalten wurde, was mich beinahe erstickte. Meine Güte! So süß dieser Kerl auch sein mochte, er hatte mich schon dreimal zu töten versucht in bestimmt fünf Minuten! Ob das ein neuer Rekord war? Endlich hatte ich mich beruhigt und drehte mich mit tränenden Augen zum Mörder um. Der stand mit dem Rücken zu mir und starrte gegen die raue Steinwand. Wir waren in einem Tunnel. Einem kalten, nassen, nach Fisch stinkenden Tunnel. Und dieser hirnlose Idiot hatte gerade versucht mich um die Ecke zubringen und sah mich jetzt noch nicht einmal an! „Hey, Arsch! Wieso entführst du mich erst und bringst mich dann fast um?“ Keine Reaktion. Hm. Ich seufzte und richtete mich auf. Vorher hatte ich auf allen Vieren gekniet, aber jetzt ging ich mit energischem Schritt auf Spock zu. Meine Schritte hallten leicht wieder und fasziniert sah ich zu, wie sich seine Ohren spitzten und er seinen Blick mir ein wenig zudrehte. „Hallo? Ich rede mit dir! Wer bist du?“, versuchte ich es ein wenig freundlicher.
„Das tut nichts zur Sache.“
„Und das kannst du mir nicht sagen, während du mich ansiehst?“
Er räusperte sich und sah bedeutungsvoll in eine leere Ecke. Ich sah an mir hinab. Ich trug nichts weiter, als ein T-Shirt Größe L (zum Verständnis, es war zwei Nummern zu groß) und natürlich eine Unterhose. Ich errötete bis über beide Ohren und rannte zurück zu meiner schützenden Decke. Es war reine Unterschämtheit, dass er jetzt anfing zu lächeln. Ich kräuselte erbost ich meine Lippen. „Also noch mal: wo bin ich hier?“ „Ihr würdet es Die Zwischenwelt nennen.“ Zwischenwelt? Etwa das, was ich eher Feenwelt nennen würde? „Ajaa. Okay, ich verstehe. Das ist ein Traum nicht wahr?“ „Nein, ist es nicht.“ Er fing an in einer mittelgroßen Tasche zu kramen. Es war ein schönes Stück. Sie war aus hellem Leder und mit grünem Fäden sehr schön anzusehen. Nach einer kleinen Weile zog er erst BH, Jeans, Mantel (ein hässliches kackbraunes Teil, wie ich zu meiner Verbitterung feststellen musste), eine schwarze Bluse- jedoch keine Schuhe hervor. „Du hast in meinen Sachen gewühlt.“, stellte ich fest. „In meiner Unterwäsche

.“ Der Unbenannte zuckte mit den Schultern. „Wäre nicht das erste Mal.“ Nun lächelte er schelmisch, was schon irgendwie ganz sexy aussah. Ich nahm meine Sachen entgegen und zog mich rasch an. „Wir müssen weiter.“ „Aha. Und wohin? Müssen wir das Einhorn retten?“ Er sah mich an. Seine Augen waren wie ein klarer, grüner Bach nach einer heftigen Regenperiode. Ich schluckte. Meine Füße waren rosarot lackiert, was anscheinend nicht der letzte Schrei in der, äh, “Zwischenwelt“ war, aber da dies ein Traum war, war das jetzt auch egal. „Hast du wenigstens Schuhe?“ „Nein.“ War das sein Lieblingswort? Nein? „Da waren nur merkwürdige unpraktische Dinger.“ Ich seufzte noch mal, diesmal aber nachdrücklicher. Hey, nichts gegen meine Sandalen! „Na gut. Was jetzt?“ „Jetzt werdet Ihr still sein und das tun, was ich Euch sage.“ Ich zog die Augenbrauen hoch. Was wollte er? „Also, ich denke, dass ich jetzt pfeifend aus diesem Loch spazieren werde und dann aufwache.“ Also nahm ich mein Federbett und marschierte aus der Höhle. Und ich pfiff. Row, row, row your Boat

, um genau zu sein. Ich hatte die Augen geschlossen und latschte so über die Wiese. Ich hörte etwas surren, dann ein Knack.

Kapitel 2




Meine Augenlider flogen beinahe hoch. Etwas hatte mich am linken Arm getroffen. Etwas sehr scharfes. Ich sah auf meinen blutenden Arm. Er war tief aufgeschlitzt worden und Blut floss über meinen nackten Arm. Und ich wachte nicht

auf. Wie gebannt glotzte ich meinen Blutüberströmten Arm an. Als jemand schrie und auf mich zu rannte, lief ich (endlich) zurück in die Höhle. Aber etwas anderes hastete an mir vorbei in die entgegen gesetzte Richtung- Spock. Ich drehte mich und erblickte einen Kampf. Spocki hatte Pfeil und Bogen gezückt und zwei kleine Angreifer niedergestreckt. Zwei blieben noch. Beide mit scharfen Beilen bewaffnet, die ich als Äxte identifizieren konnte. Und musste Kichern. Es waren Zwerge. Winzige Typen mit roten Bärten, die sich schwerfällig vorwärts kämpften, während der Unbekannte geschmeidig über die Wiese sprang und auch den anderen Zwergen den Rest gab. Und das, indem er über ihre Körpergröße hoch sprang, den Bogen spannte und losließ. Es war äußert beeindruckend, wenn auch blutig. „Hört zu!“, schrie er mich an und kam beinahe fliegend auf mich zu. Er umklammerte seinen Bogen so stark, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Ich zuckte zusammen und taumelte rückwärts und wäre beinahe umgekippt, hätte er mich nicht an der Hand gepackt und weiter in den –oh, da war ja ein Wald- geschleift. Ich war immer noch ein wenig benommen. Endlich hielt er an und ließ meine Hand los. „Hört auf das, was ich Euch sage!“, sagte er noch einmal nachdrücklich.
„Was willst du von mir?“ Er stöhnte.
„Redest du immer so viel?“
„Kommt immer darauf, ob ich grad entführt werde.“
„Ich habe dich nicht entführt.“
„Warum sagst du mir dann nichts?“
„Weil es nicht der passende Augenblick war!“
„Und was ist mit jetzt?“
Er massierte sich mit vier Fingern die Schläfen. Anscheinend war er keine Mädchen gewöhnt, die Widerworte gaben.
„Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“
„Wieder vorbei an diesem netten, kleinen Vehikeln?“
„Mitunter.“
„Ich will zurück.“
„Komm erst mal her.“ Er zog sich seine fast schwarze, ebenfalls lederne Jacke aus und entblößte ein altertümliches weißes Hemd, was er dann auch noch ablegte!
„Ähm, was?!“ Er riss einen Ärmel von seinem Hemd ab und kam auf mich zu. Achso... Er sah geradezu umwerfend ohne Hemd aus. Ich meine mit Hemd und Jacke sah er schon toll aus, aber jetzt! Wow! Er kam näher und knüpfte meine Bluse auf. Ich schlug ihm auf die Finger.
„Hey! Was soll das denn werden?“
„Ich kann dich nicht richtig verbinden, wenn dieses Ding im Weg ist.“ Dieses Ding? Die Bluse hatte fast vierzig Euro gekostet und ich hatte auch nicht vor, mich vor deinem Typen auszuziehen.
„Keine Chance.“
Er verdrehte die Augen.
„Bandia meitä! Könntet Ihr vielleicht für einen Augenblick vernünftig sein?“
Ich wusste weder, was er mit diesem merkwürdigen Ausruf meinte, noch was daran so vernüftig war, sich vor ihm auszuziehen, aber mein Arm war inzwischen schon ziemlich purpurrot und irgendwie war mir auch schwindelig.
„Na gut.“ Ich zog meine Bluse aus, kniete mich hin und er verband meinen Arm.

Als er fertig war, stand er auf und meinte, wir müssten weiter. Wir hätten schon zu viel Zeit verloren. Also trabten wir durch den Wald. Ich wusste nicht, warum, aber ich folgte ihm. Der Wald war gerade in seiner Blütezeit und war so grün, wie ich es sonst nur von übertriebenen Bildern kannte. Es wirkte alles so unecht. Aber da mir gerade dummerweise schmerzhaft bewiesen worden war, dass es sich nicht um einen Traum handelte, konnte ich in aller Ruhe alles hier bewundern. „Ich liebe Wälder.“ Ich hatte echt keine Ahnung, weswegen ich das gesagt hatte. „Das ist gut, da Ihr wahrscheinlich den Rest eures Lebens in diesem Wald verbringen werdet.“ Ich blieb stehen. Den Rest meines Lebens? Ich hatte immer noch gedacht, als handelte sich um eine Entführung! Er drehte sich um. Ich hatte die Arme vor der Brust verschränkt. „Vergiss es.“ „Kommt weiter. Wir sind immer noch im Gebiet des Feindes.“ Das musste ich wohl oder übel eingestehen und da mein momentaner einziger Schutz davor diese Zimtzicke war, gehorchte ich und folgte ihm schweigend. Und diese wohltuende Stille wurde, abgesehen von ein paar fremdartigen Vögeln, die noch eigenartigere Lieder sangen (es hörte sich eher an, als würden sie zarte Geigentöne rufen, als wirr und durcheinander zu zwitschern), auch nicht unterbrochen. Ich hielt die Augen offen nach den Verursachern dieser lieblichen Laute, doch sehen konnte ich nichts, außer ab und zu einmal ein rotes Huschen, oder einen verschwommenen blauen Fleck. Während mein Blick von einer Seite zur anderen beinahe flog, blieb er, schlussendlich, wieder an meinem Reiseführer hängen, der vollkommen unbeeindruckt von diesem erstaunlichen Schauspiel durch die Wildnis stapfte. War er eine menschliche Lebensform? Hatte er überhaupt natürliche Bedürfnisse?! Apropos Bedürfnis, ich meinerseits hatte jetzt ein ziemlich starkes Bedürfnis, doch leider war mir in diesem Wald bisher noch kein Schild mit der Aufschrift „Damen-WC, bitte nächster Baum rechts“ unter die Augen gekommen. Aber wie sollte ich das jetzt bitte diesem NSFive vor mir beibringen, dass ich mal dringend wo hin müsste?! „Ähm. Hey, ich, äh…“
Er bleib weder stehen, noch drehte er sich um.
„Ich, ähm, ich müsste mal.“
Nun hielt er doch ein. Er schnaubte, er hatte die Hände geballt, und er machte mir fast Angst. Aber nur fast.
„Dann geh doch einfach.“
Oh. Ich hatte nicht gedacht, dass das so leicht wäre. Ich ging folglich zwischen den Bäumen hindurch und suchte eine entsprechende Stelle. Kurz dachte ich daran einfach Transportermäßig mir meinen Weg zurückzubahnen und zu verschwinden, doch noch bevor ich mich dafür entscheiden konnte, war es auch schon zu spät. Ich war in ein Netz geraten, was sich filmreif über mich stülpte und in die Höhe zog. Es war ein ziemlich kleines Netz und ich so geschockt, dass ich keinen Ton raus bekam. Aus den Büschen sprangen bärtige grob aussehende Männer mit der furchterregenden Größe von einem Meter. Sie sprachen aufgeregt und mit einem merkwürdigen Akzent. Vielleicht irisch. Also wand ich meine überragenden Englischkenntnisse an und entnahm dem Gespräch folgende Sätze:
„Wir haben ein!“, ein älterer kleiner Kerl mit buschigen Augenbrauen und kleinen Augen.
„Sicher? Es sieht mir eher aus nach einer –Lücke-“
„Nein, was sollte sie sonst sein? Nur –Lücke- sind so überheblich unvorsichtig! Außerdem sieh dir doch einmal ihre Hautfarbe an!“
„Es ist hässlich…“
Hey! Das wollte ich nicht auf mir sitzen lassen.
„Mag ja sein, dass die Sicht von da unten anders ist, aber selbst Sie sollten eine Mutter haben, die ihnen dass man so etwas nicht sagt. “
„Es hat einen merkwürdigen –Lücke-“
„Es ist egal, was es ist. Töten wir es und bringen es zum Meister. Er sollte wissen, was es ist.“
Ähm, Hilfe? Wo war mein treuer Spock jetzt? Ich fing an zu schreien.
„Hilfe, äh“ Jetzt wäre sein Name wohl ziemlich hilfreich gewesen… „Du weißt schon, hilfeee!“
Ich kannte ihn zwar noch nicht besonders lange, allerdings hatte ich eine böse Vermutung: dieser Kerl war nie da, wo er sein sollte. In meinem Fall, jetzt hier, um mich aus diesem einengenden Netz zu befreien.
„Davon würde ich dir abraten, Mular.“, drang eine leise, eiskalte Stimme, die von dem dichten Gestrüpp zu meiner rechten ausging, an mein Ohr und ließ mich schaudern. Mular, wie die männliche Stimme ihn nannte, war der Zwerg mit dem besonders dunklen roten Bart, der den charmanten Vorschlag gemacht hatte mein Leben vorzeitig zu beenden, flüsterte: „Caramur!“ Nun trat der Sprecher aus dem Gebüsch. Er war klein, höchstens ein Meter achtundvierzig, hager und trug ein ganz in schwarz gehaltenes Jagdkostüm. Seine Haare schimmerten weiß und aus irgendeinem Grund erinnerte er mich an den Lehrer aus den gruseligen Max-und-Moritz-Büchern.
„Sie ist die aktuelle Rekrutin von Milai.“
Er sprach jetzt in meiner Sprache, warum ich auch alles verstand.
Die Zwerge wichen zurück.
„Es ist ein Rekrut? Wie kann das sein? Es sieht so anderes aus. Aber Caramur, wir brauchen es! Wenn wir nicht bald einen von dem Unrat, der unser Königreich besudelt fassen, wird der Meister sehr zornig werden und nur Elune weiß, was er dann mit uns anstellen könnte!“
Seine Stimme brach und plötzlich tat er mir sehr leid.
„Das ist mir egal. Aber wenn Ihr nicht von dem Wesen ablasst, werde ich etwas tun müssen, was wir alle als nicht angenehm empfinden werden…“ Einer der jüngeren Zwerge (wenn von jung überhaupt die Rede sein konnte, denn alle der Kreaturen um mich herum wirken, als wäre ihr Mindesthaltbarkeitsdatum fast überschritten) wandte sich Mular zu und sagte wieder etwas, jedoch verstand ich nur wenige Wörter. Und dann geschah etwas Schreckliches.

Kapitel 3




Milai


Wo blieb sie? Hatte sie nicht gemeint, sie müsse nur mal kurz? Wenn sie jetzt geflohen war, dann wäre es um mich geschehen wesen. Ich lehnte mich gegen einen Baum und atmete aus. Ich verschloss mein Rupi, den Eingang zu meiner Seele und Empfindsamkeit, vor den äußeren Einflüssen, aber alles was ich sah war dieser vor kindlichem Trotz verzogene Mund. Ich schüttelte den Kopf. Kleines Mädchen, es sagte schon nein, bevor es überhaupt nur einen Bruchteil wusste. Sie würde mir nur Ärger machen, mir, dem, der noch nie einen Fehler in seiner Aufgabe als Späher gemacht hatte. Bis auf diesen einen. Ich schüttelte mich erneut. Ich wollte jetzt nicht daran denken. Es war der größte Vertrauensbruch unseres Volkes und das mochte schon etwas heißen. Ich war in meine Gedanken versunken, da riss mich ihr Schrei auf die Beine und schon rannte ich.

Ich brach durch das Dickicht und schon zeigte sich mir das grausame Spektakel. Ohne Zweifel Caramurs Werk. Er war bekannt für seine sinnlose Gewalt. Sechs Kleinwüchsige lagen ausgestreckt auf dem Boden. Ich erkannte Mular, dessen schmerzerfüllten Augen zu mir auf blickten. Ich stürmte auf ihn zu. Ich kannte Mular. Er war ein gehorsamer Diener seines Herrn. Er hatte nichts verbrochen. Jedenfalls nichts nach seinem Gesetz. Ich saß nun über ihm, eine Hand auf seinem Rücken. Er atmete langsam und rasselnd. Bald würde er erstickt sein, an seinem eigenen Blut. Ich erhob mich und mein Blick fiel auf das Mädchen hoch über unseren Köpfen. Es weinte um einen Zwerg, den sie nie gekannt und der sie vermutlich hatte umbringen wollen. In diesem kleinen Netz, das ihr in die Haut schnitt saß sie da in sich zusammen gekauert, das Gesicht mit den Händen bedeckt und schluchzte. Auf der Lichtung war es plötzlich ganz ruhig. Kein Vogel sang mehr. Der rasselnde Atem eines Freundes war verstummt. Nur das leise Weinen hallte noch in den Wipfeln wieder und scheuchte einen Scharm von Buntknechten auf. Es war eine grauenvolle Szene und ich konnte sie nicht ändern. Das immergrüne Moos zu meinen Füßen war von Blut durchtränkt und unter meinen Schuhen drängten sich rote Rinnsale an dem abweisende Leder vorbei. Jeder der Zwerge wurde von etwas unsichtbarem durchbohrt. Es war ein äußerst schwieriger, äußerst schmerzvoller Fluch. Ich drehte mich zu Caramur um, der zufrieden sein Werk betrachtete.
„Du solltest dich beeilen, Sohn der Zyko, Nika wird schon ungeduldig.“
Ich nickte angespannt. Caramur ließ das klagende Kind mit einem leichten Schneidezauber herabstürzen. Ich fing sie im letzten Augenblick auf. Dann verschwand er und ließ diesen Schauplatz beißender Gewalt unberührt zurück.

Ich trug sie an eine andere Stelle des Waldes und setzte sie auf einen sonnen beschienenden Stein ab. Ihr ganzer Körper zitterte, aber ihre Tränen verebbten und sie schien sich langsam zu beruhigen. Allmählich nahm sie ihre Hände von ihrem Gesicht und starrte ins Leere. Sie sah so bedauerlich aus, dass ich das Schweigen brach.
„Das nächste Mal ruft Ihr mich vielleicht um Hilfe.“
Ihre Augen zuckten zu mir auf und fixierten mich zornig.
„Das nächste Mal verrätst du vielleicht deiner Rekrutin

deinen Namen, sodass sie dich auch rufen kann!“
„Milai.“
„Was?“
„Das ist mein Name: Milai Kelpie, Cousin ersten Grades des Thronfolgers von Aydir, dem Dorf der Arie.“
Sie blinzelte überrascht.
„Layla. Freut mich.“
Ich nickte.
„Wir müssen weiter. Mein Termin läuft bald aus.“
„Na gut, aber es wäre wirklich eine gute Idee gewesen, hättest du nur an Schuhe

gedacht.“
Sie rieb sich die Füße und machte dabei ein so zerknittertes Gesicht, dass sie mir ein Lächeln von den Lippen stahl.

Kapitel 4



Layla




Und sein Grinsen war einfach umwerfend, wenn auch etwas Angst einflößend. Er hatte große Zähne, wobei die Eckzähne unnatürlich spitz ausfielen. Doch seine jetzt strahlenden Augen raubten ihnen die Schau und mir fast den Atem. Ich kämpfte um meine Fassung und stand auf. Meine Beine schienen mein Gewicht nicht recht tragen zu wollen und so schwanke ich bekommen. Milai, Cousin ersten Grades des Thronfolgers von Was-auch-immer erhob sich ebenfalls; er hielt mir stützend die Hand hin, den ich aber nicht ergriff. Wir setzten uns in Bewegung, immer weiter hinein in den Wald, dessen Farbe von einem strahlendem hellgrün bis hin zum dunklem tiefgrün reichte. Das Sonnenlicht durchbrach nur beschwerlich die dichten Baumkronen und sammelte sich in handtellergroßen Kreisen auf der Lichtung, die wir entlang trabten; Milai alias Spocki vorne weg. Der Weg, den wir gemeinsam erklommen war übersäht von kleinen harten zapfenähnlichen Dingern, die ich nicht deuten konnte. Alles schien wie Sommer, aber Kiefern warfen ihre Zapfen doch immer erst im Herbst ab? Jedenfalls bohrten sich diese „Zapfen“ wie blanke Pfeilspitzen in meine nackten Füße bis sie brannten, als ginge ich über brennende Kohle. Schlussendlich blieb ich stehen und jammerte. Ich versank so peinlich tief in Selbstmitleid, dass sich meine Augen mit Tränen füllten. Mit einem „Zeig mal her.“ setzte mich Milai auf einen halbverrotteten Baumstamm und betrachtete meine Füße. Seine genervt verengten Augen wurden immer größer und größer bis schließlich sein Gesicht einen beinahe mitleidigen Ausdruck annahm. Tatsächlich waren meine Füße wirklich so blutig wie sie sich anfühlten (wenn nicht noch mehr) und mein Jammern verhältnismäßig sogar noch untertrieben gewesen!
„Tja, es wäre alles viel einfacher, wenn du nur meine Wildlederstiefel mitgenommen hättest!“
„Es wäre alles viel einfacher gewesen, wenn ich nur deine Wildlederstiefel mitgenommen hätte…“, murmelte er, während ich hocherhobenen Hauptes auf meinem Baum thronte. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Ach, nicht nur Entführer sondern auch ein Dieb? Was bekommt man in deiner Welt dafür?“
„Ihr weißt gar nichts von meiner Welt, aber keine Sorge, ihr werdet sie schon bald genug kennen lernen.“, knurrte er und mir lief ein Angstschauder über den Rücken, denn es klang wie eine Drohung, bei der er wusste, dass sie sich schon bald erfüllen würde.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie nicht hier kennen lernen werde, Großer.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Allerdings nicht.“ Mit diesen Worten packte er mich und warf mich einfach über eine seiner breiten Schultern. Für einen Augenblick hatte er mich überrascht, doch an den nächsten hatte er sicherlich nicht gerechnet: ich schrie, trampelte und wand mich, wie ein Aal, bis er mich schließlich fallen ließ und mir mit zwei Lederbändern wie einer Kuh beim Rodeo die Hände und Füße zusammen band. Wäre ich eine Kuh und würde er mit mir an einem amerikanischen Rodeowettbewerb teilnehmen, wäre es ganz bestimmt preisverdächtig gewesen. Am Ende hatte also doch er gewonnen und so fand ich mich in seinen starken Armen wieder, wie er mich mit behänden Schritten schleppte. Unleugbar wäre jede von meinen Freundinnen in einen kreischenden Zustand verfallen, wenn sie nur an meiner Stelle gewesen wären, aber da der Umstand von einem fremden Mann, von dem ich nichts weiter als den Namen wusste, durch einen wildfremden Wald, von dem ich nicht mal wusste, wo er liegen sollte, geschleift zu werden, mich nicht gerade in eine himmelhochjauchzende Stimmung versetzte, schmollte ich vor mich hin, denn eins hätte ich ihnen sagen können: es war lange nicht so erotisch, wie es sich anhörte! Aber das konnte ich ihnen jetzt nicht mehr sagen. Mein einziger Gesprächspartner war dieser unverschämte Kerl.

Kapitel 5



Milai



Meine Wange pulsierte dort, wo sie mich mit ihrem Ellbogen erwischt hatte. Eins musste ich ihr zugestehen: sie war biegsamer, als sie aussah. Layla, was für ein wunderschöner Name! Er bedeutet Die unter dem Mond Geborene und verspricht ihr ein Leben voller Magie. Wenn sie wollte, hätte sie ihre Fesseln mit einem einzigen Gedanken lösen können. Mein Glück, dass sie’s nicht wusste. Noch nicht. Ich verfluchte den Tag, an dem es so weit sein würde und dieses naive dumme Wesen ihr volles Potential ausschöpfen würde, aber jetzt starrte sie nur vor sich hin mit diesem süßen Schmollmund, der fast so rot war, wie die Zweige des Weinkrautes im Sommer. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, schloss und öffnete ihn wieder, doch nie kam ein Ton heraus. Ich wurde immer neugieriger auf den kleinen Karpfen also fragte ich, ob sie etwas wissen wollte. Sie wurde rot und ich musste mir ein Lächeln verkneifen. Sie wollte erfahren, wieso ich sie mitnahm. Keine einfache Frage, aber sie würde es früher oder später wissen müssen.

„Vor vielen Jahren schuf Elune das Elfenvolk. Sie-“
„Wer ist Elune?“
Sie war mir das erste Mal ins Wort gefallen.
„Das wollte ich Euch gerade erzählen. Sie ist unsere Göttin und, oder besser gesagt, sie war-“
„Wieso war? Wenn sie eine Gottheit ist, muss sie doch nach wie vor sein.“
Ich atmete tief durch.
„Und war die Gefährtin vom Sonnengott. Mit der Zeit wurde dieser auch der Gott, den du kennst.“
Sie verzog das Gesicht.
„Sie soll die Freundin von Gott sein? Dem Gott?“
„Sie erschufen gemeinsam die Erde, um sie anschließend mit Leben zu erfüllen- die Menschen. Elune wollte sie mit Magie segnen, doch er war dagegen und erschuf den schlichten Menschen. Sie war wütend wegen dieser Eigenmächtigkeit.“
„Verständlich.“
„Was?“
„Wer wäre da nicht eingeschnapt? Wenn es ein gemeinsames Projekt war, hat er sich über sie hinweggesetzt. Das ist respektlos. Die Unterdrückung der Frau ist nach wie vor ein großes Thema in der Gesellschaft.“
„Was hat nun der Konflikt der Gleichberechtigung damit zu tun?“
„In der Bibel des Christentums, wenn du es so willst, steht geschrieben und "Er erschuf den Menschen nach seinem Ebenbild." Und das war Adam! Für mich klingt das also stark danach, dass der Herr im Himmel nicht mit seiner Freundin geredet hätte. Ein klassisches Kommunikationsproblem.“
Ich seufzte. Da ich ahnte, dass eine Diskussion sinnlos war, setzte ich meine Geschichte weiter fort:
„Gott schenkte ihr zur Besänftigung die Mondin, allerdings-“
„Na super. Was sollte sie mit einem kahlen Stück Stein bitte schön? Mal davon abgesehen, dass der Mond ein dutzend mal kleiner als die Erde ist. Da hat sie sich bestimmt gleich total wertvoll gefühlt. Stand ganz zufällig irgendwo auf dem Mond noch ein Herd herum?“
„Herd?!“ Ich hatte es gleich gewusst: diese Göre war komplett verrückt geworden. „Ich erzähle dir etwas von den Göttern und Ihr denkt ans Kochen?“
„Ich wollte damit nur diesen schreienden Chauvinismus hervorheben.“ Langsam fragte ich mich, warum ich überhaupt damit angefangen hatte.
„Wie ich schon sagte, überließ Gott ihr zwar die Mondin allerdings nicht das Recht auf eigenes Leben.“
„Was sie vermutlich nicht kümmerte.“
„Sie war schließlich das Vorbild der Weiblichkeit..“, erwiderte ich mit einem dezenten Lächeln.
„Das heißt, wenn ich mir eine typische Frau vorstelle, hab ich ein ziemlich genaues Bild von deiner Elune?“
Sie zog die Augenbrauen in die Höhe und ähnelte so auf eine merkwürdige Art und Weise einer Giraffe, die gerade im Begriff war sich mit ihrer langen, spitzen, beweglichen Zunge ein besonders grünes Blatt vom Baum zu fischen. Und wieder rang mir diese Vorstellung benahe ein Grinsen ab.
„Unser Glaube besagt, sie sei eine Mutter und Kriegerin. Sie ist nicht vergleichbar und ganz sicher nicht gewöhnlich.“
Sie zog die Augenbrauen hoch und drehte tonlos ihren Kopf und sah betont in eine andere Richtung. Ziege.


Layla



In Wirklichkeit war mir gerade aufgegangen, dass es vielleicht neun Uhr morgens war, ich mir noch nicht einmal die Zähne geputzt hatte und unsere Gesichter etwa zehn Zentimeter voneinander entfernt waren. Und die letzten Worte waren, nun ja, sagen wir mal nicht gerade gesäuselt… Bestimmt dachte er gerade nach, ob ich wohl immer nach Ziege riechen würde. Ich ließ mir seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen, sie wollte die Menschen mit Magie segnen. Wenn die Menschen nicht magisch waren und er von Elune geschaffen wurde, sollte das bedeuten, er wäre kein Mensch? Was war er dann? Ein Zauberer?! Wobei er mir nicht unbedingt nach Gandalf aussah.

„Sag mal, was bist du eigentlich?“
„Für was haltet Ihr mich?“
Da ich weder stark, noch sexy und schon gar nicht kultiviert sagen konnte, sagte ich das erste, was mir in den Sinn kam.
„Eine Fee vielleicht?“
„Ich bin genauso viel Fee, wie du Frosch bist. Aber ich kann dich beruhigen, es ist schon die richtige Richtung.“
Ich machte große Augen.
„Jetzt komm mir hier nicht mit dem Froschkönig, Heinrich, denn die Ketten trag ja wohl ich.“
Er verdrehte gequält die Augen.
„Rat noch mal.“
Na gut, in Gedanken ging ich all die netten Fabelwesen durch. Zwerg? Zu groß. Riese? So groß nun auch wieder nicht. Einhorn? Wie kam ich denn jetzt bitte darauf?! Zyklop? Da funkelten mich ziemlich sicher zwei Augen an.
„Ich hab’s, du bist dickköpfig, stur, trägst mich herum, als wäre ich erlegtes Wild was und trampelst hier durch den Wald- du bist ein Minotau-„
Ich brach ab, denn in diesem Moment stolperte er über eine Wurzel und wir beide rollten über den Boden, wobei wir eindrucksvolle Figuren machten, wie Synchronspringer vom Fünfmeterturm.
„Jetzt weiß ichs, du bist ein Troll!“
Ich rieb mir den Hinterkopf und er zog die Nase aus dem Dreck und prüfte, ob er noch alle Zähne hatte. Ob Troll oder nicht, dass er die einzige Schlammpfütze auf zwei Kilometer entdeckt hatte, ließ auf starkes Pech schließen.

„Oh, sind das die neuen Herbstfarben?“, kicherte ich.
Keine drei Sekunden später hatte mein Gesicht den gleichen Farbton und als ich Minuten später endlich den Modder aus meinen Augen gewischt hatte beherrschte immer noch ein zufriedenes Grinsen sein zur Hälfte getrocknetes Gesicht.

Die letzten warmen Sonnenstrahlen fiehlen auf sein verkrustetes Gesicht, zu dem ich halb empört, halb belustigt hinaufsah. Der Abend war schleichend herangenaht und bald würde es dunkel werden.

Auch Milai schien es zu bemerken. Bald hatten seine geübten Augen einen passenden Lagerplatz gefunden.
Als wir uns zur Ruge begaben, ohne Abendbrot und auf dem kalten Waldboden, war es Nacht. Ich starrte in den Himmel. Es war ein eigenartiger Anblick. Es war eine sternenklare Nacht, kein einziges Wölkchen zeigte sich, aber etwas fehlte. Angestrengt dachte ich nach und dachte. „Ist er nicht wunderschön, der Himmel?“ Ich zuckte zusammen. „Ja, schon, aber er kommt mir ein wenig seltsam vor…“
„Er ist anders, als der Nachthimmel, den du kennst. Weißt du, wie alt der Mond ist?“
Ich verzog das Gesicht. „Keinen Schimmer. Es soll etwa vier Komma fünf Milliarden Jahre alt sein. Etwas jünger als die Erde.“
„Passt ja. Moment, ist heute Neumond?“
„Nein, bei uns kann man nur den Halbmond sehen.“
„Aha.“ Ich war zu müde, um noch weitere Fragen zu stellen, also drehte ich mich um und schlief ein.

Kapitel 6




Ich atmete tief ein. Stoff, weiche, wenn auch mit etwas viel Waschpulver gewaschene, saubere, frische Laken. Ich räkelte mich noch etwas tiefer hinein, bevor mir ein unangenehmer Gedanke kam: wo kam dieses Laken her? Schon gleich nachdem ich mir die Frage stellte, schalte ich mich dafür. Doofe Kuh! Du bist zuhause. Ja genau. In deinem Bett und gleich stehst du auf, machst dir ein Brötchen, erzählst Abel von deinem komischen Traum und wirst einen schönen Tag haben. So wird’s sein. Ich öffnete die Augen in der Hoffnung meinen riesigen Hasen zu sehen. Meinen Lieblingshasen, den mit dem roten Halsband, den ich auf einem Rummel geschenkt bekommen hatte, weil ich so traurig gewesen war (nur zur Information: da war ich etwa vier Jahre alt gewesen!). Stattdessen sah ich weiße Gardinen, eine korallenfarbene Wand und einen Holzboden. Ich richtete mich kerzengerade auf. Das Zimmer war fast leer. Es stand ein Bett darin, ein Holzschrank, der verräterischer Weise an den Wandschrank aus Die Chroniken von Narnia erinnerte und das wars auch schon. Ich sprang aus dem Bett, riss die Vorhänge zur Seite und erblickte Teiche. Fast schon Seen erschreckten sich vor meinen Augen. Alle waren sie grün schimmernd und gesäumt von Weiden, die sich wie traurige alte Riesen dem Wasser entgegenneigten. Scheiße. Wo war ich hier? Sicher hatte ich noch nie einen so unberührten Ort gesehen. Ich schloss meine Augen und atmete aus, doch sofort lief meine jüngere Schwester May in die beruhigende Dunkelheit hinein. Sie trug ihr schönstes Sommerkleid- gelb mit weißen Blüten und einer absurd großen Schleife auf dem Rücken. Sie liebte dieses Kleid, doch als sie mit sieben Jahren partout nicht mehr darin atmen konnte, ohne umzukippen, wollte meine Mutter es ihr kaltherzig abnehmen. Aber meine Schwester wollte es ihr keines falls kampflos überlassen und in einem erbitterten Gerangel, wobei Elane an der einen und May an der anderen Seite dieses fadenscheinigem Dings zerrten, fiel eine salomonische Entscheidung und das Kleid riss in zwei Hälften. May redete ganze drei Tage nicht mehr mit Mum.
Aber zurück zu der Erinnerung. Alles war wie mit hunderten Grüntönen der Aquarellfarbe meiner Mutter gezeichnet worden und verschwommen. May lief vor, durch die Zweige trauernder Weiden.
Es war nur ein Hauch von einer Erinnerung; doch es kam mir so vor, als würde dieses Bild meinen Verstand vergiften. Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerung aus meinen Gedanken zu vertreiben.

Ein Jagdhorn riss mich aus meinen Gedanken. Getrappel vor der Tür, die nebenbei gesagt den Eindruck erweckte, als wäre sie in einem Stück aus einem Baum geschnitten worden. Die Holzmaserung tobte verspielt in kleinen Wirbel über die gesamte hölzerne Fläche. Ich hatte schon meine linke Hand am Türgriff um mich in die fremde Welt zu stürzen, vor der diese Tür mich erfolgreich zu schützen suchte, da fiel mir auf, dass ich ja halbnackt war. Ich trug nichts weiter als cremeweiße Unterwäsche, die mir zudem vollkommen unbekannt war. Das Hemdchen und der Slip waren aus dicker, aber erstaunlich weicher, Bollwolle gewoben und passten zwar vom Stil her ausgezeichnet in die Unterwäscheschublade meiner Großmutter, aber mir nicht so ganz. Mein Blick wanderte zum unheilvollen Narnia-Schrank. Darin fand ich aufgehängt auf drei hölzernen Bügeln einen Blazer, eine Bluse und eine eng geschnittene Hose von angenehmen Wildleder. Ich suchte noch nach dem kecken kleinen Hut mit den Federn, der das Jägeroutfit aus Schneewittchen komplett gemacht hätte, fand aber nur hohe ebenso glattlederne Stiefel bis zu den Knien mit niedrigen Absätzen.

Ich betrachtete mich im mannshohen Spiegel. Wow, ich sah aus wie eine weibliche Form von Robin Hood! Ich beschloss mich dem Trubel vor meiner Zimmertür anzuschließen, bevor noch Bruder Tuck und Little John die Möglichkeit ergriffen, zu mir vorzudringen. Ich atmete tief durch und verspürte das kalte Silber der Klinke in der Form eines schön geschwungenen Fuchsschwanzes zum zweiten Mal in meiner Handfläche. Okay, wo auch immer ich war, ich konnte nicht ewig hier bleiben.

Jedoch empfand meine Hand das anscheinend anders. Ich seufzte und setzte mich wieder auf das breite Fensterbrett und starrte hinaus. An einem kleinen Fluss, der zwei kleinere Teiche verband, trank ein Hirsch. Es war ein besonders schöner mit weißem Geweih und einem braun bis grünlichem Fell. Zwar kannte ich mich nicht sonderlich gut mit Hirschen aus, aber eine Rasse mit grünem Fell war mit gänzlich unbekannt. Das eine Bein elegant abgesetzt beugte er sich zum klaren Flusswasser hinab. Dann, ganz plötzlich, fiel ein Schuss und das schöne Tier brach in sich zusammen. Es lebte noch und versuchte sich zu retten und zog dabei ein verletztes Bein beinahe schleifend hinter sich her. Der Hirsch sprang und fiel, sprang und brach wieder zusammen. Ich stürzte reflexartig aus dem Zimmer, um dem armen Tier irgendwie zu helfen und stoppte mich in einem beigen Gang. Verzweifelnd blickte ich mich um. Über mir hing ein Schild mit einer Aufschrift in einer fremden Sprache. Cean stand da. áit stand da. Ceanáit und ein Pfeil. Ich folgte dem Schild einfach und fand schon bald eine Tür. Es war mehr ein Tor, als eine Tür, aber das war mir in diesem Moment egal. Ich stürmte hinaus auf den Platz, auf den ich gerade noch hinab geblickt hatte. Ich spürte wie das weiche Moos und das Gras unter meinen Füßen nachgaben und rutschte fast aus. Eine Gruppe Männer in schwarzen Hosen und Blazern in einem noch dunkleren Grün, als ich ihn hatte, stand plötzlich genau vor meiner Nase und ich rannte ich einen hinein. Obwohl “hinein rennen“ vielleicht nicht ganz richtig ist, denn es war, als wäre ich gegen einen Baum gerannt und kippte nach hinten weg. Der Baum drehte sich um und blickte erstaunt auf mich hinab.
„Runa tara, Kiray?“
„Ähm.“
Ich starrte ihn völlig verdattert an. Er, er war so ungefähr der unglaublichste Kerl, den ich jemals zu Gesicht bekommen habe. Hohe Wangenknochen, schmale Augen, kurze schwarze Haare- der Klassiker halt. Das war ja mal wieder typisch für mich, ich rannte in einen der wenigen Göttern dieser Welt und verstand kein Wort von dem, was er sagte. Dann blickte ich auf seine Hand, in der ein langes Messer steckte. Und es war blutverschmiert. Promt ließ ich mich auf alle Viere fallen und sah an ihm vorbei. Dort lag mein Hirsch mit aufgeschlitztem Bauch und starrte mich an. Er hatte grüne Augen. In diesem Augenblick brannte wohl eine Sicherung durch und ich fing an zu keifen. Welcher Hirsch hatte bitte grüne Augen?! Er war bestimmt etwas Besonderes gewesen und diese ekelhaften Männer hatte ihn getötet und schon entweidet! ENTWEIDET!
Langsam stand ich auf. Mein Blick hatte sich an das leblose Tier geheftet und brannte jedes kleinste Detail in meine Erinnerung ein.
„Du Mörder.“, flüsterte ich dem Killer zu.
Er hatte mich nicht verstanden und kam mir näher und machte ein fragendes Geräusch, wenn du verstehst, was ich meine. Ich wollte ihm hasserfüllt in die Augen blicken, aber er war mir schon so nahe, dass ich meine Nase gegen seine rammte und vor Schreck leicht aufschrie und fast schon wieder umgekippt wäre. Aber ich wurde gehalten. Vom Killer. Die Jagdgemeinschaft lachte mich schallend aus. Alle samt in dem gleichen komischen Aufzug. Er ähnelte sehr meinem, jedoch hatten die Jacken mehr Knöpfe und waren wohl dicker. Ich löste mich ruckartig aus der weichen Umarmung und holte weit aus. Mit einem lauten Klatschen schlug meine flache Hand auf seiner Wange auf.
Na huppala.

Plötzliche Stille dröhnte in meinen Ohren und ich spürte die Blicke der Gesellschaft auf mir ruhen. Mein Gesicht war glühend heiß und ich fletschte meine Zähne, als wäre es mein sehnlichster Wunsch ihm die Beißerchen ins Fleisch zu treiben. Angesichts der Umstände, stimmte das auch.
„Ich sagte, du Mörder!“, zischte ich.
„Schon gut, Ferra.“
Er rollte merkwürdig das R und erinnerte so ein bisschen an die Klingonen aus StarTrek. Er wandte sich ab und rief der Jagdgesellschaft einen Befehl zu. Sofort setzte sie sich in Bewegung und neue Gruppen kamen von irgendwo her bis ich schließlich ganz umgeben war von großen starken Männern in voller Montur, die mich vollkommen ignorierten. Immer wieder ließ mein Bild von einem Mann, den ich schon jetzt auf den Tod nicht ausstehen konnte, harsche Befehle verlauten und um mich herum wurde exerziert oder wie das auch immer heißt. Sie taten also das, was sie sollten: sie latschten über den Platz und nahmen ihre Formen ein, orientiert an Rufen wie: Purri! oder Katscha!
Ich dagegen war absolut verloren, denn sie zogen wie hungrige Haie ihre immer kleiner werdenden Kreise um mich und drohten mir meinen Körper zu untergraben, als wäre er nur ein Kiesel inmitten einer Wüste. Langsam aber sicher wurde ich panisch. Da löste sich ein weiterer Krümel aus einer Wehe und fing begann mich anzuzählen.
„Layla! Was macht Ihr denn hier?“
„Milai! Diese Kerle! Sie haben einen Hirsch getötet! Einen Hirsch!“
Gelangweilt musterte er mich.
„Ja, es ist Anarya. An diesem heiligem Tage erlegt Die königliche Jagdgesellschaft einen Hirsch zu Ehren des Herrschers und natürlich auch unserer Göttin. Und das ist eine geschlossene Gesellschaft, warum es mich auch zu triefst verwundert, Euch hier anzutreffen.“
„Da du ja anscheinend nicht beabsichtigt hast einen Versuch zu unternehmen diesem hilflosen Tier zu helfen, habe ich mich dazu gezwungen gefühlt.“, blökte ich. Gott, ich hörte mich schon an wie er.
Milai stieß einen hoffnungslosen Seufzer aus und massierte sich die Schläfen.
„Jeder normale Rekrut wäre auf seinem Zimmer geblieben, bis er abgeholt würde, aber Ihr seid natürlich losgezogen gerade diesen einen Hirsch retten, den Die königliche Jagdgesellschaft erlegt. Da bin ich ja beruhigt, dass Ihr wenigstens eure Uniform gefunden habt und ich Euch nicht auch noch eure Schuhe hinterher tragen muss.“
Das reichte mir.
„Im Übrigen kann ich mich nicht erinnern, jemals aus meinen Sachen geschlüpft zu sein und dieses Schaf, was ich da gerade trage, gehört auch nicht mir! Ich kann nur für dich hoffen, dass es nicht du warst, der mich umgezogen hat, denn wenn doch, kannst du dich auf eine gehörige Abreibung gefasst machen!“
Er vergrub das Gesicht in den Händen.


Milai

„Meinem Eindruck zufolge, würdet Ihr mich noch nicht einmal treffen, Layla. Was wiederum mein Glück sein dürfte, gedenkt man Eurer stattlichen Figur.“
„Merkwürdig, denn wenn ich aus meinen Erfahrungen sprechen müsste, würde ich das Gegenteil behaupten. Trotz ihres schlanken Körpers kann sie schön heftig zu schlagen, die Kleine, aber es verwundert mich, dass sie dich nicht schlägt, obwohl du dir das geleistet hast, du kleiner Perversling.“, kicherte er.
Layla schnappte nach Luft und wurde feuerrot.
„Hast du nicht ein Regiment zu führen?“
Mein Bruder überging mich, wie meistens.
„Hätte ich mir ja denken können, dass sie deiner Aufsicht untersteht. Du warst schon immer ein miserabler Lehrer, was Moral und Anstand angeht. Von deinen Manieren sei gar nicht die Rede.“
Er wiegte den Kopf gespielt enttäuscht von der einen zu anderen Seite.
Layla, wild wie eine Furie, ballte die Hände zu Fäusten und riss den Mund auf, um vermutlich eine Tirade von Beschimpfungen nieder hageln zu lassen, aber es kam kein Ton raus. Kein Wort, kein Piepsen, nichts. Zane brach in schallendes Gelächter aus und stützte sich mit einer Hand auf meiner Schulter ab, damit er nicht umfiel.
Ich nahm Layla am Arm und führte sie weg.
„Kommt mit, ich werde Euch zeigen, wo Ihr hinmüsst.

 

Die Einschreibung war elementär für den Beginn ihrer Ausbildung. Ich, als ihr Mentor, hatte dafür Sorge zu tragen, dass das Menschenmädchen ihre neue Welt kennenlernte. Ich war dafür verantwortlich, dass sie sich einfügte und zu einem funktionierendem Glied der Gemeinschaft wurde. Elune hatte uns als Familie geschaffen, als Einheit, dessen Atome ineinander griffen und fest zusammenhielten. Fremdkörper wurden ausgestoßen, Wildwuchs nicht akzeptiert. Das hatte dieser kleine Wildfang schnell zu begreifen oder sie musste die Klinge der Ordnung spüren.

Schmollend ließ sich Layla zurück in das Gebäude geleiten. Sie war noch so jung, fast ein Kind. Beinahe war es erstaunlich, dass sie einer fremden Umgebung, gekidnappt von einer andersartigen Kreatur, nicht zusammenbrach. Vielleicht war es Dummheit, vielleicht auch nur Schock.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.08.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meiner Mutter und dem kleinen Köterchen mit dem wir so viele Hunderunden machten.

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