Dies ist ein Roman. Daten und Zeiten sind weitestgehend korrekt wiedergegeben worden und die Orte existieren tatsächlich. Die Handlung und die handelnden Personen sind dagegen frei erfunden und jede etwaige Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wäre rein zufällig.
Es war noch kühl an diesem frühen Samstagmorgen im April 2001 und silbern lag noch glänzend-nasser Tau auf dem Gras, doch die Sonne, die gerade erst zögernd aufgegangen war, versprach von einem beinahe wolkenlosen Himmel einen schönen Frühlingstag; nur wenige weiße Wolken waren zu sehen und ein leichter Wind wehte durch die Zweige der Bäume, die bereits jetzt, viel zu früh für diese Jahreszeit, ein erstes zartes Grün erkennen ließen. Ein frühes Eichhörnchen kreuzte flink und keck Johanns Weg, lief schnell einen Baumstamm hinauf, verschwand in den noch frühlingshaft schwachen Zweigen und dem allerersten Grün des Baumes und ward nicht mehr gesehen, und auf einer freien Rasenfläche saß, ihn aufmerksam beobachtend, fluchtbereit, doch eifrig mümmelnd, ein scheues kleines Kaninchen. Vereinzeltes Vogelgezwitscher ließ den nahenden Frühling ahnen. Sonst war es still auf dem Friedhof.
Johann Bauer bog von dem breiten Hauptweg ab in einen kleinen Nebenweg, ging auf eine gut gepflegte Grabstelle zu, blieb stehen und verhielt dort einen kurzen Augenblick lang bewegungslos in beinahe andächtiger Stille. Seine blauen Augen prüften schnell und trotzdem gründlich das Grab, an dem er hoch aufgerichtet und doch mit leicht gesenktem Kopf völlig unbeweglich stand.
Sein volles dunkelblondes Haar war nackenlang und reichte bis über den Kragen seines hellblauen Hemdes, es gab trotz seiner Länge seinem ruhigen Gesicht einen soliden Rahmen, seine sehr gerade Nase, die vielleicht eine Kleinigkeit zu groß war, und volle Lippen ließen sein Gesicht für andere markant erscheinen und zusammen mit seiner eindrucksvollen Größe von fast einem Meter neunzig wirkte er außerordentlich ruhig und distinguiert. Er war schlank, beinahe hager, zurückhaltend im Wesen, was seine Freunde durchaus zu schätzen wussten und er sprach stets angenehm leise und bedächtig. Insgesamt war er mit seinen dreiunddreißig Jahren ein Mann, der mitten im Leben angekommen war.
Nun beugte er sich zum Grab hinunter, legte den mitgebrachten Blumenstrauß ab, nahm verblühte Schnittblumen aus der Vase und brachte sie zum Abfall, dann holte er frisches Wasser mit der Vase und stellte die frischen Blumen hinein, ordnete sie und stellte die Vase wieder auf das Grab. Dann zupfte er sorgfältig noch ein paar kleine Gräser und Unkräuter heraus, die sich nie ganz verhindern ließen, und richtete sich wieder auf, und jetzt entrang sich ein kurzer, aber schwerer Seufzer seiner Brust:
„Ach, Sara, Liebste! Warum musstest du uns so verdammt früh verlassen? Ich bin fast böse auf dich! Du fehlst mir an allen Ecken und Enden! Du fehlst mir unglaublich!“
Er erschrak ein wenig über sich selbst, als er in der morgendlichen Stille des Friedhofs seine eigene Stimme hörte, scheu und befangen, beinahe ängstlich, sah er sich um, weil es ihm wahrhaft peinlich gewesen wäre, wenn ihn jemand gehört hätte; er stellte aber beruhigt fest, dass niemand in seiner Nähe war, dass er an diesem Gräberfeld alleine war und dass ihn niemand hören konnte, deshalb sprach er jetzt weiter, er konnte es nicht unterdrücken, leise und zärtlich, als ob die Verstorbene ihn hören könnte:
„Du weißt, dass du für mich die beste Ehefrau warst, die es gibt! Du weißt, dass du die einzige Frau für mich warst! Du weißt, wie sehr ich dich geliebt habe! Sara, ohne dich ist das Leben so unglaublich schwer, beinahe sinnlos. Du fehlst mir wahnsinnig! Jetzt bin ich ganz allein mit meinen Sorgen und mit meinen Problemen und davon gibt es wirklich mehr als genug. Manchmal glaube ich sogar, viel mehr, als ein Mann alleine tragen kann. Ich könnte dann geradezu verzweifeln und manchmal weiß ich einfach nicht mehr ein noch aus! Das Schlimmste ist, dass ich mit niemandem reden kann, so wie ich immer mit dir reden konnte. Ich bin so unglaublich allein...“, schluchzte er plötzlich auf, er konnte es einfach nicht unterdrücken.
„Was soll nur werden aus uns? Wie soll es bloß weitergehen? Wie soll ich denn Thea Vater und Mutter zugleich sein? Das geht doch gar nicht! Wie lange kann deine Mutter sich noch um unser Kind kümmern, oder meine, wenn ich arbeiten muss? Und wenn sich Thea mit den beiden auch noch so gut versteht, die Omas können ihr doch niemals die Mutter ersetzen – selbst wenn sie sich noch so sehr bemühen! Und ich kann ihr doch auch nicht Vater und Mutter zugleich sein! Klar, ich gebe mein Bestes! Das weißt du! Für Thea tue ich alles, was ich kann. Aber es ist so verflucht schwer ohne dich. Manchmal weiß ich wirklich nicht mehr weiter...; warum musstest du denn auch so verdammt früh gehen?!“, fügte er seinem Gejammer und den verzweifelten Wehklagen plötzlich laut und fast grimmig hinzu.
Tatsächlich lief ihm jetzt eine vereinzelte dicke Träne übers Gesicht und in seinem Hals saß ein unglaublich dicker Kloß, der ihn fast zu ersticken drohte. Es war offensichtlich, dass er noch lange nicht über den schrecklichen Tod seiner großen Liebe hinweggekommen war. Schnell und beinahe verstohlen, obwohl ihn hier niemand sehen konnte, wischte er die Träne weg, dann holte er noch immer schluchzend tief Luft, riss sich nun aber zusammen, denn er wusste ja, dass er stark sein muss, es gab keine Alternative dafür, dass er stark sein muss, stark für Thea, für seine einzige Tochter, die jetzt alles war, was ihm von seiner viel zu früh verstorbenen Frau geblieben ist. Selbstmitleid war nun wirklich das Letzte, das er brauchen konnte, das Allerletzte, das wusste er ja ganz genau. Deshalb riss er sich jetzt wieder zusammen, so schwer es ihm auch fiel.
Er dachte an Thea, die ihn mit ihren drei Jahren so sehr an Sara erinnerte und die ihn immer an Sara erinnern wird, dessen war er sich sicher.
„Ich will ja gar nicht klagen,“ sprach er, jetzt aber nur noch lautlos und in Gedanken, weiter, „aber es ist wirklich so verflucht schwer, immer stark sein zu müssen, damit Thea meine Traurigkeit und meine wahnsinnige Verzweiflung nicht sieht.“
Er spürte, dass es ihm guttat, sich seiner tiefen Traurigkeit einmal einfach hingeben zu können, seine Emotionen in dieser Friedhofsidylle nachgeben zu können, es war beinahe so, als ob er diese Traurigkeit und seine Sorgen am Grab seiner Frau abladen könnte, als ob seine tote Frau sie ihm abnehmen könnte.
Jetzt aber gelang es Johann endlich, sich wieder zusammenzunehmen; mit einem Ruck richtete er sich gerade auf, straffte sich energisch und ging trotzdem langsam, weil er so gedankenvoll und geistesabwesend war, zu einer Friedhofsbank in der Nähe, von der aus er das Grab seiner Frau im Blick hatte, ließ sich schwer auf ihr nieder und ließ endlich zu, dass seine Gedanken zurückgingen, zurück in die schönste Zeit seines Lebens.
Tief in Gedanken versunken saß er da, lange Zeit, jetzt aber vollkommen ruhig. Er sah keine Kaninchen mehr und keine Eichhörnchen, er hörte nicht mehr den Gesang der Vögel und er spürte nicht den schwachen Wind in seinen Haaren, er versank in eine unwirkliche Traumwelt.
Vor acht Jahren, im Sommer 1993, als Johann Bauer fünfundzwanzig Jahre alt war, sah er seine spätere Frau zum ersten Mal; es war in der Stadtbücherei im Glashaus der Stadt Herten, wo er sich ein Fachbuch für einen Fortbildungskurs bei der Volkshochschule holen wollte: In dieser Bücherei sah er ein kleines, schlankes, beinahe schmales und zierliches Mädchen, das kaum der Kindheit entwachsen war und das so zart wirkte, als sei es gerade einem Märchenbuch entstiegen; sie hatte tatsächlich die zerbrechliche Schönheit einer Elfe. Dieses Mädchen war höchstens einen Meter sechzig groß und was ihm sofort auffiel, waren ihre kleinen und sehr schmalen Hände, die er sah, als sie eine Reihe Bücher nach einem bestimmten Buch absuchte.
Dieses feenhafte Geschöpf hatte schulterlange und sehr helle blonde Haare, fast weiße, und es hatte unglaublich blaue Augen, eisblaue, und eine zierliche Nase, ihr herzförmiger Mund hatte, obwohl er nur klein war, ausgeprägte Lippen, die, wenngleich sie ungeschminkt waren, einen auffallenden Kontrast zu ihrer sehr hellen Haut bildeten. Schneewittchen, dachte Johann begeistert. Mit ihrer frischen Jugend wirkte sie tatsächlich sogar noch ein bisschen kindlich, zerbrechlich, und eine zarte Feinheit umgab sie, eine wirkliche Grazie, und als sich auf einmal zufällig ihre Augen trafen, durchzuckte ihn ein jähes Gefühl, ein plötzlicher Drang, dieses zauberhafte Wesen, das auf ihn beinahe fragil und schutzlos wirkte, zu beschützen. Was ist da mit ihm passiert? Was war es? Er wusste es nicht.
So etwas hatte er noch nie verspürt. Er war völlig perplex, baff, verwirrt, ganz plötzlich. Total überrascht. Man mag es als Liebe auf den ersten Blick bezeichnen, doch das war es nicht, man mag sagen, er wusste sofort, das ist sie, das ist die Frau fürs Leben, doch so war es nicht. Aber der Anblick dieses so wunderschönen Geschöpfes verwirrte Johann völlig und brachte ihn total aus der Fassung. Er wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah und was da mit ihm passierte. Aber er wusste im selben Augenblick, als er diese kleine Fee sah, dass das ein ganz außergewöhnlicher Moment war, dass da gerade mit ihm etwas ganz Besonderes geschieht, es war etwas, auf das er keinen Einfluss hatte, etwas, dass er nicht steuern und das er auch nicht verhindern konnte. Er bekam Herzklabastern und feuchte Hände, bescheuert, auch das wusste er, total verrückt, was war das nur? Was sollte das? Was geschah da mit ihm? Er war sich auch nicht bewusst, was er tun sollte oder wie er sich verhalten sollte und er war sich noch nicht einmal seiner Unschlüssigkeit bewusst. So tat er gar nichts, er war wie gelähmt. Total handlungsunfähig. Es war, als sei ein Wunder geschehen und er könne es nicht halten.
Als dieses fremde Zauberwesen, diese kleine Fee, das Buch gefunden hatte, das sie suchte, und zur Kasse ging, um die Leihgebühr zu bezahlen, hörte er sie zu der Angestellten der Bibliothek sagen:
„Also, tschüss dann! Macht’s gut! Vielleicht bis nächsten Freitag!“
Offensichtlich war sie öfter in dieser Bücherei und ganz offensichtlich war sie mit den Angestellten bestens vertraut, denn Johann hatte sie mit ihnen kurz fröhlich und etwas albern reden und lachen gehört.
Im Hinausgehen drehte sie sich in der Tür plötzlich noch einmal kurz um – und wieder trafen sich ihre Blicke. War es Zufall? Johann kam sich ertappt vor, weil er ihr mit den Augen gefolgt war, und eine plötzliche Röte schoss ihm ins Gesicht. Verlegen wandte er seinen Blick ab. Verwirrt. Scheu. Verschämt war er. Vollkommen durcheinander. Panne. Er wusste nicht, was da mit ihm geschehen ist.
Dann ging sie hinaus und augenblicklich überfiel ihn ein schreckliches Gefühl des Verlustes; ganz plötzlich ärgerte er sich fürchterlich über sich selbst! Warum habe ich sie nicht angesprochen? dachte er. So ein wunderschönes Mädchen! Jetzt ist es zu spät! Jetzt ist sie weg! Bin ich denn dämlich? So etwas Hübsches habe ich doch noch nie gesehen! So etwas Feines, Zartes! So einmalig! So ein hübsches Mädchen! Und sie hat mich doch auch angesehen! Sogar zweimal! Sogar, als sie hinausging, hat sie sich noch einmal nach mir umgedreht! Nach mir? Hat sie sich wirklich nach mir umgedreht? Gibt es das? Wirklich? Johann war nun vollkommen durcheinander, seine Verwirrung hatte ein nicht mehr tolerierbares Ausmaß erreicht und gleichzeitig war er enttäuscht, komplett durch den Wind und er verstand sich selbst nicht mehr! Wie konnte denn so etwas geschehen? Er war doch nicht plemplem, er war doch kein pubertierender Halbstarker mehr, sondern ein erwachsener Mann! Er sieht ein so wunderschönes Mädchen, bemerkt sogar, dass es ihn auch angesehen hat, dass er ihr also auch aufgefallen ist, und lässt es einfach gehen! Verrückt! Wahnsinn! Bekloppt! Warum hab‘ ich sie denn nicht angesprochen, verdammt noch einmal! fluchte er gedanklich vor sich hin. Zu spät! Sie ist weg! Verfluchte Scheiße noch einmal!
Nach langen Minuten, nachdem er sich wenigstens wieder ein bisschen gefangen und von seiner Verwirrtheit erholt hat, verließ er das Glashaus und trat auf die Hermannstraße in der Fußgängerzone hinaus, doch er hatte viel zu lange gezögert, weil er so extrem verwirrt und durcheinander war, von dieser märchenhaften Erscheinung war nichts mehr zu sehen, was ja auch zu erwarten gewesen ist, weil er so lange gezögert hatte, das wusste er schon, und das starke Gefühl des Verlustes, das sich seiner unmittelbar bemächtigte, tat schon ziemlich weh. Enttäuschung verspürte er jetzt. Tiefe Enttäuschung bedrückte ihn nun. Zu spät! Es war einfach zu spät, dieses zauberhafte Mädchen war nicht mehr zu sehen, es war weg. Tief enttäuscht und noch immer komplett verwirrt ob dieser Begegnung, die genaugenommen ja gar keine wirkliche Begegnung gewesen ist, irrte er schließlich eine Zeitlang planlos und ziellos durch die Hertener Fußgängerzone und gab endlich enttäuscht auf.
Auch in den nächsten Tagen kriegte er dieses Mädchen nicht mehr aus dem Kopf. Wenn er morgens in seinem Bett aufwachte, dachte er an sie, tagsüber bei der Arbeit dachte er an sie und seine Arbeit litt bereits darunter, abends, wenn er schlafen ging, dachte er an sie und nachts träumte er von ihr, und das Gefühl des Verlustes wurde täglich größer, es wurde beinahe unerträglich, obwohl er dieses Mädchen überhaupt nicht kannte, obwohl er noch nicht ein einziges Wort mit ihr gewechselt hatte. Aber er hatte sie reden gehört, er hatte ihre zauberhafte und jugendlich glockenhelle Stimme gehört und er hatte sie gesehen. Das hatte genügte, ihn völlig zu verzaubern, ihn völlig in ihren Bann zu ziehen. Er dachte ununterbrochen an sie, Tag und Nacht, und in seiner Phantasie, in seinen Träumen wurde sie immer schöner.
In den nächsten Tagen ging er mehrmals in die Bücherei und er war jedes Mal wie benebelt oder berauscht, noch immer verwirrt ob dieses Gefühls, dabei war es vergebens. Er sah sie nicht wieder und deshalb wurde er furchtbar wütend und zornig auf sich selbst, weil er sich so dämlich verhalten hat, als er sie im Glashaus gesehen hatte. Am späten Donnerstagnachmittag, als er wieder einmal vergeblich ins Glashaus gegangen ist, fiel ihm ganz plötzlich siedend heiß ein, dass sie an der Kasse der Bücherei zu der Kassiererin gesagt hatte, an dem Tag, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hat:
„Also, tschüss dann! Vielleicht bis nächsten Freitag!“
Das war es doch! Das war doch die Lösung! Warum ist mir das denn nicht eher eingefallen, dachte er böse auf sich selbst. Das war doch die Lösung seines Problems! So konnte er sie wiederfinden, er brauchte doch nur noch bis morgen zu warten und morgen um dieselbe Zeit wie letzten Freitag wieder hierherkommen! Warum ist er denn nicht eher darauf gekommen? Jetzt war er sich ganz sicher, dass er sie morgen wiedersehen wird. Es konnte keinen vernünftigen Zweifel daran geben. Und morgen würde er auch vernünftig reagieren und nicht wie ein halberwachsener Mann, morgen würde er sich wie ein erwachsener Mann benehmen, morgen würde er sie ansprechen.
Gut, dachte er dann, dass morgen Freitag ist. Denn freitags, wenn es ins Wochenende ging, verließ er regelmäßig nachmittags schon ziemlich früh sein Büro in der Spedition in Herne, der Transport und Lager Winterberg GmbH, in dem er arbeitete, und machte Feierabend und Schluss für diese Woche.
Als es dann endlich Freitag geworden war, beendete er seine Arbeit schon sehr früh, schon kurz nach der Mittagspause, weil er es kaum erwarten konnte und ging schnell ins Glashaus – und sofort sah er sie! Er konnte es kaum fassen, kaum glauben! Sie war da! Sie musste ja auch da sein, es ging ja gar nicht anders, denn darauf hatte er sich ja fest versteift! Sein Wunsch war so stark gewesen, sie muss es einfach gespürt haben! Sie saß in der Bücherei an einem Tisch direkt gegenüber dem Eingang und sie hatte ein Buch vor sich liegen. Im selben Moment, als er den Raum betrat, sah sie auf und es schien ihm plötzlich, als huschte ein heimliches kleines Lächeln über ihr schmales und blasses Gesicht, als strahlte es plötzlich auf, es war ihm, als sei sie erleichtert darüber, dass sie ihn gesehen hat, es schien ihm sogar, als hätte sie auf ihn gewartet.
Eingebildeter Pinkel, er, dachte er im selben Moment.
Sofort überfiel Johann wieder heftiges Herzklopfen, schon wieder bekam er Herzrasen und feuchte Hände und plötzlich überfielen ihn völlig unerwartet und aus heiterem Himmel schwerste Hemmungen; das war ihm noch nie passiert! Obwohl, vor einer Woche hatte er sich ja ähnlich dämlich verhalten…
Er stoppte abrupt, als wäre er vor eine unsichtbare Wand gelaufen, stolperte beinahe über seine eigenen Füße, er bekam einen knallroten Kopf, sein Puls explodierte, Schnappatmung setzte urplötzlich ein, sein Herz raste, komplett verlegen und verwirrt wendete er sich ab, sah zur Seite und ging stracks, fast fluchtartig stolpernd nach links zu einem Bücherregal! Zu irgendeinem Bücherregal, egal, wohin, holpern und stolpern und dann wühlte er planlos darin herum! Dieser Idiot, bescheuert! Total verrückt! Und das war ihm im selben Moment auch durchaus bewusst.
Was bildete er sich eigentlich ein!? Dass ein so schönes Mädchen sich für ihn interessieren könnte? Ein Mädchen, das nicht nur so traumhaft schön aussah, sondern das auch noch so jung war, das sollte sich für ihn interessieren? Johann hatte sich selbst noch nie als besonders attraktiv, als besonders gutaussehend, gesehen. Nein, so eingebildet war er nicht. Außerdem war er wahrscheinlich auch viel zu alt für ein so junges Mädchen. Aber er hatte sie doch eine Woche lang so fürchterlich verzweifelt gesucht – und war jetzt trotzdem schon wieder wie gelähmt und unfähig, etwas Vernünftiges zu unternehmen. Unglaublich unsicher. Ängstlich. Bange. Scheu. Bescheuert! Was war nur mit ihm los?
Total verlegen sah er eine Reihe Bücher durch, ohne überhaupt zu sehen, was er sah, ohne zu wissen, was er tat, ohne zu hören, was er hörte. Mehr als eine Stunde lang strich oder schlich er dann durch die Bücherei, mit bangem Herzen, schaute hierhin, schaute dorthin, traute sich nicht, sie anzusprechen und sah trotzdem immer wieder zu ihr hinüber, er versuchte es heimlich zu tun, hatte unglaublich starke Hemmungen und Zweifel und Bedenken. Was war nur mit ihm los? Was? Was war es? Warum konnte er seine Nerven nicht unter Kontrolle kriegen und warum konnte er sich nicht beruhigen und diese Zaubermaus einfach ansprechen?
Sein Herz schlug heftig in seiner Brust, es raste und polterte bis zum Hals! Kräftig spürte er die Halsschlagadern an seinem Hals pochen. Er war total von der Rolle, er stand komplett neben der Spur und war vollkommen außer sich. Er hatte sich selbst überhaupt nicht mehr unter Kontrolle!
Sie dagegen hatte ihren Blick in ein Buch vertieft, aber sah doch manchmal auf, dann trafen sich ihre Blicke, aber nur hin und wieder. Interessierte sie sich doch für ihn? Johann kriegte seine Verwirrung einfach nicht in den Griff. Er wusste tatsächlich nicht, was mit ihm geschah, er wusste einfach nicht, was er tun sollte. Lange fehlte ihm, dem Feigling, wie er sich inzwischen selbst eingestand, der Mut, sie anzusprechen, er verstand sich selbst nicht mehr, und als er sich endlich energisch zusammennahm und sich ein Herz fasste, als er es endlich wagte, wagen wollte, als er trotz seines Herzgepolters plötzlich aufsprang und zu ihr stolpern wollte – da war sie nicht mehr da! Da war sie weg, da war sie tatsächlich schon wieder weg! Er hatte die Gelegenheit schon wieder verpasst! Vor lauter Enttäuschung und unglaublich riesiger Wut auf sich selbst hätte er sich glatt selbst in den Hintern beißen können, wenn er dazu gelenkig genug gewesen wäre! Wie kann man nur so doof sein, schimpfte er sich in Gedanken selbst aus und er verzweifelte fast daran, dass er überhaupt wieder so ängstlich gewesen ist, ja, so feige gar!
Dämlack, dämlicher Feigling! Nannte er sich gedanklich selbst, schon wieder! Mein Gott nochmal! Das war doch nicht das erste Mädchen, das er sah! Es war doch nicht das erste Mädchen, das ihn interessierte! Und doch war plötzlich alles anders. Er verstand sich selbst nicht mehr, war vollkommen durcheinander, wusste überhaupt nicht, was eigentlich mit ihm los war. Wieso konnte ein Mädchen ihn nur so aus der Fassung bringen? Er hatte nicht gesehen, dass sie aufgestanden ist, er hatte nicht gesehen, dass sie weggegangen ist. Aber er wusste jetzt: sie ist weg! Sie ist schon wieder weg! Jetzt war es zu spät, wieder einmal zu spät!
Trotzdem lief er nun schnell hinaus auf die Hermannstraße, die jetzt, am späten Freitagnachmittag, sehr belebt war. Viele Menschen liefen durch die Fußgängerzone, manche saßen vor einer Eisdiele, andere vor einem Straßencafé; dieses so traumhaft schöne Mädchen sah er nicht mehr! Sie war wie vom Erdboden verschluckt! Zu spät! Es war einfach zu spät! Sie war weg!
Aufgeregt lief er die ganze Hermannstraße auf und ab, immer wieder, hastig, dann lief er durch die Jakobstraße zur Antoniusstraße, strolchte verzweifelt lange und aufgeregt durch die Fußgängerzone, vergebens! Er fand sie nicht mehr. Völlig sauer, todunglücklich, enttäuscht und wütend auf sich selbst gab er die Suche nach ihr schließlich auf und fuhr total bedröppelt und tief verzweifelt zurück nach Herten-Disteln und ging zurück in seine kleine Junggesellen-Wohnung.
In der nächsten Woche mied er das Glashaus, das Schauplatz seines so idiotischen Verhaltens geworden ist, allerdings nur bis zum Freitag. Am Freitag war er wieder da und lümmelte den ganzen Nachmittag darin blödsinnig herum. Er war wieder schon sehr früh gekommen, um diese kleine Zauberfee bloß nicht zu verpassen. Die ganze Woche lang hatte er gehofft und vor Vorfreude gebibbert, er, der Träumer! Phantast! Ängstlicher Feigling! Warum hatte er sich auch so dämlich und so doof verhalten! So jämmerlich und so bange! So feige! Normalerweise war er doch gar nicht schüchtern – oder war er es doch? fragte er sich plötzlich erstaunt. War er doch schüchtern? Unsicher? Gehemmt?
Wenn er sie noch einmal sehen sollte, das wusste er jetzt mit absoluter Sicherheit, dann würde er sie ansprechen, egal, ob er schweißnasse Hände haben würde und Herzklopfen oder sonst was...
Und wenn er stotternd vor ihr stehen würde oder vor ihr stolpern und auf die Knie fallen würde, Johann wusste jetzt: Das wäre auch egal! Dann merkt sie eben, dass sie es ist, die mich dermaßen kirre macht! Dass sie es ist, die mich so aus der Bahn wirft!
Er wartete, er wartete und wartete, sah immer wieder zur Eingangstür. Umsonst und vergebens! Sie kam nicht! Seine so frohe Hoffnung verwandelte sich ganz langsam in tiefste Enttäuschung und sogar in Wut auf diese Schönheit, weil sie nicht kam. Dabei wusste er natürlich, dass er selbst schuld daran war, wenn er sie nie wiedersehen sollte! Warum war er denn auch zu feige gewesen sie anzusprechen? Was wäre denn passiert, wenn er sie angesprochen hätte? Im besten Fall wäre es der Beginn einer wunderbaren Freundschaft geworden oder auch mehr, im schlimmsten hätte er sich einen Korb eingefangen. Der Versuch wäre es wert gewesen! Dämlicher Idiot, er, dass er die Gelegenheiten verpasst hat! Saudämlicher Feigling!
Es half alles nichts, es war zu spät. Er konnte sie schließlich nicht herbeizaubern. Aber aufgeben wollte er auch nicht, noch immer nicht, denn inzwischen war er zu der Einsicht gelangt, dass er dieses zauberhafte Wesen lieben musste! Das war es! Das musste es sein! Das ist ihm mittlerweile ganz langsam bewusst geworden in den letzten Tagen, wenn er dauernd an sie denken musste. Das war die einzig logische Erklärung für sein dämliches Verhalten. Jetzt war er tatsächlich davon überzeugt, dass er sie liebte, obwohl er noch immer kein einziges Wort mit ihr gesprochen hatte. Es konnte gar nicht anders sein! Warum denn sonst war er so gehemmt gewesen? So bescheuert? Es musste Liebe sein! Natürlich! Ganz klar! Richtige Liebe! Echte Liebe! Er zweifelte nicht daran und er steigerte sich gewaltig hinein in diese Vorstellung (in diese Einbildung?), das ist Liebe! Wirkliche Liebe! Die eine große Liebe, die einzige, auf die man nur einmal im Leben trifft, ein einziges Mal, wenn überhaupt! Nicht jeder hat das große Glück, die eine große Liebe zu finden, die einzige Liebe, die ein ganzes Leben prägt.
Er steigerte sich jetzt dermaßen übertrieben in eine phantastische Gefühlswelt, dass er nicht mehr klar und logisch denken konnte. Wenn er dieses Mädchen nicht wiederfindet, muss sein künftiges Leben düster und traurig verlaufen, glaubte er. Vergessen könnte er sie niemals, denn so etwas Schönes hat er noch nie gesehen! Wie von Sinnen war er. Verrückt! Nicht mehr Herr seiner Sinne! Als hätte dieses Mädchen ihn verhext! In seinen Phantasien hob er dieses Mädchen in ungeahnte Höhen und stellte es auf ein Podest, auf dem es für ihn unerreichbar bleiben muss und so wurde es für ihn langsam zu einem beinahe bedrückend unwirklichen oder überirdischen Fabelwesen. Er war von ihr besessen, er war bis über beide Ohren verliebt in sie, er war wie verhext, nicht mehr zurechnungsfähig, – und plötzlich empfand er das sogar als vollkommen selbstverständlich.
Die nächsten zwei Wochen vergingen äußerst zäh und schleppend. Johann wurde immer unruhiger, zappeliger. Immer wieder ging er in die Bücherei ins Glashaus, aber stets nur kurz. Er warf immer nur einen schnellen Blick hinein. Da er sie nie antraf, ging er jedes Mal sofort wieder hinaus. Die Mitarbeiterinnen der Bücherei wunderten sich schon über den seltsamen jungen Mann und belächelten ihn heimlich, machten sich über ihn lustig. Das entging ihm natürlich nicht und es war ihm überaus peinlich. Doch es half alles nichts. Wenn er sie wiedersehen wollte, durfte er das Glashaus nicht meiden, denn das Glashaus war ja der einzige Ort, an dem er dieses Mädchen gesehen hatte, es war die einzige vage Möglichkeit, sie wiederzufinden, es war seine einzige Hoffnung, eine schwache Hoffnung.
Dann änderte er seine Taktik, denn aufgegeben hatte er sie noch lange nicht und hartnäckig sein konnte er durchaus. Am übernächsten Freitag ging er wieder ins Glashaus, schon kurz nach Mittag, setzte sich mit einem Buch, in das er kaum einen Blick warf, an den kleinen Tisch, an dem sein Traum-Mädchen gesessen hat, als er sie zum ersten Mal sah und von dem er die Eingangstür direkt im Blick hatte; und als sie dann, wie von ihm erhofft, tatsächlich die Bücherei betrat, sah er sie sofort – und sie sah ihn.
Er hatte sein Buch aufgeschlagen vor sich auf dem Tisch liegen, ignorierte es aber vollkommen, er wusste gar nicht, um was es da eigentlich ging, und sah stur zur Tür... bis sie eintrat. Oh, wie herrlich sah sie aus an diesem so schönen Freitagnachmittag in ihrer so schönen kurzärmeligen himmelblauen Bluse und der so schönen engen weißen Jeans, sie verwirrte ihn wieder so vollständig, dass er schon wieder nicht mehr klar denken konnte, ihr Anblick brachte ihn wieder so vollständig aus der Fassung, dass er Mühe hatte, weiter atmen zu können, und ihr Anblick machte ihn unfähig, auch nur einen klaren Gedanken fassen zu können. Er stand lichterloh in Flammen.
Sie trat ein – und Johann sprang auf, eilig, fieberhaft, hastig, wie irre, wie von der Tarantel gestochen, ohne zu überlegen, ohne nachzudenken, ohne auch nur einen einzigen klaren Gedanken fassen zu können stürzte er auf sie zu und rief laut und erleichtert, ohne auf die anderen Gäste in der Bibliothek zu achten, sie waren ihm in diesem Augenblick überhaupt nicht bewusst:
„Gott sei Dank! Da bist du ja endlich!“
Und ihm war überhaupt nicht bewusst, dass er sie duzte. Ihm war auch nicht bewusst, dass die Mitarbeiterinnen der Bücherei ihn heimlich lächelnd beobachteten, dass sie sich wieder über ihn lustig machten, so ein verrückter junger Bengel. Doch plötzlich erkannte er, was er tat, indem er auf sie zustürzte. Abrupt bremste er ab, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen, und sagte, jetzt leise und schüchtern und verlegen, verwirrt und beschämt, zu diesem so wunderbaren Mädchen:
„Ich hatte fürchterliche Angst, ich würde dich nie wiedersehen, ich würde dich wieder verlieren!“
Ihm war auch gar nicht bewusst, wie er in diesem Augenblick auf dieses Mädchen wirken musste und auch auf andere Leute in der Bücherei. Das, was er tat, tat er nicht wirklich willentlich, es geschah einfach mit ihm, es geschah einfach so! Er hatte es nicht geplant und er wusste auch nicht, wieso er mit einem Mal den Mut hatte, sie anzusprechen – und dann sogar so direkt und so persönlich! Dreist beinahe.
Aber dann staunte er nicht schlecht, als dieses Mädchen ganz lässig und cool zu ihm sagte:
„Heute hätte ich dich angesprochen!“
Sie lächelte ganz souverän, als hätte sie die Gelassenheit und die Lebenserfahrung doppelt so vieler Jahre, wie sie alt war.
„Du hast mich so oft angesehen, natürlich habe ich das bemerkt, ich bin ja nicht blind, du hast mich so oft angesehen, dass mir so ist, als würden wir uns schon lange kennen!“
Johann stellte überrascht fest, dass dieses junge Mädchen erstaunlich erwachsen war, trotz seiner jungen Jahre. Nachdem er diesem Mädchen seinen Namen genannt hatte, sagte sie, die bislang in ihrem jungen Leben kaum Interesse für Jungs oder junge Männer gezeigt hatte, dass sie Sara Schwarz heiße und sechzehn Jahre alt sei.
„Oh Gott!“, rief Johann plötzlich erschrocken aus, „im Vergleich zu dir bin ich schon ein alter Mann, ich bin schon fünfundzwanzig Jahre alt, neun Jahre älter als du!“
„Mit fünfundzwanzig bis du doch noch kein alter Mann, du Quatschkopf!“, protestierte sie fröhlich und lachte dabei glockenhell und laut, ohne auf andere Gäste in der Bücherei Rücksicht zu nehmen, „weißt du was? Ich werde dich nicht Johann oder Johannes nennen. Ich sage John! Ist dir das recht? Oder besser noch: Johnny!“
Johann strahlte. Sein altmodischer Name „Johann“ hatte ihn schon immer gestört und dieses so traumhaft schöne Mädchen änderte und modernisierte ihn schnurstracks und ganz locker! Ohne mit der Wimper zu zucken! So einfach war das!
Plötzlich glaubte Johann, dass das ganze Leben so einfach ist, so schön wie ein sonniger warmer Sommertag voller Blumen und Bienengesummse und Vogelgezwitscher im Schlosspark, er war glücklich, er war selig, er war trunken vor Freude und wie betäubt vor Glückseligkeit und er fürchtete ein wenig, dass es zu schön war, um wahr sein zu können und er könne im nächsten Augenblick aufwachen aus einem wunderschönen Traum und er müsse feststellen, dass seine übersteigerte Phantasie ihm einen üblen hässlichen Streich gespielt habe – oder einen zauberhaft schönen Streich – der jedenfalls weit von der Realität entfernt war.
Doch diese wunderschöne elfenhafte Zauberfee half ihm schnell über seine Verwirrung hinweg und nun unterhielten sich die beiden jungen Leute nicht so, als hätten sie sich gerade erst kennengelernt, sondern sie sprachen miteinander ganz natürlich, wie alte Freunde, so als kennten sie sich schon seit ewigen Zeiten und Johanns Verwirrung schmolz wie Schnee in der Frühlingssonne. Sie unterhielten sich lange, leise und gedämpft in dieser Bücherei, um andere nicht zu stören, sie sprachen lange und intensiv miteinander über Gott und die Welt, hauptsächlich aber über sich; Johann erzählte von sich und Sara erzählte ihm von sich.
Johann wusste es nicht, aber er hatte auf Sara von Anfang an einen mehr als seriösen, ehrlichen und anständigen, dabei aber gleichzeitig einen jugendlich sportlichen Eindruck gemacht, und zwar auch schon, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Allerdings hatte sie gleich erkannt, dass Johann ein eher ruhiger Vertreter seines Geschlechts war. In dieser ersten langen Unterhaltung, die dauerte, bis die Bücherei schloss, stellten beide schnell übereinstimmende Interessen und Vorlieben fest, waren sich beide sofort sympathisch. Deshalb ließen sie den Kontakt zueinander nicht mehr abreißen ließen. Es war tatsächlich der Beginn einer wunderbaren Freundschaft – und gleichzeitig war es viel mehr.
Eine Freundschaft? Ja, es begann eine Freundschaft, denn bis sie ein Paar wurden, dauerte es noch recht lange. Sie trafen sich jetzt beinahe täglich, wenn Johann Feierabend hatte und wenn Sara ihre Hausaufgaben für das Gymnasium erledigt hatte. Sie gingen spazieren, sie gingen in ein Café oder in eine Eisdiele, sie fuhren zusammen nach Recklinghausen und gingen ins Kino. Sie wanderten um den Ewaldsee im Hertener Süden, sie gingen durch den Schlosspark von Herten nach Gelsenkirchen-Resse und sie hatten sich so viel zu erzählen und sie wurden sich immer vertrauter. Beste Freunde eben.
Nach einigen Tagen, nachdem Sara ihm gesagt hatte, dass sie zwar immer Freunde gehabt habe, aber noch nie einen Freund, einen wirklichen Freund, wusste Johann:
„Sie ist noch Jungfrau, da muss man ganz vorsichtig sein! Nur nichts kaputt machen!“
Er meinte es im doppelten Sinn.
Sie ist ja auch noch so jung!
Als es dann endlich geschah, als Johann fünfundzwanzig Jahre und Sara erst süße sechzehn Jahre alt war, war es sehr zart und zärtlich, fast ängstlich, voll gegenseitiger Rücksicht, voller Respekt und Achtung voreinander und voller Liebe. Jeder wollte es dem anderen recht machen. Jeder wollte es zu einem ganz besonderen Erlebnis für den anderen machen, zu einem unvergesslichen Erlebnis.
Geben statt nehmen.
Lieben. Und für einen kurzen Augenblick waren beide im Himmel.
Glückseligkeit pur.
Für Johann konnte es keinen Zweifel geben: Für dieses Mädchen gehe ich durch die Hölle, wenn es sein muss, für dieses Mädchen gebe ich – erforderlichenfalls – mein Leben! Er wusste, es war ein Wunder, dass er sie gefunden hat, dass er sie wiedergefunden hat, nachdem er zweimal so erbärmlich gehemmt und feige gewesen ist und nicht den Mut gehabt hatte, sie anzusprechen.
Schon zwei Jahre später heirateten sie, nachdem Sara ihre Abiturprüfungen mit großem Erfolg bestanden hatte. Es war nur eine kleine Hochzeitsfeier gewesen, weil beide kein großes Tamtam gewollt hatten, beide waren übereinstimmend der Meinung gewesen, dass ihre Heirat eigentlich nur sie beide etwas anging. Die standesamtliche Trauung fand im Hertener Schloss statt und die kirchliche eine Woche später in der privaten Kapelle des Grafen von Westerholt. In dieser Kapelle, die zum großen Teil längst eine Ruine war und deren noch nutzbarer Raum viel zu klein für eine große Gästeschar gewesen wäre.
Es begann jetzt eine Zeit vollkommener Glückseligkeit. Sara machte Johanns Liebe zu ihr so wundervoll, weil sie diese Liebe ebenso intensiv erwiderte und weil er wusste, dass sie ihn ebenso grenzenlos liebte und bewunderte, wie er sie. Zwei Menschen, die sich gegenseitig so vollständig liebten und achteten, hatten sich für ein ganzes langes Leben gefunden und für beide gab es keine Zweifel, dass diese Liebe und diese Ehe nicht nur ein Leben lang halten wird, sondern dass diese Liebe und diese Ehe ein lebenslanges Glück bedeuteten.
Sie waren gerade knapp zwei Monate verheiratet, zwei Monate Glückseligkeit pur, als sie die Chance bekamen, das Zwei-Familien-Haus zu kaufen, in das sie anlässlich ihrer Heirat als Mieter ins Obergeschoss eingezogen sind, während die Hauseigentümer die Erdgeschosswohnung bewohnten. Alters- und krankheitsbedingt verkauften diese das Haus in Herten, welches ganz idyllisch in der erst vor wenigen Jahren entstandenen ruhigen Wohnsiedlung in Herten am Südhang des Paschenbergs in unmittelbarer Nähe des Schlossparks lag. Sara und Johann ergriffen diese Chance, ohne lange zu überlegen, als sie in einem Vorgespräch mit ihrer Bank erkannten, dass die Finanzierung darstellbar und die monatliche Belastung für sie tragbar war.
Sara begann am 1. August eine Ausbildung bei der Stadtverwaltung Herten als Verwaltungsangestellte. Hilfreich für die Finanzierung des Hauserwerbs war zunächst die beachtliche Mitgift, die Sara anlässlich ihrer Heirat von ihren Eltern erhalten hatte. Umso überraschter waren Sara und Johann, als Saras Vater sagte:
„Wenn ihr das Haus kauft, könnt ihr von uns zusätzlich noch mit einem mittleren fünfstelligen Betrag rechnen!“
Damit war die Entscheidung für den Hauskauf gefallen.
Nachdem sie als Mieter in ihr Haus eingezogen waren, hatten sie begonnen, es vorsichtig im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten nach und nach einzurichten, lediglich die beiden als Kinderzimmer vorgesehenen Räume blieben bis auf weiteres leer. Nachdem sie dann das Haus gekauft hatten und die bisherigen Eigentümer ihre Wohnung im Erdgeschoss räumten, zogen sie unverzüglich in diese Wohnung um und vermieteten ihre bisherige Wohnung im Obergeschoss.
Kaum lag der Umzug hinter ihnen, als Sara mit überwältigender Freude erkannte und sie Johann stolz und glücklich darüber informierte, dass sie ein Baby erwartete und als dann ihre Tochter Thea geboren wurde, war ihr traumhaftes junges Glück in geradezu phantastischer Weise vervollkommnet worden.
Ein wunderbares Leben voller Liebe und Glück lag vor ihnen.
Als Sara starb, war sie erst dreiundzwanzig Jahre alt und ihre Tochter drei. Sara blieb bis zu ihrem Tod im Herbst 2000 ein so wunderbares „kleines Mädchen“, das sie für Johann von Anfang an gewesen ist, für ihn blieb sie immer ein Wunder, eine Märchenfee von atemberaubendem Liebreiz, dabei war sie stets eine wirkliche Dame gewesen, eine feine junge Dame, eine echte Lady, wenn sie ging, dann schritt sie mit einer Grazie, die unwirklich schien, sie sprach immer angenehm leise, sanft, nie hörte man sie laut werden. Selbst dann, wenn eine Situation es mal erforderte, dass sie energisch werden musste, blieb sie leise und ruhig, dabei war sie jedoch absolut konsequent und durchsetzungsfähig. Sie besaß eine angeborene Autorität, eine Autorität kraft ihrer starken Persönlichkeit, die sie dank der toleranten und liebevollen Erziehung entwickeln konnte, die sie durch ihre Eltern genossen hat.
Sie und Johann ergänzten sich vorzüglich, beide waren voll und ganz aufeinander fixiert. Während ihrer kurzen Ehe gab es nie auch nur den Hauch eines Zerwürfnisses oder einer Krise, sie achteten sich gegenseitig, sie verstanden und sie liebten sich grenzenlos, innig und zärtlich und auch der Sex war bei ihnen stets voll gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Achtung, voll wahrer Liebe, voll ruhiger und geduldiger Leidenschaft und mit sanfter Lust, die dafür sorgte, dass keiner von ihnen beiden zu kurz kam und immer waren es Augenblicke glühenden Gebens und Nehmens, und ihre Tochter Thea wuchs in den ersten zwei Jahren ihrer Kindheit in einer harmonischen Familie heran zu einem glücklichen und zufriedenen Kind.
Doch die Zeit ihres so unbeschwerten Glücks dauerte nicht lange, sie war viel zu kurz. Zuerst beruhigten sie sich gegenseitig wegen des Knotens, den Sara in ihrer Brust entdeckt hatte, denn ihr Hausarzt, Dr. Koch, den sie voller Angst und Sorge aufgesucht hatte, vermutete eine alte Narbe:
„Es ist wahrscheinlich nur eine harmlose Narbenwucherung,“ sagte er beruhigend zu ihr, „vielleicht hatten Sie mal eine kleine Verletzung beim Sport oder Spiel erlitten. Wenn es Sie stört, können Sie sich natürlich operieren lassen und den Knoten entfernen lassen, erforderlich ist es nicht!“
„Ach so!“, rief Sara damals erleichtert aus, denn sie hatte sich schon Sorgen gemacht, große Sorgen; schließlich hatte sie ein kleines Kind, das sie brauchte und für das sie verantwortlich war, sie war Teil einer so glücklichen Familie, die sie brauchte.
„Mir ist doch mal vor ein paar Jahren, als ich noch ein ganz junges Mädchen war, ein gutartiger Knoten aus der Brust entfernt worden...“
„Ja, das wird es sein!“, entgegnete Dr. Koch schnell, „wahrscheinlich ist es diese alte Operationsnarbe, die man jetzt als Knoten spürt. Machen Sie sich nicht verrückt, alles wird gut!“
So beruhigte er Sara und so beruhigten sich Sara und Johann gegenseitig viel zu lange und viel zu lange tolerierten beide den Knoten, und auch Saras Gynäkologe, Dr. Strassmann, den sie vorsichtshalber selbstverständlich zusätzlich zu Dr. Koch zu Rate gezogen hatte, teilte diese Meinung. Deshalb blieben Sara und Johann viel zu lange gelassen. Erst als diese beiden Quacksalber mit ihrem Latein am Ende waren, wurde Sara ins Krankenhaus eingewiesen, rein prophylaktisch natürlich nur, erforderlich war es nach Meinung dieser Ärzte immer noch nicht. Aber Johann und Sara hatten schließlich darauf bestanden. Sie waren unruhig und befürchteten Schlimmes, trotz der wiederholten Sprüche dieser Ärzte, die sie beschwichtigen sollten, denn ein Knoten in der Brust ist immer zumindest verdächtig.
Nur etwas später hörten sie dann die fürchterlich grausame Diagnose „Brustkrebs“, die das junge Elternpaar geradezu umhaute, die ihnen regelrecht den Boden unter den Füßen wegzog. Krebs! Krebs ist doch fast gleichbedeutend mit Tod!? Oh Gott, was jetzt? Sara ist doch noch so jung! Wie geht es weiter? Was können wir tun? Wie finden wir die besten Ärzte? Wir brauchen die besten Ärzte der Welt! Sara muss wieder gesund werden, sie hat doch eine Familie, ein kleines Kind, welches ihre Mutter braucht!
Eine Operation ist unumgänglich, hatten ihr die Ärzte gesagt, die betroffene Brust muss amputiert werden, da führt kein Weg dran vorbei. Der Erhalt ihrer betroffenen Brust könnte sie das Leben kosten! Eine Chemotherapie ist zusätzlich zwingend erforderlich und eventuell, das wird man noch sehen, sind später auch noch Bestrahlungen unvermeidlich.
Okay! Wenn es denn sein muss: Jetzt gilt es zu kämpfen! Die Hauptsache ist es, dass Sara wieder gesund wird, das wussten beide. Wenn sie auch später körperlich nicht mehr so makellos sein wird wie bisher, was soll’s? Es gibt Schlimmeres. Die Hauptsache ist es doch, dass sie wieder gesund wird, dass sie überlebt, was ja bei Krebs nicht selbstverständlich ist! Jetzt gilt es also zu kämpfen! Aufgeben ist keine Option!
Die Gedanken rasten bei Sara und bei Johann. Universitätsklinik? Uniklinik Essen? Bochum? Münster? Wo ist sie am besten aufgehoben? Wo sind die besten Ärzte? Wo hat Sara die größten Chancen zu überleben und wieder gesund zu werden?
Bevor sie sich gegenseitig völlig bekloppt machen konnten, beruhigten sie sich wieder ein wenig. Schließlich gab es inzwischen eine ganze Menge Beispiele dafür, dass Krebs nicht zwangsläufig zum Tode führen muss. Die Krebsforschung hatte in den letzten Jahren riesige Fortschritte gemacht, das wusste Sara und das wusste auch Johann. Inzwischen konnten schon viele Menschen, die an Krebs erkrankten, gerettet werden, inzwischen konnten viele Krebskranke geheilt werden. Warum sollte es bei Sara nicht auch gelingen? Insbesondere bei Brustkrebs hatte die Wissenschaft gewaltige Fortschritte gemacht, das wussten Sara und Johann und sie kannten etliche Beispiele dafür, dass betroffene Frauen den verdammten Krebs überlebt haben und danach ein weitestgehend normales Leben führen konnten.
Also, warum sollte Sara es nicht schaffen, den Krebs zu besiegen? Was andere geschafft haben, würde sie doch auch schaffen! Lebensmut hatte sie, einen überwältigenden Lebensmut, leben wollte sie, leben für Thea, ihre Tochter, leben für Johnny, ihren Mann, leben für sich selbst, leben, für ihre Familie, die sie brauchte. Es galt jetzt, zu kämpfen. Zu hoffen und zu kämpfen und nie die Hoffnung und den Glauben an eine Gesundung zu verlieren!
Sie nahm den Kampf auf. Mit aller Kraft und mit überwältigender Energie. Und sie konnte kämpfen. Ihr Motto war ab sofort: Ich gebe nicht auf! Niemals!
Selbstverständlich unterstützte Johann sie dabei, soweit er dazu in der Lage war. Er machte alles für sie, tat alles, was ihm möglich war. Aber das ist ja gerade das Fürchterliche, das für ihn fast unerträglich war: Dass man nichts tun kann, dem geliebten Menschen zu helfen, dass man einfach hilflos danebensteht, unfähig, wirklich zu helfen. Jede Hilfe muss sich doch im Wesentlichen auf die Hilfe im Haushalt beschränken. Eine wirklich effektive Hilfe ist doch gar nicht möglich. Wie soll man ihr denn Kraft geben? Wie soll man ihr denn Hoffnung geben? Was kann man denn überhaupt tun? Wie kann man ihr helfen?
Immer optimistisch sein, Mut machen, immer zeigen, dass man an sie glaubt, nie einen Zweifel daran aufkommen lassen, dass man an ein Leben nach dem Krebs glaubt! Johann wusste es sehr genau: Das soziale Umfeld, die Geborgenheit in der Familie und nicht zuletzt sein Optimismus können für eine Heilung unverzichtbar sein!
Natürlich gehörte auch weiterhin bangen dazu. Kämpfen und bangen und hoffen, hoffen und bangen und kämpfen. Hoffentlich hatte man den Krebs noch früh genug erkannt, hoffentlich war es noch nicht zu spät, obwohl die beiden Ärzte Dr. Koch und Dr. Strassmann so wertvolle Zeit so verdammt leichtfertig ungenutzt verstreichen lassen hatten. Sara und Johann wussten natürlich, dass es gerade bei der Krankheit Krebs so extrem wichtig ist, den Krebs möglichst früh zu erkennen und zu bekämpfen.
Dass diese beiden Ärzte leichtfertig gehandelt hatten, war klar, daran konnte es keinen vernünftigen Zweifel geben: Beim geringsten Verdacht auf Krebs sind weitere Untersuchungen zwingend erforderlich, denn immer ist schnelles Handeln notwendig, bevor der verdammte Krebs sich ausbreiten kann.
Nun begann eine wahrlich schlimme Zeit, eine schreckliche Zeit für Sara, für Johann, und selbst an der kleinen Thea ging diese grauenhafte Zeit nicht spurlos vorüber; Sara und Johann stellten manchmal erstaunt und erschreckt fest, dass Thea verstört wirkte, obwohl beide ernsthaft bemüht waren, ihre eigenen Sorgen und Nöte vor ihrem kleinen Mädchen zu verbergen. Die elende Zeit begann mit der Operation, bei der Sara die linke Brust entfernt wurde, was unvermeidlich war.
„Die betroffene Brust muss amputiert werden,“ hatte man im Krankenhaus gesagt, „es gibt keine andere Möglichkeit. Das ist ein absolutes Muss!“
Standardmäßig wurden ihr während der Operation zusätzlich viele Lymphknoten entfernt. Dann kam die geradezu grässlich grausige Aussage der Ärzte:
„In mehreren Lymphknoten haben wir Krebszellen gefunden. Das muss aber nicht unbedingt schlimm sein,“ beruhigten sie Sara und Johann oder versuchten, sie zu beruhigen, „wir müssen aber die notwendige Chemotherapie darauf abstimmen und möglicherweise müssen wir Sie auch bestrahlen! Das werden die nächsten Untersuchungen zeigen.“
Das Bangen wuchs, die Angst bei Sara und Johann wurde wieder größer, wuchs ins Riesenhafte. Beklemmung. Unruhe. Sorge. Furcht. Grausame Angst. Schreckliche Sorge. Verzweiflung.
Entsetzen pur.
Es kam tatsächlich immer dicker, das Schicksal hatte extrem grauenhaft und grässlich in diese glückliche Familie eingeschlagen. Sara litt schwer unter der Chemotherapie und später auch unter den Bestrahlungen. Sie verlor alle ihre Haare, ihre Augenbrauen und ihre Augenwimpern, sie wurde nie wieder richtig gesund; sie wurde nie wieder auch nur halbwegs wieder gesund. Trotz der Operation und der Chemo und trotz der Bestrahlungen war sie nie wieder krebsfrei.
Dann fing sie sich im Krankenhaus zu allem Überfluss auch noch einen Multiresistenten Krankenhauskeim ein, der ihre weitere Behandlung überaus erschwerte. Ein Jahr lang wurde sie von den unterschiedlichsten Ärzten behandelt. Dann stellte ihr Hausarzt, Dr. Koch, bei ihr zusätzlich die Krankheit Herpes Zoster, „Gürtelrose“, fest, er verschrieb ihr Tabletten und Salben. Diese Krankheit befiel allerdings nicht den Körperbereich, den man gemeinhin mit einem Gürtel in Verbindung bringt, sondern ihren Oberkörper.
Als Johann Sara, die längst nicht mehr Auto fahren konnte, eines Tages turnusmäßig wieder zu ihrem Onkologen, Dr. Meier-Rumpler, brachte und Sara ihm die „Gürtelrose“ zeigte, entfuhr dem Arzt entsetzt:
„Auch du Scheiße! Das ist doch keine Gürtelrose! Wer kommt denn auf so eine verrückte Idee? Das ist Krebs! Hautkrebs! Ihr Brustkrebs ist durch ihre Haut hindurch nach außen gewachsen! Frau Bauer, Frau Bauer, warum kommen Sie denn erst jetzt? Warum kommen Sie so spät?“
Was nützte da ihre Rechtfertigung: „Wir haben jeden Termin, den wir mit Ihnen vereinbart haben, absolut korrekt und pingelig genau eingehalten!“
So spät? Zu spät? Schon wieder zu spät? Was heißt das? Was bedeutet das?
Dieser Vorwurf, zu spät gekommen zu sein, ließ Schlimmes erahnen. Dr. Meier-Rumpler veranlasste sofort eine erneute komplette und gründliche Untersuchung und es stellte sich heraus, dass das noch nicht das Ende der schlechten Nachrichten war, denn es kam noch viel dramatischer.
„Der Krebs hat auch schon Ihre Leber befallen, Ihre ganze Leber ist bereits voller Krebszellen und vermutlich ist auch ihr Darm bereits betroffen!“
Beide, Sara und Johann, ahnten, was das bedeutet: Ist die Leber voller Krebs, dann haben sich die Krebszellen bereits im ganzen Körper verteilt, dann kann es wohl keine Hoffnung mehr geben...
Dann nützt auch das Kämpfen nichts mehr...
Dann ist jeder Kampf sinnlos...
Aber ahnen ist etwas anderes als wissen: Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Aufgeben gibt es nicht.
Weiterkämpfen! Auch wenn es noch so sinnlos erscheint.
Ab sofort bekam Sara Opiate, Morphium, wie man meistens sagte, gegen ihre Schmerzen, und von nun an musste Johann seinen Beruf drastisch zurückfahren, seine berufliche Karriere war ab sofort völlig unwichtig, denn nun brauchte Sara seine Hilfe dringender denn je. Sie war inzwischen längst ein Pflegefall geworden. Sie, diese so zarte, feine und feenhafte Frau verfiel zusehends und es war grauenvoll und beängstigend, ihr dabei zuzusehen.
Natürlich brauchte Johann nun auch noch viel mehr Zeit für Thea, obwohl seine Eltern und Saras Eltern ihn weitgehend unterstützten, denn Sara fiel nun auch als Mutter aus. Thea konnte als kleines Kind natürlich noch nicht allein gelassen werden, sie brauchte selbstverständlich noch dauernde Aufsicht und der Kindergarten, in den sie seit einiger Zeit ging, war zwar eine große Hilfe, aber keine wirkliche Lösung des Problems.
Überstunden, die für Johann bislang fast alltäglich waren, konnte er sich nun einfach nicht mehr leisten; nur mit Mühe gelang es ihm, mit seiner beruflichen Arbeit fertig zu werden. Eltern und Schwiegereltern waren ihm eine überaus große Hilfe in dieser schweren Zeit.
Johann wusste jetzt ohne jeden Zweifel, dass er Sara verlieren wird, und zwar schon sehr bald. Auf seine Frage an die Ärzte, die er Sara verschwieg, wieviel Zeit Sara noch hätte, hatten die Ärzte ihm geantwortet:
„Mindestens noch sechs Wochen, aber keine zwei Jahre mehr! Eine Heilung ist ausgeschlossen.“
Die Frau, die er so abgöttisch liebte, dieses kleine Mädchen, diese Märchenfee, die ihn so verzaubert hatte, dass er eine Zeitlang nicht mehr klar denken und handeln konnte, dieses fast engelsgleiche Wesen, diese phantastische Elfe, für die er alles tun wollte, jetzt konnte er ihr nicht helfen, jetzt konnte er nichts für sie tun, das ist ja das Schlimmste: Nichts tun zu können, völlig hilflos zu sein, zusehen zu müssen, wie die über alles geliebte Frau langsam verfällt, sich mit Riesenschritten unaufhaltsam dem Tod nähert.
Und Johann dachte immer wieder daran, dass Thea, seine kleine Tochter, in absehbarer Zeit ihre Mutter verlieren wird und ohne Mutter aufwachsen muss. Wie sollte er diese schreckliche, aber unvermeidliche Tatsache seinem Kind vermitteln? Wie sollte er eines gar nicht mehr so fernen Tages seiner Tochter über den Schock, den sie zweifellos erleiden wird, hinweghelfen?
Er verzweifelte immer öfter. Ratlos. Hilflos. Hoffnungslos.
Sechs Wochen? Zwei Jahre? Er war fürchterlich ratlos. Wie soll es künftig nur weitergehen? Es gelang ihm nur noch mühsam, seine wachsende Verzweiflung vor Sara zu verbergen.
Kinder gehen mit offenen Augen durch die Welt, sie lernen mit allen Sinnen, sie lernen, indem sie alles aufnehmen und verarbeiten, was sie sehen, hören, fühlen. Und sie nehmen viel mehr auf, als vielen Erwachsenen überhaupt bewusst ist. Thea war ein sehr aufgewecktes Kind. Sie bekam die Veränderungen in ihrer Familie genau mit, manches verstand sie, vieles andere verstand sie nicht. Eines Tages am Anfang von Saras Krebserkrankung fragte sie ihre Mutter direkt:
„Mama, was ist Krebs?“
„Ach Gott, Thea! Wie soll ich dir das erklären? Ja, warte mal! Pass mal auf!“, stotterte Sara herum, völlig überrascht über diese plötzliche Frage, dann fing sie sich wieder etwas, „also, Thea, Krebs ist... wie soll ich sagen? Krebs ist wie eine Pflanze, wie Unkraut, wie eine Pflanze im Körper, die da nicht hingehört und die einfach immer weiterwächst und die man deshalb schnellstens herausreißen oder herausschneiden muss, bevor sie zu groß wird, das ist ja klar, nicht wahr?“
Mit dieser Antwort gab Thea sich zufrieden, vorläufig.
„Ja, klar!“, sagte sie. Ein paar Tage später fragte sie:
„Mama, was sind eigentlich Meter-Vasen?“
Ein Kind kriegt viel mehr mit, als man glaubt!
„Ach, Thea, ich habe dir doch erklärt, was Krebs ist, stimmt‘s?“
„Ja, das weiß ich noch. Krebs ist eine Pflanze im Körper!“
„Ja, richtig! Krebs ist wie eine Pflanze im Körper, die da nicht hingehört, eine schlimme Pflanze, eine böse Pflanze. Und wenn diese Pflanze, die da ja gar nicht hingehört, also wenn diese Pflanze Ableger kriegt, weißt du, so wie Blumen im Garten, die ja auch manchmal Ableger kriegen, die praktisch Kinder dieser Pflanzen sind, dann nennt man diese Ableger Metastasen.“
„Sind die gefährlich?“
„Ja, Thea, denn wenn diese böse Pflanze Krebs schon Ableger gebildet hat, dann wird es schwer, die alle zu erwischen und herauszuholen, weil man nicht genau weiß, wo die sich versteckt haben und erst recht schwer wird es, wenn es schon ganz viele Ableger gibt und dann wird es auch gefährlich...“
„Kann man davon sterben?“
„Ja, wenn es ganz schlimm kommt, dann kann man davon sterben!“
Hoffentlich bemerkt Thea nicht den riesigen Kloß in meinem Hals, dachte Sara voll fürchterlicher Verzweiflung. Krampfhaft hielt sie ihre Tränen zurück.
„Mama, du versprichst mir aber, dass du nicht stirbst, okay?“
„Ach, mein Liebling! Ich verspreche dir, dass ich alles dafür tun werde, dass ich noch nicht sterben muss!“
Trotz der Opiate, die sie bekam, wurden ihre Schmerzen immer schlimmer und plötzlich, eines Tages, wurden sie tatsächlich unerträglich, weshalb sie Johann bat, sie zu ihrem Onkologen zu bringen. Johann erschrak. Sofort half er ihr ins Auto und brachte sie zu der Praxis des Arztes, dem Sara noch am ehesten vertraute. Bei der Anmeldung sahen die Mitarbeiterinnen des Arztes gleich, dass sie Sara nicht mehr ins Wartezimmer schicken durften; sie führten Sara und Johann sofort in ein Behandlungszimmer. Zu dem Arzt sagte Sara:
„Ich kann die Schmerzen nicht mehr aushalten! Es geht wirklich nicht mehr. Es sind unmenschliche Schmerzen, unerträgliche, grausame Schmerzen, die kann kein Mensch aushalten! Ich bestehe jetzt darauf, ins Krankenhaus eingewiesen zu werden!“
Sie blieb hartnäckig und der Onkologe, Dr. Meier-Rumpler, der bisher gezögert hatte, gab schließlich nach und schrieb die Einweisung aus. Johann fuhr mit Sara sofort zum Elisabeth-Krankenhaus in den Hertener Schlosspark. Notwendige Utensilien, die Sara dort brauchen wird, wollte er später von zu Hause holen.
Gott sei Dank hatte heute Morgen Saras Mutter wieder Thea in den Kindergarten gebracht, sie würde sich heute auch den ganzen Tag um Thea kümmern, so wie sie es schon seit einigen Wochen immer machte, so wie sie es schon lange immer öfter machen musste.
Sara ging es sehr schlecht und man konnte ihr ansehen, dass sie grässliche Schmerzen hatte. Während die Untersuchungen begannen, kümmerte Johann sich um die Formalitäten. Sehr schnell stellten die Ärzte fest, dass bei Sara ein Geschwür am Darm durchgebrochen war und Darminhalt in den Bauchraum geflossen ist. Als sie den Ärzten von ihrem Krebs berichteten wollte, unterbrach ein Arzt sie konsequent und sagte sehr bestimmt zu ihr:
„Wir kümmern uns jetzt erst mal nicht um Ihren Krebs! Der spielt im Augenblick überhaupt keine Rolle!“
Was ist das? dachte Sara überrascht, so schlimm ist mein Krebs gar nicht? Wieso verharmlosen diese Ärzte ihn? Sie hatte nicht darauf geachtet, dass dieser Arzt im Augenblick gesagt hatte.
„Der Durchbruch des Darms muss sofort behoben werden, weil Sie sonst innerhalb von vierundzwanzig Stunden tot sind! Um den Krebs kümmern wir uns später! Nicht jetzt!“
Da war sie wieder, die Hoffnung! Trotz des erneuten Schocks: Tot, innerhalb von vierundzwanzig Stunden! Wir kümmern uns jetzt erstmal nicht um ihren Krebs! Das können wir später machen. War sie jetzt in guten Händen? War sie jetzt endlich bei den richtigen Ärzten? Könnten die sie retten? Um den Krebs kümmern wir uns später! Also gibt es ein Später! Also ist noch nichts zu spät! Also kann ich doch noch gesund werden? Gott sei Dank! Tränen schossen ihr in die Augen, Tränen der Dankbarkeit gegenüber dem Schicksal, Tränen, durch eine trügerische Hoffnung ausgelöst. Trotz ihrer grässlichen Schmerzen empfand sie eine unglaublich dankbare Freude und Erleichterung, wenn sie an ihr Kind dachte...
Die Operation verlief gut; Sara, dieser jungen Frau, wurde ein künstlicher Darmausgang gelegt.
„Den können wir später wieder zurückverlegen, wenn alles gut geht!“
Später zurückverlegen? Also wieder: Es gibt ein Später?!
Aber: Wenn alles gut geht? Johann achtete inzwischen sehr aufmerksam auf jeden Zwischenton bei den Ärzten. Er wusste oder ahnte, dass Sara keine Chance mehr hatte, er klammerte sich höchstens noch an eine verzagte und verzweifelte Hoffnung, an die Hoffnung auf ein Wunder. Den letzten Schimmer einer Hoffnung, den man nie verliert..., einer Hoffnung, die angesichts des rasanten Fortschreitens dieser Scheiß-Krankheit trügerisch sein musste.
Zwei Tage später, nach der Darm-Operation, im Krankenhaus auf der Intensivstation, Sara ist nicht bei Bewusstsein. Sie schläft, sie liegt im Koma, sie kämpft ihren letzten Kampf. Johann, der in den letzten Tagen kaum in seinem Büro in Herne gewesen ist, war schon seit Stunden bei Sara, er litt fürchterlich, entsetzlich. Manchmal verließ er – nur kurz – das Krankenzimmer, wenn er dem Todeskampf seiner über alles geliebten Frau nicht mehr zusehen konnte, wenn es über seine Kraft ging, ihrem langsamen Sterben zusehen zu müssen.
Dann kam der grausame Augenblick, in dem die Ärzte eine Entscheidung von ihm verlangten, eine Entscheidung, die zu treffen er nicht bereit und wozu er auch nicht in der Lage war. Und doch musste diese Entscheidung getroffen werden... Schließlich rief er seinen Vater zu Hause an, der bereits seit ein paar Jahren Rentner war.
„Vater..., kannst du... kommen?“ Nur diese vier Worte, gestammelt. Ein verzweifelter Hilferuf.
Seine leise und schwache Stimme schwankte bedenklich, war aber im Augenblick noch einigermaßen fest, dann, fast schluchzend: „ich brauche dich...“
Johann stammelte jetzt, „ich bin… bin im Krankenhaus, bei Sara…, auf der Intensivstation...“
Jetzt stockte und stotterte er, seine Stimme drohte zu versagen. Er schwieg einen Augenblick lang, um sich wieder zu fangen, dann sagte er schluchzend, den letzten Widerstand gegen heftiges Weinen aufgebend:
„Ich kann nicht mehr! Ich habe keine Kraft mehr. Ich bin mit meinen Nerven am Ende ist, ich bin völlig erledigt. Ich weiß nicht mehr weiter, ich..., ich..., ich weiß nicht, was ich tun soll... Vater, ich brauche deine Hilfe, deinen Rat..., kannst du kommen? Hilf mir!“, flehte er völlig verzweifelt.
Johanns Vater war geschockt, obwohl er natürlich wusste, wie schlimm es um seine Schwiegertochter stand, er wusste es schon lange und viel sicherer als Sara und Johann, er hörte seinen Sohn durchs Telefon weinen, ahnte Schlimmstes, nahm, nachdem er das Telefon wieder weggelegt hatte, sofort seine Frau an die Hand und sagte nur, mit rauer Stimme:
„Komm! Es ist soweit!“, er informierte sie kurz, rief noch schnell Saras Eltern an und schnell stiegen dann die beiden alten Leute ins Auto und fuhren direkt in die Klinik.
Im Krankenhaus, auf dem Flur
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 11.09.2019
ISBN: 978-3-7487-1513-9
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