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1 Hexen-Änneken

Schon seit zwei oder drei Wochen war das Wetter äußerst unbeständig und wechselhaft und es war viel zu kalt für diese Jahreszeit. Bis dahin konnte man sich über den Sommer nicht beklagen und auch die ganze Woche im Urlaub auf Föhr hatten sie noch richtig schönes und warmes Sommerwetter gehabt; es hatte nicht ein einziges Mal geregnet und am Strand mussten sie sich sogar noch regelmäßig mit Sonnenschutz eincremen. Jetzt aber war der Himmel fast ständig von dunkelgrauen Wolken bedeckt, die die Temperatur nur selten auf über zwanzig Grad ansteigen ließen. Oft verdichteten sich die Wolken und oft verdunkelte sich der Himmel von hellgrau zu beinahe schwarz und dann ließen sie kräftige Regenschauer niedergehen. Riss die dunkle Wolkenmasse mal kurz auf, dann zeigte die Sonne, welche Kraft sie jetzt im September noch hatte; und hin und wieder erzeugte sie einen phantastischen Regenbogen.

Auch heute Morgen war es kalt, aber wenigstens regnete es nicht. Jan Bergmann, ein groß gewachsener schlanker Mann mittleren Alters mit hellblonden Haaren, parkte seinen silbergrauen Mercedes auf dem Standstreifen der Westerholter Straße in Gelsenkirchen-Buer und stieg aus. Sein flauschiger dunkelgrauer Jogging-Anzug, der schon bessere Tage gesehen hatte und ganz sicher längst nicht mehr der neuesten Mode entsprach, wärmte ihn ausreichend, als er jetzt durch den noch feucht-kalten Wald lief. In seiner Freizeit legte Jan keinerlei Wert auf seine Kleidung, da er beruflich stets solide und konservativ gekleidet sein musste. Sollte es in den nächsten Stunden einen Regenschauer geben, würde ihn lediglich seine helle Baseball-Kappe schützen, denn einen Regenschirm hatte er nicht bei sich, aber nach Regen sah es im Augenblick jedenfalls nicht aus, ganz im Gegenteil: Der Himmel war zwar noch grau an diesem frühen Morgen kurz vor sieben Uhr, weil die Sonne noch nicht aufgegangen war, und er war auch nicht wolkenlos, aber die wenigen Wolken waren weiß. Aus weißen Wolken regnet es nicht, wusste Jan. Im Osten ließ ein schwaches Morgenrot über den dunklen Baumwipfeln die zaghaft aufgehende Sonne ahnen und es war, als strahle sie golden von unten eine kleine weiße Wolke hoch über ihr an, so dass es schien, als leuchte diese selbst. Tief unterhalb der vereinzelten Wolken zeigte die Sonne zwischen den Wipfeln der Bäume durch ein geradezu magisches Licht an, wo sie um diese Zeit stand. Für heute verhieß sie nach langen grauen Tagen mal wieder einen Sommer-Samstag.

Als Jan um 6.30 Uhr aufstand, zeigte ein schneller Blick auf das Außen-Thermometer nur knappe neun Grad Celsius an. Na gut, was konnte er um diese Zeit schon erwarten, so früh am Morgen? Aber es war doch September! Sommer, eigentlich. Okay, Spätsommer.

Er hatte es sich schon vor ein paar Jahren angewöhnt, jeden Samstag und jeden Sonntag frühmorgens wenigstens etwas für seine Gesundheit zu tun, zumal er den Grundsatz hochhielt: „Sport ist Mord!“ Um wenigstens etwas für seine Fitness zu tun, nutzte er die frühen Stunden an den Wochenenden, um Fahrrad zu fahren oder zu joggen; oft allerdings begnügte er sich mit flotten Wanderungen, die dann auch schon mal länger dauern durften. Er liebte diese Mischung aus körperlicher Herausforderung und geistiger Entspannung und wann immer es seine Zeit erlaubte, zog er los, um sich körperlich und geistig fit zu halten.

Diese frühen Morgenstunden liebte er, denn da konnte er seine Gedanken fliegen lassen, nichts und niemand störte ihn; so früh am Tag gab es nur ihn, andere Spaziergänger oder Wanderer gab es kaum, da konnte er sich regenerieren, den beruflichen Frust abbauen, der sich nicht selten in der vergangenen Woche angesammelt hatte, und neue Kraft schöpfen. Oft zogen dann seine Gedanken zurück in die Vergangenheit, in seine Jugend oder gar in seine frühe Kindheit. Denn die Vergangenheit war ihm wichtig, auch wenn er in der Gegenwart lebte und sich auf die Zukunft freute. Ohne Vergangenheit gibt es keine Gegenwart und keine Zukunft.

Jetzt ging er strammen Schrittes, denn marschieren genügt auch, dachte er oft, aber rennen muss ich nicht; die Hauptsache ist es doch, dass ich mich bewege. Plötzlich sah er schemenhaft ein Reh im frühmorgendlichen Dunst nur wenige Meter entfernt starr und völlig unbeweglich hinter dürrem Gebüsch auf einer kleinen Lichtung stehen. Es hielt den Kopf hoch und guckte aufmerksam und nervös in seine Richtung. Nahm es Witterung auf? Hatte es sie bereits entdeckt? Abrupt verhielt Jan seinen Schritt, fasste die Leine seines Hundes kurz und zischte leise:

„Still, Rocky! Platz! Sitz!“

Brav setzte sich Rocky, ließ seine Zunge hechelnd heraushängen und blickte sein Herrchen aus eisblauen Augen fragend und erwartungsvoll an, er wusste, er wird ein Leckerli bekommen, wenn er gehorcht, und das tat er meistens. Rocky war ein Husky mit grau-weiß geflecktem und gepflegtem Fell, und er war ein gut erzogener Hund. Er hatte das Reh noch nicht entdeckt, aber das Reh bemerkte sie, es hatte längst ihre Witterung aufgenommen, stand noch einen kleinen Moment zögernd still und unbewegt mit hoch erhobenem Kopf und weit geöffneten Augen, abwartend, als überlege es noch, was es tun solle, und lief dann in schnellen Sprüngen davon.

Jan ging diesen Waldweg weiter, der stellenweise feucht und schlammig und voller Pfützen war, denn in der Nacht hat es kräftig geregnet. Er ging in östliche Richtung, der aufgehenden Sonne entgegen, und im Gehen schweiften seine Gedanken wieder ab, wohin sie wollten: Ihm kam plötzlich Tonja in den Sinn. Tonja, eigentlich Antonia, die Tochter einer Schwester seines Vaters. Mit seiner Cousine hatte er, als er und Tonja drei oder vier Jahre alt waren, entdeckt, dass ihre Körper unterschiedlich waren und sie hatten begonnen, diese Unterschiede zu untersuchen, diese unterschiedlichen Körperteile, die für sie tabu sein mussten, weil die Erwachsenen ihnen unter Strafandrohung streng verboten hatten, an ihnen zu spielen:

„Pfui! Das ist pfui! Da geht man nicht dran! Das ist Sünde! Todsünde! Hände weg davon! Das bestraft der liebe Gott, wenn du daran herumspielst. Du kommst in die Hölle! In die Ewige Verdammnis! Und da kannst du dann ewig schmoren! Ewig! Hörst du? Da kommst du dann nie mehr heraus!“

So wurde Jan schon von klein an in eine strenge katholische Lebensform hineingepresst, welche die absolute Verneinungsform aller Lebensfreude war, mit tausenden Geboten und Verboten, mit unzähligen leichten Sünden, den sogenannten lässlichen Sünden, und mit schweren Sünden, den Todsünden, mit zahllosen Verstößen gegen Gottesgebote und gegen Kirchengebote. Seine Eltern und Großeltern und seine Lehrer erzogen ihn mit religiösen Grundsätzen längst vergangener Generationen und brachten ihm ungemein demütigen Respekt bei vor Gott, vor Eltern und Großeltern und vor der staatlichen Obrigkeit, beinahe grenzenlose Demut gegenüber der ganzen Welt. Seine Erzieher haben nie erkannt, dass sie dadurch die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins und Selbstvertrauens schwer behinderten. Trotzdem lehnte Jan sich schon früh massiv gegen eine solche lust- und lebensfeindliche Erziehung auf – und bezog dafür so manches Mal heftige Prügel.

Später in der Schule sagte gar ein Religionslehrer seinen Schülern einmal, beim Baden in der Badewanne zu Hause dürfe man sich zwar die Unterhose ausziehen und man müsse auch nicht mit einer Badehose ins Wasser steigen, aber „da unten“ müsse man sich zügig und schnell waschen, da brauche man nicht allzu gründlich sein.

Später nannte man das „da unten“ den Schambereich! Was gibt es denn da zu schämen, dachte Jan jetzt auf seiner Wanderung, das sind doch auch Bereiche des menschlichen Körpers, und gar nicht mal so unwichtige, dessen braucht man sich doch nicht zu schämen! Ganz im Gegenteil!

Oft hatte der kleine Jan Senge bekommen, weil er dieses strenge Verbot, da unter dran zu spielen, missachtet hatte – und trotzdem missachtete er es auch weiterhin, genau wie Tonja. Es kam mehrfach vor, dass beide gemeinsam versohlt wurden, dass sie Stockhiebe auf den nackten Hintern bekamen. Das Verbotene reizte ja gerade dazu, es zu übertreten und gleichzeitig aufpassen zu müssen, dass man dabei nicht erwischt wird; es war schon etwas abenteuerlich – und plötzlich machten diese verbotenen Spiele den beiden Kindern richtig Spaß und Vergnügen, und sie fanden immer irgendwo ein stilles Plätzchen, wo sie ungestört „fummeln“ konnten, ohne Gefahr zu laufen, von den Alten erwischt zu werden. So rebellierten beide, Jan und Tonja, schon sehr früh gegen eine idiotisch puritanische Sexualmoral.

Irgendwann hörten diese kindlichen Spiele wieder auf, so wie sie begonnen hatten, ungeplant, ungewollt, einfach so – aber sie begannen wieder, als beide etwas älter geworden waren. Aber waren es dann noch kindliche Spiele?

Als Jan zwölf Jahre alt war, traf er eines Nachmittags im Sommer zufällig auf Tonja, die in der Hofeinfahrt ihres Elternhauses ihr grünes Fahrrad putzte. Tonja war ebenfalls zwölf Jahre alt. Sie sah ihn nicht kommen, denn er näherte sich ihr leise von hinten und legte für sie völlig überraschend seine Hände über ihre Augen und drückte ihren Kopf an sich. Dann begann er in einem leicht leiernden Tonfall leise zu singen:

„Wer fürchtet sich vorm Schwarzen Mann?“

Tonja, die dieses Kinderlied kannte und ihn an der Stimme erkannt hatte, überwand schnell ihre Überraschung und erwiderte im gleichen Singsang mit ihrer hellen kindlichen Stimme:

„Nieee-mand!“

„Wenn er aber ko-hommt?“

„Dann soll er doch!“, änderte sie den Liedtext ab, denn weglaufen wollte sie nicht.

„Was soll er denn?“

„Was will er denn?“

„Er will…“

und jetzt sagte Jan, ohne Melodie, aber bestimmt:

„mit Tonja fummeln!“

„Dann soll er doch, soll er doch, dann soll er, soll er, soll er doch!“ jubilierte Tonja singend und Jans Tonfall nachahmend; dann sprang sie auf und schob schnell ihr nicht zu Ende geputztes grünes Fahrrad in den Schuppen und schloss diesen ab.

„Komm schnell,“ sagte sie atemlos vom Singen oder vor freudiger Überraschung und ergriff rasch Jans Hand, „lass uns ins Gartenhäuschen gehen, da kommt jetzt keiner der Erwachsenen hin!“

Jan war erstaunt über die schnelle Bereitschaft Tonjas. Es war nach vielen Jahren das erste Mal, dass sie ihre kindlichen Doktorspiele wieder aufnahmen und es war genau so reizvoll wie früher und es machte ihnen auch genau so viel Spaß wie früher! Aber, waren es noch kindliche Sexspiele? So kleine Kinder waren sie doch längst nicht mehr, im Alter von zwölf Jahren! Bei Tonja begannen sogar schon Brüste zu wachsen, sie hatte bereits recht ansehnliche Brustwarzen, und sie hatte auch schon rabenschwarze und samtweiche Schamhaare, wie Jan jetzt schnell feststellen konnte.

Jan musste schmunzeln, als er jetzt auf seiner Wanderung an diese Spielchen dachte; gleichzeitig war er froh und erleichtert darüber, dass es ihm schon vor langer Zeit gelungen war, sich von dieser wahnsinnigen Angst vor göttlicher Strafe zu befreien, die ihm ein fanatisch religiöses und sexualfeindliches Elternhaus eingebläut hatte und die ihn als Kind bis ins Mark erschüttert hatte. Ewige Verdammnis! Endlose Strafe! Wirklich eine Strafe ohne Ende! Es gab noch nicht einmal ein Ende der Strafe durch den Tod! Geht es noch grausamer? Nein, ganz sicher nicht!

Aber er wusste auch heute noch ganz genau, dass diese seine Befreiung damals noch nicht wirklich gelungen und noch nicht wirklich abgeschlossen war. Eine gnadenlose Angst vor der Ewigen Verdammnis, den unendlichen Höllenqualen, blieb noch lange tief in ihm verborgen und verunsicherte ihn noch viele Jahre lang. Erst viel später, als er, der Zögling aus einer erzkatholischen Familie, gegen den Widerstand dieser Familie eine evangelische Frau geheiratet und dann erstaunt erkannt hatte, dass Protestanten ebenfalls fanatisch stur sein können, wenn auch nicht aus Angst vor Höllenqualen, verstand er, dass Toleranz gegen Andersdenkende und dass Liberalität keine Widersprüche zum Christlichen Glauben sein müssen und ihm wurde auch erst viel später bewusst, das Sexualität gottgewollt ist. Von da an glaubte er nicht mehr an einen strafenden Gott, ab jetzt glaubte er an einen liebenden Gott.

 

Jetzt löste Jan die Leine von Rockys Halsband und ließ seinen Hund laufen – und Rocky rannte los, lief voraus, blieb zurück, kam wieder zu Jan und rannte wieder los, voll ausgelassener Freude und voller Vergnügen, und immer gab es irgendwo irgendwelche verlockenden Gerüche, die es für ihn zu erforschen galt. Der schmale Waldweg war auch hier matschig und schlammig, deshalb musste Jan schon aufpassen, dass er seine Schuhe nicht zu sehr verdreckt.

Jetzt erreichten sie den kleinen See, der dunkel schimmernd in einer flachen Talsenke im Wald lag, und umrundeten ihn. Gemächlich schwamm eine kleine Schar Enten über das ruhige Wasser, über dem noch ein leichter Morgennebel lag, und auf einem Baumstumpf im flachen Wasser in Ufernähe saß ein Graureiher, völlig unbeweglich, als ob er schliefe. Am gegenüberliegenden Ufer schwammen zwei weiße Schwäne fast unbeweglich auf dem Wasser. Erste zaghafte Sonnenstrahlen durchbrachen nun das Laub des Waldes und den frühmorgendlichen Dunst über dem See und tauchten das idyllische Bild in ein diffuses Licht.

Gemächlich, aber doch mit flotten und zügigen Schritten, gingen Herr und Hund zurück zum Auto. Jan öffnete die Heckklappe seines Kombis, es war ein ziviler Dienstwagen seines Arbeitsgebers, ein silbergrauer Edelkombi der Marke Mercedes-Benz, ein Auto der gehobenen Mittelklasse, und ließ Rocky hineinspringen. Dann fuhren sie heim.

Gegen halb neun Uhr kamen sie wieder zu Hause an. Mit dem kleinen Handsender öffnete Jan das Tor, welches die Einfahrt zu seinem Hausgrundstück verschloss, und es fuhr leise surrend zur Seite. Jan war stolz auf das Haus, das Bettina und er besaßen. Sie hatten es vor einigen Jahren als eine Gebrauchtimmobilie aus einem Zwangsversteigerungsverfahren günstig erworben. Das Haus stand etwa fünfzig Meter von der ruhigen Landstraße entfernt, auf der kaum Verkehr herrschte, auf einem fast fünftausend Quadratmeter großen Grundstück inmitten von Feldern und Wiesen am Rande des Gelsenkirchener Stadtwaldes. Zur rechten Seite ihres Grundstückes begann der Wald mit großen und alten Laubbäumen, Buchen und Eichen, hinter dem Haus gab es den dichten dunklen Nadelwald und zur linken Seite lagen Wiesen und Weiden und der riesige Vorgarten hatte einen beinahe parkähnlichen Charakter mit Hecken und Büschen und Bäumen, hinter denen sich ein mehr als großzügiges Einfamilienhaus versteckte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ebenfalls ein großer, dunkler und dichter Wald.

Die lange mit roten Ziegeln gepflasterte Zufahrt zum Haus war leicht S-förmig angelegt und mit kleinen Alleebäumen gesäumt. Die S-Form der Zufahrt verhinderte einen direkten Blick von der Straße auf das Haus, welches, umgangssprachlich gesagt, ein geradezu herrschaftliches Haus war. Das gesamte Grundstück war mit einem fast zwei Meter hohen und ziemlich kunstvoll geschmiedeten und weiß lackierten Zaun umgeben. Im hinteren Gartenteil hatte Jan ein Gartenhäuschen aufgestellt, das Platz bot für seine Gartengeräte und für seinen Aufsitzmäher, seinen Rasentraktor.

Jan fuhr den Wagen in die Einfahrt, stieg aus, ließ auch Rocky herausspringen und brachte ihn zu seiner „Hundehütte“. Hundehütte ist ja gar nicht der richtige Ausdruck, dachte er stolz. Jan mochte Hunde, er war ja mehr oder weniger mit Hunden aufgewachsen, aber:

„Ein Hund kommt mir nicht ins Haus!“ sagte er manchmal, „denn wenn Hunde nass werden, dann stinken sie. Ein Hund ist ein Hund und bleibt ein Hund und wird kein Familienmitglied! Ein Hund muss wissen, wo sein Platz ist.“

Deshalb hatte er für Rocky einen beachtlichen Teil seiner Doppel-Garage im hinteren Bereich abgetrennt und eine kleine Öffnung durch die hintere Garagenwand zum Garten hin geschlagen. So hatte er für den Hund einen separaten Zugang zu seiner „Hütte“ geschaffen. Von außen hatte er sogar einen kleinen Windfang vor dieser Öffnung angebracht. Da seine Garage auch ein kleines Fenster aus Glasbausteinen hatte, gab es für Rocky darin sogar abgeschwächtes Tageslicht. Selbstverständlich war Rockys Reich komplett vom Rest der Garage getrennt, so dass er nicht gestört wurde, wenn die Garage für ihren eigentlichen Zweck benutzt wurde. Rocky wusste, hier war sein eigener Bereich, hier hat außer ihm niemand sonst etwas zu suchen; und trotzdem war die Garage immer noch groß genug für zwei Autos.

Im Garten hinter der Garage war in einer Höhe von mehr als zwei Metern ein starker Eisendraht straff zwischen der hinteren Garagenwand und einer großen Fichte gespannt und daran hing eine lange, dünne und leichte Kette an einer ausreichend großen Schlaufe. Diese Kette verband Jan nun an ihrem unteren Ende mittels eines Seils und eines Karabinerhakens mit dem Halsband seines Hundes. Durch diese „Erfindung“ hatte Rocky auch dann ausreichend Auslauf und genug Bewegungsfreiheit, wenn niemand Zeit hatte, sich mit ihm zu beschäftigen. Dann rannte Rocky an diesem Eisendraht entlang durch die ganze Länge und Breite des Gartens, falls er gerade nicht in oder vor seiner „Hütte“ lag und döste. Rocky war ein Wachhund und kein Schoßhund.

Hier lebte Rocky Tag und Nacht, im Sommer wie im Winter. Und wie freute er sich immer, wenn Jan oder Tina sich um ihn kümmerten oder wenn deren Söhne oder deren Tochter mit ihm spielten und tollten, was seiner unmaßgeblichen Meinung nach viel zu selten geschah.

Rocky hatte ein gutes Hundeleben, doch fehlten ihm manchmal Artgenossen, auch wenn er bei den morgendlichen Spaziergängen an den Wochenenden mit Jan immer wieder vielen anderen Hunden mit ihren Herrchen oder Frauchen begegnete.

 

Jans Frau Bettina wartete auf ihn, das Frühstück war schon fast fertig vorbereitet, sie saß mit einer Tasse Kaffee am Tisch und las die Zeitung.

„Wo bist du heute gewesen?“, fragte sie ihn, nachdem Jan sie mit einem flüchtigen Kuss begrüßt hatte.

„In der Löchterheide,“ entgegnete Jan, „ich habe mir noch einmal die ‚Siebenschmerzenkapelle’ angesehen und später habe ich im Wald sogar ein scheues Reh gesehen, es muss uns aber wohl bemerkt haben, obwohl Rocky vorbildlich still saß, denn es lief schnell weg.“

„Siebenschmerzenkapelle?“, wiederholte Tina erstaunt, „was ist das denn für ein seltsamer Name! Was bedeutet der? Und wo ist denn die Löchterheide? Davon habe ich ja noch nie etwas gehört!“

„Ach du! Wir wohnen doch fast in der Löchterheide! Die Löchterheide ist das Waldgebiet hier zwischen der Westerholter Straße, dem Ostring und der Ressestraße in Gelsenkirchen-Buer,“ antworte Jan, „wir wohnen ja an ihrem Rand, und Siebenschmerzenkapelle ist der gewöhnliche Ausdruck für die kleine Kapelle in der Löchterheide, du hast sie auch schon gesehen, als wir mal spazieren gegangen sind. Offiziell heißt sie eigentlich ,Kapelle zu den sieben Schmerzen Mariä‘.

Diese Kapelle wurde im Jahre 1723 von der Westerholter Gräfin gestiftet, Henrieka von Aschebroick zu Schönebeck hieß die Dame. Weißt du, Tina, als Jesus Christus gekreuzigt wurde, war seine Mutter Maria dabei und hat die ganze Quälerei mit angesehen, so steht es jedenfalls in der Bibel, und sie empfand so grausame Schmerzen, als ob sieben Schwerter ihr Herz durchbohrten, so geht die Legende. Diese Westerholter Gräfin empfand ähnliche Schmerzen, als im Jahr 1707 ihr Ehemann starb. Sie muss ihn wohl sehr geliebt haben. Im Gedenken an ihn stiftete sie diese Kapelle, so etwas gab es damals, und später verpflichtete sie alle Westerholter Einwohner zur Teilnahme an der sogenannten Hagelsonntagsprozession, die jedes Jahr am zweiten Sonntag nach Fronleichnam stattfand – und die findet auch heute noch immer statt, jedes Jahr! Ob du es glaubst oder nicht! Sie verpflichtete die Westerholter Bürger! So etwas gab es damals, das Recht dazu hatte sie!

Aber weißt du, Tina, das ist die Version, wie sie die alten Westerholter ‚Poahlbürger‘ erzählen und ...“

„Stopp, stopp!“, unterbrach Tina ihn, „nicht so schnell! Was ist denn ein Poahlbürger?“

„Ach so!“, rief Jan grinsend, „du Großstadtmädchen kannst den Begriff ja gar nicht kennen und deine Vorfahren lebten ja auch nicht in Westfalen, sie sind ja erst hierher gezogen, als hier im Ruhrgebiet die Geschichte des Bergbaus begann. Also, hier in Westfalen ist ein Poahlbürger ein Alteingesessener, jemand, dessen Vorfahren schon seit Generationen hier heimisch sind. Heute gibt es diese Bezeichnung allerdings fast nur noch in Karnevalsvereinen.“

„Aha! Und was wolltest du mir noch von dieser Kapelle erzählen?“

„Ja, weißt du, manchmal heißt es auch, diese Kapelle wurde errichtet nach Beendigung eines ziemlich blutigen Streits zwischen den beiden Gütern Westerholt und Schloss Berge in Buer. Es ging dabei wohl um Grenzstreitigkeiten und damals haben sich wahrscheinlich Buerer Bürger um Schloss Berge und Westerholter Bürger gegenseitig die Köpfe eingeschlagen. Vielleicht war es eine Art Dank an Gott, dass dieser unselige Streit beendet war. Alte Bueraner dagegen behaupten, die Kapelle spiegele das schlechte Gewissen der Westerholter wider wegen der Verbrennung des ‚Hexen-Ännekens‘.“

„Hexen-Änneken?“, fragte Tina erstaunt, „du hast es aber heute drauf! Wer oder was ist das denn? Oder war das, sollte ich wohl besser fragen. Und wieso wurde Hexen-Änneken verbrannt?“

„Ja, Hexen-Änneken,“ antwortete Jan, „so nennt der Volksmund Anna Spiekermann, die 1706, also ein Jahr bevor der Westerholter Graf starb, in Westerholt auf dem Scheiterhaufen sterben musste. Das heißt, genau genommen starb sie nicht auf dem Scheiterhaufen, der Volksmund hat das im Laufe der Jahre daraus gemacht. Als Hexen-Änneken verbrannt wurde, war sie bereits tot. Anna Spiekermann wurde aber vor ihrer Verbrennung nicht freundlicherweise erwürgt, wie es zu Zeiten der Inquisition eigentlich üblich war, sobald ein Delinquent geständig war, meistens natürlich unter Folterqualen, sondern sie wurde enthauptet. Sie wurde geköpft, ihr Kopf wurde sauber vom Körper getrennt und anschließend wurde ihr Leichnam verbrannt. Auf diese Weise spürte sie die Flammen nicht mehr, das Feuer, denn es gab ja keine Verbindung mehr zwischen ihrem Gehirn und ihrem Körper und als ihr Kopf ins Feuer geworfen wurde, war ihr Leben längst erloschen.

Auf jeden Fall wurde das Hexen-Änneken mit obrigkeitlichem Recht und vermutlich auch mit kirchlichem Segen gekillt. Weißt du, Tina, früher hatte die Kirche jede Menge gegen Sex, den sie regelrecht verteufelte, aber Menschen verbrennen, das war in Ordnung! Dafür gab es sogar kirchlichen Segen! Weißt du, Tina, das ist ja das Verrückte: Menschen zu verbrennen, um deren Seele für die Ewige Seligkeit zu retten! Für mich gilt als das wichtigste Gebot Gottes das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten! Aber die Kirche selbst war für unglaublich viele Tötungen von Menschen verantwortlich! Und diese Verbrennungen erfolgten sogar in aller Öffentlichkeit! Und meistens waren Frauen die Opfer! Es war beinahe so, als ob die katholische Kirche alle Frauen der Welt für alle Zeiten für die Erbsünde bestrafen wollte, dafür, dass Eva ihren Adam im Paradies dazu verführt hatte, in den Apfel zu beißen und damit ausdrücklich gegen Gottes Verbot zu verstoßen.

Hexen-Änneken gilt als das letzte Opfer einer fast zweihundertjährigen Hexenverfolgung hier im Vest Recklinghausen. Schuld an diesen verdammten Hexenverfolgungen und Hexenjagden und Hexenverbrennungen hatte immer die Kirche! Sie sorgte stets dafür, dass das Todesurteil gesprochen wurde und übergab dann die ganze Angelegenheit der weltlichen Obrigkeit, die den traurigen Rest erledigte.

Die Lebensgeschichte dieser Frau, der Anna Spiekermann, ist schon bitter, Tina. Anna wurde 1670 unehelich geboren, war also aus kirchlicher Sicht bereits ein Kind der Sünde und das blieb auch lebenslang an ihr haften. Damals unehelich geboren zu werden, das war an sich schon schlimm genug, selten wurde so ein Kind normal behandelt, doch für Anna kam es noch viel dicker! Ihre Mutter starb früh und wo sollte Anna dann als kleines Mädchen bleiben? Als kleines elternloses Mädchen, das auch noch unehelich geboren wurde! Ein Bastard! Deshalb kümmerten sich die Geschwister ihrer Mutter mehr oder weniger um sie.

Nachdem Anna Spiekermann erwachsen geworden war, heiratete sie einen Berufssoldaten und bekam mit ihm eine Tochter. Wenigstens war dieses Kind nicht unehelich! Aber schon im Jahr 1700 starb ihr Ehemann, er kam in einem Kampf oder jedenfalls in einer kriegerischen Auseinandersetzung ums Leben. Anna blieb mit ihrer kleinen Tochter noch ein oder zwei Jahre auf dem kleinen Bauernhof ihrer Schwiegereltern wohnen, dann verließ sie diesen Hof und diesen Lebensbereich, der für sie irgendwie schon so eine Art Schutzraum geworden war, sie verließ ihn, weil sie spürte, dass sie nicht mehr willkommen war. Sie glaubte, ihn verlassen zu müssen.

Ihre eigene Familie nahm das arme Luder nicht wieder auf und sie wusste zuerst nicht, wo sie mit ihrem Kind bleiben konnte. Dann zog sie zu ihrer Patentante nach Westerholt. In Westerholt arbeitete sie als Magd auf verschiedenen Bauernhöfen und sie wohnte mit ihrem Töchterchen bei ihrer Patentante. Dann starb ihre kleine Tochter überraschend. Anna war jetzt ganz allein, nur ihre Patentante duldete sie noch bei sich, wo sollte sie denn auch sonst bleiben? Änneken wurde geduldet, aber nicht geliebt.

Anna Spiekermann war eine gutaussehende junge Frau, vielleicht war sie sogar eine hübsche junge Frau und manche sagen sogar, sie war eine Schönheit. Da sie keinen Ehemann mehr hatte, stellten ihr Junggesellen nach; sie war beinahe so etwas wie Freiwild für die jungen Männer. Besonders dreist war ein Junggeselle namens Johannes Krampe, sein Name ist bis heute urkundlich festgehalten. Als dieser zudringlich wurde, möglicherweise versuchte er sogar, Anna zu vergewaltigen, da hat sie ihm in die Eier getreten oder geschlagen, was weiß ich. In den Gerichtsakten steht, sie habe ihm ‚über die Buchsen gestrichen’. Das heißt wahrscheinlich, dass sich Anna erfolgreich wehren konnte.

Aber dann ging das Drama erst richtig los! Krampe rächte sich, indem er behauptete, Anna hätte ihn behext und ihn durch ihre Hexerei seiner Manneskraft beraubt. Es gelang ihm, zwanzig Junggesellen der Freiheit Westerholt aufzuhetzen und aufzustacheln und diese unterstützten ihn dann in seiner Wut und seiner verletzten Eitelkeit wegen der Zurückweisung, und grölend und prügelnd trieben sie gemeinsam Anna durch das ganze Dorf. Vielleicht hatten sie vorher sogar gesoffen, was weiß ich. Viele Westerholter bekamen diese Treibjagd mit, aber niemand stand ihr bei, niemand half dieser alleinstehenden jungen Witwe, niemand half ihr, sie war tatsächlich ganz allein, sie war tatsächlich Freiwild, das arme Luder; und unter den brutalen Prügeln gestand Anna alles, was diese gewalttätigen Rohlinge hören wollten.

Anna Spiekermann wurde wegen Hexerei und Zauberei angeklagt.

Im Verlauf des Prozesses beteuerte sie immer wieder ihre Unschuld, immer wieder sagte sie, sie habe dieses Geständnis nur aus Angst gemacht und aufgrund der Schläge, die sie bekommen hat. Dennoch wurde sie auch während des Prozesses gefoltert und unter den Folterqualen gab sie alles zu, was das Gericht ihr vorwarf und was es hören wollte. Das Tollste war: Anna bezichtigte dann unter der Folter sogar ihre Patentante, die sie in ihrer Not aufgenommen hatte, dass sie ihr das Hexen beigebracht habe! Aber jeweils nach dem Ende der Folter widerrief sie stets laut und energisch, doch ihre Widerrufe nahm man ihr nicht ab, man glaubte dagegen die erpressten Geständnisse, denn die wollte man glauben.

Der Westerholter Gräfin tat Anna Spiekermann unendlich leid. Während ihrer Kerkerhaft schlich sie sich nachts oft – gegen den Willen ihres Ehemannes, des Grafen – zu ihr in den Kerker, pflegte ihre durch die Folter hervorgerufenen Wunden und gab ihr zu essen und zu trinken.

Anna Spiekermann, das ‚Hexen-Änneken‘, wurde am 31. Juli 1706, nach über fünfzehn Monaten Kerkerhaft, zum Tod durch das Schwert verurteilt und geköpft, und anschließend wurde ihr Körper öffentlich verbrannt.“

Jan verstummte. Tina blickte ihn, etwas bewegt von der Geschichte, an und sagte:

„Solche grausigen Geschichten erzählst du mir am frühen Morgen noch vor dem Frühstück? Ich bin ja nur froh, dass ich heute lebe und nicht im siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert! Weiß du, was du mir da erzählt hast: Genau genommen musste das Änneken sterben, weil sie sich eines aufdringlichen Freiers erwehrt hat, oder?“

„Oder sogar, weil sie sich erfolgreich gegen eine versuchte Vergewaltigung gewehrt hat,“ ergänzte Jan, „du hast schon recht, Tina, Frauen hatten es damals nicht leicht in Europa. Aber damals herrschte eine völlig verklemmte Sexualmoral und Schuld hatten sowieso immer die Frauen, wenn es um Sexualität ging!“

Unter dieser verklemmten Sexualmoral musste ich sogar noch jahrelang leiden, dachte er und er fuhr mit seiner Erzählung fort:

„Man vermutet heute jedoch, dass Anna Spiekermann letztlich das Opfer einer politischen Intrige geworden ist, das Opfer eines heftigen Machtkampfes zwischen mächtigen Leuten in Recklinghausen und Westerholt. Denn als es schließlich bitter ernst wurde, wollte die Westerholter Bürgerschaft Annas Hinrichtung unbedingt und mit aller Macht verhindern, doch da war es bereits zu spät. Mächtige Leute aus Recklinghausen setzten sich brutal durch. Zum Hinrichtungstermin wurden sogar siebenhundert Soldaten geschickt, die die jetzt aufgebrachten Westerholter im Zaum halten sollten und die eine reibungslose Hinrichtung sicherstellen mussten. Das muss man sich mal vorstellen! Siebenhundert Soldaten, die die Hinrichtung einer jungen Frau sicherstellen sollten! Es war eine brutale Machtdemonstration damaliger Politiker.

Anna Spiekermann bekam vom Volksmund den Spitznamen Hexen-Änneken, denn sie galt ja jetzt amtlich und gerichtsbestätigt als eine Hexe.“

„Komm, lass uns frühstücken,“ sagte Tina jetzt, den Vortrag über die letzte Hexen-Verbrennung im Vest Recklinghausens unterbrechend, „die Kinder schlafen noch, ich will sie heute mal richtig ausschlafen lassen.“

Damit machte Tina deutlich, dass ihre Erschütterung über eine Tat, die vor dreihundert Jahren verübt wurde, begrenzt war; auch sie kannte ja die Geschichte der Inquisition in Europa.

 

Nach dem Frühstück ging Jan hinaus in den Garten, um den Rasen zu mähen und ein paar Stunden lang Gartenarbeiten zu erledigen. Er war einigermaßen stolz auf sein Haus mit dem großen parkähnlichen Garten und mit den gepflasterten und nachts beleuchteten Wegen unter den uralten Bäumen.

 

Am Sonntagmorgen wurde er wach, als er bemerkte, dass Tina aufstand und ins Bad ging.

„Was ist los?“, fragte er schlaftrunken, „du stehst schon auf?“

„Nein, nein,“ sagte Tina, „dazu ist es doch noch viel zu früh, schau doch mal auf die Uhr, du Quatschkopf! Ich komm gleich noch mal ins Bett.“

Jan blickte auf den Radiowecker: Es war erst kurz vor fünf Uhr. Schläfrig gähnte er und reckte und streckte sich, dann drehte er sich auf die andere Seite.

Tina kommt zurück aus dem Bad, nackt, wie Gott sie schuf, und kriecht zu Jan ins Bett. Sie kuschelt sich an ihn und schiebt eine Hand unter seine Schlafanzugjacke, knabbert ganz vorsichtig an seinem Ohr und beginnt sacht, seine Brust zu streicheln.

„Guten Morgen, mein Schatz! Bist du noch sehr müde?“

„Nee,“ grinst Jan plötzlich hellwach, „jetzt nicht mehr! Du hast mich da auf eine Idee gebracht.“ Und auch er zieht sich schnell seinen Schlafanzug aus und wendet sich ihr zu.

„Nachher können wir bestimmt noch mal einschlafen und dann schlafen wir wahrscheinlich sogar noch viel besser!“

Manchmal wunderte sich Jan darüber, dass seine Frau für ihn immer noch so begehrenswert war und dass seine Liebe zu ihr immer noch größer wurde. Das war, als er Bettina kennenlernte, ganz sicher nicht absehbar gewesen. Er hatte sie, als er zwanzig und sie siebzehn Jahre alt war, in einer Diskothek in Essen kennengelernt.

Damals war er mit Marlies befreundet gewesen, ein achtzehnjähriges Mädel mit schwarzbraunen Haaren und mit grünen Augen, und er war mit Carla befreundet gewesen, die hellbraune Augen hatte, fast bernsteinfarbene, und ebenfalls dunkle Haare, beinahe schwarze. Beide Mädels waren schlank und gut gebaut. Eine kurze Zeit lang war Jan abwechselnd mit diesen drei Mädels unterwegs gewesen, mit Marlies, Carla und Bettina, und zu keiner hatte sich eine wirkliche Beziehung entwickelt, bis er urplötzlich erkannte, dass er Bettina nicht verlieren wollte. Wie konnte das geschehen?

2 Freie Liebe

Sie hatten sich im „Mississippi“ kennengelernt, das damals eine Edeldiskothek in der Essener Innenstadt war, und obwohl sie sich mehrmals verabredeten, wurden sie lange Zeit kein Paar, aber es entwickelte sich schon bald eine Freundschaft, eine wirklich gute Freundschaft. Sie verstanden sich blendend und konnten manchmal stundenlang über alle möglichen und unmöglichen Themen miteinander reden. Beste Freunde eben. Ein sexuelles Interesse gab es zunächst für beide nicht. Ein Grund dafür könnte gewesen sein, dass Tina Jan ursprünglich potthässlich fand und Jan fand anderweitig genug Gelegenheiten, seine sexuellen Gelüste auszuleben. Das kam so:

Seit ihrer gemeinsamen Schulzeit war Jan befreundet mit Manfred Fuhrmann. Dies war nicht nur eine alte Freundschaft, sondern auch eine sehr belastbare. In ihrer Jugend hatten beide so manches gemacht, über das sie heute als erwachsene Männer nicht mehr redeten. Durch Zufall hatte Manfred Fuhrmann Menschen kennen gelernt, die ganz spezielle sexuelle Phantasien hatten und die auch bereit waren, diese auszuleben. Eines Abends, als beide einen Zug durch die Gemeinde machten, fragte er Jan:

„Weißt du eigentlich, Jan, was ein Gang Bang ist?“

„Nee! Was soll das denn sein? Ein Banden-Dingsbums oder was?“

„Banden-Dingsbums!“, lachte Manfred vergnügt, „das ist gut! Aber ohne Dings! Der Begriff Gang Bang steht ursprünglich für eine Massenvergewaltigung, aber heute bezeichnet man damit eine ganz besondere Art von Sex, Sex zwischen sehr toleranten Menschen! Wenn ein Mann seiner Partnerin Gang Bang bieten will, dann will er ihr etwas ganz Besonderes bieten.“

„Gruppensex?“

„Ja, Gruppensex, Jan, aber Gruppensex in einer ganz besonderen Art. Beim Gang Bang besteht absoluter Herrenüberschuss! Üblicherweise besteht die Gruppe nur aus einer Frau und mehreren Männern; es können zwei oder drei sein oder sogar bis zu zehn. Noch mehr Männer schafft eine Frau kaum. Manchmal sind auch zwei oder drei Frauen dabei, aber immer herrscht Herrenüberschuss.

Regel Nummer eins dabei ist: Alles ist freiwillig! Zwang darf es nicht geben! Keinerlei Zwang!

Regel Nummer zwei: Die Frau muss gerne mitmachen, sonst macht Gang Bang keinen Sinn. Sie darf sich nicht gezwungen fühlen, sondern sie soll es genießen, denn das ist das Ziel einer solchen Veranstaltung: Der Frau, die man liebt, das größtmögliche Vergnügen zu verschaffen!

Regel Nummer drei: Die ganze Sache funktioniert nur, wenn die Frau sich hundertprozentig auf ihren Partner verlassen kann, denn der muss aufpassen und darauf achten, dass ihr während der ganzen Aktion nichts passiert, denn sie selbst wird kaum darauf achten können. Dann wählt ihr Partner die Männer aus, die in Frage kommen, denn er kennt ja den Geschmack und die Vorlieben seiner Partnerin am besten.

Oft findet eine solche Party in einem Privathaus statt, manchmal in einem Hotel.

Weißt du was, Jan? Bevor ich dir noch mehr erzähle, mach doch mal mit! Für nächsten Monat ist so eine Party in Dortmund geplant. Du glaubst nicht, wie erregend so etwas ist!“

„Na ja,“ entgegnete Jan zögernd, „reizen würde mich das schon einmal!“

So kam es, dass Jan eines Tages an einer solchen Veranstaltung teilnahm. Er fand es tatsächlich sehr erregend – doch gleichzeitig auch abstoßend, denn dass eine Frau meistens passiv daliegt und sich von mehreren Männern nacheinander lieben lässt, wobei ihr Partner (oder ihr Lebensgefährte) praktisch Regie führt, das stieß ihn eher ab, doch in der Hitze des Gefechts machte er mit. Eine Wiederholung dieser Aktivitäten lehnte er dagegen ab. Sex dieser Art – das war nicht sein Ding! Das glaubte er. Davon war er überzeugt.

Durch die Bekanntschaft mit diesen Leuten lernte er andere kennen, die ebenfalls außergewöhnliche Neigungen hatten: Es war ein mittlerer Kreis von Leuten, die sich in loser Folge zu Sado-Maso-Aktivitäten trafen. Als er das erste Mal an einem solchen Treffen teilnahm, staunte er nicht schlecht über die andern Teilnehmer. Er fand Frauen unter ihnen im jugendlichen Alter bis hin zu Frauen, die sicherlich die vierzig bereits weit hinter sich gelassen hatten, Frauen aus allen Gesellschaftsschichten, überwiegend sogar aus der sogenannten Besseren Gesellschaft. Ehefrauen, Mütter, die mehrere Kinder hatten, Lehrerinnen und Anwältinnen, eine Frau hatte sogar einen Doktortitel!

Bei den teilnehmenden Männern sah es ähnlich aus, keiner kam aus den unteren gesellschaftlichen Schichten. Am erstaunlichsten fand Jan es, dass zwar alle ihre Teilnahme an diesen Partys vor der Öffentlichkeit verheimlichten, scheinbar aber niemand fürchtete aufzufallen. Ein Mann erzählte ihm, dass seine Ehefrau seine Neigungen kenne; sie teile diese nicht, aber sie toleriere, dass er sie von Zeit zu Zeit ausleben müsse.

Am wenigsten konnte er verstehen, dass es Menschen gibt, die sich dadurch erregen konnten, dass ihnen Schmerzen zugefügt wurden.

An Veranstaltungen dieser Art nahm Jan nun gelegentlich teil.

 

Bettina, mit der er nun schon seit Monaten befreundet war, hatte er nie als außerordentlich oder besonders attraktiv empfunden, zwar war sie gut aussehend, sogar richtig hübsch, honigblonde Haare hatte sie und unglaublich blaue Augen, ein hübsches Gesicht und eine gute Figur, sie war sogar sehr schlank, aber dennoch war sie für ihn nie eine besonders herausragende Schönheit gewesen und an Sex mit ihr hatte er nie wirklich ernsthaft gedacht – und doch ist ihm mit einem Mal klar geworden: Mit dieser Frau will ich alt werden, mit ihr gemeinsam will ich alt werden! Mit dieser Frau will ich Kinder haben. Diese Frau gebe ich nicht wieder her!

Nein, es war tatsächlich keine Liebe auf den ersten Blick gewesen, aber dennoch war es plötzlich Liebe. Jan konnte es nicht verhindern. Er hatte sich nicht in erster Linie in ihr Äußeres verliebt, in ihre körperliche Ausstrahlung, er hatte in ihr Herz gesehen. Und nie musste er das bereuen, auch viele Jahre später nicht.

Tatsächlich war es so, dass auch Tina ihn anfangs gar nicht attraktiv fand; sie hielt ihn sogar für spießig mit seinem Haarschnitt, der wohl vor fünfzig Jahren modern gewesen sein mochte, wie sie ihm viel später einmal sagte. Doch auch bei ihr wurde aus Freundschaft Liebe. Auch sie hatte in sein Herz gesehen und so war es für beide „nur“ Liebe auf den zweiten Blick gewesen; dafür war es aber im Laufe der Zeit eine ganz besondere Liebe geworden, für beide. Denn von diesem Zeitpunkt an ist diese Liebe stetig gewachsen, ist sie immer größer geworden, immer weiter gewachsen und mit den Jahren immer tiefer und fester geworden.

Erst nachdem er einmal aufgefallen war und Bettina ihm wegen eines mit einem anderen Mädchen verbrachten Abends den Laufpass geben und ihre Beziehung beenden wollte, ist ihm klargeworden, welchen Verlust das für ihn bedeutet hätte. Nur langsam und unter allergrößten Mühen war es ihm damals gelungen, Tina wieder zu besänftigen. Hoch und heilig hatte er ihr versprochen, künftig würde es für ihn keine anderen Frauen mehr geben. Jan hatte erkannt, dass er Tina bedingungslos liebte und dass er sie tatsächlich niemals mehr hergeben wollte.

 

Obwohl sie nun ein Paar geworden waren und obwohl er es ihr hoch und heilig versprochen hatte und sogar noch, nachdem sie geheiratet hatten, gab Jan Bergmann seine gelegentlichen Teilnahmen an diesen Sado-Maso-Partys nicht auf, aber sie wurden immer seltener. Nur noch von Zeit zu Zeit packte ihn die Lust an solch ausgefallenen Sexspielen und er gab ihr dann hin und wieder nach. Dabei achtete er aber sehr darauf, dass diese Passion vor Tina verborgen blieb, weil er ahnte, dass sie so etwas niemals tolerieren würde; doch eines Tages geschah es, dass Tina rote Striemen auf seinem Rücken und auf seinem Po entdeckte, nachdem Jan während einer solchen Party den duldenden Part übernommen hatte. Eigentlich zog er den aktiven Part, den dominanten, den strafenden Part, vor. Als Kind hatte er schließlich oft genug den duldenden Part machen müssen!

Jan gestand ihr seine heimlichen Eskapaden und – um es kurz zu machen – Tina verzieh ihm schließlich, bestand aber darauf:

„Das muss natürlich sofort aufhören!“

 

Wieso hatte Jan diese Praktiken zunächst nicht aufgegeben? Verschafften sie ihm größere Befriedigung als seine Liebe zu Tina? Nein, es war einfach ein ungeheurer Reiz und wahrscheinlich war es noch immer sein Aufbegehren gegen die Sexualfeindlichkeit seiner frühen Erziehung. Ein Aufbegehren, das er übertrieb. Verschweigen musste er diese gelegentlichen Orgien natürlich, weil Tina keinerlei Verständnis für jegliche Art unnatürlicher Praktiken hatte; Tina war eine völlig normale Frau mit völlig normaler Sexualität, frei von falschen Hemmungen genauso, wie frei von irgendwelchen fragwürdigen Praktiken oder Vorstellungen. Sie konnte ihre Liebe zu und mit Jan genießen, ohne irgendwelche Hemmungen zu haben oder irgendwelche Übertreibungen zu praktizieren.

Trotz seiner wirklich echten Liebe zu Tina, und obwohl er seine Kontakte zu fragwürdigen Zirkeln aufgab, nachdem Tina es von ihm gefordert hatte, gab es für Jan von Zeit zu Zeit „Auswärtsspiele“, so nannte er heimlich sein gelegentliches Fremdgehen, denn trotz dieser wirklich wunderbaren Liebe zu seiner Frau hörte er nicht auf, auch andere Frauen reizvoll zu finden.

War es der Reiz des Verbotenen, die Freude am Sex (oder am verbotenen Sex?), die ihm schon in frühester Kindheit so massiv und unvergesslich eingeprügelt worden ist? Oder war es noch immer die Revolte gegen die sexualfeindliche Erziehung seiner Eltern und seiner Lehrer, besonders seiner Religionslehrer, die das Gegenteil davon bewirkt hat, was sie bewirken sollte?

Tatsächlich ist ihm schon sehr früh klargeworden, dass Sex etwas ganz Besonderes sein muss und dieses Bewusstsein änderte sich auch später nicht. Oder war es die übermächtige genetische Veranlagung eines jeden Mannes, seine Gene möglichst weit zu streuen? Wie hatte der berühmte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki – mit diesem unvergleichlich rollendem ‚R‘ – einst gesagt:

„Man(n) kann nicht mit allen Frauen auf der Welt schlafen, aber man muss danach streben!“

Tatsächlich war er Tina jetzt lange treu geblieben und tatsächlich waren seine ‚Auswärtsspiele‘, die es trotzdem hin und wieder noch für ihn gab, für ihn stets gewissermaßen völlig belanglos gewesen (redete er sich zumindest selbst immer ein), sie hatten Spaß gemacht, waren für ihn aber eigentlich längst bedeutungslos geworden. Aber es kam immer wieder vor, dass er dem Reiz des Fremden nicht widerstehen konnte, allerdings wurde das im Laufe der Jahre immer seltener und – von einer Ausnahme abgesehen – hatte es nie eine feste Beziehung neben seiner Ehe gegeben. Und jedes Mal hatte er anschließend ein schlechtes Gewissen seiner Frau gegenüber, der er dieses Fremdgehen natürlich verschweigen musste, weil sie es ihm niemals verziehen hätte. Tina hätte ihm vieles verziehen, aber hätte sie es wirklich verziehen? Manchmal sagte sie:

„Verzeihen ja, vergessen nie!“

Als dann im Jahre 1980 die Zwillinge geboren wurden, Jans und Bettinas Söhne, war das die Krönung ihrer gegenseitigen Liebe. Vier Jahre später wurde selbst dieses Ereignis noch übertroffen, als ihre Tochter geboren wurde. Jetzt waren sie eine komplett vollständige Familie und Jan hätte nun seine Familie, seine Frau und seine Kinder, gegen alle Anfeindungen der Welt verteidigt und nicht nur gegen alle Anfeindungen der Welt, sondern – wenn es denn nötig werden würde – auch gegen übernatürliche Anfeindungen. Selbst mit dem Teufel würde er es aufnehmen (vor dem er sich sowieso längst nicht mehr fürchtete, an den er sowieso längst nicht mehr glaubte; das war ein Fabelwesen aus seiner verkorksten Kinderzeit).

Die Liebe zu seiner Frau und zu seinen Kindern war tatsächlich grenzenlos. Diese Liebe war nicht nur ein Wort, nicht nur eine hohle Phrase, sie war tief und aufrichtig.

 

An diesem Sonntagmorgen im Spätsommer 1988 stand Jan Bergmann gegen sieben Uhr in der Frühe auf. Er war ein Frühaufsteher und konnte nicht verstehen, wieso viele seiner Bekannten an den Wochenenden lange schlafen. Das ist doch viel zu schade, dachte er oft, den halben Tag zu verpennen! Schlafmützen! Dennoch gönnte er es am Wochenende seinen Kindern und auch seiner Frau, mal richtig auszuschlafen. Allerdings legte er Wert darauf, dass am Sonntagmorgen die Familie gemeinsam frühstückte. Das Frühstück bereitete dann stets er vor. Meine Frau macht das schließlich sechs Tage die Woche, dachte er und manchmal sagte er es auch, da kann ich es ihr wenigstens an einem Tag der Woche mal abnehmen. Jan schnitt ein Päckchen Aufback-Brötchen auf, legte die Brötchen in den Backofen, dann legte er fünf Eier in den Eierkocher, bereitete den Kaffee vor und deckte den Tisch.

Anschließend ging er hinaus, gab Rocky frisches Wasser und Futter und als dann der Kaffee, die Brötchen und die Eier fertig waren, weckte er seine Frau und seine Kinder zum Frühstück.

Nach dem Frühstück holte er Rocky aus dem Garten und begab sich wie üblich auf seine Walking-Tour, die ihn heute in den Westerholter Wald und in die Baut führen sollte.

3 Der Bankdirektor

Ein Montagmorgen im September 1995. Der Alltag hatte ihn wieder, das Wochenende war vorüber. Wirtschaftsprüfer haben sich angemeldet, die heute Morgen zu zweit kommen wollen, um seine Filiale zu prüfen, die Filiale der Bank, in der Jan seit Jahren arbeitete. Das bedeutete, dass jetzt eine harte Zeit für ihn begann, denn die Prüfer würden natürlich den laufenden Betrieb erheblich stören, auch wenn sie sich bemühen, dies nicht zu tun, er wusste, dass sich das gar nicht vermeiden ließ; und ständig musste Jan bereit sein, Rede und Antwort zu stehen und Fragen zu beantworten.

Wie lange brauchen sie wohl, dachte Jan, der die Leitung dieser Filiale vor zwei Jahren übernommen hatte, bis sie ihre Prüfung abschließen? Hoffentlich finden sie nicht gravierende Fehler, die ich gemacht haben könnte und die ich übersehen habe oder die meine Mitarbeiter gemacht haben und für die ich verantwortlich bin, und hoffentlich haben sie auch nichts gegen meine Kreditentscheidungen einzuwenden. Es war schon ein schmaler Grat, der ihm für seine Kreditentscheidungen zur Verfügung stand: Einerseits waren Zielvorgaben zu erfüllen (Zielvereinbarungen nannte man diese beschönigend, trotzdem waren es Zielvorgaben), andererseits konnte er für faule Kredite verantwortlich gemacht werden, die er an Kunden vergeben hatte. Es konnte immer passieren, dass ein Kunde oder ein Unternehmen zum Zeitpunkt der Kreditvergabe absolut solvent war und trotzdem später seinen Rückzahlungs-Verpflichtungen nicht mehr nachkommen konnte. Das war etwas, was man niemals hundertprozentig ausschließen konnte.

Hinzu kam natürlich die moralische Seite, denn hinter jedem Kreditantrag standen Menschen und Schicksale und nicht nur Zahlen und Fakten und nicht jede Kreditentscheidung war bis ins letzte Detail wirtschaftlich vertretbar. So manches Mal musste Jan tatsächlich auch über seinen Schatten als Banker springen und einen Kredit genehmigen, den er bei genauem Hinsehen eigentlich nicht hätte genehmigen dürfen, so manches Mal war er zu weich und ließ sein Herz entscheiden, anstatt die Entscheidung seinem Verstand zu überlassen.

Hierüber machte er sich jedoch keine großen Sorgen, denn seine Kreditentscheidungen traf er üblicherweise nach gründlicher Abwägung der Chancen und Risiken, und obwohl er durchaus risikofreudig war und manchmal auch seiner Menschlichkeit oder Gutherzigkeit nachgab, fiel er in der Statistik der faulen Kredite eher positiv als negativ auf.

 

Allerdings hatte er vor einem Jahr ein einschneidendes Erlebnis gehabt. Zu dem Kundenkreis seiner Filiale gehörte seit vielen Jahren auch ein bedeutendes regionales Bauunternehmen, die Baufix Bauform GmbH, welche große Bauvorhaben für private und für öffentliche Auftraggeber durchführte und die darüber hinaus auch als Bauträger schlüsselfertige Häuser erstellte. Jans Vorgänger als Leiter dieser Filiale war damals Ludger Bachmann gewesen. Als der ungesicherte Teil des Kreditvolumens der Baufix Bauform GmbH eine beachtlichen Größe erreicht hatte, wurde Bachmann von der Zentrale aufgefordert, für eine bessere Absicherung dieses Kreditengagements zu sorgen, da ansonsten eine weitere Kreditausweitung, die bei einem weiteren Wachsen der Geschäftstätigkeit dieses Unternehmens unausweichlich zu erwarten war, von der Zentrale nicht mehr für vertretbar gehalten wurde.

Zu der damaligen Zeit war eine beliebte Finanzierungsform für gewerbliche Unternehmen noch die Wechselfinanzierung gewesen. Eine Wechselfinanzierung hatte gleich mehrere Vorteile für die Bank. Im Sinne einer Kreditabsicherung war es ein unbestreitbarer Vorteil, dass alle Personen, natürliche wie juristische, die auf dem Wechsel unterschrieben hatten, für die Einlösung des Wechsels hafteten und zwar, ohne dass es eine haftungsmäßige Rangfolge zu beachten galt. Im Crash-Fall konnte die Bank sich einen beliebigen Wechselverpflichteten aussuchen und zur Zahlung auffordern.

Darüber hinaus war es für den Gläubiger einer Wechselforderung einfach, sein Recht durchzusetzen. Wurde der Wechsel bei Fälligkeit nicht eingelöst, konnte sofort Wechselklage erhoben werden und der Betrag zügig gerichtlich eingezogen werden, ohne dass das zugrunde liegende Geschäft oder dessen Richtigkeit oder Gültigkeit geprüft werden musste und es konnten überhaupt keinerlei Einwendungen erhoben werden. Keinerlei? Wir werden sehen!

Nachdem Ludger Bachmann die Forderung seiner Zentrale mit dem Geschäftsführer der Baufix Bauform GmbH besprochen hatte, ein von sich sehr überzeugter und selbstbewusster, um nicht zu sagen: arroganter Mann namens Schubert, bot dieser ihm Wechsel an, die von dem größten Lieferanten der Baufix Bauform, der Fertigbeton Steinmüller AG, ausgestellt worden waren und die er als Geschäftsführer der Baufix Bauform GmbH akzeptiert, also als Bezogener unterschrieben hatte. Damit hafteten der Wechsel-Aussteller, die Fertigbeton Steinmüller AG, und der Wechsel-Bezogener, die Baufix Bauform GmbH, jeweils für die pünktliche Einlösung des Wechsels.

Bankauskünfte, die Bachmann über die Steinmüller AG einholte, waren absolut einwandfrei und bewiesen deren gute Bonität, sie erlaubten den Ankauf dieser Wechsel und damit die Kreditausweitung ohne jeden Zweifel. Damit galt dieser Teil des Kreditvolumens ab sofort als gesichert.

Dieser durch die Wechsel gesicherte Teil des gesamten Kreditvolumens wuchs in der folgenden Zeit ständig an. Wenn ein Wechsel fällig wurde und wenn er bei Fälligkeit durch die Baufix Bauform GmbH nicht bezahlt werden konnte, weil ihr die entsprechende Liquidität fehlte, so kaufte die Bank ein Prolongationspapier, einen neuen Wechsel, an und mit dem Gegenwert wurde der fällige Wechsel bezahlt.

Als später auch andere Kontobelastungen eine Kreditausweitung bewirkten, die Bachmann nicht mehr tolerieren durfte, gab die Baufix Bauform GmbH gern weitere Wechsel herein, für deren Einlösung die Fertigbeton Steinmüller AG mithaftete. Deshalb galten natürlich auch diese weiteren Wechsel als absolut unzweifelhaft, die Einlösung dieser Wechsel bei Fälligkeit war praktisch garantiert.

Dann wurde Ludger Bachmann pensioniert und Jan Bergmann wurde sein Nachfolger und neuer Filialleiter. Im Zuge von Jahresabschlussarbeiten schickte Jan eines Tages eine Ausstellerbenachrichtigung an die Steinmüller AG, in der diese gebeten wurde, die Richtigkeit des Gesamtsaldos zu bestätigen. Als die Antwort eintraf, war die Überraschung groß und es war nicht nur eine Überraschung, sondern es war ein Schock: Die Fertigbeton Steinmüller AG bestätigte nur die Richtigkeit eines bescheidenen Teils des gesamten Saldos und bestritt die Richtigkeit des größten Teils dieser Forderungen!

Also bestellte Jan Herrn Schubert, den geschäftsführenden Gesellschafter der Baufix Bauform GmbH, kurzfristig zum Gespräch in die Bank und ließ auch, um erforderlichenfalls einen Zeugen zu haben, seinen eigenen stellvertretenden Filialdirektor, Herrn Stein, daran teilnehmen.

Als sich Herr Schubert in diesem Gespräch in eklatante Widersprüche verstrickte, verließ Jan kurzentschlossen den Besprechungsraum unter Angabe der Ausrede, er müsse mal kurz auf die Toilette, und ließ Stein mit Schubert allein. Stein ahnte, was Jan Bergmann vorhatte; er hoffte verzweifelt, Schubert hinhalten zu können und es gelang ihm auch. Von einem Nebenraum aus rief Jan die Polizei an, die innerhalb einer Viertelstunde mit zwei Beamten eintraf.

Nach einer kurzen förmlichen Begrüßung erklärte einer der Polizeibeamten Herrn Schubert:

„Sie sind vorläufig festgenommen wegen des Verdachts der Urkundenfälschung!“

In seinem Telefonanruf hatte Jan die Polizei kurz und knapp, aber dennoch ausreichend ausführlich und präzise informiert.

Gemeinsam verließen nun alle die Bank und gemeinsam fuhren sie ins Büro des Herrn Schubert bei der Baufix Bauform GmbH: Jan Bergmann, sein Stellvertreter Stein, Herr Schubert und die beiden Polizeibeamten. Hier öffnete Schubert, der sich bereits selbst aufgegeben hatte, eine Schublade seines Schreibtisches und holte Blanko-Wechselvordrucke hervor – und einen Stempel des angeblichen Wechselausstellers, einen Stempel der Fertigbeton Steinmüller AG!

Schubert gab zu, Wechsel in einer Größenordnung von fast vier Million Deutsche Mark gefälscht zu haben! Nur seine eigene Unterschrift war echt, die Unterschriften des – angeblichen – Wechselausstellers, der Fertigbeton Steinmüller AG, hatte er regelmäßig gefälscht! Einen Firmenstempel der Steinmüller AG hatte er nach eigener Aussage völlig problemlos in einem Geschäft für Bürobedarf bekommen. Jan vermutete allerdings, dass er in Wahrheit diesen Stempel von einem ungetreuen Mitarbeiter der Steinmüller AG gekauft hatte, doch das wurde nie bewiesen und es hätte auch nicht viel geändert.

Eine Einwendung gegen die Echtheit der Unterschriften auf den Wechseln musste selbstverständlich beachtet werden. Es hätte ja überhaupt keinen Sinn gemacht, Wechselklage zu erheben, das Geld zwangsweise einzutreiben und in einem späteren Prozess zu unterliegen.

Auf diesem Schaden blieb die Bank sitzen, da die Baufix Bauform GmbH kurz darauf in die Insolvenz ging, denn ihr ging ja die Unternehmensfinanzierung verloren, die tatsächlich längst eine reine Verlustfinanzierung durch gefälschte Wechsel geworden war.

Ungefähr zu dieser Zeit ließ dann die Bedeutung des Zahlungsverkehrs durch Wechsel sowie die Finanzierungsform Wechsel rapide nach, da sich elektronische Zahlungs- und Finanzierungsarten mehr und mehr durchsetzten.

 

Für Jan Bergmann und seine Frau Bettina wurde dieses Baufix-Fiasko später sogar noch zum Glücksfall. Zunächst einmal: Sein Arbeitgeber machte ihm keine Vorwürfe darüber, dass er den Betrug nicht eher erkannt hatte. Es kommt aber noch besser!

Im Verlauf seiner früheren Karriere hatte Jan vorübergehend in der Kreditabteilung der Zentrale und später eine Zeitlang in der Rechtsabteilung seiner Bank gearbeitet, bevor er die Leitung seiner Filiale als Filialdirektor übernahm. Der Rechtsabteilung wurden auch sogenannte Abwicklungsfälle übertragen, Kreditnehmer, die in die Insolvenz gingen, überhaupt alle notleidend gewordenen Kreditengagements. Die Abwicklung dieser Kreditfälle beinhaltete auch die Durchführung von Zwangsmaßnahmen wie Mahnbescheide, Vollstreckungsbescheide, allgemein die Verwertung von Sicherheiten, Zwangsversteigerungen von Immobilien und und und …

Damals erkannte Jan, dass Immobilien in Zwangsversteigerungsverfahren fast immer weit unter ihrem Wert den Eigentümer wechseln, und hierin erkannte er seine Chance. Er gründete eine GmbH. Die Geschäftsanteile an dieser GmbH hielt er zu fünfzig Prozent und die weiteren fünfzig Prozent hielt seine Frau Bettina, die auch zur Geschäftsführerin bestellt wurde. Zweck dieser GmbH, die den Namen „Immobilien-GmbH Löchterheide“ erhielt, war zunächst der Erwerb von Immobilien, auch, aber nicht nur, aus Zwangsversteigerungsverfahren.

Diese Immobilien wurden zunächst in den eigenen Bestand übernommen. Dabei achtete Jan stets darauf, nur Immobilien zu erwerben, bei denen die Mieteinnahmen, wenn nicht höher, so auf keinen Fall niedriger waren, als der Kapitaldienst, also die Zins- und Tilgungszahlungen für die jeweilige Finanzierung. Die erworbenen Objekte trugen sich folglich immer selbst, so dass Jan keinerlei zusätzlichen finanziellen Aufwand hatte.

Dann erwies es sich als lukrativ, erworbene Mehrfamilienhäuser in Eigentumswohnungen umzuwandeln und diese nach und nach zu verkaufen. Dadurch erhöhte sich der Verkaufswert dieser Immobilien drastisch. Manchmal gelang es auch, Immobilien nach ihrem Erwerb ohne Aufteilung zu einem erheblich höheren Verkaufspreis zu veräußern, als die GmbH selbst aufwenden musste.

Durch legale steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten gelang es ihm, die Gewinne weitgehend steuerfrei seinem Privatvermögen zuzuordnen; noch interessanter war es allerdings, steuerliche Verluste der GmbH mit seinem inzwischen recht beachtlich gewordenem Gehalt zu verrechnen, so dass er Einkommensteuerzahlungen fast vollständig vermeiden konnte und sogar die von seinem Gehalt abgezogenen Lohnsteuern, wenn nicht in voller Höhe, so doch zu einem großen Teil vom Finanzamt zurückerstattet bekam.

Nachdem die Baufix Bauform GmbH zahlungsunfähig geworden war, betrieb die bankeigene Rechtsabteilung auch die Zwangsversteigerung von Werkswohnungen, die die Baufix in besseren Zeiten für ihre Beschäftigten gebaut und die sie über Jans Bank finanziert hatte. Die „Immobilien-GmbH Löchterheide“ der Eheleute Bergmann übernahm diese Wohnungen, nachdem sich eine andere Verwertung zerschlagen hatte, zum absoluten Schnäppchenpreis.

Der Wechselbetrug der Baufix Bauform GmbH lag jetzt schon einige Zeit zurück und auch der Erwerb der Werkswohnungen durch Bergmanns GmbH erfolgte bereits vor über einem Jahr. Die jetzt beginnende Prüfung bereitete Jan keine schlaflosen Nächte; er war sich sicher, dass diese Prüfung zu keinen unangenehmen Erkenntnissen führen wird. Sein Optimismus war durchaus begründet, denn bei den jährlich stattfindenden Prüfungen waren noch nie gravierende Mängel festgestellt worden. Jan Bergmann hatte seinen Laden im Griff.

 

An diesem grauen und regnerischen Montagmorgen im September betrat ein Paar nur wenige Minuten nach neun Uhr die Geschäftsstelle der Bank und ging zum Schalter, beide stellten sich vor, wiesen sich aus und baten, zum Filialleiter geführt zu werden. Der Mann war mittleren Alters, vielleicht Mitte vierzig oder Anfang fünfzig. Er stellte sich vor als Mitarbeiter der Wirtschaftsprüfergesellschaft, die die Aufgabe hatte, diese Geschäftsstelle der Bank zu prüfen, und er hieß Schulze mit Namen. Über ihn gibt es nicht viel zu berichten, er war ein typischer Buchprüfer, korrekt bis in die Zehenspitzen und knochentrocken. Humorlos. Er war der verantwortliche Prüfungsleiter.

Sein Kollege war kein Er, er war eine Sie und sie war jung, höchstens dreißig Jahre alt. Sie war etwas mollig, aber beileibe nicht dick. Jan fiel sofort ihre sehr frauliche Figur auf, an ihr war alles dran, was einem Mann gefällt. Sie trug helle hautenge Jeans und sie hatte einen durchaus knackigen Hintern und einen beachtlichen Busen, wie Jan sofort feststellte, den eine knappe weiße Bluse umspannte. Ihre dunkelblonden Haare fielen ihr lockig bis auf die Schultern herab. Sie sah Jan an, offen und beinahe keck, fand er, reichte ihm die Hand zum Gruße und sagte:

„Hallo! Ich heiße May, Ingelore May.“

Jan sah in ihre blassgrünen Augen und erkannte darin sofort eine Art Wesensverwandtschaft mit sich selbst. Sein Lächeln war eher ein leichtes Grinsen, so als wollte er sagen: Ich habe dich schon durchschaut! Du bist genauso wie ich! Du brauchst auch den Sex und du hältst dich auch nicht unbedingt an konventionelle Regeln und du bist auch nicht allzu wählerisch. Du nimmst dir doch auch den Sex da, wo du ihn kriegen kannst! Wir wollen doch mal sehen, was daraus wird!

Nachdem sie sich miteinander bekannt gemacht und nachdem sie ein wenig miteinander geplaudert hatten, erläuterte Herr Schulze, wie er die Prüfung durchführen wollte; dann führte Jan beide Prüfer in das Zimmer, das er für sie vorgesehen hatte und ließ sie alleine mit ihren Prüfungsvorbereitungen und ging hinüber in sein Büro.

 

Ihm fiel ein, was ihm vor vielen Jahren einmal passierte, als er noch am Anfang seiner beruflichen Karriere stand und damals noch Klein- und Anschaffungsdarlehen verkaufte. Ein Kunde war zu ihm gekommen und beantragte ein Kleindarlehen. Jan holte wie üblich eine Schufa-Auskunft ein, die leider so negativ war, dass er dem Kunden das Darlehen nicht geben konnte. Deshalb sagte er ihm:

„Wenn Sie jemand kennen, der eine gute Bonität hat und der bereit ist, für Sie zu bürgen…, jemanden also, der bereit ist, die Ratenzahlungen für Sie zu übernehmen, wenn Sie – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage dazu sein sollten..., dann kann man noch einmal darüber nachdenken!“

Der Kunde versprach, einen Bürgen zu finden, allerdings verwechselte er die Begriffe Bürge und Zeuge. Er nannte Jan den Namen des künftigen Bürgen, Müller hieß der, und gab Jan alle erforderlichen Auskünfte. Die Schufa-Auskunft über den Bürgen Müller war einwandfrei, sie ergab lediglich, dass Müller bereits bei einer anderen Bank eine Bürgschaft zu Gunsten eines Bekannten übernommen hatte.

Am nächsten Tag betrat Herr Müller Jans Büro und sagte:

„Guten Tag! Mein Name ist Müller. Ich soll hier zeugen, aber das geht leider nicht, denn ich habe noch einen am Laufen!“

 

Die Prüfung verlief, wie Jan es auch erwartet hatte, absolut reibungslos. Weder im Prüfungsablauf noch beim Prüfungsergebnis gab es Überraschungen. Als der Wirtschaftsprüfer Schulze an einem Freitagvormittag ankündigte, dass die Prüfung in einer Woche abgeschlossen würde, lud Jan ihn und seine Mitarbeiterin Ingelore May für mittags zum Essen ein.

„Es gibt hier in Buer ein griechisches Lokal, das für seine exzellenten Speisen bekannt ist. Wenn es Ihnen passt, lass ich uns für heute Mittag einen Tisch reservieren.“

„Das passt ganz gut,“ sagte der Prüfer Schulze, „dann können wir heute vielleicht ausnahmsweise mal den Nachmittag frei machen und ins Wochenende gehen. Außerdem ist es für Frau May heute sowieso der letzte Tag hier; wie sind schließlich ganz gut vorangekommen und den Rest schaffe ich auch alleine.“

In der Bank war es üblich, dass Wirtschaftsprüfer gegen Ende einer Betriebsprüfung zum Essen eingeladen werden; es war schon so etwas, wie die schwächste Form der Bestechung. Mit den Prüfern einigte Jan sich darauf, um 13.30 Uhr zum Essen zu gehen. Dann informierte Jan auch Herrn Stein, seinen Stellvertreter, der ebenfalls an diesem Essen teilnehmen würde.

Es war natürlich kein privates Essen und man würde, wenn auch mäßig, fachsimpeln, Erfahrungen austauschen, sich über aktuelle Änderungen der Gesetzeslage informieren, insbesondere über die Vorschriften des Kreditwesengesetzes, die die Offenlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Kreditnehmer regelte. Diese Vorschriften, die in den letzten Jahren erheblich verschärft worden sind, führten immer wieder zu Interpretationsschwierigkeiten. Selbstverständlich war der Hauptzweck eines solchen Arbeitsessens die Kontaktpflege. Man musste immer damit rechnen, dass diese Prüfer im nächsten Jahr oder in einem der nächsten Jahre wieder einmal die jährliche Prüfung durchführen würden.

Nach dem Essen blieb man noch eine Anstandsweile zusammen, trank noch etwas und tauschte Artigkeiten aus. Dann verabschiedete sich Herr Schulze, ging zu seinem Wagen und fuhr heim.

„Ich muss nochmal kurz in die Bank“, sagte Frau May. Sie, Jan Bergmann und Udo Stein gingen gemeinsam zur Bank zurück, Ingelore May ging in das Zimmer der Prüfer, Herr Stein in sein Büro und Jan ging ins Chefzimmer. Schon nach wenigen Minuten betrat Ingelore May sein Vorzimmer und ließ sich von Jans Sekretärin anmelden. Jan war nicht überrascht. Er hatte es gespürt, geahnt, schon als er Ingelore das erste Mal sah, hatte er sie durchschaut. Jan hatte gesehen: Sie war ihm wesensverwandt, er sah, dass auch sie den Sex brauchte und ihn nahm, wo und wann es ging.

„Störe ich?“, fragte sie und Jan sah ihr an, dass sie wusste, sie stört nicht; er sah ihr an, dass sie wusste, sie wird erwartet. Die Blicke, die sie beide während der Prüfung zuweilen gewechselt hatten und die Blicke, die sie während des Essens wechselten, haben beide richtig gedeutet. Es brauchte der Worte nicht mehr. Sie wussten Bescheid. Beide.

„Auf keinen Fall!“, antwortete er, „kommen Sie herein. Einen Kaffee nach dem Mittagessen?“

„Ja, gerne, danke!“

Jan ging ins Vorzimmer und bat seine Sekretärin:

„Machen Sie uns bitte zwei Kaffee, Frau Schenk? Frau May und ich, wir haben noch ein paar Prüfungsfeststellungen zu diskutieren, die ich keineswegs im Prüfungsbericht wiederfinden will. Ach so, ja, äh…, Sie können anschließend gerne Feierabend machen und ins Wochenende gehen. Ich brauche Sie heute nicht mehr; wenn Frau May und ich fertig sind, mache ich auch Schluss für heute.“

Ingelore May lächelte leicht verschmitzt, weil sie die Doppeldeutigkeit dieses Satzes durchaus erkannte.

 

Samstagmorgen, am nächsten Tag, wie immer am Wochenende, wollte Jan früh los. Heute wollte er durch den Emscherbruch wandern. Dazu musste er mit Rocky nur wenige Kilometer weit fahren. Er war heute aber etwas später dran, als gewöhnlich samstags morgens. Die Sonne war bereits aufgegangen und sie versprach einen schönen Spätsommertag. Silbern lag noch Tau auf den Wiesen und ein ganz schwacher Wind wehte von Westen her leicht durch das Laub der Bäume, das sich bereits langsam zu verfärben begann. Jan hörte den Morgengesang von Vögeln und er dachte an gestern.

Er hatte es ja geahnt oder sogar gewusst, dass Ingelore zu ihm kommen würde, aber dann war er doch überrascht, wie schnell sie zur Sache kam. Kaum hatte Frau Schenk den Kaffee gebracht und sich ins Wochenende verabschiedet, da sagte sie einfach:

„Sollten wir nicht besser die Tür schließen?“

Donnerwetter, dachte Jan, was geht die ran, und er sagte:

„Ja, sicher, aber hier kommt niemand herein, wenn mein Vorzimmer nicht besetzt ist. Aber natürlich schließe ich trotzdem ab.“

Jan schloss nicht die Tür seines Zimmers ab, sondern die Tür des Vorzimmers.

Jan war enttäuscht, sogar jetzt noch, am Samstagmorgen, während er mit Rocky die Wege durch den Emscherbruch lief, ihm war es gestern tatsächlich viel zu schnell gegangen. Sie hatten kein langes, lustvolles und erregendes Vorspiel gehabt, sondern sie zogen sich sehr schnell und beinahe hastig aus, entkleideten sich in Windeseile und lagen bereits auf der Besuchercouch, bevor der Kaffee kalt war. Und auch dann ging es sehr schnell: Ruckzuck. Ingelore hatte ihm schnell ein Präservativ übergestreift (ob sie immer eins dabei hat?, dachte Jan) und kaum war er in sie eingedrungen, als sie auch schon zu jauchzen und zu jubilieren begann und schon stieß sie kleine heisere Schreie aus, die dafür sorgten, dass auch Jan schnell kam. Es hatte kaum richtig begonnen, da war es auch schon wieder vorbei, obwohl die Couch als Liebesnest nicht gerade lustfördernd war.

Nein, es war kein ausgiebiges Liebesspiel gewesen, es war eine schnelle, beinahe hastige Nummer und für Jan war es nicht besonders befriedigend gewesen. Ein bisschen bedauerte er sogar, dass er sich auf so etwas eingelassen hat. Es war tatsächlich so etwas wie eine schnelle Nummer notgeiler Teenies gewesen.

Nachher fragte er sie:

„Ist das nicht etwas leichtsinnig für dich?“

„Wieso das denn? Was meinst du?“

„Na ja, es kann doch sein, dass du im nächsten Jahr oder in einem der nächsten Jahre wieder hierher kommst. Es ist doch so, dass du dreimal, glaube ich, dieselbe Filiale prüfen darfst und nicht öfter, damit deine Prüfungen nicht durch persönliche Kontakte beeinträchtigt werden, oder? Also darf doch wohl nicht bekannt werden, dass wir uns näher gekommen sind, oder sehe ich das falsch?“

„Mach dir mal darüber keine Gedanken. Bekannt werden braucht es ja auch nicht. Es geht doch niemand etwas an. Außerdem: Ich werde ab Anfang Januar für ein Jahr in die USA gehen. Ich mache dort ein Praktikum, mein Auslandsjahr. Wenn ich von dort zurückkomme, werde ich nicht mehr im Außendienst tätig sein.“

„Oh! Was heißt das für uns?“

„Nichts! Es war dir doch von Anfang an klar, dass es für uns keine Zukunft als Paar gibt, nicht wahr? Und das ist auch gut so. Du bist verheiratet und sollst es auch bleiben. Ich wollte heute Sex haben mit dir, du wolltest es doch auch, stimmt’s nicht? So haben wir beide bekommen, was wir wollten und damit hat es sich! Vielleicht sehen wir uns noch mal wieder, vielleicht nicht. Vielleicht werden wir irgendwann, irgendwo, irgendwie das von heute noch einmal wiederholen, vielleicht auch nicht. Deswegen brauchen wir jetzt ja nicht sentimental zu werden, oder?“

 

Tatsächlich war Jan erleichtert. Schnell vergessen, was geschehen ist, dachte er und nahm Rocky an die Leine, weil ihm zwei Frauen mit ihren Hunden entgegenkamen. Wie immer in solchen Fällen begrüßten und beschnupperten sich die Hunde neugierig. Jan hatte Rocky auch nur deshalb an die Leine genommen, weil er ihm damit deutlich machen konnte, dass er bestimmt, wann es weitergeht. Und er wusste natürlich auch nicht, wie sich die fremden Hunde verhalten werden.

Wie es zu erwarten gewesen ist, blieb diese Begegnung folgenlos. Die Hunde beschnupperten sich, wedelten mit ihren Schwänzen, die Menschen wechselten ein paar belanglose Worte und Menschen und Tiere trennten sich und gingen ihrer Wege. Jan wunderte sich immer wieder, wie viele soziale Kontakte durch seine morgendlichen Wanderungen zustande kamen. In aller Regel beschränkten sich diese allerdings auf den Augenblick.

Jan löste Rockys Leine wieder vom Halsband und Rocky sauste los. Hinter der nächsten Biegung des Weges sah Jan, dass ihnen ein Rollstuhlfahrer entgegen kam, der ebenfalls von einem Hund begleitet wurde. Es war ein kleiner Hund unbestimmbarer Rasse, der nicht angeleint war und der deshalb auch frei umherstreifen konnte, so wie Rocky. Er tat es aber nicht, sondern blieb stets in unmittelbarer Nähe des Rollstuhls, fast so, als sei er angeleint.

Als sie näher kamen, erkannte Jan, dass in dem Rollstuhl kein Rollstuhlfahrer saß, sondern eine Rollstuhlfahrerin, die wohl wegen der kühlen Luft des frühen Morgens eine Decke über ihre Beine gelegt hatte.

Es war eine ausgesprochen hübsche junge Frau oder eher noch ein junges Mädchen, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt, dachte Jan, sie hatte dunkelbraune und leicht krause kurze Haare, die recht kess geschnitten waren. Schnell rief Jan Rocky heran, der auch sofort parierte, während der kleine Begleiter des Rollstuhls in der Nähe des Rollstuhls und damit in der Nähe seiner Herrin blieb. Aufmerksam beobachtete er Rocky und Jan.

„Hallo,“ rief Jan, „ich habe gerade erst meinen Hund wieder von der Leine gelassen, weil ich Sie vor der Wegbiegung nicht sehen konnte. Aber Ihr Hund hält sich ja ganz konsequent neben Sie! Der lässt sich weder von Rocky noch von mir beeinflussen!“

„Hallo,“ antwortete dieses hübsche Gesicht, welches – vielleicht wegen der Morgenfrische – leicht gerötet war, „das muss auch so sein. Zelda weiß, dass sie nichts tun darf ohne meinen ausdrücklichen Befehl. Wirklich gar nichts, denn wenn sie Unsinn machen würde, könnte ich es ja kaum verhindern! Aber sie ist absolut zuverlässig und sie weiß auch, dass sie immer in meiner Nähe bleiben muss.“

Jetzt sah Jan, dass dieses hübsche Mädchen grüne Augen hatte, sattgrüne und nicht so blasse wie Ingelore May. An ihren Augenlidern waren lange und dichte dunkle Wimpern, ganz leicht nach oben gebogen, und ihre dunklen Augenbrauen waren vielleicht eine Kleinigkeit zu groß geraten, gaben aber ihrem Aussehen den besonderen Pfiff. Sie hatte dunkelblonde, fast braune Haare, volle dunkle Lippen und offensichtlich trug sie keinen Lippenstift.

„Sie hätten sich einen größeren Hund aussuchen sollen,“ versuchte Jan zu scherzen, „vielleicht einen Husky, wie Rocky, den könnten Sie doch vor Ihr Gefährt spannen und der könnte Sie dann ziehen so wie die Schlittenhunde in Kanada oder Alaska oder zumindest könnte er Sie beim Fahren unterstützen!“

„Nein, nein!“, protestierte dieses Mädchen lachend, weil ihr Jans Lockerheit gefiel und weil er über ihren Rollstuhl sprach, als sei er ein vollkommen alltägliches Gefährt, „wenn ich Hilfe brauchen würde, um mich fortzubewegen, dann hätte ich wohl einen Elektrofahrstuhl. Aber ich will mich ja gerade bewegen, jedenfalls, soweit es eben geht, wenn man nur ein Bein hat!“

„Entschuldigen Sie,“ bat Jan und er wurde jetzt doch leicht verlegen, „ich wollte mich nur ein bisschen unterhalten und eigentlich nur ein bisschen nett sein. Ich wollte nicht auf den Busch klopfen! Darf ich Sie ein Stück begleiten? Mit meinem Hund, mit Rocky?“

„Ja,“ entgegnete dieses hübsche junge Mädchen nach kurzer Überlegung und fügte – zögernd – hinzu: „gerne“, obwohl sie sich fragte, wozu das gut sein sollte.

„Übrigens: Ich heiße Jan, Jan Bergmann. Dass mein Hund Rocky heißt, haben Sie natürlich längst erraten.“

„Ich heiße Laura Lou Becker und mein Hund Zelda ist eine sie.“

„Was ist passiert, dass Sie…, wieso haben Sie nur ein Bein? Was ist mit dem anderen passiert?“, stotterte Jan und er fragte sich: Ist das korrekt, dass ich sie direkt auf ihre Behinderung anspreche? Wie verhält man sich in einer solchen Situation? Die Behinderung einfach ignorieren? Dafür ist es zu spät. Am besten wird es wohl sein, wenn ich ihre Behinderung als ganz normal und ganz selbstverständlich ansehe.

„Ein Bus war stärker als mein Bein,“ erwiderte die behinderte junge Frau ohne zu zögern, „ich bin an einer Bushaltestelle gestolpert und gestürzt, gerade in dem Augenblick, als ein Bus kam, und er überrollte mein Bein und zwar so dämlich, dass es nicht mehr gerettet werden konnte. Es musste oberhalb des Knies amputiert werden.“

„Stört es Sie, wenn wir darüber reden? Sollen wir besser das Thema wechseln?“

„Nein. Ich hatte ja fast zehn Jahre Zeit, mich daran zu gewöhnen, dass ich kein normales Mädchen mehr bin und jetzt auch keine normale Frau!“

Ein wenig Bitterkeit klang schon aus diesem Satz, mit dem das Mädchen gleichzeitig darauf hingewiesen hatte, dass sie eben kein kleines Mädchen mehr war.

„Na ja! Was heißt schon normal? Außer der Tatsache, dass Sie nur ein Bein haben, sind Sie doch völlig normal, nur dass Ihr Aussehen ungewöhnlich ist. Ich finde, Sie sind außerordentlich hübsch und Sie machen doch auch das Beste aus Ihrer Situation, oder? Sie sind draußen in der Natur, an der frischen Luft, Sie bewegen sich, Sie bewegen sich mit Muskelkraft und das schon am frühen Morgen. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich nicht hängen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 04.02.2016
ISBN: 978-3-7396-3552-1

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