Lost my Mind
Luisa hob die Hand über die Augen und sah in die Sonne. Kräftige Strahlen blendeten sie und ließen sie für einen kurzen Augenblick erblinden. Schnell drehte sie den Kopf ein wenig zur Seite so dass die Sonne sie nicht mehr so sehr blenden konnte, und suchte den Himmel nach Wolken ab. Keine einzige ließ sich blicken. Luisa seufzte. Sie schrieb lieber wenn es regnete.
Das hohe Gras in dem sie stand, kitzelte sie an ihren nackten Beinen, obwohl sie knöchelhohe Schuhe trug. Luisa wechselte die Hand und nahm das schwere Buch, dass sie immer hier her mitnahm, in die andere Hand. Der Stift dazu steckte in ihrer hinteren linken Hosentasche. Wie aus einem Reflex heraus nahm sie die Hand von den Augen und strich über die glatte Oberfläche des Buches. Dann schüttelte sie den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung.
Es war schon so lange her und noch immer konnte sie nicht damit leben.
Noch immer betete sie, dass es anders kommen würde.
Der Tag war sehr warm und Luisa zupfte ihr T-Shirt zurecht. Es war sein liebstes gewesen.
Sie trug nur noch seine Shirts. Seit dem Tag hatte sie kein einziges Kleidungsstück mehr von sich selbst getragen.
Tränen begannen in ihren Augen zu brennen doch Luisa riss sich zusammen.
Nach fast einem Jahr hatte niemand mehr Verständnis dafür dass sie weinte.
Sie tat es trotzdem.
Jeden Tag.
Luisa bewegte sich langsam Bergauf an dem schmalen Feldweg entlang, der das kleine Feldumsäumte.
Rechts neben ihr war ein Hügel, der sich an eine alte verfallene Brücke anlehnte.
Jedes Mal wenn sie hier vorbei kam musste sie daran denken wie sie einmal hier gestanden hatte, mit ihm zusammen, sie hatten in den Nachthimmel geschaut und auf eine Sternschnuppe gewartet.
Doch es war keine gekommen.
Stattdessen waren Obdachlose aufgetaucht, die wohl unter der Brücke ein Lager hatten und hatten sie zu Tode erschreckt.
Ein Lächeln huschte Luisa über das Gesicht als sie daran dachte wie er ihre Hand genommen hatte und ihr ein Sternenbild erklären wollte.
Wieder spürte sie die Tränen doch sie schluckte sie auch dieses mal herunter.
Einen Moment noch betrachtete sie die Brücke, die wie ein Fels an dem Hügel stand, dann ging sie weiter.
Das Feld wurde rund herum von ein wenig Wald eingesäumt. Es war ein schönes Stück Land. Hier war sie völlig ungestört. Sehr selten kam ein Wanderer oder jemand mit einem Hund vorbei.
Doch das Feld war so abgeschieden, dass die meisten nicht einmal wussten dass es noch existierte.
Hier fühlte sie sich völlig allein, völlig frei.
Aus einem Impuls heraus drückte sie plötzlich das Buch fest an die Brust.
Sie hatte seit er es ihr geschenkt hatte jeden Tag darin geschrieben.
Mittlerweile war es voll und Luisa musste Blankoseiten hinein kleben.
Doch das war ihr egal.
Unter der stechenden Sonne schritt sie über den Weg und kam endlich zu der kleinen Niesche, in der sich der alte Hochsitz verbarg.
Der Jäger, der ihn einmal erbaut haben mochte, hatte wohl längst vergessen dass es ihn noch gab, denn niemals hatte Luisa jemand anderen an dem alten Holzding angetroffen.
Sie legte das Buch oben auf die Plattform und kletterte hinter her.
Wie ein Zuhause empfingen sie die alte Decke und das kleine Kisschen, das sie sich einmal mitgenommen hatte.
Auch eine Taschenlampe hatte sie hier deponiert.
Seufzend ließ sich Luisa auf den Holzsitz sinken und sah aus dem Fenster über das Feld.
Von hier aus konnte man alles überblicken.
Hier war ihr Ort des Friedens.
Mit der freien Hand griff sie unter die Holzbank und holte eine alte abgegriffene Kiste heraus.
Sie nahm den Deckel ab und holte die paar Fotos und Papierstapel heraus, die darin lagen.
Jetzt endlich erlaubte sie sich zu weinen.
Die Musik in ihren Ohren war einfach nicht mehr laut genug um ihre Gedanken zu übertönen.
Das Foto von ihm war schon so abgegriffen und verfärbt doch es war das einzige, dass sie noch von ihm besaß.
Sie sah ihm in die Papiernen Augen, ließ die Tränen laufen und schluchzte ihren Schmerz heraus.
Seine Augen leuchteten auf dem Fotopapier genauso grün wie in echt. Sie konnte sich genau erinnern, wie sie immer leuchteten wenn er aufgeregt war, wie sie abstumpften wenn ihn etwas ärgerte und wie sie sich mit Tränen füllten, als ihm bewusst wurde, dass er sie zum letzten mal sehen würde.
Schniefend wischte sich Luisa die Tränen aus dem Gesicht und steckte das Foto zur Seite.
Dann faltete sie einen Brief auseinander. Wie ein Ritual, dass sie jeden Tag durchführte, las sie seinen letzten Brief an sie, ließ bei jedem Wort eine neue Träne auf ihre Wange rollen.
Er fehlte ihr so schrecklich.
Dann las sie ihre eigenen Briefe. Sie konnte jeden auswendig aufsagen.
Jeden einzelnen, den sie ihm geschrieben hatte, hatte sie in dieser Kiste aufbewahrt.
Manche hatte er nie gelesen.
Als sie fertig war packte sie alles wieder feinsäuberlich in der Kiste zusammen und schob sie wieder unter den Holzsitz.
Erinnerungen strömten über sie herein.
Ihr erster Kuss, ihre erste Umarmung, sein erstes „Ich liebe dich!“ und sein letztes „Ich werde dich nie vergessen:“
Wieder wischte sie sich energisch die Tränen aus dem Gesicht.
Man hatte ihr gesagt es würde vorüber gehen. Sie müsste es nur aushalten. Es würden andere kommen die sie genauso lieben könnte wie ihn.
Doch das war gelogen.
Es war zwar erst ein Jahr her, dass er sie verlassen hatte doch es fühlte sich immer noch an wie am ersten Tag.
Plötzlich spürte sie seine Lippen auf ihren.
Sie zitterte.
Dieses Gefühl, dass er bei ihr war, hatte sie nur hier.
Nur hier konnte sie ihm ihre Sorgen erzählen, ihre Ängste, sie konnte ihm hier sagen wie sehr er ihr fehlte und wie sehr sie ihn liebte.
Doch zurück kommen würde er trotzdem nicht.
Luisa griff nach dem dicken Notizbuch und schlug es auf.
Auf der ersten Seite stand:“ Für Dich. Damit du jeden Gedanken, der für mich ist, aufschreiben kannst. Ich will sie alle lesen und keinen einzigen verpassen. Ich liebe dich.“
Er hatte ihr das Buch zum Valentinstag geschenkt. An diesem Tag waren sie genau drei Jahre zusammen gewesen.
Drei Wochen später war alles vorbei.
Luisa strich über die Worte, die er so angestrengt in das Buch geschrieben hatte damit sie sie auch lesen konnte.
Sie liebte seine krakelige Schrift. Das und seine T-Shirts war alles, was ihr noch geblieben war.
Luisa griff nach dem Kragen des Scott T-Shirts und zog es an ihre Nase.
Es roch noch immer nach ihm, obwohl ihre Mutter es schon so oft gewaschen hatte.
Der Duft des Parfums hing noch darin, dass sie ihm einmal geschenkt hatte.
Wieder liefen ihr Tränen über das Gesicht.
So oft hatte er sie weg gewischt, sie weg geküsst und ihr versprochen dass alles gut werden würde.
Nichts war gut geworden.
Nichts.
Luisa blätterte zu der Stelle an der sie aufgehört hatte zu schreiben und kramte den Stift aus ihrer Hosentasche.
Hier konnte sie ihre Gedanken aufschreiben. Ihre Sehnsüchte an ihn in Worten verpacken und sie frei lassen.
Hier in diesem alten Hochsitz bekamen ihre Worte Flügel und Luisa tat nichts anderes mehr als zu beten.
Zu beten dass er sie lesen konnte, sie hören oder spüren konnte.
Er wollte doch jeden Gedanken lesen. Sie schrieb sie alle auf.
Keinen einzigen ließ sie aus.
Der Stift in ihrer Hand begann wie von Zauberhand über das Papier zu gleiten, begann Gedanken und Gefühle auf zu zeichnen, Erinnerungen an ihn und die wunderschöne Zeit, Schmerz und Unglück.
Luisa schrieb und schrieb.
Jeden Tag schrieb sie sich an diesem Ort ihren ganzen Kummer von der Seele.
Doch sie glaubte nicht mehr daran dass es eines Tages aufhören würde.
Dieses Loch in ihr würde immer bleiben.
Ihre Gedanken schweiften ab, sie sah ihn wieder, sah das Blut und die Angst in seinen Augen.
Luisa krampfte sich zusammen, der Stift hielt inne und sie begann schwer zu atmen.
Sie konnte diesen Tag im März einfach nicht vergessen.
Er war auf dem Weg zu ihr gewesen, wollte sie abholen.
So oft hatte Luisa Gott und die Welt verflucht, hatte geschworen dass jeder, der Verantwortlich dafür war in der Hölle schmoren würde als Strafe für ihre Qualen. Aber natürlich trug niemand die Schuld daran.
Höchstens er selbst.
Es hatte gefroren und er wollte trotzdem mit dem Motorrad fahren.
Sie wusste immer sofort wenn etwas nicht stimmte. Sobald es ihm schlecht ging, träumte Luisa schlecht oder hatte ein flaues Gefühl im Magen.
An diesem Tag war sie so unruhig wie noch nie gewesen.
Sie konnte sich nie erklären, was sie dazu getrieben hat aus dem Haus und die Straße hinunter zu laufen.
Sie war gerade an der Kreuzung angekommen als sie einen lauten Knall hörte.
Dann sah sie nur noch Metallsplitter und Glas fliegen.
Mittendrin ein Motorradhelm.
Luisa träumte oft von ihrem eigenen Schrei doch sie konnte sich nie daran erinnern überhaupt den Mund aufgemacht zu haben.
So oft hatte sie über diesen Tag geschrieben, hatte versucht heraus zu finden was passiert war, hatte versucht zu begreifen.
Sie war zu ihm hingerannt, zu dem Frack das einmal ein Auto gewesen war und dem Klumpen Blech, dass sein Motorrad sein sollte.
Sie hatte ihm das Visier des Helms hoch geklappt und in seine grünen Augen gesehen, hatte Angst und Gewissheit gesehen.
Luisa schrie und weinte, sie strich ihm über das blutverschmierte Gesicht und versuchte ihm ein zu reden, dass alles gut werden würde.
Luisa erinnerte sich daran, wie er nur gelächelt hatte, ihre Hand genommen und gesagt hatte:“ Vergiss mich nicht hörst du? Jetzt musst du alleine weiter machen. Ich liebe dich. Bitte vergiss nichts. Ich warte auf dich.“
Dann hatte er seine schönen Augen geschlossen und war einfach gegangen.
Er hatte sie einfach auf der Straße inmitten der Trümmer alleine gelassen, war verschwunden und Luisa wurde bis heute nicht mit dem Verlust fertig.
Sie schrieb weiter, wischte sich ab und zu eine Träne aus dem Gesicht um besser sehen zu können.
Plötzlich löste sich eine Seite aus dem Buch und glitt zu Boden.
„ 18 Jähriger Motorradfahrer stirbt bei schwerem Unfall.
Betrunkener Autofahrer überlebt die Kollision ohne einen Kratzer.
Am siebten März 2011 ist auf der Hauptstraße in Willingen ein schwerer Unfall passiert. Ein 18 jähriger Motorradfahrer kam dabei ums Leben. Seine Freundin rief vor Ort den Krankenwagen. Doch es kam jede Hilfe zu spät. Sie musste von der Leiche mit Gewalt entfernt werden. Sie befindet sich nun in Psychischer Behandlung. Der Betrunkene Autofahrer überlebte den Unfall ohne einen Kratzer. „
Als Luisa aufsah war es dunkel. Sie strich sich die dunkeln Haare aus dem Gesicht, packte ihr Buch zusammen, steckte den Stift wieder ein und machte sich auf den Weg nach Hause.
Sie würde wieder kommen.
Jeden Tag.
Um zu vergessen, um zu vergeben, um zu überleben.
Texte: Alles Meins!
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2012
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