Der Tintenschnüffler und die Weltenweber
Kinderbuch - Fantasy von Iris Deitermann
Sperling-Verlag 10/12
Leseprobe
Prolog
Blau.
So waren sie.
Die Nächte.
Sie waren erfüllt von einem tiefen, dunklen Blau. Ein Blau, das die Stille mit sich brachte, wenn es sich wie ein Schleier über die Erde legte. Ein Blau, das so manchem Scharlatan ein Deckmantel war, die Menschen zum leisen Flüstern anhielt und den Schlaf in die Häuser brachte.
An diesem Ort jedoch war die Nacht rabenschwarz. Kein Funkeln eines Sternes durchbrach die Dunkelheit und zwinkerte einem Beobachter zu, keine Mondscheibe lächelte freundlich und wissend vom Himmel. Hier war es einfach nur stockdunkel. So dunkel, dass man die Hand vor Augen nicht sah.
Er tastete mit seinen Händen die Oberfläche der Plattform ab, auf der er stand. Vorsichtig setzte er dann einen Fuß vor den anderen. In der gebückten Haltung, mit den Händen am Boden, war das gar nicht so einfach. Er wollte jedoch nicht riskieren abrupt in die Tiefe zu stürzen, weil er das Ende der Plattform nicht erkannt hatte. Nur langsam bewegte er sich vorwärts. Da, endlich fuhren seine Fingerspitzen ins Leere. Sofort blieb er stehen und richtete sich auf. Er seufzte tief. Wusste er doch, dass er, wenn er erst unten angekommen war, nur einen weiteren mühseligen Aufstieg vor sich hatte. Er war müde und beschloss, die Nacht hier oben zu verbringen. Das Blau konnte warten. Bis zum nächsten Tag, an dem hier oben das Gelb der Sonne keinen Zugang finden würde. Hier oben war auch dieser schwarz wie die Nacht.
Mit einem weiteren Stoßseufzer ließ er sich auf den Hosenboden fallen.
„Puh!“, entfuhr es ihm. „Dieser Job kostet mich ganz schön viele Nerven. In meinem nächsten Leben werde ich Blütenbringer und mache nur noch Bodendienst!“
Langsam nahm er seinen Rucksack vom Rücken, legte ihn auf die ebene Fläche auf der er saß, bettete seinen Kopf darauf und fing schon im nächsten Moment an, laut zu schnarchen.
Kapitel 3
Auszug
Vor Schreck ließ sie die Maske fallen, die sie in den Händen hielt, und sah sich um. An den weit aufgerissenen Augen der anderen konnte sie ausmachen, dass sie es sich nicht eingebildet hatte.
„Ha- ha- habt ihr, habt ihr das gehört? Was war das und woher kam es?“ Tabea klang ängstlich und schob sich langsam zu Katie hinüber, die am ganzen Leib zitterte und nervös ihre Zöpfe knetete.
„Keine Ahnung! Ich glaube, es kam von dort drüben. Aus der Nähe von dem verdeckten Ding da!“, flüsterte Simon zurück und deutete auf einen großen, verhangenen Gegenstand.
„Was macht ihr da?“, ertönte in dem Moment die Stimme noch einmal.
„Wir ... also ... wir wollen nichts Böses. Wir waren nur neugierig, weil niemand mehr hier wohnt und haben uns nichts dabei gedacht. Also, wir wollten nichts stehlen oder kaputt machen oder so. Nur mal schauen, was es hier so gibt!“, sagte Michael mutig in die Richtung, aus der er glaubte, die Stimme zu hören.
„Bist du ein Geist?“ Die Frage kam von Katie. War ja klar, dass sie zuerst daran dachte. Woher sie immer diesen Unsinn nahm. Als wenn Geister sprechen könnten. Michael schüttelte den Kopf.
Es kam keine Antwort. Dafür war nun ein leises Ächzen und Stöhnen zu hören, das von irgendwo unter dem Tuch zu kommen schien. Besonders bedrohlich hörte sich das nicht an. Langsam bewegten sich die vier in Richtung des Geräusches und standen dann vor dem Stoff und dem, was auch immer darunter verborgen sein mochte. Plötzlich nahmen sie eine Bewegung wahr, die von rechts nach links verlief, dann ein kleines Stück weiter unten von vorne anfing und die das Stöhnen zu verursachen schien.
Sie schauten sich an und die Mädchen bedeuteten den Jungs mit einer Handbewegung, dass sie den Stoff runterziehen sollten. Mit klopfenden Herzen packten Simon und Michael das Stück Stoff jeder an einer Ecke und mit einem Ruck zogen sie es in die Höhe.
Dann ließen sie es fallen, als ob sie sich daran die Finger verbrannt hätten. Zum Vorschein kam ein alter Sekretär. Katie kannte so einen ausklappbaren Schreibtisch aus dem Arbeitszimmer ihrer Mutter. Wenn er geschlossen war, konnte man ihn leicht mit einem Schrank verwechseln. Es war ein wirklich schönes, antikes Stück, das da vor ihnen stand, doch hatten sie keine Augen dafür. Mit dem Sekretär tauchte nämlich noch etwas anderes auf. Auf der mittleren von drei Schubladen des Schreibtisches mühte sich ein kleines blaues Wesen ab, das in einer winzigen, rötlich-braunen Weste mit filigranem, silbernen Muster und einer weiß-blauen Pumphose steckte. Dazu trug es spitze Schuhe, die sich vorne nach oben bogen. Die Haare sahen total wuschelig, aber irgendwie wabernd aus, so, als hätte man einen Tropfen Tinte in ein Glas Wasser fallen lassen. Auf dem Rücken trug es einen Sack, der aussah, als wäre er aus Wasser gewoben worden. Im Moment betrachteten sie dieses Wesen von hinten, da es mit der Rückseite zu ihnen krampfhaft versuchte, von einer Schublade zur nächsten zu gelangen, immer darauf bedacht, nicht abzustürzen.
Mit einem kläglichen Seufzer drehte das Wesen den Kopf zu ihnen um und schaute sie aus kleinen schwarzen Knopfaugen an.
„Helft mir doch bitte! Ich versuche schon den ganzen Abend auf die Tischplatte hinunterzukommen, nachdem ich ewig gebraucht habe, um es ganz nach oben zu schaffen. Wo sich diese Tintentropfen doch überall verstecken! Wenn mich einer von euch auf die Tischplatte heben könnte, können wir uns viel besser unterhalten!“
Nicht nur, dass es sich hier um ein Lebewesen handelte, was sie noch nie vorher gesehen hatten, nein, dieses Ding konnte auch noch sprechen. Panisch schlug sich Katie die Hände vor den Mund, stolperte ein paar Schritte rückwärts und fiel über einen Karton. Da Tabea sich dadurch ebenfalls erschreckte, stieß diese zusätzlich einen spitzen Schrei aus. Die Jungs fuhren zusammen, was ein Scheppern zur Folge hatte, als Simon mit dem Ellbogen eine Lampe zu Fall brachte, die auf einem Karton hinter ihm stand. Am meisten litt wohl das kleine blaue Geschöpf auf dem Schubladengriff, das sich vor Schreck beide Zeigefinger in die merkwürdig spitzen Ohren steckte. Dadurch musste es den Griff loslassen und baumelte plötzlich mit den Beinen daran, was sehr schmerzhaft aussah.
Beherzt griff Michael zu und setzte das Wesen, das von dem Radau noch ganz benommen war und merkwürdig die Augen verdrehte, behutsam auf den Tisch. Dann wischte er sich schnell die Hände an der Hose ab und verzog dabei das Gesicht.
„Müsst ihr hier denn so einen Krach machen? Klingt ja als wäre eine Horde Hausaufgabenfresserchen hier eingefallen. Ein ganzer Clan von denen. Aber für Hausaufgabenfresserchen seid ihr definitiv zu groß und ihr habt viel zu wenig Arme und Beine. Meine armen Ohren. Na, wenn ich die mal jetzt noch ordentlich benutzen kann!“, schimpfte es.
Perplex schauten die Vier sich an. Wovon redete der kleine Kerl nur? „Hausaufgabenfresserchen? Was soll das denn bitte sein?“, hakte Tabea nach.
„Na du weißt schon, diese kleinen Wesen mit viel zu vielen Armen und Beinen und spitzen kleinen Zähnen, die am allerliebsten Papier mit Buchstaben und Zahlen darauf fressen und mir die schöne Tinte wegnehmen, die in die Blätter gezogen ist. Garstige kleine Biester sind das!“
„Ähm, aha! Und was bist du?“, schob Michael die nächste Frage hinterher.
„Was ich bin? Das ist ja wohl die Höhe. Das weiß doch jeder Weltenweber! Ich bin ein Tintenschnüffler. Ich bin blau, habe eine rüsselartige Nase, einen schwimmenden Beutel und zotteliges, schlieriges Haar. Was soll ich denn wohl sonst sein? Und was seid ihr?“
„Ein Tintenwas? Was tut denn so ein Tintendings? Wir sind Menschen. Das sieht man doch! Und wir sind Kinder. Aber von Tintendings haben wir noch nie was gehört!“, warf Simon verwirrt ein.
Entrüstet stand das kleine Wesen auf und wurde ganz lila im Gesicht. „Tintendings? Das heißt Tintenschnüffler. Tintengraus und Weberschreck, womit habe ich es hier bloß zu tun? Hast du dich denn noch nie gefragt, warum zum Beispiel das Meer so blau ist? Welche Farbe hätte es wohl ohne die ganzen Tintenfische darin? Hä? Dieser Job ist Schwerstarbeit. Ich sammle von überall Tinte, sauge sie aus Blättern, Tintenpatronen, Schreibtischen, aber am allerliebsten aus alten Schreibfedern. Und dann färbe ich natürlich alles tintenblau, was tintenblau ist. Die Blumen im Garten zum Beispiel. Sehen sie nicht herrlich aus im Sommer?"
Weitere informationen --->
Iris Deitermann
Der Tintenschnüffler
und die Weltenweber
Broschiert: 220 Seiten Softcover
farbig illustriert von Marcel Hampel
Verlag: Sperling-Verlag; Auflage: 1., (November 2012)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3942104172
ISBN-13: 978-3942104173
¤ 12,80
ab sofort vorbestellbar bei amazon
oder direkt über www.sperling-verlag.de (portofrei)
Texte: Iris Deitermann
Bildmaterialien: Marcel Hampel
Lektorat: Perdita Klimeck
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Sperling-Verlag
Softcover, 220 Seiten
farbig illustriert
ISBN 978-3942104173
Erscheinungstermin 11/12
¤ 12,80