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Urschl Untam in Midgard

Fantasy-Märchenroman von Elisabeth Schwaha

Sperlingverlag 2011

( Leseprobe )


1

„Whisky!“ bellte eine zornige, raue Stimme durch den morgendämmrigen Wald, der sich eben erst leise knackend reckte und streckte und über sein schwarzes Nachtkleid den grüngoldenen Morgenmantel zog.
Die kreischende Stimme kannte kein Erbarmen, das ungeduldige „Whisky!“, das aus dem zahnlosen Mund wie „Whifky!“ klang, scheuchte alles Getier und Gewächs des Abendwaldes auf und wurde mit einer anschwellenden Woge von Zwitschern, Rauschen, Grunzen, Röhren, Plätschern und Rascheln beantwortet. Wild wallte ein grau-schwarzer, vielfach geflickter Lodenumhang um eine rundliche Gestalt, die rücksichtslos einen Weg durch das Unterholz stampfte und dabei lauthals schrie.

In Midgards Wäldern trieb sich seit eh und je seltsames Volk herum, aber diese krächzende alte Hexe war einzigartig in Midgard.
Natürlich gab es auch andere Hexen, Riesenweiber und dergleichen, doch Urschl Untam war keine von ihnen. Niemand wusste, woher sie gekommen war, eines Tages war sie da gewesen, hatte sämtliche Traditionen ignoriert, hatte aus Ordnung Unordnung geschaffen und war nicht wieder loszuwerden. Immer wieder tauchte sie irgendwo auf und hinterließ ein Abbild ihrer Person: Chaos.

„Whisky!“ schrie sie nun zum dritten Mal, und da wurde es im Wald mit einem Schlag still, so unheilvoll drohend grollte ihre Stimme.
Im selben Moment spürte sie winzige Krallen auf ihrer rechten Schulter, etwas Warmes, Weiches an ihrer Wange und vier scharfe Nagezähne im rechten Ohrläppchen. Gleich darauf stießen sich die Krallenfüßchen ab, und von einem Zweig, gerade außerhalb ihrer Reichweite, schimpfte ein aufgebrachtes Eichhörnchen zu ihr hinunter.
„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mich nicht Whisky nennen sollst! Ich heiße Ratatwisker, du schäbige Vogelscheuche, und jeder Frischling im Wald kennt meinen Namen, wieso geht er nicht in dein vertrocknetes Hirn hinein, Urschl Untam?“
Es hatte eine junge Stimme, etwa wie ein Knabe im Stimmbruch, obwohl es an Jahren weit älter war als die Hexe, was diese wohl wusste - ohne sonderlich davon beeindruckt zu sein.
„Hab dich nicht so, du kleines Scheusal!“, brüllte sie zurück. „Whisky ist ein hübscher Name, er erinnert mich an fröhliche Nächte im Schauerwald. Sei froh, dass ich dich nicht schon längst in eine Kröte verwandelt habe! Lach nur, einmal tue ich es bestimmt!“
„Was schreist du so herum in aller Morgenfrühe? Du schläfst doch sonst immer bis in den hellen Tag hinein!“
Urschl Untam schnaufte und ließ sich krachend ins Gehölz plumpsen. „Ich wollte nur wissen, was es Neues in Asgard gibt“, meinte sie dann ungewohnt zögerlich, während sie ein paar spitze Ästchen unter ihrem prallen Gesäß hervorzog.
„Von Asgard? Was interessiert dich Asgard?“ Das Eichhörnchen wirkte erstaunt. Asgard war der Sitz der Asen, der Götter von Midgard und den anderen acht Welten, aber Urschl Untam war eine Fremde, hatte andere Götter, und sich noch nie auch nur im Geringsten, um die Asen gekümmert.
„Ich bin ja nicht blind!“, fauchte die Hexe nun den kleinen Nager an. „Und ich sehe genau wie jeder andere die Veränderungen, die in Midgard vorgehen, vielleicht sogar besser als ihr, die ihr dauernd hier seid. Seit meinem letzten Besuch hier hat sich allerhand verändert, und ich hätte gern gewusst, wie man in Asgard dazu steht!“
„Welche Veränderungen meinst du denn?“, fragte Ratatwisker ein wenig ausweichend.
„Verkauf mich nicht für dumm, Nagezahn! Du musst es auch sehen, und da ich annehme, dass du die ganzen alten Geschichten und Weissagungen eurer Welten besser kennst als ich, musst auch du zu dem einzig möglichen Schluss gekommen sein, dass Ragnarök sich anbahnt!“
Ragnarök!
Der Wind verstummte, kein Blatt bewegte sich mehr, kein Vogel sang, kein noch so kleines Tier raschelte im Laub. Totenstille folgte diesem Wort.
Ragnarök.
Die Götterdämmerung.
Der Schrecken über Midgard, die düstere Voraussage seines Endes.
Ein Wort, das niemals ausgesprochen wurde und das doch alle kannten und fürchteten. Nun, da es gesagt war, lag es als tödliche Bedrohung über dem Wald.

Das Eichhörnchen hockte still und unbeweglich auf seinem Ast und musterte die Alte aus schwarzen Knopfäuglein.
„Du gebrauchst starke Worte, Urschl“, meinte es nach einer Weile, in der die Alte schon fast bereut hatte, so direkt gewesen zu sein. Aber für sie, die Fremde in Midgard, hatte dieses Wort nicht dieselbe Bedeutung wie für die hier Geborenen und Aufgewachsenen. Sie war vor einigen Jahreszeiten das erste Mal aus ihrer Heimatwelt Lilaia hierher gekommen, gewirbelt durch einen Sturm aus Nebel und Sternen, den sie nur dank ihrer starken Nerven und ihrer Zauberkraft heil überstanden hatte. Sie hatte hier eine völlig neue Welt entdeckt, vielmehr neun Welten, die aus der Uresche Yggdrasil wuchsen. Diese Yggdrasil-Welten waren von Lilaia, durch unermessliche Entferungen aus luft- und lichtlosen Himmelstiefen, getrennt.
Urschl Untam war einer der ganz wenigen Geschöpfe, die diese Tiefen überwunden hatten, einen unbeschreiblichen Tunnel durch Stürme, Nebel und Sterne, durch Raum und Zeit, von einer Wirklichkeit zu einer anderen.
Und sie hatte hier Freunde gefunden, allen voran das quirlige Eichhörnchen Ratatwisker, mit dem sie voller Neugier immer mehr in diese Welten eingedrungen war.

Nun passte es ihr gar nicht, dass alles dem Untergang geweiht sein sollte, bevor sie es noch richtig kennen gelernt hatte. Ragnarök musste also verhindert werden.
Sie fasste sich daher schnell wieder und versuchte, was sie heraufbeschworen, mit dem Gepolter ihrer Stimme zu bannen. „Komm, Whisky, lass uns in meine Hütte gehen, dort können wir besser reden!“
Schweigend sprang Ratatwisker auf ihre Schulter, und im Gehen sprach Urschl weiter, während der Wald sich sehr, sehr langsam von seinem Bann befreite.
„Warum tun alle so, als ob alles in Ordnung wäre? Hört denn niemand außer mir abends Fenris, den Wolf, heulen, der das nahe Ende verkündet? Sieht niemand, dass Sonne und Mond weniger hell leuchten und der Wind viel rauer ist als sonst? Und ich könnte meinen einzigen Hut verwetten, dass die Blätter eurer Weltesche langsam gelb werden!“
Ratatwisker blinzelte ein wenig. „Und wenn es so wäre? Was wolltest du dagegen tun? Was die Seherin vorhergesagt hat, wird irgendwann eintreffen:


Beilalter, Schwertalter, Schilde krachen,
Windzeit, Wolfszeit, eh’ die Welt zerstürzt.


Wenn es so ist, wie du befürchtest, dann sind die Schicksalsfäden längst geknüpft und verwoben. Warum wartest du nicht einfach ab, wie alle anderen auch?“
„Ha! Jetzt hast du dich verraten! Es gibt also etwas, das abzuwarten ist! Ich hab's ja gewusst, du rotgeschwänzter Alleswisser, zumindest du musstest die Zeichen erkennen!“, rief Urschl triumphierend.
„Nichts habe ich verraten“, fauchte das Eichhörnchen, „weil ich nämlich überhaupt nichts weiß. Aber wenn du schon Worte wie Ragnarök in den Mund nimmst, dann sei dir wenigstens bewusst, dass du nichts dagegen tun kannst, wenn es soweit ist!“
Blitzschnell packte die Alte den Kleinen am Nackenfell und schüttelte ihn. „Es ist soweit, darauf kannst du deinen besten Winterpelz verwetten! - Au, verdammt, du kleiner Teufel!“ Ratatwisker hatte sie kräftig in den Daumenballen gebissen, und sie ließ ihn sofort los.
„Na gut, wenn du dich blind und taub stellen willst, dann tu's! Und vergiss nicht wegzuschauen und dir nichts dabei zu denken, wenn euer Ober-Ase Odin sich allabendlich unter Walhalls Tische säuft! Die Geschicke Midgards sind ja bei ihm in den allerbesten Händen! Vergiss, wenn du kannst, dass durch das Gehirn eures, ach so allweisen Weltenlenkers inzwischen mehr Met als Blut fließt, und fühl dich so lang sicher und behütet, bis du gar keine Zeit mehr hast, dich vor etwas zu fürchten!“
Von einem Ast herab beobachtete Ratatwisker die kreischende und stampfende Alte. So wütend war selbst sie selten. Und wenn er ehrlich war, so kam ihm ihre Schlussfolgerung nicht wirklich überraschend, auch er hatte in letzter Zeit, voll Besorgnis, die Veränderungen beobachtet. Aber im Gegensatz zu Urschl war er nicht der Ansicht, dass sie so eindeutig waren.




Softcover, 350 Seiten
ISBN: 978-3-942104-07-4
Preis: 13,95 Euro
(erhältlich ab 20 Oktober 2011)
Vorbestellungen unter

sperling-verlag@freenet.de

Impressum

Texte: TextElisabeth SchwahaCovergestaltungIrina Piechulek
Tag der Veröffentlichung: 25.09.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Sperling-Verlag Softcover, 350 Seiten ISBN: 978-3-942104-07-4 Preis: 13,95 Euro (erhältlich ab 20. Oktober 2011)

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