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Die Nixe von Amboina


Melanie Vogltanz


Dies sind die Memoiren von François Valentijn, einem müden, alten Mann, der die Meere bereiste. In meinem viel zu langen Leben habe ich zahlreiche Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin, Dinge, für die ich in nicht allzu ferner Zukunft in der Hölle schmoren werde. Eine meiner Taten jedoch wird mich noch weit über das Grab hinaus verfolgen.
Es begab sich im Jahr 1713, an der Küste von Amboina in Borneo. Ich war aus Holland angereist, um die außergewöhnliche Flora und Fauna der Insel zu studieren, Bilder zu malen und Berichte zu schreiben, in der Hoffnung, auf biologisches Neuland zu stoßen. Als meine Mannschaft und ich die Küste erreichten, flirrte die Luft vor Hitze, und auf den Gesichtern der Männer glänzte der Schweiß. Obgleich ich als Kapitän Haltung bewahren musste, spürte auch ich die Anstrengungen der vergangenen Wochen, und ich konnte es kaum erwarten, endlich wieder Festland unter den Füßen zu spüren. Als der Hafen endlich in Sicht kam, herrschte bereits Dämmerung. Unmittelbar vor der Küste tauchte überraschend Nebel auf, eine zähflüssige Suppe, durch die der Bug unseres Schiffes schnitt, wie ein heißes Messer durch Butter. In der Ferne schrien exotische Vögel, die wir nicht zu Gesicht bekamen. Sie klangen wie weinende Kinder.
Bald waren wir komplett in den Nebel eingetaucht, und die feuchte Luft glitt an meinem Körper entlang, wie suchende, eisige Hände, ein Gefühl, das mich trotz der Schwüle erschauern ließ. Krampfhaft hielt ich das Steuer umklammert, jeden Moment damit rechnend, den heftigen Ruck zu spüren, mit dem das Schiff auf Grund lief.
Da hörte ich es zum ersten Mal. In das Kreischen der Vögel hinein, fiel ein glockenheller Gesang, so wunderschön, dass ich den Atem anhielt. Leise nur, ganz leise und zart klang er an meinem Ohr, säuselte mir zärtlich zu, wie das Rauschen des Wassers, nur sanfter, lockend. Ich bemerkte kaum, wie ich das Ruder behutsam nach steuerbord korrigierte, zu der Quelle dieses herrlichen Gesangs im Wasser. Plötzlich fiel eine Hand schwer auf meine Schulter herab. Wie aus tiefer Trance erwachend, wandte ich den Kopf und blickte in das feucht glänzende Gesicht meines Ersten Maats, Van Eijk. "Kapitän, wir kommen vom Kurs ab. Ist alles in Ordnung mit Ihnen?"
Ich blickte den Mann unverwandt an, dann nickte ich langsam. "Haben Sie auch diese … diese Stimme gehört?" Van Eijk musterte mich stirnrunzelnd. "Keine Stimmen, Kapitän. Nur Vögel."
"Ich verstehe. Vielleicht sollten Sie für einen Moment das Ruder übernehmen, Van Eijk. Ich glaube, die Hitze macht mir zu schaffen."
Es war ein Fehler, die Verantwortung, das Schiff aus dem Nebel heraus zu geleiten, aus der Hand zu geben, das wusste ich sehr gut. Ein noch größerer Fehler allerdings wäre es gewesen, selbst zu steuern. Denn eines stand fest: es hätte mich unweigerlich zu ihm gezogen, jenem zauberhaften Geschöpf, dessen Stimme so rein war, wie feinstes Kristallglas. Da wurde mir klar, dass ich nicht ruhen würde, ehe ich es zu Gesicht bekommen hatte.
Gottlob unversehrt, liefen wir in den Hafen in Amboina ein und suchten schnellstmöglich eine Unterkunft auf. In unserer Herberge angekommen, versuchte ich, meine Erinnerungen an das rätselhafte Ereignis in Alkohol zu ertränken. Anstatt mich jedoch vergessen zu lassen, intensivierte er die Sehnsucht nach diesen Gesängen noch, und es kostete mich beinahe meinen gesamten Vorrat an Schnaps, ehe es mir gelang, ein Auge zuzumachen.
Am nächsten Morgen verließ ich die Herberge bereits beim ersten Sonnenstrahl. Ich trug meine Unterlagen bei mir – das Notizbuch, einige Kohlestifte sowie einen Kompass und eine Karte der Insel. Ohne Umwege zog es mich zu dem nahe gelegenen Hafen. Mit einer Mischung aus Malaiisch, Englisch und großzügigen Gesten gelang es mir, einem halb schlafenden Fischer verständlich zu machen, dass ich gedachte, mir sein Boot zu leihen. Anfangs lamentierte er in einem mir nicht verständlichen Dialekt, fuchtelte mit den Händen und schüttelte heftig den Kopf. Als ich ihm jedoch eine Hand voll Münzen in den Schoß warf, lehnte er sich besänftigt zurück und schloss die Augen. Ich gestand mir nicht sofort ein, wonach ich tatsächlich suchte, als ich durch die tropischen Gewässer segelte. Ohne großes Interesse skizzierte ich ein paar Wasserpflanzen in meinem Notizbuch und auch den einen oder anderen Fisch, der in dem seichten, klaren Wasser gut zu erkennen war. Ich war bereits einige Stunden entlang der Küste gesegelt, als ich in der Ferne dichte Nebelschwaden aufziehen sah. Langsam steckte ich mein Notizbuch in die weiten Taschen meines Rocks und reckte den Hals. Wie von selbst drückte meine flache Rechte das Ruder zur Seite, in Richtung des Nebels. Und dann, dann hörte ich es. Es war noch schöner als beim ersten Mal und um einiges näher: der Gesang eines Engels.
Mein Kutter tauchte in den Nebel ein, und wieder spürte ich ihn, kalten Fingern gleich, an meinem Gesicht, meinem Hals, meinem Nacken. War es tatsächlich nur feuchte Luft, die da nach mir griff, oder waren es doch Hände, die mich sacht zu sich heranzogen? Der Instinkt des erfahrenen Seefahrers ließ mich beinahe unbewusst das Segel einholen, so dass das Boot nur noch langsam dahinglitt, bis es beinahe still stand.
Da lichtete sich der Nebel und mein suchendes Auge fand sein Ziel. Sie glitt durch das Wasser wie ein Aal, ihr schlanker Leib schillerte in der Sonne. Und sie sang. Bei Gott, wie schön sie sang! Mit einem Satz war ich bei der Reling und beugte mich weit hinaus, streckte meinen Arm nach dem fremdartigen Wesen aus, nicht merkend, dass mir Tränen der Rührung in den Augen standen.
Das Geschöpf hielt inne. Langsam schob es seinen Kopf durch die Wasseroberfläche und blickte mich aus gebirgswasserklaren Augen an. Unvermittelt erschauerte ich, als ich ihm so direkt ins Gesicht blickte, einem weiblichen Gesicht mit zwei Augen, einer unnatürlich flachen Nase und einem schmalen Mund, der leicht geöffnet war und aus dem jene herrlichen Laute flossen. Dieses Antlitz war umrahmt von schwarzem Haar, das Algen glich, Algen, die im Wellengang tanzten. Es besaß auch einen Hals, der in einem perfekt symmetrisch gezeichneten Jochbein endete. Was jedoch auf den ersten Blick wie ein sehr schlankes, blasshäutiges Mädchen schien, hatte den langen, gewundenen Körper eines Aals. Die verkümmerten Gliedmaßen wirkten mehr wie Flossen denn Arme und Beine, und sein gesamter Körper war von silbrigen Schuppen bedeckt. An den Flanken hatte es jeweils drei lange, schlitzförmige Öffnungen, durch die das rote Fleisch schimmerte – Kiemen.
Der Anblick dieses Zwitterwesens entsetzte mich. Ich hatte geglaubt, eine Kreatur, die solche Laute von sich geben konnte, müsste auch von herrlicher Erscheinung sein. Ich hatte mich getäuscht.
Plötzlich schoss das, was ich als Hand des Fischwesens identifizierte, hervor und schloss sich um mein Handgelenk. Voll Grauen schrie ich auf, als kalte, glatte Fischhaut sich an meine schmiegte, und mit einem Ruck riss ich mich los. Der glockenhelle Gesang der Fischfrau verstummte, und sie stieß ein kreischendes Fauchen aus, bei dem sie zwei Reihen nadelspitzer, kleiner Zähne entblößte. Im nächsten Moment wand sich ihr Leib in die Tiefe und war verschwunden.
Verstört blieb ich allein auf dem Wasser zurück.
Ich hatte kaum die Segel gesetzt, als der Himmel sich verdunkelte. Gewaltige Wolkenmassen türmten sich über meinem Kopf auf, ein rauer Wind rüttelte an der Reling und ließ das Boot heftig schwanken. Das Segel begann wild zu flattern – unter Aufbietung all meiner Kräfte gelang es mir nicht, es wieder einzuholen. Schon wurden die ersten Risse im Tuch sichtbar, welche die gierigen Klauen des Sturms rasch vergrößerten. Ich begriff, dass es keinen Sinn hatte, einem solchen Unwetter in diesem winzigen Kutter Widerstand zu leisten, und ließ Ruder und Segel fahren. Mit der Kraft des Verzweifelten stemmte ich die Füße in den Rumpfboden, während ich mich mit beiden Händen an den Bootsrändern festkrallte, um nicht aus dem Kutter geschleudert zu werden. Ein einzelner, weiß verästelter Blitz fuhr auf das Wasser herab, unmittelbar gefolgt von einem mächtigen Donnerschlag.
Da traf eine Welle, einem Faustschlag gleich, die Backbordseite des Bootes, und ehe ich mich versah, war der Kahn umgekippt und Wasser schwappte in einer Woge über mich hinweg. Salz drang mir in Augen und Nase, und als ich instinktiv zu einem Schrei ansetzte, strömte es auch in meinen Mund. Wie von Sinnen, schlug ich mit Händen und Füßen um mich, suchte nach der Wasseroberfläche und begriff bald, dass es keine mehr gab, nur noch tosende Wassermassen, die mich immer tiefer nach unten drückten.
Bald schon wurden meine Bewegungen schwächer, und ich spürte, wie mir die Sinne schwanden. Bevor sich vollständige Schwärze über meinen Geist senkte, spürte ich die Berührung kalter, glatter Hände. Etwas zog mich hartnäckig mit sich.
Nun nimmt sie mich mit sich in die Tiefe, meine grausame Sirene. Mit diesem letzten Gedanken erlosch mein Bewusstsein endgültig.
Als ich erwachte, war ein makellos blauer Himmel über und die steinige Küste unter mir. Wie ein Blitz schlug die Erinnerung in meinem Gedächtnis ein: die Begegnung mit der Fischfrau, der plötzliche Sturm und dann – die Berührung einer nichtmenschlichen Hand. Dieses seltsame Wesen hatte mir das Leben gerettet.
Vorsichtig rappelte ich mich auf und blickte mich um. Sie hatte mich nicht fern vom Hafen zurückgelassen, die aufgeblähten Segel der großen Handelsschiffe waren bereits in Sichtweite. Noch immer bis auf die Knochen durchnässt, aber am Leben, machte ich mich auf den Weg zu unserer Herberge. Wie die Rede eines Wahnsinnigen sprudelte das Erlebte aus mir heraus, sobald ich mich einem vertrauten Gesicht gegenübersah. Ich erzählte von dem seltsamen Wesen, das ich auf den Wassern erblickt hatte, schilderte es in allen Einzelheiten und skizzierte es in meinem noch triefend nassen Notizbuch, das vom Wasser gänzlich blank gewaschen worden war.
Es war mein Erster Maat, Van Eijk, der als erster die Sprache wiederfand. "Welch eine Entdeckung, Kapitän! Sie werden ein berühmter Mann werden!"
"Der Berühmteste!", rief ich aus. "Menschen aus allen Ländern müssen davon erfahren! Es ist eine Entdeckung von historischem Ausmaß!"
"Niemand wird es glauben", fiel ein weiterer Mann aus meiner Mannschaft, De Jansen, missmutig ein. "Sichtungen dieser Art gab es schon viele. Was die Welt braucht, ist nicht noch mehr See-mannsgarn, sondern Beweise." Mein strahlendes Lächeln verblasste unvermittelt. "Da haben Sie Recht, De Jansen. Wie bedauerlich. Wie außerordentlich bedauerlich für uns."
Mit dem ersten Morgengrauen setzte ich Segel. Der Wellengang war ruhig, und kein Geräusch, nicht einmal das Summen von Insekten, störte die Stille, als ich den Anker lichtete. Zielsicher steuerte ich aus dem Hafen heraus, stach mit dem Bug des Schiffes direkt ins blaue Nichts. Ich war etwa eine halbe Stunde hinausgefahren, als bereits die ersten Nebelschleier über die Reling wogten. Liebkosend empfingen sie mich, und ich hieß sie willkommen, genoss das Gefühl auf meiner Haut. Zu ihr. Ich musste zu ihr, denn dort gehörte ich hin.
Anfangs klang ihre Stimme noch zögerlich, aber sie gewann rasch an Lautstärke, und bald hatte sie all ihre atemberaubende Pracht erreicht. Ich warf den Anker, und mit einem sanften Ruck hielt das Schiff an. Bald hatte sich die Sicht geklärt, und ich blickte auf die glatte Wasseroberfläche hinab. Ihr Kopf stieß in unmittelbarer Nähe aus dem Wasser, ihre großen, reinen Augen musterten mich. Als sie mich erkannte, hielt sie in ihrem Gesang inne und stieß etwas aus, das nach einem freudigen Zungenschnalzen klang.
"Da bist du also wieder", sagte ich leise. "Du bist tatsächlich wiedergekommen." Die Fischfrau drehte einige flinke Kreise im Wasser, als wollte sie Freude ausdrücken. Dabei wand sich ihr langer, silberner Schwanz heftig, immer noch ein befremdlicher Anblick. Aber nicht abstoßend. Nun nicht mehr. Ganz im Gegenteil fand ich sie auf seltsame Weise schön, wie sie sich durch das Wasser bewegte, in ihrer schwerelosen Eleganz.
Der Rumpf des Schiffes war zu hoch, als dass ich sie tatsächlich hätte berühren können, trotzdem streckte ich ihr eine Hand entgegen. Sie erwiderte die Geste und ich lächelte sie an. Ich öffnete und schloss meine Hand, winkte ihr zu.
"Du hättest nicht kommen dürfen. Es tut mir leid. Es tut mir so schrecklich leid." Als sie so nahe an das Schiff herangekommen war, dass sie es beinahe berührte, sprang Van Eijk aus seiner Deckung und warf das Fischernetz aus. Die Augen der Meerfrau weiteten sich, und sie stieß ein grässliches, schrilles Heulen aus. Sofort versuchte sie, in die Tiefe zu tauchen, doch sie hatte sich längst in dem engmaschigen Netz verfangen. Gemeinsam mit den zwei stärksten Männern der Mannschaft zog Van Eijk das Wesen an Bord.
"Was für eine abscheuliche Kreatur!", stieß er aus. Auf den Planken wand sie sich, wie ein großer Fisch. Ihr kräftiger, silberner Schwanz schlug ruckartig um sich, und ihre Kiemen öffneten und schlossen sich krampfhaft. In ihren schreckensgeweiteten Augen stand deutlich eine ebenso einfache wie grässliche Frage: Warum?
Ich hielt ihrem Blick nicht einmal eine Sekunde stand. Mit einem Ruck wandte ich mich ab. "Fort mit ihr. Schafft sie mir an Land, Männer, ehe es hell wird und wir die neugierigen Fischer am Hals haben. Sobald sie versorgt ist, schreibe ich einen Brief nach Hause. Das wird ein Fest." Die Mannschaft brach in grölenden Jubel aus, nur ich selbst jubelte nicht. Etwas schnürte mir die Kehle zu. Was hatte ich da nur getan?
Die Nixe lebte vier lange Tage. Ich sage lang, weil diese Tage, sowohl für sie, als auch für mich, eine unsägliche Qual darstellten. In dieser Zeit aß sie nicht, schlief nicht und sang auch nicht. Sie sollte niemals wieder singen. Als ich am Morgen des vierten Tages an den Tank herantrat, in dem wir sie gehalten hatten, stank ihr Körper bereits nach Verwesung. Sobald ich den Geruch wahrnahm, drehte ich um und befahl dem erstbesten Mann, er solle nach ihr sehen. Der Anblick ihrer toten, starren Augen hätte mich um den Verstand gebracht. Bereits am nächsten Tag war nichts mehr von ihrem Körper übrig, außer dem Gestank. Ihre sterblichen Überreste hatten sich innerhalb kürzester Zeit zersetzt, wofür ich sehr dankbar war. Wenigstens im Tod hatte sie Frieden.
Das ist nun schon beinahe zehn Jahre her. Wenn ich nachts die Augen schließe, so höre ich immer noch ihren Gesang, der mich ins Wasser locken will, in einen Nebel, aus dem ich niemals wieder nach Hause finde. Ich, François Valentijn, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, werde nun meine Feder niederlegen. Ich werde in die Fluten steigen, hinab in ihr kaltes Reich. Meine Welt hat sie umgebracht, so ist es nur gerecht, wenn ich nun in der ihren vergehe.
Das Meer kennt die Wahrheit. Es wird Gerechtigkeit walten lassen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.07.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
"Wasserzauber" Fantasy Softcover, 220 Seiten Preis 12,00 ¤ ISBN 978-3-942104-05-0

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