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Möglich isses




Die Geschichte von Brigitta Wullenweber

Es ist leicht, die Hand zu ergreifen, die sich mir lockend aus dem Grab entgegenstreckt. Ich brauche nicht einmal Kraft, um Oma wie einen langen Wurm aus der Erde zu ziehen.
Sie lacht und bewegt sich wie eine junge Frau. Strahlend und fröhlich wie nie, tänzelt sie fast zwischen den Pflänzchen ihres Grabes, nimmt meinen schweren Kopf zärtlich in ihre Hände, wiegt ihn, streichelt ihn sanft und lässt sich ins frische Gras neben ihrem Grab fallen. Bald schon setzt sie sich auf und befiehlt dann doch in ihrer mir wohlbekannten Art:
»Nun frag schon, was du wissen willst.«
Ich verstehe nicht und sie fügt lächelnd hinzu:
»Es ist weniger spektakulär als du denkst.«
Oma war nie eine gute Frau im eigentlichen Sinne. Zu Lebzeiten war sie herrisch und meistens übel gelaunt.
Sie hat mit ihrer eigenwilligen Lebensweise unter anderem drei Ehemänner in die Flucht geschlagen, zwei Kinder ins Heim befördert und die gesamte Familie auch mit ihrer enorm langen Lebenszeit in Atem gehalten. Ihr Lieblingsspruch war:
»Die Welt will betrogen werden.«
Und wenn sie über andere sprach, nannte sie die ›das Pack‹ oder ›die Bekloppten‹. So war sie, und ich war vielleicht die einzige, die sie irgendwie mochte, so wie sie war. Mein Blick wandert von dieser strahlend jungen Frau im Gras zu dem kleinen Steinkreuz, das man ihr nach ihrem Tode doch gegönnt hat.
Die Inschrift ›Geboren 1900 und gestorben 2000 – Gott sei Dank nur 100 Jahre!‹ ist verschwunden.
Stattdessen sehe ich viele kleine bunte und tanzende Buchstaben, die sich erst langsam zu Worten formen: ›Immer ruhig Blut – ihr Irren – jeder trägt sein Kreuz selbst – solange er das für nötig hält‹.
Ich bin nicht einmal verwundert. Oma lacht und weil es helllichter Tag ist, zieht sie damit andere Friedhofsbesucher an. Ihr Lachen vergrößert die Menschentraube um das Grab in Windeseile. Die Stimmung ist fröhlich und fast ein bisschen ausgelassen.
Zu Lebzeiten mochte Oma eigentlich keine Menschen. Sie benutzte alle, wie sie sie brauchte und scherte sich darüber hinaus ›einen Dreck‹ um sie. Wenn sich jemand ›ein Bein ausriss‹ für sie, war ihr das selten genügend Einsatz und sie murmelte:
»Na ja, besser, als in die hohle Hand geschissen.«
Wenn sie ein Geschenk bekam, untersuchte sie die Gabe nach Marke, Preisschild und Wert – und gab sie dann in jedem Fall zurück. Hier ist jetzt alles anders. Oma scheint sich inmitten der mittlerweile noch stärker angewachsenen Menschenmenge behaglich zu fühlen. Noch bevor ich ihrer Aufforderung, meine Frage zu stellen, nachkommen kann, ruft einer der Umstehenden mit Gießkanne in der Hand:
»Gute Frau, sie schickt der Himmel.«
Eine junge Frau, der das rote abgebrannte Friedhofslicht beinahe aus der fuchtelnden Hand fällt, schickt hinterher:
»Wie sehr habe ich mir einen Engel auf Erden gewünscht.«
Zwei Kinder machen sich von der Hand ihrer Mütter los und laufen zu Oma, die sie bereitwillig auf ihren Schoß zieht.
Bevor das einsetzende Stimmengewirr zu einem Tumult führt, bittet Großmama mit einer Handbewegung um Ruhe und deutet auf eine große Leinwand hinter sich.

Meine Großmutter hatte zu Lebzeiten eine riesige Familie. Ihr war das immer lästig und die Verwandten wünschten sie oft in die Hölle. Zeitlebens hat sie gelogen, betrogen, bevormundet, missachtet und für Unfrieden gesorgt. Aus braven Lämmern wurden in ihrer Gegenwart wütende Bestien. Sie selbst wunderte sich und sah die Ursache niemals in ihrem eigenen Verhalten.
Als sie starb, kamen nur wenige der noch Lebenden zu ihrer Trauerfeier.
»Was gibt’s denn da zu trauern?«, war der allgemeine Tenor.
»Gott sei Dank, wurde doch Zeit!«, war die mildere Form der Entschuldigung für´s Wegbleiben.
Einige waren natürlich schon vor ihr verstorben und auf die war sie nun wieder nicht scharf.
»Hoffentlich treff´ ich die Bekloppten da drüben nicht wieder«, raunte sie noch an einem ihrer letzten Tage mit fast letzter Anstrengung.
Auf der Leinwand tanzen die riesigen bunten Buchstaben, die ich schon vom Grabkreuz kenne und formen wieder die gleichen seltsamen Satzfetzen. Dieses Bild wird nach kurzer Zeit von einer friedlich wirkenden, weitläufigen Landschaft abgelöst. Einzelne Menschen bevölkern die weiten Felder. Es gibt keinerlei Verbindung zwischen ihnen und sie scheinen sich gegenseitig nicht zu bemerken. Jeder ist mit Stricken umwickelt, die aber nirgendwo angebunden sind. Alle haben einen etwa handygroßen Bildschirm in der Hand, von dem aus eine Art Kabel ins Herz des Besitzers führt. Und alle schleppen ein Kreuz hinter sich her.
Zu Omas Lebzeiten sprachen wir manchmal über Himmel und Hölle. Viele Jahre lang waren wir jeden Sonntag gemeinsam in der Kirche. Meine Oma fand:
»Das ist besser so, man kann ja nie wissen.«
Als sie dann nicht mehr so konnte, hoffte sie:
»Es wird schon ohne klappen.«
In ihren letzten Jahren fragte der Pfarrer manchmal, ob sie irgendetwas beichten wolle. Darüber war sie jedes Mal empört:
»Ich wüsste nicht was, Kind.«
Mir wäre einiges eingefallen, aber ich mochte nichts sagen. Vielleicht wollte ich diese mittlerweile winzige alte Frau schonen, vielleicht aber auch nur mich. Die Diskussionen über Fehler, Schuld und Sühne waren früher schon zu meinen Ungunsten ausgegangen und nun war sie alt.

Heute hier auf dem Friedhof wirkt sie jung und leicht, baut sich in voller Größe vor der Leinwand auf und sagt in meine Richtung:
»Mäuschen, der Pfarrer, du und ich, wir haben uns geirrt. Die Trennung von Himmel und Hölle ist ganz großer Quatsch. Es gibt nur einen einzigen Ort im …«
Und schon wird sie unterbrochen durch ein lautes Durcheinander der Stimmen:
»Siehste, hab´ ich mir doch gedacht.«
»Da bin ich mal gespannt, wie´s wirklich ist.«
»Die hat doch ´nen Knall, die da vorne und noch viel mehr.«
Oma verschafft sich wieder Gehör.
»Seht selbst!«, sagt sie und deutet auf die Leinwand.
Der Bildausschnitt hat sich verändert. Nun sehen wir ein großes Tor mit einer langen Schlange aus meist alten Menschen davor und kurz dahinter einige kleine Häuschen. Die Posten ›persönliche Kreuzausgabe‹, ›Bildschirmausgabe‹ und ›Fesselung‹ muss anscheinend jeder der Neuankömmlinge passieren.
Plötzlich vergrößert sich der Bildausschnitt. Wir sehen weiterhin die wunderschöne friedliche Landschaft und die vereinzelten Menschen mit ihren Fesseln und Kreuzen. Allerdings erscheinen jetzt zusätzlich kleinere und größere Grüppchen Ungefesselter, Kreuzloser und augenscheinlich glücklich Kommunizierender auf der großen Leinwand.
Oma scheint es nun wichtig zu sein, dass wir genau hin sehen:
»Schaut es euch aufmerksam an. Ihr könnt hier beides wahrnehmen! Eine einzige Landschaft – Himmel und auch Hölle!«
»So´n Quatsch!«
»Ich seh da nix!«
»Wo, bitte, ist denn da die Hölle?«
Andere rufen: »Das soll der Himmel sein?«
Die Menschen am Grab sind jetzt laut und aufgeregt.
Doch Oma beschwichtigt die Menge mit ruhiger, fester Stimme:
»Lasst uns wiederholen! Am Tor haben alle Neuankömmlinge ihr persönliches Kreuz ausgehändigt bekommen. Jedem wurde ein Bildschirm mit allen noch so kleinen Details des vergangenen Lebens gegeben und alle wurden in sich selbst gefesselt - weiter nichts.«
Der Tumult bricht erneut aus: »Ist das hier ´ne Märchenstunde?«
»Komm, wir gehen! Geschichten über Kreuze, Seile und Bildschirme kann ich auch selbst fantasieren!«
»Was glaubt die denn, wer sie ist?«
Alle reden durcheinander und die meisten sind empört.
Oma guckt sich das eine Zeit lang an und erzählt dann von ihrer eigenen Ankunft im Jenseits:
»Als ich dort ankam war ich natürlich noch viel erstaunter als ihr jetzt hier. Ich habe lange nicht begriffen wo ich plötzlich war. Niemand hat mit mir gesprochen und ich kannte mich doch nicht aus. Eben lag ich noch in meinem Bett, mit Arzt über und Pfarrer bei mir - und zack, plötzlich war ich in dieser Landschaft. Nix Vertrautes - drei Sachen und ´ne weite Landschaft. Das Schlimmste aber war, dass es niemanden dort gab, der mir gesagt hätte, wie´s nun weiter gehen sollte.«
Die Menge hat sich ein wenig beruhigt und die meisten hören endlich aufmerksamer zu.
»Da mir niemand zu Hilfe kam, bin ich lange - ich glaube sehr, sehr lange - durch diese Landschaft geirrt. Heute weiß ich, ich war in der Hölle. Allein, mit Schmerzen, Hunger, Durst, meinem schweren Kreuz, den hauptsächlich schrecklichen Filmchen über mich und mein Leben, meiner Scham und der scheinbar grenzenlosen Einsamkeit.«
Oma schaut in die Runde und sieht einige, die beginnen zu begreifen. Langsam fährt sie fort:
»Eines Tages passierte es dann. Ich schaute meine Filme und schämte mich. Und gerade als ich vielleicht zum tausendsten Mal weiter spulen wollte, erkannte ich, dass ich selbst das alles beenden konnte. Ich spürte ein Ziehen in meinem Herzen und stellt euch vor, der Computerbildschirm begann sich über das Kabel in mein Herz zu entleeren. Gleichzeitig fielen die Fesseln von mir ab und mein Kreuz, das mir eine solche Last war, zerbröselte von einem Moment zum anderen als hätte der Holzwurm ganze Arbeit geleistet.«
Die Menge ist mucksmäuschenstill und Oma berichtet weiter:
»Ich begriff sofort, dass ich frei war. Und zum ersten Mal während des gesamten Aufenthaltes sah ich andere, als ich mich umschaute. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie erstaunt ich war. Ich war nicht alleine an diesem Ort. Es gab dort sogar solche, die miteinander in Gruppen waren. Auf eine dieser Gruppen ging ich zu und traute meinen Augen kaum: Alles junge Menschen, die glücklich miteinander schienen. Als sie bemerkten, dass ich mich näherte, kamen sie mir entgegen und nahmen mich mit offenen Armen auf. Seit dem fehlt es mir an nichts. Ich liebe es, dort zu sein und bedaure die Einsamen, Gefesselten und Kreuztragenden. Bedauern statt Scham, die Erkenntnis, dass die Seile keine Fesseln sind und die aktive Befreiung vom Kreuz starten den Löschvorgang des Computers.«
Oma schaut in die Runde und setzt noch einmal an:
»Auf meinem Bildschirm sehe ich jetzt die Essenz meines Lebens. Einige wenige Erkenntnisse, ... die sind wichtig. Himmel oder Hölle, ich sage euch, ihr entscheidet selbst.«
Oma zwinkert mir zu und geht zurück zum Grab.
Der Film endet wie er angefangen hat. Die Buchstaben lösen sich wieder aus ihren Worten:
›Immer ruhig Blut – ihr Irren – jeder trägt sein Kreuz selbst – solange er das für nötig hält‹, tanzen und verschwinden im Nichts.
Als die Friedhofsarbeiter die Leinwand wegräumen, die immer noch schweigende Versammlung sich auflöst und Oma in ihr himmlisches Grab zurückfließt, weiß zumindest ich, dass der Weg durch die Hölle nicht schwer sein muss. Möglich isses.
Ach ja - vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass nach dem Aufwachen ein handygroßer Bildschirm mit Kabel in mein Herz neben meinem Bett...




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Tag der Veröffentlichung: 19.07.2011

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