Ein Märchen
Es war ein später Herbstabend. Im Wohnzimmer saßen auf einem weichen, großen Sofa zwei Kinder, ein zehnjähriger Junge und ein zwölfjähriges Mädchen und ihre Babysitterin, die Nachbarin Lissi.
Lissi war jung, etwa siebzehn Jahre alt, sehr schlank und stark geschminkt. Die Kinder blieben diesen Abend lange auf, da ihre Eltern ausgingen. Lissi, die erst vor zwei Wochen mit ihrer Mutter in das Nachbarhaus gezogen war, hatte das Babysitten heute zum ersten Mal übernommen. Die Kinder waren von der neuen Nachbarin begeistert, Lissi hatte ihnen schon zwei gruselige Geschichten erzählt, aber die Kinder wollten noch mehr hören. Doch davon wollte Lissi nichts wissen. "Es ist schon spät! Ihr müsst schlafen gehen!"
"Ich bin noch nicht müde!Erzähl noch eine Geschichte, aber nur ganz gruselig! Bitte!", jammerte der Junge.
"Na, gut! Aber das wird die letzte, dann ist aber Schluss, ihr geht schlafen. Ich kenne ein ganz gruseliges Märchen", gab Lissi nach, sah die beiden ernst an und erzählte:
Es lebte einmal, irgendwo in einer Stadt eine Witwe und sie hatte eine Tochter, die hieß Marianne. Die Witwe war wohlhabend, ihr Mann war ein Kaufmann, und als er starb, hinterließ er seiner Frau ein großes Haus, viele Pferde und eine große Truhe voller Gold. Aber der größte Schatz für die Witwe war ihre Tochter, die sie über alles liebte. Marianne war ein schönes, gesundes und fröhliches Mädchen, aber als sie 16 Jahre alt wurde, erkrankte sie. Sie hörte auf zu lachen, war immer blass und stark abgemagert.
Und Tag für Tag wurde es schlimmer und schlimmer mit ihr.
Ihre Mutter war sehr besorgt um Mariannes Leben. Sie rief nach den Ärzten, die in dieser Stadt lebten und nach denjenigen, die in den Nachbarstädten heilten. Die Ärzte schauten die Kranke an, schüttelten mit dem Kopf und sagten, dass sie nicht helfen konnten.
Da fuhr die Witwe mit ihrer Tochter in ferne Länder, sie zeigte Marianne den dortigen Heiler. Aber keiner kannte diese Krankheit, keiner konnte das Mädchen heilen. Die verzweifelte Mutter zeigte ihre Tochter den Zauberern und den Hexen. Sie schauten das Mädchen an, riefen die Geister und ihre Götter, schmierten sie mit Zaubersalben ein und sprachen Zaubersprüche, aber auch sie konnten nicht helfen. Die Frau weinte bitterlich und musste zusehen, wie ihre Tochter schwächer und schwächer wurde. Sie hörte davon, dass weit weg im schwarzen Wald eine mächtige Hexe lebte.
"Sie ist meine letzte Hoffnung", sagte die Frau und machte sich auf den Weg. Marianne konnte nicht mehr laufen, so schwach war sie. Ihre Mutter legte sie auf den Pferderücken und führte das Pferd in den schwarzen Wald.
Drei Tage lang lief die Frau, am vierten Tag kamen sie in den Hexenwald, der dicht und dunkel war. In diesem Wald sang kein Vogel, nur die Eulen schrien und die Wölfe heulten. Aber die Frau ging tapfer weiter. Nach einer Weile erblickte sie zwischen den Bäumen das Hexenhaus, das so schief war, dass man dachte, dass das Häuschen gleich zusammenfallen würde. Aus dem Haus kam eine Greisin auf einen Stock gestützt. Ihr Rücken war krumm, ihre Haut war run-zelig, ihre Zähne waren groß und gelb.
"Hilf mir, Mütterchen! Meine einzige Tochter ist sterbenskrank!", rief die Witwe klagend. Die Hexe sah das Mädchen an und schüttelte den Kopf. "Ich habe keine Mittel gegen diese Krankheit. Deine Tochter wird sterben. Keiner kann ihr helfen!" Gram erfüllte das Herz der Frau und sie weinte. "Du warst meine letzte Hoffnung! Was soll ich nur machen?!"
"Es gibt ein Mittel, dass deine Tochter nicht sterben muss …"
"Was? Sag es mir, liebe Frau! Ich mache alles für meine Tochter", bat die Frau.
Die Hexe antwortete ihr ernst. "Ich sage es dir, aber du erzählst keinem davon! In eurer Stadt, bei der Stadtmauer, lebt ein alter Schuster. Er ist ein Vampir. Dieses Geheimnis hütet er sehr. Du sagst, dass ich dich schicke, dann wird er deiner Tochter helfen!"
"Wie kann er Marianne helfen?"
"Wenn er das Blut deiner Tochter trinkt, und sie das seine, vermischt sich das Blut des Vampirs mit dem Blut des Mädchens. So wird deine Tochter auch ein Vampir und wird nicht sterben."
Die Witwe bedankte sich bei der Hexe und kehrte zurück in die Stadt. Als sie zuhause war, grübelte die Frau, was sie machen sollte, sie hatte die Wahl: Entweder stirbt ihre Tochter, oder sie wird eine Unsterbliche, ein Vampir. Und sie traf eine Entschei-dung, die nur eine Mutter mit leidvollem Herz treffen konnte.
Am nächsten Abend, als die Sonne unterging, machte sie sich auf den Weg zur Stadtmauer, wo der Vampir wohnte. Am Abend arbeitete er, am Tag schlief er im dunklen Keller seines Hauses. Wenn er schlief, arbeitete in dieser Zeit sein Gehilfe und passte auf, dass keiner seinen Meister beim Schlaf störte. Die Witwe kam zum Vampir und klagte ihr Leid. Als der Vampir das hörte, erschrak er und weigerte sich Mariannes Blut zu trinken.
"Deine Tochter hat eine schlimme Krankheit! Ihr Blut ist schlecht, ich werde mein Blut mit ihrem nicht vermischen! Ich möchte nicht krank werden! Ein kranker Vampir stirbt nicht, aber bei Vollmond muss er sich von Leichen ernähren. Und ich will frisches Blut trinken und nicht die Leichen fressen!"
Die arme Frau kehrte weinend zurück. Sie sah ihre Tochter, die im Sterben lag, an und grübelte, was sie machten konnte. Ein großer Schmerz erfüllte ihr Herz, und die Witwe dachte sich einen Plan aus. Abermals ging sie am nächsten Abend zum Vampir.
"Meine Tochter wird sterben und ich will nicht ohne sie dieses elende Leben führen. Vielleicht wird mir das Vampirleben gefallen? Ich will ein Vampir werden! Mach aus mir einen, Meister“, sprach die Witwe zu ihm. Da freute sich der Vampir: Endlich menschlich frisches Blut zu haben und noch eine Gefährtin dazu. So biss er die Frau und trank ihr Blut, dann biss er sich selbst und die Frau trank seines. So vermischte sich ihr Blut.
Als die Frau nach Hause kam, wurde sie müde und schlief ein. Sie schlief drei Tage und zwei Nächte, in der dritten Nacht wachte sie auf. Sie fühlte unheimliche Kräfte in sich und großen Hunger nach Blut. Die Frau zog einen schwarzen Mantel an und flog in den Wald. Dort fand sie ein junges Reh und biss es, und trank sich am Blut des Rehs satt. Freude erfüllte ihr Herz. Dann flog sie zurück nach Hause, sah ihre sterbende Tochter an und bekam wieder Herzweh. Die Mutter biss ihre Tochter und trank ihr Blut, dann biss sie sich selbst und gab ihr Blut ihrer Tochter. Sie brachte Marianne in den Keller und sie schlief dort drei Tage und zwei Nächte.
In der dritten Nacht wachte Marianne auf. Es war eine Vollmondnacht.
Das Mädchen setzte sich im Bett auf. "Mutter, ich habe Hunger!"
Die Frau brachte ihr Fleisch und Brot zu essen, Marianne aß alles und stand vom Bett auf. "Mutter, ich habe Hunger!"
Die Frau ging in den Stall, zapfte einem Fohlen eine Schüssel voll Blut ab und brachte das ihrer Tochter. Marianne trank das und konnte sogar ein
paar Schritte laufen. "Mutter, ich habe Hunger!", klagte sie aber wieder.
"Komm mit!", sagte die Mutter, und die beiden liefen zum Friedhof. Sie fanden ein Grabmal, dort lag die Leiche einer Frau, die vor zwei Tagen gestorben war. Die Mutter öffnete den Sarg und die Beiden fingen an die Leiche zu fressen.
In dieser Nacht flog der Vampir am Friedhof vorbei, er sah die Mutter und die Tochter und war entsetzt.
"Dumme Frau, wäre deine Tochter gestorben, dann würde ihre Seele Frieden im Totenreich finden! Es war ihr Schicksal zu sterben! Was für ein Leben habt ihr jetzt!"
"Scher dich weg!", zischte diese und leckte ihre Lippen ab. Die Mutter und die Tochter fraßen die Leiche weiter.
Am nächsten Abend, als die Sonne unterging, verkaufte die Witwe schnell das Haus, sie packten ihr Hab und Gut und zogen aus dieser Stadt weg. Sie wurden zu ewigem Leben verdammt, sie zogen von einer großen Stadt zu der anderen, sie suchten sich die Städte, wo viele Menschen lebten, und wo es viele, große Friedhöfe gab.
Das Märchen war vorbei. Alle schwiegen.
"Ganz schön gruselig!", meinte der Junge in die Stille hinein.
"Es ist kein richtiges Märchen! Wo ist das Happy end?“, kam es fragend von der Schwester. Der Junge verzog sein Gesicht.
"Musst du, Lissi, uns so ein gruseliges Märchen vor dem Schlafen erzählen! Ich kann jetzt nicht einschlafen!"
"Ich auch nicht!", fügte das Mädchen hinzu. Lissi lächelte die beiden Kinder an und brachte sie in die Betten.
"Ihr werdet schon einschlafen!"
Schon nach ein paar Minuten schliefen die Kinder oben in ihren Schlafzimmern tief und fest.
Die Babysitterin saß noch lange auf dem Sofa und starrte durch dem Fenster nach draußen. Eine weiße Vollmondscheibe beleuchtete den Himmel. Spät nach Mitternacht kamen die Eltern nach Hause. Lissi verabschiedete sich, sagte, dass alles in Ordnung war, und verließ das Haus.
Sie ging aus dem Gartentor auf die Straße, zog die Kapuze ihres Mantels tief über ihr Gesicht und lief mit schnellen Schritten Richtung … Friedhof.
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Tag der Veröffentlichung: 05.05.2010
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