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Die Mathelehrerin




Ich schaute mal wieder gelangweilt aus dem Fenster. Ein paar gelbe Blätter waren noch auf dem großen Baum, der auf unserem Schulhof stand. Irgendwie witzig, wie sie sich krampfhaft versuchten an den Zweigen zu halten. Dann fiel mir plötzlich ein, dass ich im Matheunterricht saß und meine gute Laune war wie weggewischt.
„Mathe ist ja so blöd!“, ärgerte ich mich.

Meine Blicke schweiften über das Klassenzimmer: Einige Schüler hörten gespannt Frau Scholl zu, unserer Mathelehrerin, die gerade ein neues Thema erklärte, einige waren irgendwie abwesend wie ich und ein paar führten leise Gespräche. Neben mir saß Nadine, meine Schulbankfreundin, sie starrte verzweifelt auf ihr Mathe-Arbeitsblatt und krümmte ihre Nase, die
mit Sommersprossen bedeckt war. Nadine trug ihr Haar offen, sie hatte prächtige rote Locken. Ich durfte meine Haare nicht offen tragen, da unsere Mathelehrerin Frau Scholl von uns Mädchen verlangte, dass die Haare nicht auf unsere Gesichter fallen sollen. Sie sollten ordentlich gebunden oder gesteckt sein. Aber alle Mädchen aus unserer Klasse trugen ihre Haare so wie sie wollten. Ich konnte mir diese Freiheit nicht leisten, ich durfte Frau Scholl nicht mehr ärgern, ich hatte sowieso schon „schlechte Karten“ bei ihr. Darum war mein Haar zum Pferdeschwanz gebunden.
„Hey, Nicole! Was machst du nach der Schule?“, fragte mich Nadine flüsternd und strich sich widerspenstige Haarlocken aus dem Gesicht. Ich antwortete so leise wie ich konnte. „Ich gehe noch zum Schultheater!“
„Nicole! Du sollst im Unterricht nicht schwätzen!“, sagte Frau Scholl scharf und sah mich streng durch ihre auf die Nase fallende Brille an.
„Ich rede doch nicht!“, gab ich empört zurück.
„Ich warne dich, Nicole!“, zischte Frau Scholl. Ich senkte meinen Blick und schwieg. Der Klügere gibt nach!
„Ich habe nur die Frage beantwortet, die mir Nadine gestellt hat! Aber was andere machen sieht sie nicht, sie ist nur ständig auf mich böse!“, dachte
ich grimmig. Frau Scholl war sehr alt und altmodisch. Sie trug so einen unmöglichen Dutt, so wie man es oft in alten Filmen sah. Ihre Klamotten waren ebenso altmodisch. Wo kauft sie bloß diese Röcke und Blusen?
Aber der Grund, dass ich Frau Scholl nicht mochte (und sie mich ebenso), war nicht ihr Aussehen und ihr Alter, sondern eine ganz dumme Geschichte. Das war nämlich so …

Es war im September, genau in der ersten Woche nach den Schulferien, die erste Woche, in der ich in der 5. Klasse des Gymnasiums zu lernen anfing.
Es war sehr heiß, fast wie im Hochsommer. Nach vier Unterrichtstunden hatte ich absolut keine Lust mehr noch zwei Mathestunden auf der Schulbank zu verbringen. Ich konnte es nicht mehr aushalten und verließ die Schule. Schnell lief ich nach Hause, nahm meine Badesachen und verschwand für den Rest des Tages im Freibad. Am Abend lag ich gemütlich und völlig ohne Schuldgefühle auf meinem Bett und las ein Buch. Nur mein Bruder Alex war noch zuhause, unsere Eltern waren im Kino. Mein Bruder spielte Computer, und wenn er Computer spielt, ist er völlig und ganz in sein Spiel vertieft und merkt nicht, was um ihn herum vor sich geht. So geht es mir beim Lesen, deshalb bekam ich wohl das Klingeln des Telefons nicht mit. Ich schreckte erst auf, als ich Alex rufen hörte.
„Nicole, geh ran!“
„Warum ich? Geh du ran!“, motzte ich.
Alex protestierte sofort. „Wieso sollte ich?“
„Weil ich’s sage!“, schoss ich zurück.
„Ach, das sind doch bestimmt nur wieder deine Freundinnen!“, stöhnte Alex. Er konnte meine Freundinnen nicht ausstehen.
„Es ist für dich! Ich spüre es! Du bist sowieso dran ans Telefon zu gehen!“, erwiderte ich und vertiefte mich wieder in mein Buch.
„Oh Mann! Der Vernünftige gibt nach!“, gab er auf und lief zum Telefon. In Gedanken war er noch beim Computerspiel.
„Wagner, hallo?“, murmelte Alex in den Hörer.
„Guten Abend, hier spricht Frau Scholl, die Mathematiklehrerin ihrer Tochter. Können Sie mir einen Grund nennen warum Nicole in den zwei

letzten Unterrichtstunden abwesend war?“, kam es vom anderen Ende.
„Einen Moment bitte!“ Alex presste die Hand auf den Telefonhörer und ließ seine Stimme quer durch die Wohnung schallen. „Hey, Nicole, warum bist du von den zwei letzten Stunden abgehauen?“
„Was geht dich das an?!“, fragte ich bissig zurück.
„Sag schon! Nicole, warum?“
„Ich hab die Schnauze voll von der Schule gehabt!“
Mit ernster Stimme gab Alex meine Antwort weiter.
„Sie hat die Schnauze voll gehabt!“
„Was!!? So eine Frechheit!“, schrie die Lehrerin empört.
Dann folgte ein Signal: „Aufgelegt“.

Am nächsten Tag ging ich zur Schule und hatte keine Ahnung mit wem Alex am Vortag gesprochen hatte und ehrlich gesagt, ich erinnerte mich gar nicht mehr an irgendein Telefonat. Noch in der ersten Stunde wurde ich in unser Schuldirektorat gerufen. Dort warteten auf mich schon der Herr Direktor und Frau Scholl. Unser rundlicher und immer freundlich aussehender Herr Direktor, der Herr Balles hieß, machte keinen freundlichen Eindruck. Mit roten Backen und kopfschüttelnd erzählte Frau Scholl über ihr Gespräch mit „meinem Vater“. Auf einmal begriff ich was mir passiert war. Durch meinen Kopf schossen unzählige „mögliche Erklärungen“, die mir aus der Patsche helfen sollten. Mit weinerlicher Stimme versuchte ich mein Glück. „Ich habe gestern so schreckliche Kopfschmerzen gehabt! Ich musste mich zuhause hinlegen. Und am Telefon war bestimmt mein Bruder! Er hat mir schon wieder einen blöden Streich gespielt! Meine Eltern waren gar nicht zu Hause!“
Alles war umsonst, ich bekam ein Brief für meine Eltern: Sie sollten zu einem Gespräch zum Direktor kommen.
Zuhause gab ich den Brief meiner Mutter. Als sie den Inhalt gelesen hatte, rief sie erschrocken meinen Vater und zeigte ihm den Brief. Stotternd erklärte ich die Situation. Dann riefen sie meinen Bruder und er bekam großen Ärger für seinen blöden Witz. Aber das war noch nicht so schlimm wie die Schimpfe, die ich anschließend bekam. Eine Strafpredigt über Disziplin und Verantwortung, Ehrlichkeit und Vertrauen, und so weiter und so weiter … Freilich konnte ich meinen Mund nicht halten (Das konnte ich damals noch nicht!) und versuchte mich zu rechtfertigen.
„Ich verstehe schon, ihr habt vollkommen recht … Das war schlimm von mir zwei Stunden zu schwänzen … Es war nicht gut … Aber wir kriegen so eine Erziehung, da kann man das schon voraussehen …“
„Was redest du da?! Was für eine Erziehung kriegst du?!“
„Na ja, diese Bücher …“, sagte ich unsicher und verstummte.
„Was für Bücher?!“, drängte mein Vater weiter.
„Ich habe das Buch von Cornelia Funke gelesen, Die Wilden Hühner. Dort ist so eine Mädchenbande, die auch manchmal die Schule schwänzt. Und es ist so lustig …“
„Die Wilden Hühner? Kenne ich nicht! Und das ist mir absolut egal …“, unterbrach mich Mama.
„Warte!“, unterbrach ich Mutter ebenfalls. „Klassiker! Tom Sawyer von Mark Twain! Dieses Buch kennst du bestimmt! Tom spielte mit seinen Schulkameraden Piraten (oder waren es die Räuber?) auf einer Flussinsel. Sie waren nicht in der Schule, haben am Fluss gespielt und viele Abenteuer erlebt!“
Ich strahlte über das ganze Gesicht: Ich war mit meiner Ausrede sehr zufrieden! Mama wollte etwas sagen, aber ich redete schnell weiter. „Nehmen wir Pinocchio, zum Beispiel. Noch in der Vorschule wurde uns vorgelesen: Pinocchio sollte zur Schule gehen, aber stattdessen ging in diesen Zirkus … (Warte, es war doch das Puppentheater!) Er hat es nicht mal bis zu Schule geschafft! Und dann so viele Abenteuer erlebt!“
Mein Bruder lachte, was meiner Mutter nicht gefiel.
„Hör sofort auf, Alex! Wir haben nichts zu lachen!“
Sie drehte sich wütend zu mir um und schrie mich an.
„Tom Sawyer war nicht im Gymnasium! Und damals war keine allgemeine Schulpflicht. Ich fasse es nicht: Pinocchio, Sawyer!“
Meine Eltern waren ziemlich verärgert, sie schicken mich ins Zimmer.
Traurig und noch schluchzend ging ich ins Bett. Aber Einschlafen konnte
ich nicht. Eine Stunde späte kam Alex in mein Zimmer „Die Geschichte mit Pinocchio war stark! Respekt, Schwester!“
„Halt den Rand! Du hast mir das alles eingebrockt!“, schrie ich.

Wir (meine Eltern und ich) beschlossen die ganze Wahrheit dem Direktor zu sagen, außerdem sollte ich mich vor Frau Scholl entschuldigen. Ach, diese Frau Scholl, musste sie nach Hause anrufen? Dumm gelaufen. Sie ist schon so alt, wenn ich der Schuldirektor wäre, würde ich sie in Rente schicken, dann würde sie mir das Leben nicht so schwer machen, dachte ich bissig und beschloss durchzuhalten, brav zu sein.
Seit dieser Geschichte war ich ein schwarzes Schaf bei Frau Scholl.

„Nicole, was habe ich gerade gesagt?“, hörte ich Frau Scholl fragen. Mit strengem Blick und funkelnden Augen stand sie vor mir. Ich hatte keine Ahnung was sie gesagt hatte. Als ich gerade „Ich weiß es nicht“ sagen wollte, hörte ich den Schulgong – Pause! Das war Musik in meinen Ohren. Gerettet!


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Tag der Veröffentlichung: 05.05.2010

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