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Kapitel II

 

 




Eine der beiden Sonnen Calcatans stand bereits tief am Horizont. Ihre intensiven Strahlen färbten den Himmel in ein tiefrotes Leuchten, das sich träge in der gesamten Atmosphäre verbreitete.
Die zweite, dunklere der beiden Sonnen, folgte ihr in geringem Abstand,wie sie es schon seit Millionen von Jahren tat. Nahe beim Fenster der Bibliothek, durch welches das abendliche Sonnenlicht sanft wie ein seidiger Schleier hinabschwebte, stand eine große, uralte Ulme, in deren Blättern sich der Wind leise wiegte. Auf Calcatan hatten die Aussiedler alles, was sie in der Natur antrafen, nach dem benannt, was sie noch von der Erde her kannten. So war dieser Baum keine Ulme im üblichen Sinne, sondern sie sah der irdischen Ulme nur ähnlich. Auch viele andere auf Calcatan einheimischen Tiere und Pflanzen wurden nach diesem traditionell überlieferten Wissen benannt. Doch als die Urahnen Calcatans auf dem Planeten Toivo Zuflucht gesucht hatten, hatten sie auch diverse Pflanzen von der Erde mitgebracht, mit denen sie auf den Mond- und Marsbasen experimentiert hatten und sie dann weiter züchteten, um sie zuerst auf Toivo, dann auf Calcatan anzusiedeln. Auch Nutz- und Haustiere waren an Bord gewesen, um diese im Zuge des Terraformierungsprojektes auf ihre Überlebensfähigkeit zu testen. Der Großteil dieser irdischen Lebewesen existierte bis zum heutigen Tage auch weiterhin auf Toivo und Calcatan.
Aatto Velaitinen II. saß wie jeden Tag in der Bibliothek und las eifrig jedes kleinste Stückchen an Information, das er über die Erde erfahren konnte. Dieses Wissen über die Erde und alle ihre Schätze war in fünfzehn Büchern mit dem Titel "Heimat Erde" zusammen gefasst worden. An jenem Tag war es der fünfzehnte Band der irdischen Geschichte "Das tragische Ende unserer Heimat" das seine Aufmerksamkeit voll in Anspruch nahm. Wie dieses Buch war auch der übrige Bestand der Autokratischen Bibliothek allein den Bewohnern einschließlich des fünften Zirkels vorbehalten.
"Mein Herr, ich fürchte, es wird Zeit für Euch, die spannende Lektüre wieder aus den Händen zu legen.", bemerkte Leevi, der treue, ehrerbietige und bereits leicht ergraute, vollbärtige Diener, mit einer unterwürfigen Geste. Aatto der II. mochte es nicht, wenn er von dem so viel älteren Freund eine dermaßen förmliche Anrede erdulden musste. "Bitte, Leevi, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mich so nicht ansprechen sollst!", antwortete der junge Mann ihm verärgert. Trotz seiner erst 16 Jahre war Aatto von stattlicher Statur, sein Körper durchtrainiert und sein Verstand durch die Lektüre vieler erhabener Schriftsteller geschärft. Seine sanften Züge, die haselnussbraunen Augen, weichen geschwungenen Lippen und die gerade, mittellange und doch charismatische Nase, alles umrahmt von vereinzelten, frech in sein Gesicht fallenden Strähnen dunkelbrauner Haare, die er hinter dem Kopf sorgfältig in einen langen Zopf gebunden hatte, mochten ihm den Anschein eines sensiblen Sonderlings geben, doch Leevi wusste, dass in dem Jungen ein wilder Geist schlummerte, der, wäre er nur hart genug vom Leben und Schicksal gefordert, mutig jedes noch so schmerzhafte Opfer würde vollbringen können, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.
"Verzeiht mir, Herr!", entgegnete ihm der alte Diener demütig und als ihm bewusst wurde, dass er diese lästige Angewohnheit einfach nicht abstellen konnte, ergänzte er seine Bitte um Vergebung mit einem unterdrückten, jedoch unvermeidlichen Grinsen. Aatto winkte mit einem kurzen Lachen ab "Ach, du bist doch nichts anderes als ein schrulliger alter Mann, der nicht weit davon entfernt ist, seinen eigenen Namen zu vergessen! Es sei dir also verziehen!"
"Ihr wisst, dass es Zeit ist für Eure Unterweisung in die Welt der Kampfkunst, mein junger Herr."
"Schon? Wenn ich hier in der Bibliothek sitze, vergeht die Zeit viel zu schnell!"
Aatto erhielt schon seit er acht Jahre alt war regelmäßig Unterricht im Xi Jong, einer aus vielen traditionell überlieferten Kampfkunstarten zusammengesetzte Form des Langschwertkampfes, bei dem man sich zudem das Ziel gesetzt hatte, die Elemente seiner Umgebung effektiv für den eigenen Sieg zu nutzen und gleichzeitig so geschmeidig und grazil wie eine Katze seine volle Körperbeherrschung zur Schau zu stellen.
Der junge Autokratensohn wurde vom Berater seines Vaters unterrichtet, der auch gleichzeitig der Waffenmeister des Hofes war. Risto Nieminen, so hieß dieser überall als unentbehrlich geltende Meister aller Waffen und taktischen Züge, räumte dem jungen Mann auch durchaus ein Quäntchen Talent ein: "Sollte es mal zu einer ernsthaften Angriffssituation kommen, würde ich Euch sogar geringe Chancen des Überlebens einräumen!", pflegte der Altmeister seinen jungen Zögling anzuspornen.

Aatto ging mit zügigen Schritten den langen Säulengang entlang, dicht gefolgt von Leevi, der allein schon aus Gewohnheit gebührenden Abstand zum Sohn des Herrschers wahrte. Wie oft war der junge Thronfolger bereits durch diese stets leeren, altehrwürdigen Hallen geschlichen, hatte die unzähligen Portraits seiner Vorfahren betrachtet und sich gefragt, was für Menschen sie wohl gewesen sein mochten. Welche Entscheidungen sie trafen, wenn kein anderer die Last dieser Verantwortung auf seinen Schultern hätte tragen wollen, ob sich ab und an auch solch erstrebenswerte Gefühlsregungen wie Mitleid oder Großmut in den Vollzug ihres Staatsdienstes einmischten. Aatto fragte sich, ob sie leidenschaftlich geliebt hatten, welche Freizeitbeschäftigungen ihnen am meisten lagen, oder manchmal auch nur, welche Teesorte sie wohl am Morgen bevorzugten. Als er noch ein Kind von gerade einmal sechs Jahren war, hatte jedes dieser übergroßen, angestaubten Gemälde in seiner Phantasie seine ganz eigene kleine Geschichte erzählt. Oft hatten Bedienstete stundenlang nach Aatto suchen müssen, um ihn in einem dieser zahllosen Säulengänge vor ein Ahnenbildnis gekauert wiederzufinden und ihn an seine Pflichten zu erinnern.

Es schien schon eine halbe Ewigkeit her zu sein, dieses ungreifbare Damals, das mit seinem Hier und Jetzt nicht mehr viel gemein hatte. 'Sie' war nicht mehr da. Ohne dieses lebenslustige, dunkelhaarige Mädchen hatte sein kleines Universum einiges an Liebreiz verloren. Sie hatte ihm oft in den endlos langen Stunden des Nichtstuns Gesellschaft geleistet und ihm somit seine Kindheit angenehm versüßt. Sofia Fernandez Diaz, Tochter des Leibarztes der Autokratenfamilie, war der Name seiner liebsten Spielgefährtin, die immer darauf bedacht gewesen zu sein schien, den zukünftigen Thronfolger aus verzwickten Situationen zu erretten oder ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, wenn sein Kopf einmal mehr in das Ersinnen hochtrabender, gar größenwahnsinniger Zukunftspläne verstrickt war.
Nachdem Aattos Mutter jedoch nach kurzer schwerer Krankheit verstorben war, unkten Neider des Leibarztes, er habe die Herrschergattin falsch behandelt. Hätte er seine Behandlungsmethode besonnener gewählt, so ihre Meinung, könnte sie noch am Leben sein. Auf immer vehementeres Drängen der Medizinischen Fakultät hin enthob Eetu seinen getreuen Diener dessen Amtes und verbannte ihn - mitsamt seiner Familie- in den elften Zirkel. Dass den Leibarzt dabei keine Schuld traf, würde nie ans Tageslicht treten. Die besondere Milde der Bestrafung wurde dadurch deutlich, wenn man die Behandlung "gewöhnlicher" Königsmörder mit dem Schicksal des treuen Leibarztes verglich: Sonst stand auf solch schändliches und unmenschliches Verbrechen der Tod durch den Strick, auf dem elektrischen Stuhl oder durch ein langsam wirkendes Gift. Handelte es sich jedoch um das übelste aller Verbrechen, sei es ein mit unaussprechlicher Grausamkeit ausgeführter Mord oder gar das Werk eines Serienkillers, das vor Gericht verhandelt wurde, ließ es sich der Autokrat in der Regel nicht nehmen, eine dem Verbrechen angemessene, ebenso abscheuliche Tötungsart zu ersinnen...
Was aus Sofia geworden war, wusste Aatto nicht. Er nahm an, dass sie das Elend des elften Zirkels nicht überlebt hatte. So hatte der junge Prinz schon früh gelernt, Verluste hinzunehmen, Lebewohl zu sagen. Gerade einmal sechs Jahre war er alt gewesen, als er seine Freundin das letzte Mal gesehen hatte.
Das Einzige, was ihm von ihr geblieben war und was er immer bei sich trug, war ein kleines, graviertes Amulett aus Aventurin. Dieser Anhänger ähnelte einem geschwungenen, moosgrünen Tropfen, in dessen oberes Ende ein Loch gefräst worden war, um ihn um den Hals tragen zu können. Gemeinsam mit Sofias Hälfte ergab sich aus beiden Stücken ein Kreis - das Symbol ihrer immerwährenden Freundschaft.
Oft nahm Aatto Sofias Geschenk zur Hand, wenn er nicht weiterwusste. Wenn er den Talisman dann ins Sonnenlicht hielt und er geheimnisvoll leuchtete, dachte er unwillkürlich an die schönen Tage seiner Kindheit zurück. Das gab ihm Kraft und Zuversicht.

"Euer Vater lässt ausrichten, dass es Euch nach dem Training frei steht, den Abend in Auslebung eurer eigenen Musen zu verbringen.", verkündete Meister Nieminen knapp, als er seinen jungen Schüler in die Trainingshalle eintreten sah. Er hatte diese Bemerkung bereits vor dem Training fallen lassen, da er Aatto testen wollte. Würde der junge Mann trotz dieser frohen Botschaft mit voller Konzentration die an ihn gestellten Anforderungen des Kampfsportes meistern? Oder würde er etwa seine Gedanken schweifen lassen, wie es für einen sechzehnjährigen Knaben nicht gerade unnormal war?
Mit einem kurzen Lächeln ließ Aatto erkennen, dass er schon genau wusste, wie sein Abend aussehen würde und dass er den Plan seines Meisters durchschaut hatte.
Risto kannte seinen Lehrling gut und so war es auch keine Überraschung für den erfahrenen Waffenmeister, dass der Junge auch heute wieder ein Musterbeispiel an Körperbeherrschung und Wachsamkeit darstellte.
Meister Nieminen hatte, zusammen mit seinem Schüler, eine Vielzahl an Gegenständen auf dem Hallenboden verteilt, sodass man nun, egal wo man hinsah, Rampen aus Holz, Steinbrocken, Eisenringe, Äste, Ziegel und Strohballen ausmachen konnte.
Kaum hatten sich die zwei Kombattanten einander gegenüber gestellt und mit einer Begrüßungsgeste Ehrfurcht und Respekt vor dem Gegner bekundet, sirrte auch schon Aattos Langschwert in einem mächtigen Hieb in Richtung Ristos Kopf. Mit einem weitläufigen Ausfallschritt entging der Ältere dem Angriff nur knapp. Aus der geduckten Position heraus, in die er sich nun gedrängt sah, riss er mit seinem rechten Fuß den Jüngeren effektvoll von dessen Beinen. Aatto hatte gelernt, den Schaft des Schwertes fest zu umklammern, um keinen Preis freizugeben, und sich so schnell wie möglich aus einer derart misslichen Lage wieder auf die Füße zu schwingen. Gerade erst wieder auf den Beinen, traf ihn unerwartet ein Hieb zwischen die Schulterblätter und warf ihn, einen Schmerzenslaut äußernd, vornüber auf seine Knie. Doch er wusste dass ihm nun keine Zeit bleiben würde, um sich ausgiebig die Wunden zu lecken - er musste schnell handeln. Und so rollte der junge Mann sich vorwärts über seine linke Schulter ab, wirbelte herum und riss seinerseits den verdutzten Risto von den Füßen. Bereits siegessicher beugte sich Aatto mit einem breiten Grinsen über seinen Meister und setzte ihm die Schwertspitze an die Kehle, als ihn aus dem nichts heraus ein schwerer Ast hart an der Seite traf. Überrascht und mit schmerzverzerrtem Gesicht taumelte der Junge zur Seite und ehe er sich versah stand sein Meister wieder in voller Größe vor ihm, den verdammten Ast noch in der Linken. Blitzschnell warf der Prinz sein Schwert in hohem Bogen in die Luft und ehe es plump zu Boden krachen konnte, hatte der Jüngling Anlauf genommen, war mit einem formvollendeten Salto von einer einmeterhohen Rampe gesprungen und überaus zielsicher in der Hocke gelandet - genau unter der vorherberechneten Einflugschneise des Schwertschaftes. Fünf Meter trennten nun die beiden Gegner. Ebenso treffsicher wie sein Schüler ehedem Zielsicherheit bewiesen hatte, schleuderte Risto einen Eisenring von sich, der klirrend um die Schneide des gegnerischen Schwertes eierte und ihm seine Waffe aus der Hand riss. Völlig beklommen blinzelte Aatto in die Richtung seines Meisters und konnte gerade noch einem kraftvollen Fausthieb ausweichen, wobei er jedoch ungeschickt über einen Ziegel stolperte und mit der Klinge des Älteren an seiner Kehle belohnt wurde.
"Das war's!", höhnte Risto keuchend, "Ihr habt Euer Schwert verloren und hockt wie ein verängstigter Hase am Boden. Ich würde sagen, da ist nichts mehr zu machen!"
Mit einem anerkennenden Nicken akzeptierte Aatto die Niederlage. Er hatte ja schließlich auch schon etliche Triumphe über den Waffenmeister zu verbuchen gehabt. Jeder einzelne ihrer Kämpfe war stets ein beeindruckendes Kräftemessen, bei welchem dem einen seine jugendliche Leichtigkeit und Schnelle, dem anderen seine Erfahrung und seine Vorraussicht zu Gute kamen. Der Diener Leevi genoss es, die beiden parieren zu sehen, wann immer er konnte.
Als Risto nun seiner gewahr wurde, fragte er den alten Mann "Was würdet Ihr sagen, Leevi, wie ist die Kampfkunst unseres jungen Lehrlings zu beurteilen? Seht ihr irgendwelche Schwächen, an denen er noch arbeiten müsste?" Er war ehrlich neugierig auf die Antwort des Kammerdieners, eines neutralen Beobachters.
"Naja, ich würde sagen, dass Aattos Kampf eine gewisse Ungeduld auszeichnet, die durchaus auf seine Jugend zurückzuführen sein kann. Er will zu schnell, zu viel; und ist dann oft überrascht, wenn ein Kampf noch lange nicht vorüber ist, den er schon sicher wähnte."
"Hört auf den alten Knaben, Aatto, denn er hat vollkommen recht. Unduldsamkeit ist Eure größte Schwäche. Aber ich nehme an, mit verbissenem Training und fortschreitendem Alter wird sich das sicher wieder einrenken. Ihr müsst Euch eben nach wie vor in Geduld üben, ob es Euch passt, oder nicht. Ein richtig guter Kampf ist nämlich eher mit einem fetten, verstaubten und obendrein vergilbten Roman, dessen jede Seite nur noch schemenhaft erkennen lässt, was ihre verblichenen Druckbuchstaben einst zu verheißen suchten, als mit einer Kurzgeschichte zu vergleichen. Obwohl ich weiß, dass junge Männer in Eurem Alter aufgrund der vielfältigen Ablenkungen sich allerhöchstens zur Lektüre eines Taschenbuches hinreißen lassen würden.", schloss Meister Nieminen seine Predigt mit einem abschätzigen Grinsen.
Der junge Zögling quittierte die viel zu lange Rede, die zudem noch eine äußerst bedenkliche Aussage über seine Person enthielt, mit einem entnervten Augenrollen. Als diesem jugendlich verzogenen Verhalten auch noch ein verächtliches Schnauben folgte, winkte der Altmeister mit einer beschwichtigenden Geste ab und klopfte dem Jungen freundschaftlich auf die Schulter.
"Seid versichert mein junger Herr, mir erging es in Eurem Alter nicht anders. Nun könnt ihr Euren vergnüglichen Beschäftigungen nachgehen, denn wir sind hier fertig.", sagte es und verschwand mit einem kurzen Nicken in einem der endlos vielen halbdunklen Bogengänge, die diesen Palast durchzogen wie Maulwürfe ein fruchtbares Stück feinsten englischen Rasens. Nach ein paar festen Schritten hielt der alte Mann jedoch inne, drehte sich noch einmal um und ließ seine Hand für einen kurzen Moment auf dem Heft seines Langschwertes ruhen, einen Gesichtsausdruck präsentierend, als überlege er sorgfältig was er sagen sollte und raunte dann mit anerkennender Stimme: "Nicht, dass Ihr mich falsch versteht, Ihr macht hervorragende Fortschritte auf dem Gebiet der Kampfkunst!"

"Kannst du es glauben, Leevi, wie unverfroren er mir solche tiefschürfenden Beleidigungen an den Kopf wirft?"
Mit einem herzhaften Lachen versuchte der Diener seinen Herrn zu ermuntern: "Falls es Euch beruhigt, ich konnte diesen arroganten Rhetoriker noch nie leiden. Ich weiß nicht, wie er mir vorkommt, wenn er wieder mal seine schleimig windige Art zu Markte trägt. Wie wär's wenn Ihr jetzt ein herrlich duftendes, warmes Bad nehmen würdet, um die kürzlich geschehenen Ärgernisse zu vergessen?"
"Ach, du weißt aber auch immer, wie du meine Laune aufbessern kannst!"

Aatto beobachtete versonnen, wie die Flocken aus weißem Schaum seine Finger runterrannen. Langsam ließ er den Blick über den Rand der überdimensionalen Badewanne schweifen, bis er auf dem grünen Leuchten seines Medaillons ruhen blieb. Behutsam nahm er das Geschenk seiner alten Freundin in die Hand und fuhr darauf die schlichte Gravur in Form einer geschlängelten Linie nach.
Meister Nieminen hatte mit "vielfältigen Ablenkungen" wohl die jungen höfischen Damen gemeint, die in großen Scharen entzückt die Augen gen Himmel verdrehten und ein heiseres Kichern von sich gaben, wenn der Prinz an der Seite seines Vaters einen prachtvollen Staatsempfang abhielt. Und in gewisser Weise hatte er schon recht, wenn er von Ablenkung sprach, aber Aatto war bisher nur ein einziges Mädchen aufgefallen, das auch nur annähernd ernsthaft und hübsch genug war, um sein Interesse zu erwecken.
Wichtig war ihm, dass seine Angebetete haselnussbraunes Haar hatte, genau wie Sofia. Gewundert hatte sich der junge Mann schon oft darüber, dass ausgerechnet eine Sandkastenfreundschaft seinen Geschmack bei Frauen bestimmen sollte, aber er konnte sich diesem Gefühl nicht erwehren, obwohl es in Velaitia weiß Gott einfacher war, ein blondes Mädchen zur Frau zu finden, als ein dunkelhaariges. Zu selten kam es vor, dass es Nachfahren der spanischen Arbeiterschicht durch Erfolg und beträchtliches Einkommen hinter die Stadtmauern der Hauptstadt des Königreiches geschafft hatten. Sofias Vater allerdings hatte es geschafft: mit dem letzten Ersparten seines Elternhauses hatte er sein Medizinstudium bezahlt und hatte verbissen darum gekämpft, in seinem Beruf ganz nach oben zu kommen. Weil er durch die vielen Entbehrungen, die er seiner armen Familie aufgrund des Studiums hatte zumuten müssen, ein sehr gewissenhafter, ehrlicher und vernünftiger junger Mann war, war er gleich beim ersten ärztlichen Konzil, das er hatte besuchen dürfen, Eetu Velaitinen aufgefallen.
Oft hatte Eetu von der ersten Begegnung mit seinem getreuen Freund erzählt. Der junge Arzt habe aus der versammelten Ärzteschaft herausgestochen, weil er im Gegensatz zu den anderen kein arroganter Aufschneider und hinterhältiger Blender war. Unzählige Male hatte der Vater seinen Sohn belehrt: 'Wenn du einen solchen Freund im Leben findest, kann dir kein Unglück mehr etwas anhaben, denn du hast jemanden, der das Leid mit dir teilt und deine Freude über schöne Dinge verdoppelt. Du bist einfach nicht alleine in dieser rauhen Welt und es gibt kein beruhigenderes Gefühl als dieses.'
Und was hatten diese ganzen Liebesbezeigungen gebracht? Am Ende musste der Leibarzt seine sieben Sachen packen und wurde ins Elendsviertel abgeschoben. Aatto hatte die Entscheidung seines Vaters nie begreifen können. Eetu hatte immer beteuert, dass seinem Freund schlimmeres widerfahren wäre, hätte er nicht dem Drängen der Ärzteschaft Folge geleistet.
"Du wirst es verstehen, wenn du eines Tages selbst auf dem Thron sitzt", hatte er erklärt. "Du wirst die Welt um dich herum nicht wieder erkennen. Korruption, Intrigen und widerliche Schandtaten sind leider an der Tagesordnung. Du hast die Wahl: entweder übergibst du deinen Getreuen der Armut, oder er wird Opfer eines von langer Hand geplanten Meuchelmordes und sein Tod lastet auf deinem Herzen. Die Welt ist sehr schlecht, Aatto. Ich wünschte, ich könnte dich vor allem Leid beschützen. Doch auch ich kann nicht auf immer für dich da sein. Eines Tages wirst du in kurzer Zeit sehr schnell erwachsen werden müssen und ich werde nicht da sein, um dich dabei zu unterstützen. Doch eine Überzeugung gibt mir Hoffnung und hält mich aufrecht: Ich habe keinen Zweifel, dass du dein Schicksal mit Bravour meistern wirst, denn du bist ein toller Junge. Du hast den verbissenen Lebensmut deiner Mutter, ich sehe so vieles von ihr in dir. Ich habe dich sehr, sehr lieb, mein Sohn!"
Ein kleines Lächeln umspielte Aattos Mundwinkel bei dem Gedanken an diese liebevollen Worte seines Vaters. Heute, mit sechzehn Jahren, sah der Prinz ein, dass sein Vater damals keine andere Wahl gehabt hatte. Aber um seine Freundschaft mit Sofia trauerte der junge Mann noch immer. Vorsichtig erhob er sich aus dem leicht abgekühlten Badewassser und nachdem er sich sorgfältig abgetrocknet hatte, legte er wieder das Medaillon um. Hin und wieder versuchte er, sich vorzustellen, wie Sofia wohl heute aussehen mochte. Aber es gelang ihm nicht. Es war zu viel Zeit vergangen und er erinnerte sich nicht mehr an das leicht gebräunte Gesicht, obwohl er wusste, dass es hübsch gewesen war.
Nun, da Sofia außer Reichweite für ihn war, würde er sich mit Kaira zufrieden geben müssen. Mit ihr verband ihn etwas, das er nicht als Liebe bezeichnen würde, aber es war da. Kaira war die Tochter eines angesehenen spanischen Apothekers und einer Finnin, was ihr einerseits den finnischen Vornamen einbrachte und andererseits die dunklen Haare.

Nachdem Aatto sein Gewand angelegt hatte und der breitbandige Gürtel mit den Goldeinsätzen sein Erscheinungsbild vollendete, verließ er die Eingangshalle des Schlosses, um sich mit Niilo Hansen, dem Sohn des Apothekers zu treffen. Die beiden Jungen waren schon seit der Grundschule beste Freunde und trafen sich oft in der Spielhalle, oder in dem Baumhaus in der alten Eiche, die im Schlosspark stand, welches auch heute als Treffpunkt dienen sollte.
"Na, was machen wir heute, mein alter Freund?", wurde er von Niilo begrüßt.
Nach einem kurzen Zögern begann Aatto leise zu sprechen: "Könntest du mir einen riesigen Gefallen tun? Als ich das letzte Mal Geigenunterricht hatte, ging ich ohne die Erlaubnis meines Vaters hinterher noch eine Weile in der Nähe des Stadtrandes spazieren. Mich interessierte einfach, was hinter den Mauern unserer kleinen Welt so geschieht. Du verstehst das doch, oder?"
"Ja... und weiter?"
"Nun, was ich zu sehen bekam, war unglaublich! Ich konnte in einem düsteren Hinterhof eines verlassenen Fabrikgeländes beobachten, wie drei Männer einen wild um sich schlagenden Gefangenen zum Hintereingang einer Lagerhalle brachten. Der arme Kerl hatte einen Leinensack über den Kopf gezogen, war gefesselt und den Lauten nach zu urteilen zusätzlich noch geknebelt."
"Der Ärmste! Und was hat das Ganze mit mir zu tun?"
"Wenn du mich begleiten würdest, könnten wir uns die Lagerhalle mal aus der Nähe ansehen...!"
"Du hast sie ja wohl nicht mehr alle! Und was, wenn die selben Kerle uns erwischen? Die machen Hackfleisch aus uns, was ein Glück für die Raubtiere wäre, an die sie uns verfüttern. Denk nur mal: königliches Hackfleisch, was für eine Delikatesse!"
"Also kommst du jetzt mit oder nicht? Es wird schon nichts passieren, ich gehe sowieso nur da runter, wenn die Luft rein ist!"
"Das kannst du vergessen, ich bin nicht lebensmüde, im Gegensatz zu dir!"
Mit einem Kopfschütteln ließ Niilo seinen offenbar geistig verwirrten besten Freund bei der Eiche stehen, in der Hoffnung, ohne ihn würde er dieses hochgradig gefährliche Unterfangen nicht in Betracht ziehen.
Doch da kannte er Aatto schlecht. Der wollte der Sache auf den Grund gehen, immerhin bot die Angelegenheit willkommene Abwechslung vom Alltagstrott.
Eine halbe Stunde später hatte Aatto bei den Zinnen der Stadtmauer Stellung bezogen. Ständig darauf bedacht, nicht gesehen zu werden, kauerte er nun hinter der Zinne, um sich den sichersten und einfachsten Weg nach unten zu überlegen. Er sah mit angestrengtem Blick gen Himmel, die Stirn in Falten gelegt. Abgesehen von ein paar Kumuluswolken erstrahlte das Firmament in einem berauschenden Azurblau, die beiden Sonnen standen nahezu im Zenit, wobei die hellere der beiden von den Wolken verdeckt wurde. Aattos Herz schlug ihm bis unter die Schädeldecke. Sollte er es wirklich tun? Was, wenn die finsteren Gestalten plötzlich dort unten aufkreuzen würden, und er ihnen zum Opfer fiel? Mit einer wegwerfenden Handbewegung vernichtete er alle seine Zweifel. Was sollte schon passieren, mitten am hellichten Tage? Die Neugier siegte schließlich über seinen Verstand. Als er nochmal nachsah, ob auch diesmal niemand das Fabrikgelände bewachte, befand er, es sei der richtige Augenblick gekommen, um über die Mauer zu klettern. Gerade wollte Aatto sein rechtes Bein über die Brüstung schwingen, als ihn ein unerbittlich harter Schlag am Hinterkopf traf. Augenblicklich wurde es dunkel um ihn herum.


III




Die dicke Stahltür öffnete sich quietschend und ungefähr zum fünften Mal in zwei Tagen wurde ein Kopf durch den Spalt gesteckt. Fahles Licht drang hinter der Person in die dunkle Kammer ein und ebnete sich seinen Weg zu dem zusammengekauerten Etwas am Boden.
Aattos Augen schmerzten, als er versuchte, einen Blick auf seinen Entführer zu erhaschen, doch es war ihm unmöglich, nach zwei Tagen in kompletter Dunkelheit mehr als nur die Silhouette eines ungefähr 1,90 m großen, kräftigen Mannes mit stoppelig rasiertem Haupthaar vor dem Leuchtkranz des trüben Lichtes dieser scheinbar anderen Welt auszumachen.
Die Gewissheit, dass der Gefangene noch aufrecht saß, genügte dem Eindringling in das dunkle Verließ wohl schon. Denn mit einem flüchtigen Kopfnicken neben sich schloss er die Tür so rasch wieder wie er sie geöffnet hatte, nur diesmal ertönte das knarzende Geräusch rückwärts.
Verärgert riss Aatto an seinen Fesseln, was ein Fehler war, denn durch das kurze Intermezzo schien er komplett vergessen zu haben, wie tief sich die unerbittlichen Stahlringe schon in sein Fleisch geschnitten hatten. Nichts hatte sich bis jetzt an seiner Situation geändert, außer dass er immer schwächer wurde und trotz fünfmaligem Betrachtens seiner Peiniger der Polizei keine brauchbaren Informationen würde liefern können.
Wie war er überhaupt hierher gekommen? Er erinnerte sich an nichts mehr und da ihn beim Erwachen am gestrigen Tage fürchterlich der Kopf geschmerzt hatte und er im Dunkel eine fleischige Wunde in seinen zersausten braunen Haaren hatte ausmachen können, war er schlichtweg davon ausgegangen, durch einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf ausgeschaltet worden zu sein.
Wenn er darüber nachsinnierte, überlief es ihn eiskalt und er schämte sich, dass er nicht besser auf diese Angriffssituation reagiert hatte. Er war ihnen ins Netz gegangen wie ein schmächtiger kleiner Fisch, der noch nicht einmal zappelte, um seinem Schicksal zu entgehen. Was war das Training mit seinem Meister überhaupt wert, wenn er doch so hilflos war?
Nachdem er jetzt wieder von allgegenwärtiger Dunkelheit umfangen war, fiel ihm erneut ein, wie sehr sein Körper unter den Strapazen litt: Sein Kopf hämmerte, sein Magen rebellierte, sein Gesäß schmerzte, weil ihm auf dem eiskalten, feuchten Steinboden nicht allzu viele Möglichkeitgen gegeben waren, sich bequem hinzusetzen. Zu allem Überfluss gesellten sich nun auch dank des Flüssigkeitsmangels Schwindel, Kribbeln in Armen und Beinen, Herzrasen, ab und an auftretende Ohnmacht und aufgesprungene Lippen hinzu.
Aatto zitterte am ganzen Körper. Er wusste genau, wenn er nicht bald etwas zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen bekäme, würde jede Lösegeldzahlung zu spät kommen.

Mit zitternden Händen füllte Sofia klares, kühles Wasser in die lehmfarbene Schale. Ihre Wange pulsierte noch immer von dem harten Schlag, der sie vor wenigen Minuten getroffen hatte. Das Mädchen hatte es gewagt, ihrem Stiefvater zu widersprechen. 'Das hast du wieder ganz toll hingekriegt', dachte sie bei sich, 'immerhin ist er der Anführer. Niemand widerspricht ihm, nichtmal du. Du solltest eigentlich schlauer sein als das!'
Nachdem Fernando, der Handlanger ihres Vaters, ins Hauptquartier zurückgekehrt war, hatte er von dem wimmernden Etwas hinter der Verliestür berichtet: "Wir haben ihn bald soweit, dass er uns die Scheiße von den Schuhsohlen leckt. Ihr seid einfach ein Meister auf dem Gebiet der Gefangenenhaltung, Jaime!" Diese hässliche Bemerkung veranlasste Sofia, die vor Mitleid für den Gefangenen zerging, ihre Stimme zu erheben und zum dritten Mal an diesem Nachmittag zu fragen, wann der arme junge Mann denn endlich was zu trinken bekäme.
"Wieso, es geht ihm doch gut, solange er noch aufrecht sitzen kann, kann der Durst wohl nicht so schlimm sein!", höhnte Jaime.
"Aber du könntest ihn damit umbringen, Vater!", entgegnete Sofia verzweifelt. Lucia, Sofias Mutter, saß wie immer nur in der Ecke und strickte. Nie äußerte sie ihre Meinung zu den Entscheidungen ihres Mannes, sie hatte schon zu viele Schläge dafür kassiert.
"Ich will von diesem Thema jetzt nichts mehr hören, ich entscheide, wann der Junge zu trinken bekommt!"
"Aber-!", weiter kam Sofia nicht, denn schon hatte sie die Quittung für ihre Aufsässigkeit erhalten.
"Du bist einfach ein nutzloses, halsstarriges Weibsstück! Mit dir ist nichts Gescheites anzufangen!"
Mit einem letzten, abschätzigen Grunzen verließ Jaime den Raum. Sofia bebte, ihre Unterlippe zitterte und sie konnte immer noch nicht fassen, was für ein elender Rohling ihr Stiefvater doch eigentlich war. Benommen von der Schmach dieser körperlichen Demütigung hielt sie sich die Wange, die wie wild pochte und sich heiß anfühlte.
Kaum war der große Anführer verschwunden, trat Fernando durch den Türrahmen und nickte Sofia mit gleichgültiger Miene zu: "Dein Vater lässt ausrichten, dass du dem Abschaum in der Zelle eine Schale mit Wasser bringen sollst. Aber keine Spielchen, verstehst du?"

Sofia trug die Schüssel mit nicht wenig Stolz vor sich her. Es bedeutete ihr sehr viel, dass sie sich wenigstens dieses eine Mal in das Gewissen ihres Vaters geredet hatte. Sie war sich nicht mal ganz sicher, ob er so etwas wie ein Gewissen überhaupt besaß, oder ob er nur einfach eingesehen hatte, dass der hochrangige Vater des Gefangenen wohl sein Lösegeld gewaltig schmälern würde, würde er nur seinen toten Sohn zurückbekommen. Wie so oft wusste Sofia nicht einmal, um wen genau es sich bei dem Entführten handelte. Solche Informationen waren stets geheim und nur für Jaime und die wenigen Handlanger bestimmt, die er mit der Entführung betraute. An der gezahlten Lösegeldsumme erkannte man aber dennoch, wie wichtig der Zahlende im Staatsgefüge war. Jaime Olivar Perez entführte seit Sofia denken konnte immer mal wieder die Kinder hochdekorierter Persönlichkeiten, um das Geld für seine Sache einzutreiben. Damit wurden dann die Kämpfer ausgebildet, Waffen beschafft und neue Verbündete erkauft. Der "Blaue Mond", Jaimes Untergrundbewegung, war seit ihrer Kindheit ein wichtiger Wegbegleiter in Sofias Leben.
Mit gerade einmal sechs Jahren hatte ihr Vater, sie, ihre Mutter und ihren kleinen Bruder in die raue Umgebung des zehnten Zirkels gebracht. Er selbst ging, wie es der Autokrat befohlen hatte, in den 11. Zirkel, in die Verbannung. Was aus ihrem Vater geworden war, wusste Sofia nicht. Doch sie lauschte immer wieder gerne den Erzählungen ihrer Mutter, was für ein gutherziger Mensch und liebevoller Vater er war. Und zwangsläufig kam das Gespräch darauf, was für ein aufopferungsvoller Freund er gewesen war und wie schmählich ihn sein engster Vertrauter abserviert hatte.
Bald darauf hatte Lucia Jaime kennen gelernt und sich in den mutigen, durchsetzungsfähigen, jedoch auch sehr jähzornigen Mann verliebt.
Seine chauvinistisch männliche Erhabenheit schien auch nicht dadurch geschmälert zu werden, dass er keine Kinder zeugen konnte.
Um so mehr Zeit hatte er dann schließlich auch, sich seiner Gruppe kampfeslustiger Widerständler zu verschreiben, die es sich zum Ziel gemacht hatten, eines schönen Tages den Autokraten vom Thron zu stürzen und dem Volk Calcatans endlich die Freiheit zu bringen, die es schon immer verdient hatte.
Sofias Abneigung für Jaime und für die Art, wie er ihre Mutter behandelte, hatte sich über die Jahre auch auf die Organisation ausgeweitet und das junge Mädchen versuchte nun wo sie konnte Gutes zu tun, wo auch immer es in dieser knallharten Truppe daran fehlte.

Fernando ging nur wenige Schritte vor ihr her und der Gestank ungewaschenen Haares, verdreckter Kleidung und männlichen Schweißes wehte ihr gnadenlos ins Gesicht. Schon waren sie bei der alten verrosteten Stahltür angekommen und der Widerling drehte sich noch einmal für die letzten Instruktionen um: "Kein unnötiges Geschwätz, keine Berührungen und halte dich nicht allzu lange da drin auf, verstanden?"
Sofia nickte abwesend und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was sie gleich zu sehen bekommen würde. Die Tür öffnete sich und da befand sich tatsächlich, halb sitzend, halb liegend ein total ausgezehrter junger Mann mit dunklen Haaren. Mehr konnte sie leider in dem Schummerlicht nicht erkennen und es wurde ihr schnell klar, dass das auch volle Absicht war. Flink bückte Sofia sich, stellte die Schale mit einem Nicken vor dem Gefangenen ab und wandte sich zum Gehen. "Vielen Dank!", drang es mit krächzender Stimme irgendwo aus dem Wolllumpen hervor. Etwas Weiches, Sanftes lag in dieser Stimme, trotz der unüberhörbaren Erschöpfung, die darin mitschwang. Ohne etwas zu entgegnen, verließ Sofia die Kammer und kaum hatte sich hinter ihr die Tür geschlossen, schossen ihr auch schon die Tränen in die Augen. Wie konnte Jaime, dieser Mistkerl, einem armen, unschuldigen Burschen nur so etwas antun? Und viel schlimmer: Was, wenn er eines Tages das Endziel seiner Operation erreichen würde? Dann würde den Mitgliedern der Herrscherfamilie etwas Schlimmes widerfahren. Und das war das Letzte, was sie wollte. Klar, sie verband nicht unbedingt nur Positives mit den Velaitinens, aber sie traute ihrem Stiefvater eine bedingungslose Grausamkeit zu, in deren Visier zu sein sie nicht mal ihrem ärgsten Feind wünschte. Und dann war da ja auch noch Aatto...

Gegen Abend bekam Sofia Besuch von Liliya, ihrer besten Freundin. Liliya war daran gewöhnt, dass fremde Männer im Haushalt der Olivars ein- und ausgingen. Doch sie wusste auch, dass Sofia schon bald ihre eigene kleine Wohnung haben würde, weil sie es einfach nicht länger zu Hause aushielt.
"Vater hat wieder einen Gefangenen. Es ist ein Junge in unserem Alter... Er... er ist anders als die anderen vor ihm.", berichtete Sofia zögernd.
"Wieso anders? Wie meinst du das?"
Sofia hielt kurz inne, bevor sie mit dem Abwasch der Teller und Tassen fortfuhr, welche sie zum Abendessen benutzt hatten. "Nun, es ist etwas Vertrautes in seiner Stimme, sie klingt so - sanft, beinahe zart und sie erinnert mich an etwas aus meiner Vergangenheit, das so tief in mir vergraben ist, dass ich nur eine vage Ahnung von dem bekomme, was es bedeutet. Ich meine, diese Stimme irgendwo schonmal gehört zu haben. Sie erweckt in mir ein unbestimmbares, wohliges Gefühl - wie als wäre ich - zu Hause, in meiner alten Heimat, verstehst du?"
Ihre Ausführungen quittierte Liliya mit einem herzlichen, ausgelassenen Lachen. "Du beweist mir doch immer wieder aufs Neue, dass zu viele Liebesfantasien den Blick für die Realität verschleiern! Ist dir vielleicht mal eingfallen, dass du den Kerl wirklich kennst? Nichts da mit tief in dir vergraben; du hast ihn einfach das letzte Mal vor einer Woche oder so reden hören! Naja, aber ich will dir ja nicht deine bittersüßen Illusionen zerstören, ich kenne dich doch, das würde dir das Herz brechen!"
"Mensch Liliya! Pest und Cholera wären ja bessere Freundinnen als du!", prustete Sofia los und schon bald hielten sich die beiden Mädchen mit schmerzverzerrten Gesichtern vor Lachen die Bäuche.

"Abgemacht, eine Million Dariki bei der Übergabe. Kommen sie pünktlich, denn ich weiß nicht, was passiert, wenn ihr elender Sohn mir auch nur eine weitere Minute auf die Nerven geht!" Mit einem selbstzufriedenen Grinsen legte Jaime den Hörer auf. "Also, es ist alles besprochen, ihr wisst, was zu tun ist, Männer!"

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Texte: Saskia Schiffer
Tag der Veröffentlichung: 09.07.2011

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