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Kapitel I

 

 




Ein gellender, markerschütternder Schrei schallte durch die altehrwürdigen Säulenhallen des Herrscherpalastes auf Calcatan und wurde auf seinem Weg von jedem Sockelgesims, Stubenerker und Wandpfeiler zurückgeworfen, sodass man den Eindruck bekommen konnte, den Schrei noch zu hören, obwohl dessen Verursacher bereits lange verstummt war. Aufgeregtes Durcheinander folgte diesem Spektakel und schon bald bildete sich eine Traube Menschen um die Bühne dieses Schauspiels. Rings um die versammelte Menge standen einige Meter hohe Kletterwände aus Beton, die in ihrer drohenden Erhabenheit wie erzürnte Eltern auf ihren verzogenen Bengel herabzublicken schienen. Bei dem "Bengel" handelte es sich um Niilo Hansen, doch der arme Kerl hatte in diesem Moment keinesfalls eine Rüge verdient, sondern vielmehr eine tröstende Schulter und ein schnellwirkendes Schmerzmittel. Beim Klettern mit seinen Spielkameraden war der Junge, natürlich wie immer ungesichert, abgerutscht und aus drei Metern Höhe auf den harten Mosaikboden aus edelstem roten, grauen und beigem Marmor gestürzt. Nun lag er da, mit schmerzverzerrtem Gesicht, hielt sich sein rechtes Bein und war umzingelt von Bediensteten und Wachmännern des Palastes.
"Was ist mit deinem Bein?", fragte Aatto ganz besorgt, denn mit seinen sechs Jahren und den mangelnden medizinischen Kenntnissen war er mit der Situation hoffnungslos überfordert.
"Es tut so weh! Bitte, tu' doch was!"
"Sofia, bitte geh zu meinem Vater, sag ihm, Niilo ist gestürzt! Er soll seinen Leibarzt mitbringen, damit er nach ihm sieht. Keine Sorge, Niilo, ich bleibe bei dir, bis Dr. Fernandez kommt!"
Ohne zu zögern sprang das kleine Mädchen auf, um den Bitten ihres besten Freundes Aatto Folge zu leisten. Es schien ihr ohnehin, als würde das Händchenhalten ihrem Spielgefährten im Moment nicht sehr helfen.
"Eetu, Eetu!", rief die Kleine aufgeregt, ohne darauf zu achten, dass Aattos Vater gerade in einer zweifelsohne enorm wichtigen Staatsbesprechung steckte, "Komm' schnell, Niilo hat sich sehr weh getan, er braucht bestimmt einen Arzt!", rief das Mädchen aufgeregt, wobei sich von dem atemlosen Dauerlauf in die Herrschaftsgemächer seine Pausbäckchen dunkelrot gefärbt hatten.

Kurze Zeit später erschienen Eetu und Dr. Fernandez Duran mit der kleinen Sofia im Schlepptau, um den Pulk der Schaulustigen auseinander zu treiben. Mit seiner rauchigen, aber keinesfalls unfreundlichen Bassstimme erklärte der Arzt bestimmt, er müsse zu dem Verletzten durchdringen können oder anderen Falls einen der Laien in der ersten Reihe anleiten, ein gebrochenes Bein zu strecken und zu schienen, was von hier aus nur über lautes Geschrei möglich sei. Mit einem aufwallenden Raunen teilte sich schließlich die Menge und der arme Knirps wurde sichtbar. Die Schmerzen hatten ihn schon erschreckend blass werden lassen, aber eine beherzte junge Magd hatte bereits seinen Kopf in ihrem Schoß gebettet und streichelte ihm beruhigend und unter Murmeln zärtlich tröstender Worte durch seine blonde Haarpracht.
Nach einer kurzen, aber eingehenden Untersuchung der Verletzung kam der Leibarzt zu dem Schluss, dass das Bein wirklich gebrochen sei und man es in einem Krankenzimmer schienen und verbinden müsse. Dazu bat er eine Gruppe junger, kräftiger Männer, Niilo auf das mitgbrachte Leinentuch zu legen und ihn gemeinsam zur "Krankenstation" zu tragen, in der der kleine Patient nun die nächsten beiden Wochen würde ausharren müssen. Bei dem Krankenzimmer handelte es sich lediglich um eines der vielen Gästezimmer des Herrscherpalastes, umfunktioniert, um den Bedürfnissen eines beinahe Siebenjährigen und dessen gebrochenen Beines gerecht zu werden.
Aatto hatte die ganze Szenerie wie in Trance beobachtet. Ihm war es, als hätte er eine Erscheinung gehabt. Er war Zeuge eines atemberaubenden Geschehens geworden - der Rettung seines verletzten Freundes durch Dr. Fernandez, dem unscheinbaren und doch unvergesslichen Helden seiner Kindheit.

"Als der Doktor endlich auftauchte, war es mir, als sei mir ein guter Geist erschienen um mir diese schlimme Last von den Schultern zu nehmen. Wenn er nicht da gewesen wäre, hätte ich nicht gewusst, was ich hätte tun sollen mit dir!", erklärte Aatto seine plötzliche Erleichterung dem siech liegenden Kameraden.
"Ja, mein Vater ist toll, nicht? Er kann Lahme wieder gehend machen und Blinde sehend, er kann die schlimmsten ansteckenden Krankheiten heilen!", erwiderte Sofia voller Überschwang.
"Pah! Dafür ist mein Vater der Herrscher über deinen Vater und über Niilos auch!", entgegnete Aatto völlig unbeeindruckt. Dabei fand seine Hand die ungeschützte Taille des braungelockten Mädchens und begann, es gnadenlos durchzukitzeln.
Sofia krümmte sich vor Lachen unter den hektischen Berührungen und stieß mit heiserer Stimme voller Verzweiflung zwischen ihren Zähnen hervor, Aatto solle endlich damit aufhören. Doch der freche Knabe wollte einfach nicht gehorchen, bis ein lautes "Autsch!" die beiden zur Raison rief.
Es kam aus Niilos Richtung. Sie sahen ihn beide mit verschreckten Blicken an, als ihnen bewusst wurde, dass sie gerade empfindlich auf dem enormen Gipsverband gelandet waren, der das auf einem dicken Daunenkissen gebettete rechte Bein umgab.
"Eines Tages rennt ihr euch noch gegenseitig die Köpfe ein, ich seh's schon kommen!", protestierte der Geschädigte lautstark. "Aber mich lasst ihr bitte da raus, verstanden?!"
"Ähem!", erklang ein Räuspern aus dem Türrahmen, den der Kammerdiener Leevi Hakonen mit gewohnt geschmeidiger Unhörbarkeit hinter sich gelassen hatte, völlig unbemerkt von dem glucksenden Trio.
"Ich unterbreche Ihre Ausgelassenheit ja nur ungern, meine Herrschaften, aber Niilos Mutter bat mich darum, Sie daran zu erinnern, wozu allein Sie seine dringend benötigte Bettruhe stören dürfen."
Als der graubärtige Mann in fragende Kindergesichter blickte, ergänzte er etwas ungeduldig, "Na, für Ihre Hausaufgaben natürlich!"
"Versprichst du uns, uns nachher nochmal die Geschichte von der Erde zu erzählen, bitte? Ja?"
Leevi zog sich mit einem bejahenden Nicken und einem gütigen Lächeln auf seinen Lippen wortlos aus dem Krankenzimmer zurück und zog die beiden schweren Flügeltüren aus Eiche kraftvoll hinter sich zu.
"Wie ein Sack Flöhe sind diese Kleinen, nicht wahr?" Ein wissendes Grinsen umspielte die sinnlichen Lippen von Laura Hansen, Niilos Mutter.
"Sie machen aber mindestens genausoviel Freude, wie man ihnen Lebendigkeit zugestehen muss, stimmt's?"
"Da haben Sie wie immer Recht, Leevi! Aber wie oft haben Sie ihnen die Geschichte schon erzählt? Doch bestimmt hundert Mal!", das Grinsen entlud sich in einem herzhaften Lachen und Lauras voller Busen bebte bedenklich unter den Erschütterungen.
Leevi sah sich die fülligen Kurven dieser Frau, ihre eisblauen Augen und das seidig glänzende, schulterlange blonde Haar gerne ab und zu aus der Nähe an, vergaß aber nie, dass sie die Gattin des Hofapothekers war. Unter leichtem Erröten entgegnete er knapp: "Hundert Mal bestimmt, wenn nicht schon zum hundertundfünften Mal! Aber würden Sie mich bitte jetzt entschuldigen, ich habe noch etwas zu erledigen!"
"Es hat mich gefreut, Leevi!"
"Die Freude war ganz meinerseits, hoch verehrte Frau Hansen!"

"Na endlich, Leevi! Komm', setz' dich zu uns, wir warten schon ganz gespannt darauf dass du uns die Geschichte erzählst", drängte Aatto mit Ungeduld.
"Na schön", brummelte der gefolgsame Diener in seinen dichten, weißen Bart, "Aber Geduld ist eine Tugend, die ihr noch lernen müsst, mein Herr!" Leevi nahm schwerfällig im wohlig weich knisternden Meer der Daunenfedern Platz und neben ihm der junge Prinz - so dass er direkt an der Quelle saß - gefolgt von Sofia. Der arme Niilo jedoch fiel auf der anderen Seite fast von der Bettkante, was ihn dazu veranlasste das nervende Mädchen neben ihm aus zusammengekniffenen Augen anzufunkeln.
Während der alte Mann seine vielmals zum Besten gegebene Geschichte erzählte, starrte er die meiste Zeit gedankenverloren an die gegenüberliegende weiß gekalkte Wand, die in den Zimmerecken von bunten Marmorsäulen begrenzt war. Nur ab und zu sah er seiner Zuhörerschaft in die Augen, um den Stand ihrer Aufmerksamkeit zu überprüfen.
Er musste sich eingestehen, dass er diese quirlige Rasselbande sehr ins Herz geschlossen hatte und ihm wurde mulmig bei dem Gedanken, wie schnell deren Kindheit verbittertem Erwachsensein würde weichen können. Er hatte es ja bei Aattos Vater gesehen, der wegen des viel zu frühen Todes seines Vaters schon mit vierzehn Jahren den Thron hatte besteigen müssen. So hatte es Leevi sich zur Aufgabe gemacht, dem quirligen Herrschersohn eine möglichst unbeschwerte Kindheit zu gewährleisten, solange dies noch möglich war. Und wenn dazu gehörte, eine alte, längst vergessene Erzählung über die Wiege der Menschheit scheinbar unendlich oft zu rezitieren, weil es den Kindern gefiel, so sollte es denn sein.
"Die Erde war ein wunderschöner Planet, dessen Herrlichkeit im Lichte einer einzigartigen, gelb gleißenden Sonne erstrahlte. Wo man nur hinsah, erblühten frische, grüne Pflanzen und Bäume. Lebhafte Bächlein durchzogen glitzernd die Erdkruste, der fette Boden war fruchtbar und feucht. Bienen huschten emsig von Blüte zu Blüte und saugten gierig deren Nektar. Von nah und fern erklangen Vogelstimmen in erquickendem Zwiegespräch. Die Atmosphäre war voll von schweren, süßen Düften, die der ruhelose Wind durch Wiesen und Täler trieb, bis er verspielt in den zahlreichen Blättern einer Baumkrone verebbte. Tiere bevölkerten dieses Idyll, sie waren unterschiedlichster Gattung und Statur und lebten einträchtig nebeneinander her, stets dem Motto treu bleibend "fressen und gefressen werden".
Eines Tages brachte diese fruchtbare Erde eine ganz besondere Spezies hervor: Den Menschen. Seine unvergleichliche Art, alles was um ihn herum geschah mit Neugier zu betrachten und zu hinterfragen, brachte ihm, erdgeschichtlich gesehen, in relativ kurzer Zeit ein umfangreiches Potential an Schöpfungskraft und Erfindungsreichtum ein. Basierend auf der hohen Intelligenz des Menschen und seiner atemberaubenden Fortschritte in Wissenschaft und Technik, nahm er sich die Freiheit heraus, über jedes unterlegene Geschöpf auf dem Planeten Erde zu herrschen. Sehr bald musste die liebliche Natur quadratkilometerweiten Betonplatten weichen, auf denen die Behausungen der Menschen immer weiter in den Himmel ragten. Die Industrie verpestete die wertvolle Luft, vertrieb die unbezahlbaren, lieblichen Düfte aus der Atmosphäre. Schon bald zeigten die Eingriffe des Menschen in die Natur dramatische Folgen: Die Artenvielfalt des Tier- und Pflanzenreiches nahm zusehends ab. Die Überzeugung des Menschen, unfehlbar zu sein, ermöglichte viele Erfindungen, die die Erde nachhaltig schädigten. So fuhr man lange Jahre, ohne auf die Folgen für die Natur zu achten, mit Giftstoff absondernden Gefährten durch die Gegend und gewann Strom mithilfe radioaktiver Elemente, die noch lange Jahre gefährlich sein würden. Man ersann fürchterliche Kriegswaffen, auch basierend auf radioaktiven Materialien, deren Wirkungskraft nicht nur bei ihrem Einsatz unzählige Menschen- und Tierleben forderten, sondern sogar längerfristig ganze Landstriche unbewohnbar machten. Im Kommunikationszeitalter gelandet, durch das Internet global miteinander vernetzt, wurden aus Individuuen schnell Menschenmassen. Und genau diese Entwicklung war es, diese hochexplosive Mischung aus blinder Schöpfungswut und dem Internet als Sprachrohr der Menschheit, die den Untergang dieses schönen Planeten besiegelte.
Denn eines Tages war die Symbiose aus Wissenschaft und Technik soweit ausgereift, dass man mit fünffacher Lichtgeschwindigkeit ins Weltall reisen konnte. Die Menschheit stand im Jahre 2510 nach Christus kurz vor dem Durchbruch. Man würde sehr bald schon fremde Planeten bereisen, in der Hoffnung eine zweite Heimat für die Menschen zu finden und Kontakt zu extraterrestrischen Lebensformen aufzunehmen. Nun wurde über das Internet und die Medien eine Welle der Hysterie geschürt und schon kurz nach Bekanntgabe des Projekts forderte man einstimmig wirksame Abwehrmechanismen im Falle einer Bedrohung durch die Lebewesen aus dem All..."
"Wisst ihr was? Ich werde euch den Rest aus dem fünfzehnten Band der Erdgeschichte vorlesen. Lasst ihn mich nur schnell aus der Bibliothek holen gehen." Für sein Alter schwang sich Leevi doch noch recht behände aus der hohen "Bettenburg" und eilte mit flinken Bewegungen in besagte Richtung.
"Wisst ihr zufällig, was eine Simiose ist?", fragte Aatto seine Spielgefährten, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. "Ich wollte nicht fragen, dann hätte mich Leevi bestimmt ausgelacht!"
"Nein, das weiß ich nicht.", räumte Sofia verlegen ein. Sie warf Niilo einen herausfordernden Blick zu. "Und du, großer Meister der Worte, wie steht's mit dir?"
Aus der Richtung des Kranken drang nur ein verächtliches "Hmpff!" hervor, wobei er das pausbäckige Mädchen keines Blickes würdigte.
"Weißt du es etwa auch nicht?", fragte Aatto seinen treuen Kumpanen entgeistert, um ihn necken zu wollen. Mit Sofia tauschte er verschwörerische Blicke.
"Mensch ihr seid beide blöd! Wenn mein Bein nicht gebrochen wäre, würde ich schon längst was Besseres tun, als mit euch hier rumzuhängen!"
"Määäänsch, ihr seid beide blööööööd!", äffte ihn Sofia unerbittlich nach.
Nun war es Niilo zu viel, er begann auf ihr rumzuhauen, hitzig gab er hin und wieder Flüche und Knurrlaute von sich, während Aatto versuchte, dazwischen zu gehen und vehement betonte: "Mädchen schlägt man nicht!" Sofia hingegen fing an zu kichern, denn die ungelenkigen Angriffe ihres angeschlagenen Bettnachbarn stellten nun wahrhaftig keine Bedrohung für sie dar. Stattdessen wappnete sie sich mit einem der im Überfluss vorhandenen Daunenkissen und schlug rhythmisch auf das Heulende Elend ein. Ein spitzer Schrei folgte diesem Szenario und Niilos Kopf nahm eine ungesunde tiefrote Farbe an, als er nun außer sich vor Wut zu lamentieren begann.
Mitten in den Trubel kam ein aufgeregter Leevi hereingeplatzt und schrie: "Euch kann man ja keine zwei Sekunden alleine lassen, das ist ja unfassbar! Wenn nicht augenblicklich Ruhe ist, werde ich euch diese gottverdammte Geschichte nie wieder erzählen!"
Er hatte erreicht was er wollte; die Kinder redeten kein Wort mehr miteinander - es war muxmäuschenstill.

An seinen Platz zurückgekehrt, blätterte Leevi zu den letzten beiden Seiten des schweren Bandes und las die Passagen vor, die er für wichtig erachtete, um die Aufmerksamkeit der Kleinen nicht überzustrapazieren. Er war sich ohnehin gewahr, dass die Jugend keinen blassen Schimmer haben würde, um was es in der Erzählung ging, weil sie es einfach noch nicht begreifen konnten, aber es würde ja sicher nicht das letzte Mal sein, dass er zum Vorlesen aus einem dieser Bände gezwungen würde.
"Im Jahre 2510 hatte der wissenschaftliche Fortschritt den Menschen Basislager auf Mond und Mars ermöglicht. Auf diesen Stützpunkten versuchten Wissenschaftler, Raumfahrtmodule zu entwickeln, die es möglich machen sollten, schneller als mit Lichtgeschwindigkeit zu reisen. Es war ihnen auch soweit gelungen, Module zu konzipieren, die eine Strecke von 5 Lichtjahren in einem Jahr zurücklegen konnten. Doch damit war man noch nicht zufrieden. Das Pi Beta-Projekt hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die selbe Strecke in sechs Monaten zurücklegen zu können, was eine 30-fache Lichtgeschwindigkeit bedeuten würde.
Als die Erfolge der Forscherteams aber zunehmend durch die Medien an die Öffentlichkeit gerieten, wurden Rufe nach Verteidigungsmechanismen laut. Die beunruhigte Bevölkerung forderte von der Regierung, den Vereinten Nationen, eine Waffe zu erschaffen, die die Menschheit im Falle eines extraterrestrischen Angriffs vor der Zerstörung bewahren sollte.
Schnell wurde den Forderungen Folge geleistet. Daraufhin veröffentlichte ein hochangesehener Wissenschaftler seine Theorien, die besagten, dass der Bau einer Neutrinobombe auch ohne Gefahr für Leib und Leben möglich sei. Seine Veröffentlichung stieß auf Begeisterung in der Welt der Wissenschaft, doch es wurden auch einige wenige kritische Stimmen laut, von ebenso hoch angesehenen Wissenschaftlern, die seine Theorien als schlichtweg brandgefährlich deklarierten.
Als sich jedoch abzeichnete, dass solch eine Bombe in einem unter der Erdoberfläche gelegenen Forschungslabor gebaut werden sollte, baten die Skeptiker um Asyl auf den terraformierten Mond - und Marsbasen. Nichts davon drang an die Öffentlichkeit und die Regierung sorgte mit regelmäßigen News-Bulletins dafür, dass die Bevölkerung davon ausging, dass das Projekt absolut ungefährlich sei.
Die Skeptiker sollten jedoch Recht behalten. Bereits nach den ersten Herstellungsschritten stellte sich heraus, dass die Antimaterie absolut unkontrollierbar instabil war, doch da war es bereits zu spät: Die darauffolgende unterirdische Implosion zerstörte den Planeten Erde mit Leichtigkeit.
Den Wissenschaftlern auf Mars und Mond blieb nichts anderes übrig, als diesem ungeheuerlichen Ereignis hilflos zuzusehen und da sie bis dato von Hilfslieferungen der Erde abhängig gewesen waren, fassten sie einen verzweifelten Entschluss: Die im Zuge des Pi Beta-Projektes entwickelten Module sollten die Überlebenden zum nächstgelegenen bewohnbaren Planeten, HR6256, der 150 Lichtjahre entfernt lag, transportieren. Die Reise würde nahezu fünf Jahre dauern, doch es war die einzige Möglichkeit, zu überleben..."

"Ich möchte einmal alle diese Bücher gelesen haben, wenn ich groß bin!", verkündete Aatto mit stolz geschwellter Brust, nachdem er die Sprachlosigkeit überwunden hatte, von der er wie jedes Mal beim Anblick der endlos langen, übereinander getürmten und verstaubten Buchreihen teilweise antiker Sammlungen und Werke der Autokratischen Bibliothek übermannt worden war. "Aber besonders die fünfzehn Bände locken mich. Die will ich unbedingt lesen, sobald ich es kann!"
"Pah! Du hast sie ja nicht mehr alle! Bis du all die Bücher gelesen hast, bist du ein alter, verschrumpelter Opa!"
"Was sagst du da?! Ich und verschrumpelt?!?", rief der Junge entgeistert aus, "Na warte, das wirst du mir büßen!" Unter johlendem Gekreische verfolgte Aatto nun das zierliche Mädchen. Sie huschten unter Bänken und Tischen hindurch, wie flinke Marder auf der Jagd nach ihrer Beute. Als sich Sofia in triumphierendem Lachen nach ihrem Verfolger umdrehte, rannte sie plötzlich und unerwartet mit voller Wucht gegen zwei massive Stelzen, die unbeweglich in der Landschaft umher standen und sich bei näherem Hinsehen als die wohlverpackten Beine der Bibliothekarin Erja Lehtinen, einer zweifelsohne sehr resoluten Mittsechzigerin, entpuppten. Wenig später wurden die beiden Störenfriede an ihren Ohren aus diesem Ort der geistigen Bildung und In-Sich-Gekehrtheit geschleift und unsanft vor dessen Türen abgesetzt.
Mit einer letzten Rüge überließ Erja, deren Gestalt sich unter dem Eindruck der Jahre schon sehr gebeugt hatte und deren schütteres, grauschwarzes Haar zu einem strengen Kloß gebunden war, die Kinder ihrem Schicksal: "In der Bibliothek habt ihr euch gefälligst unauffällig und ruhig zu verhalten, oder ich sorge dafür, dass ihr hier keinen Fuß mehr reinsetzt!"
"Ha, ich könnte dafür sorgen, dass sie keinen Fuß mehr in die Bibliothek setzt! Die soll sich bloß vorsehen!", giftete Aatto ihr siegesgewiss hinterher.
"Und was machen wir jetzt?", fragte Sofia vorwurfsvoll, noch ganz benommen von dem Vorfall, den sie wie immer Aatto in die Schuhe schob.
"Ach, uns fällt schon was ein!", entgegnete Aatto gelassen. Die zwei kleinen Gestalten streiften nun ziellos durch die übermäßig große Kulisse, die der Herrscherpalast bot, auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer.
Schon bald wurden sie fündig. Aatto nahm auf dem roten Läufer der Ahnengalerie Platz und verknotete lässig die Beine zu einem Schneidersitz. Seine kleinen, haselnussbraunen Augen blickten ehrfürchtig zu dem Dreimetermann hoch über seinem Kopf auf, der gebieterisch herablassend auf die Betrachter niederblickte und die Symbole seiner Macht zur Schau stellte, als wäre es das Selbstverständlichste auf ganz Calcatan.
"Das bin ich, Mika Velaitinen, der erste Herrscher über Calcatan und seine Bewohner."
Grinsend zu Sofia gewandt fügte er hinzu: "Verbeuge dich gefälligst vor Seiner Majestät,wie es sich gehört!"
Das Mädchen fand sich sofort in dieser Phantasiewelt zurecht und entgegnete unter einer tiefen Verbeugung: "Jawohl mein Herr und Gebieter, Eure Angetraute Lucia ist Euch stets zu Diensten."
Als Aatto enttäuscht bemerkte, dass Sofia die Rolle seiner Gemahlin und nicht irgendeiner ergebenen Untertanin angenommen hatte, kehrte er dem Mädchen trotzig den Rücken zu. Sofia zwinkerte der imposanten Herrscherin an der Seite "Mika Velaitinens" verschmitzt zu und versuchte, sich möglichst lautlos davonzuschleichen, in der Hoffnung, "Mika" würde ihrer Abwesenheit gewahr werden und sie ruhelos und völlig aufgelöst suchen, um ihr seine unendliche Liebe und bedingungslose Folgsamkeit zu gestehen. Und tatsächlich, als sich Aatto nach einer Schmollminute wieder umwandte, war das Mädchen mit den braunen Locken verschwunden.
"Sofia?", fragte er gewohnt vorsichtig, denn oftmals in solchen Situationen hatte das Mädchen sich irgendwo in der Nähe versteckt, um ihn dann gnadenlos zu erschrecken und sich über seinen unbezahlbaren Gesichtsausdruck lustig zu machen. Doch diesmal geschah nichts. Aatto wurde unruhig; wo steckte sie bloß?

Unterdessen hatte Aattos Vater, Eetu, seine Berater um sich geschart, um sich über die neuesten Vorkommnisse auf Calcatan und den Aussiedlerplaneten zu unterhalten.
"Wichtigste Punkte der Tagesordnung werden wohl die Embargopläne der Aussiedler und die wachsende Bedrohung durch die Widerstandskämpfer der Untergrundorganisation sein. Womit sollen wir diese Beratungsrunde beginnen, Eure Hoheit?", fragte Aapo Manninen in geschäftlich-neutralem Ton, wie er es immer tat. Dieser Mann hatte seine Positionen als Vorsitzender der Beraterriege und Wirtschaftsbeauftragter seit nunmehr fünfzehn Jahren inne und wusste das alltägliche Geschäft zu würdigen. Dennoch hatte es nach all den Jahren in seinen Augen den anfänglichen Schrecken verloren, der ihn als junger Emporkömmling am Hofe des Autokraten oft nachts nicht hatte schlafen lassen.
Eetu dachte kurz nach und sah dann mit direktem Blick zu Riku Salonen hinüber, der das Ressort "Innere Sicherheit" unter sich vereinigte. Mit betretenem Gesichtausdruck schaute sich der junge Mann Mitte dreißig konzentriert auf die gepflegten Fingernägel, um dem durchdringenden Fokus des Herrschers zu entgehen.
Unglücklicherweise saß er demselbigen genau gegenüber, am anderen Ende der dunkel gemaserten, fünf Meter langen, leicht oval geformten, massiven Nussbaum-Tischplatte, die einen eindeutigen Beweis des hochherrschaftlichen Status' ihres Besitzers darstellte.
"Nun, verehrter Herr Salonen, wie würden sie die Bedrohung durch die Untergrundorganisation "Blauer Mond" einschätzen? Ich, für meinen Teil, spreche ihr ja wenig Bedeutung zu."
Der Angesprochene fuhr sich nervös durch die dunklen, vollen Locken als er antwortete: "In den letzten sechs Monaten kam es allein zu fünfzehn Entführungen der Sprösslinge hochrangiger Bürger Calcatans, welche letzten Endes für beachtliche Summen freigepresst wurden. Die Entführten konnten uns leider keine brauchbaren Informationen über den Stützpunkt der Organisation geben, geschweige denn, wieviele Kämpfer unter ihrer Flagge versammelt sind. Eines ist aber sicher, der Anführer dieser Rebellion ist wildentschlossen, sein Endziel zu erreichen. Und die Sicherheitskräfte, die mit diesem Thema betraut sind, sind sich alle einig, dass wir mit Gefahr für Leib und Leben für die gesamte zivilisierte Bevölkerung rechnen müssen, einschließlich - oder vielmehr - im Besonderen, für die königliche Familie, Eure Hoheit.
Wir müssen davon ausgehen, dass sich für den Bau der Waffen, für das Rekrutieren und Ausbilden von Kämpfern und das Bestechen von Maulwürfen aus unseren Reihen, Unmengen von Geld aus den Entführungen angesammelt hat. Ja, ich gehe von einer sehr bedeutenden Bedrohung für die gesamte Neue Welt aus."
Nun, da er seine Einschätzung der Situation hervorgebracht hatte, fiel ihm ein großer Stein vom Herzen, denn Riku wusste um die Einstellung des Autokraten zu diesem Thema.
"Haben Sie denn einen Beweis dafür, dass es diese Verräter überhaupt gibt? Ich halte die Aussagen vieler Befragter immernoch für überproportionales Aufbauschen der Tatsachen."
"Es stimmt, dass die "Spezialeinheit Blauer Mond" noch nicht allzuviele Beweise für die Existenz solcher Maulwürfe oder Trainingscamps geliefert hat, aber ich glaube fest daran, dass, wo Rauch ist, auch immer ein Feuer zu finden sein wird...."

Eetu ertappte sich dabei, wie er mit den Gedanken immer weiter abschweifte, wenn er doch eigentlich den Ausführungen der Inzidenzen rund um den "Blauen Mond" interessiert zuhören sollte. Aber etwas von großer Tragweite belastete seine Seele: der Gesundheitszustand seiner geliebten Gattin Aada.
Sein Leibarzt, Dr. Fernandez Duran, hatte jüngst nach einer eingehenden Leibesvisitation der geschwächten, blassen Autokratin wenig Aussicht auf Besserung geben können. Die Prognose war fatal - er sprach der kranken Frau nur noch wenige Wochen zu, wobei er auf eine Herzmuskelentzündung tippte. Die Behandlung dieser ernstzunehmenden Erkrankung war in der Neuen Welt leider nach wie vor nicht möglich, obwohl die Forscher mit Hochdruck daran arbeiteten. Das Wissen um die Therapie solcher Krankheiten war vor langer Zeit bei dem endzeitlichen, fluchtartigen Aufbruch der irdischen Wissenschaftler verlorengegangen. Damals war zwar eine Handvoll Ärzte an Bord der Forschungsstationen, deren Aufgabe war es jedoch nur gewesen, solche Diagnosen zu stellen und die kranken Forscher zurück zur Erde zu schicken, damit sie sich von Spezialisten behandeln lassen konnten. Dr. Fernandez, wie man ihn um der Kürze willen nannte, hatte darum gebeten, sich mit dem Problem an den Ärzterat wenden zu dürfen, in der Hoffnung, ein anderer Mediziner hätte vielleicht eine Idee, wie man die Herrscherin retten könne.
Eetu hatte in seiner Verzweiflung der Bitte stattgegeben, obwohl er vollstes Vertrauen in seinen langjährigen Freund hatte. Er wollte die Hoffnung auf die Rettung seiner Frau - noch nicht - aufgeben. In solchen Situationen war es eigentlich Gang und Gebe gewesen, dass sich der Leibarzt um Geheimhaltung und Verschwiegenheit bemühte. In diesem speziellen Fall allerdings blieb Eetu keine Wahl, die übrigen Ärzte einzuweihen.

"...Deshalb schlage ich vor, zusätzliche Trupps unterhalb der Stadtmauer patrouillieren zu lassen und desweiteren Wachposten an den Zinnen zu positionieren, damit sie ein wachsames Auge auf das Geschehen rund um die Stadt haben. Es kann auch nicht schaden, eine Gruppe junger reicher Männer als Lockvögel auszubilden, um weiterführende Informationen zu erhalten."
"Ich werde Ihnen jegliche Mittel zur Verfügung stellen, damit Sie tun können, was Sie für richtig halten um diese Organisation zu zerschlagen. Im Gegenzug dafür möchte ich Fortschritte sehen."
Damit war für Eetu dieser Punkt der Tagesordnung abgehakt.
Mit einem kurzen Nicken bedankte sich der junge Salonen für die Bewilligung der Mittel und begann wieder, den Ecken seiner Unterlagen Eselsohren zuzufügen, eine Eigenart, die zweifelsohne seine Nervosität preisgab.
Da der Autokrat abwesend wirkte, riss Aapo Manninen das Ruder an sich und machte sich daran, die neuesten Entwicklungen auf den Aussiedlerplaneten zu schildern.
"Die Aussiedler haben damit gedroht, die Siirit-Minen zu schließen, wenn sie nicht bald bessere Arbeitsbedingungen bewilligt bekommen. Sie fordern kürzere Schichten, höhere Gehälter, Kuren auf Calcatan für geschädigte Minenarbeiter, ein besseres Auskommen bei Erwerbsunfähigkeit und im hohen Alter, sowie alljährlich einen zweiwöchigen Aufenthalt auf Calcatan für jeden Bewohner Toivos und Belarons." Der Wirtschaftsbeauftragte wollte gerade zu näheren Ausführungen ansetzen und stand zu diesem Zweck energisch auf, um belehrend im Zimmer auf- und abzuwandern, als Eetu ein Handzeichen gab und sich erhob.
"Ich fürchte, meine sehr geehrten Herren, dass wir die heutige Versammlung vertagen müssen. Ich werde sie rechtzeitig darüber informieren, wann wir wieder zusammenkommen. Es warten dringende Angelegenheiten auf mich, die keinen Aufschub dulden. Ich bitte Sie jetzt inständig, mich zu entschuldigen."
Kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, war er auch schon durch eine der dicken Eichentüren verschwunden, die den Audienzsaal von neugierig lauschenden Ohren erfolgreich zu trennen vermochten.
Erbost über diese Geste sammelte der hochrote Aapo seine sieben Sachen ein und tat es seinem Herrscher gleich.
"Was sollte dieser Auftritt nun schon wieder? Der Autokrat wird immer wunderlicher, scheint es mir!", meinte einer der Zurückgelassenen abschätzig.
"Aber es geht ja auch das Gerücht um, dass Umstürzler seine Entthronung planen, vielleicht wirkt er deshalb so zerstreut...!", entgegnete ihm der Landwirtschaftsminister Alvito González Nieto.
Nachdem sich der Medizinalrat Pekonen mit einem leisen Lächeln auf den Lippen eine Weile die lächerlichen Spekulationen angehört hatte, räusperte er sich geräuschvoll. Dann bemerkte er gleichgültig die Achseln zuckend: "Könnte natürlich auch daran liegen, dass seine Gemahlin im Sterben liegt.", und wechselte mit dem Forschungsbeauftragten Anttila verschwörerische Blicke.
Als der Sitzungssaal geräumt war, schlich auf leisen Sohlen eine elegant gekleidete Gestalt durch die Flügeltüren und ließ die Tagesordnung verschwinden, die Eetu in seiner Eile liegen gelassen hatte.

Als Eetu die Berater hinter sich gelassen hatte, spürte er, wie sich ein Kloß in seinem Hals verfestigte. Bei dem Gedanken an seine arme Frau schnürte es ihm die Kehle zu. Er beschleunigte seine Schritte, die ihn zielstrebig zu ihrem Schlafgemach führten. Sein Herz pochte ihm bis zum Hals; er bekam schlecht Luft. Ungeduldig nestelte er an seiner Krawatte und als er sie endlich geöffnet hatte, ließ er sie achtlos auf den Boden fallen. Leise fiel die Zimmertür hinter dem Autokraten ins Schloss. Als er sich dem Krankenbett Aadas näherte, sie ihn bemerkte und ihm ein mattes Lächeln entgegenschickte, spürte Eetu, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er kniete sich neben die so duldsam Leidende und vergrub seinen Kopf in den Laken. Die Sterbende hob ihre linke Hand und fuhr ihrem Geliebten schwach durch das leicht angegraute, braune Haar. Eine Träne nach der anderen tropfte auf das Seidenbetttuch und Eetu war dankbar, dass ihn seine Frau nicht weinen sehen musste.

"Verdammt, wo bist du, Sofia?", Ungeduld schwang in Aatto's Stimme mit, als er erfolglos seine Spielgefährtin in den königlichen Gärten suchte. Schließlich wurde er doch fündig. Das Mädchen hatte sich im Baumhaus versteckt und die Strickleiter hochgezogen.
Noch ganz in das Rollenspiel versunken, rief Aatto ihr zu: "Lass mich zu dir in die Hütte, meine Geliebte!",
doch Sofia schüttelte nur wild den Kopf, sodass ihre braunen Locken zu hüpfen begannen.
Dies ließ Aatto nicht auf sich sitzen. "Na warte, ich komm dir rauf!", sagte er und erklomm den nächsterreichbaren Ast. Sofia stieß einen Panikschrei aus, als sie den Jungen schnell näher kommen sah.
Sie drückte sich in die hinterste Ecke des Holzhauses, doch es war zu spät; Aatto hatte sich Zutritt verschafft und kitzelte sie nun gnadenlos durch.
Als er schließlich Erbarmen zeigte und seine Attacke beendete, hatte Sofia Tränen in den Augen vor Lachen.
Sie ließen die Strickleiter runter, setzten sich an den Rand des Hauses und ließen die Beine frei in der Luft baumeln.
"Du musst mir eins versprechen," hob Aatto feierlich an "dass wir immer zusammen bleiben. Versprich mir das!" Anstatt ihm zu antworten, drückte Sofia ihm einen unschuldigen Kuss auf die erwartungsvoll geschürzten Lippen. Aatto sprang erschrocken auf und rief: "Igitt, was soll das? So hatte ich das nicht gemeint!", spuckte zweimal aus und wischte sich energisch über den Mund. Das sah so lustig aus, dass Sofia ihr Lachen nicht mehr länger unterdrücken konnte, obwohl sie ebenso überrascht von seiner Reaktion war, wie er von ihrer Antwort auf seine Bitte.
Eine halbe Stunde später schlenderten die beiden erneut durch die Bibliothek, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass die Bibliothekarin nicht mehr im Hause war.
Wieder einmal stand Aatto vor der Reihe mit den fünfzehn Bänden der Erdgeschichte. Während er die alten Einbände genau betrachtete, legte er den Kopf schief und kratzte sich eben diesen völlig gedankenversunken.
"Sag mal", fragte er immernoch nachdenklich, "sollen wir Niilo den ersten Band vorbeibringen? Vielleicht würde Leevi ihn uns vorlesen."
Bei der Nennung des ersteren der beiden Namen rümpfte Sofia die Nase und entgegnete achselzuckend: "Wenn du meinst dass das unbedingt sein muss?"
Aatto ging auf ihre Äußerung der Geringschätzung Niilos nicht ein, denn beide seiner Spielkameraden bedeuteten ihm gleich viel. Also nahm er ohne zu zögern das schwere, sperrige Buch aus dem Schrank, wozu er auf eine der Leitern klettern musste; wandte sich um, und ging selbstsicheren Schrittes Richtung Schlafgemach.

Leevi war leider nicht abkömmlich und so übernahm Laura Hansen die Rolle der Geschichtenerzählerin.
Gebannt lauschten die Kinder der ihnen noch unbekannten Geschichte des Planeten Erde.
Diese war von einer Gruppe Überlebender nach bester Erinnerung zusammengetragen und niedergeschrieben worden. So würden die Sprösslinge von den drei Weltkriegen, großen Umweltkatastrophen, Terroranschlägen und der schleichenden Entwicklung einzelner Nationen in Richtung Überwachungsstaat erfahren. Der erste Band befasste sich mit der Evolutionstheorie und den urzeitlichen Amphibien und Reptilien, so gut es die Autoren ohne wissenschaftlichen Hintergrund eben vermocht hatten.
Besonders fasziniert zeigten sich die drei von den Riesenechsen. So etwas konnten sie sich überhaupt nicht vorstellen; eine notdürftige Zeichnung eines durchschnittlich begabten Malers half da auch nicht weiter. "So, nun müsst ihr aber alleine mit euch auskommen, ich habe noch im Haushalt zu tun!", meinte Laura wie beiläufig und klappte das alte Schrifttum mit einem lauten Knall zu.
Sofia meldete sich freiwillig, den ersten Band wieder zurück in die Bibliothek zu bringen, damit Frau Lehtinen sein Fehlen nicht bemerken würde.
"Grrrrrr! Ich bin ein Stegosaurus und werde dich jetzt fressen!!!", rief Aatto und vergrub sich in Sofias Flauschpulli. Die legte das Buch mit strafendem Blick beiseite und belehrte den Möchtegern-Saurier unverzüglich: "Wenn du richtig zugehört hättest, wüsstest du, dass Stegosaurier nur Pflanzen fressen!", sagte es und verschwand mit dem Buch durch die Eichentür.
"Mann, was findest du bloß an dieser blöden Ziege?", fragte Niilo vorwurfsvoll, kaum dass die Besagte das Zimmer verlassen hatte. "Wenn sie im Zimmer ist, bin ich abgemeldet! Und dann weiß sie auch immer alles besser!"
"Mensch, sei doch nicht so! Ich hab' sie eben gern, damit musst du dich abfinden. Und außerdem macht es mir Spaß, sie zu ärgern!"
Mit einem resignierenden Grunzlaut quittierte Niilo diese höchst anrüchigen Aussagen. Er wollte zu diesem Thema nichts mehr sagen, denn mit Aatto ließ es sich diesbezüglich überhaupt nicht gut streiten.

Gegen Abend wollte Aatto seine kranke Mutter besuchen. Durch den Türspalt sah er jedoch, dass sein Vater schon an ihrem Bett saß. Der kleine Junge beschloss, ihrem Gespräch zu lauschen. Die folgenden Worte begriff er jedoch nicht ganz:
"Ich fürchte, es gibt für mich keine Rettung, Eetu. In der Alten Welt war es noch möglich, ein Herz zu transplantieren.", sie rang nach Luft, um weiter zu sprechen, "es war sogar möglich, ein künstliches Herz mit den großen Gefäßen zu verbinden, aber dieses Wissen ist leider verloren gegangen, wie mir Carlos erklärt hat." Ihre Stimme erstarb. Eetu nahm ihre Hand in seine und streichelte zärtlich über ihre Finger.
"Unsere Forscher arbeiten unter der Leitung Anttilas gemeinsam mit Medizinalrat Pekonen fieberhaft daran, eine Therapie für dich zu finden. Du musst nur durchhalten!" Um seinen fordernden Worten Nachdruck zu verleihen, drückte er kräftig ihre Hand. Ihm fiel auf, dass seine Gattin schweißgebadet war und ihre braunen Locken an ihren Schläfen klebten.
Aada lächelte sanft und schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. "Ich weiß, dass du mich nicht verlieren willst, aber es wird so kommen; ich werde sterben." Als sie sich im Bett bewegte, raschelte das Seidenlaken ihres ausladenden Himmelbettes.
Nach einer kurzen Pause fügte sie leise hinzu: "Und wenn es soweit ist, gib Aatto soviel Liebe wie du nur geben kannst. Er wird sie brauchen. Kümmere dich gut um ihn. Ich werde von oben auf euch herabschauen und euch beschützen, ich verspreche es...!" Sie schloss die müden Augen und fiel kurz darauf in einen unruhigen Halbschlaf. Eetu musste unwillkürlich an die guten Zeiten mit seiner geliebten Ehefrau denken. Wie konnte man jemanden nur so lieben? Aatto beschloss, die beiden nicht zu stören. Er würde seine Mutter am darauffolgenden Tag in die Arme schließen. Er würde aber nie den Anblick seiner sterbenden Mutter im flackernden Kerzenschein vergessen.

"Meines Erachtens riskiert Dr. Fernandez das Leben der Herrscherin, wenn er sich nur auf die insuffiziente medizinische Versorgung der letzten Jahre verlässt, um sie zu kurieren. Wir sind zwar zugegebenermaßen noch nicht sehr weit, aber einzelne Teilerfolge muten doch vielversprechend an. Wir waren doch mit ihm überein gekommen, ihm zu helfen! Warum bedient er sich nicht unseres Wissens?", fragte Matias Anttila mit gedämpfter Stimme. Santeri Pekonen und er konnten sich nicht sicher sein, dass sie nicht irgendein Mitarbeiter des Forschungsteams bespitzelte und alles bei nächster Gelegenheit dem Autokraten unterbreitete.
"Weil er eben ein elender Dickkopf ist und sich für unfehlbar hält! Er ist nunmal der königliche Leibarzt und nicht wir!", antwortete Pekonen mit einem hämischen Unterton in der Stimme und schlug mit der flachen Hand nicht gerade leise auf den weißen Tisch, der zur übrigen spartanisch-modernen Einrichtung des Forschungsgebäudes hervorragend passte. Überhaupt mutete das Gebäude mit Sitz im ersten Zirkel sehr steril an, ganz ähnlich wie auch die Experimente mit isolierten Herzmuskelzellen, die in diesem Komplex durchgeführt wurden.
In dem Moment betrat ein Mitarbeiter die Küche und goss sich einen Kaffee ein. Um den Schein der Geschäftigkeit zu wahren, fachsimpelten die beiden Vorgesetzten über die Halbwertszeit von Myokardzellen unter anaeroben Verhältnissen. Kaum waren sie wieder unter sich, fügte Anttila hinzu:" Er will nunmal eben nicht unfertige Forschung am Patienten anwenden, was ich unter anderen Umständen auch nachvollziehen könnte. Aber die Gattin seiner Hoheit wird sehr sicher sterben, wenn Fernandez seinen Kurs nicht ändert. Aber er muss es wissen. Ich werde jedenfalls das Thema bei der nächsten Versammlung ansprechen. Ich hoffe du stärkst mir den Rücken!"
"Ich finde auch dass unser Herrscher es verdient hat, die Wahrheit zu erfahren."
Mit dieser Bemerkung Pekonens war das Thema erledigt. Die beiden würden dafür sorgen, dass Dr. Carlos Fernandez Duran die gerechte Strafe für seinen Hochmut erhielt.

In den folgenden Wochen verschlechterte sich Aadas Zustand zusehends. Dr. Fernandez weilte Tag und Nacht an ihrem Sterbebett und überwachte ihre wichtigsten Vitalfunktionen mithilfe von piepsenden Monitoren. In der Beraterrunde stellten Anttila und Pekonen den Leibarzt bloß, er habe ihnen zwar das Krankheitsbild anvertraut, aber nicht ihre Hilfe in Anspruch genommen. Und da die Herrscherin diese Sturheit wahrscheinlich mit dem Leben bezahlen würde, forderten beide die Verbannung dieses Mitglieds einer traditionsreichen spanischen Medizinerfamilie in den zehnten Zirkel. Beraubt jedes Hab und Gutes würde er dort ein Leben am Existenzminimum führen, was in ihren Augen die gerechte Strafe für solch einen Hochverrat am Königshaus darstellte. Eetu wurde rasend als er das erfuhr. Er stellte seinen jahrelangen treuen Diener zur Rede. Dieser sprang von seinem Wachlager auf und eilte erbost zur Tür hinaus, seinem Gebieter voraus.
"Mein Herr!", rollte er in seinem tiefen Bass. Er musste jeglichen Groll herunterschlucken, um nicht völlig erzürnt die Stimme gegen seinen Herrscher zu erheben. "Ihr müsst mir glauben, ich wollte Eurer Gattin kein Leid zufügen. Ich habe mir angehört, was Pekonen und Anttila anzubieten hatten und glaubt mir, es hätte ihr bei minimalem Nutzen beinahe maximale Unannehmlichkeiten bereitet. Ich habe sorgfältig erwogen, ob die unausgereiften Behandlungsmethoden der beiden irgendeinen Effekt auf den Zustand Eurer Ehefrau haben könnten und kam zu dem Schluss, dass es besser wäre, sie in Würde sterben zu lassen, so wenig Schmerzen und Ängste wie möglich!"
"Das hat sich bei den anderen aber noch völlig anders angehört! Sie haben mir ihre Forschungsergebnisse unterbreitet und sie klingen sehr vielversprechend! Warum habt Ihr es nicht wenigstens versucht?"
"Wem glaubt Ihr nun, denen oder mir? Ich kann nicht mehr erwarten als Euer Vertrauen in einen alten Freund. Wenn Ihr selbst das nicht aufbringen könnt, Eure Majestät, dann habe ich mich sehr getäuscht, was unsere Freundschaft angeht! Das macht mich sehr traurig.", brummte Carlos niedergeschlagen.
"Das Problem ist, Carlos, dass die Horde Ihre Verbannung fordert, weil sie denken, Ihr hättet einen kapitalen Fehler begangen. Und wenn alle dafür sind, wird es so kommen! Außerdem habt Ihr viele Neider, die Euch Eure Position als Leibarzt missgönnen."
"Seid Ihr denn auch dafür?", fragte Dr. Fernandez mit erstmals kraftloser Stimme.
"Ich weiß es nicht, mein Freund. Wenn der Druck der Meute zu groß wird, muss ich ihm nachgeben. Ihr kennt das Gesetz."
"Durchaus, aber Ihr könnt es ändern!" "Lasst mich bitte mit meiner Frau allein, ich werde über Euer Schicksal nachdenken.", mit diesen Worten beendete Eetu den Disput. Dr. Fernandez jedoch
machte sich größte Sorgen.

Eetu saß auf dem Stuhl neben dem Bett, die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf auf seine geballten Fäuste gestützt. Nachdenklich betrachtete er seine todkranke Frau. Er versuchte sich an die guten Tage mit ihr und Aatto zu erinnern. Glückliche Stunden, die ihnen niemand mehr wegnehmen konnte.
Immer wieder tauchte Carlos in den Bildern der Vergangenheit auf. Dieser Mann war mehr als nur ein Leibarzt gewesen. Er war der beste Freund Eetus, sein Ratgeber in schwierigen Lebenslagen und genoss zudem Aadas vollkommenes Vertrauen. Wenn Aatto wieder einmal krank war, zögerte sie keine Sekunde, sich an den fähigen Arzt zu wenden. Wenn Aada jetzt noch ihre Meinung zu den Vorkommnissen der jüngsten Zeit äußern könnte, wäre sie wohl entsetzt, dass Eetu mit dem Gedanken spielte, Carlos zu verbannen.
Aber, ob Autokrat oder nicht, Eetu waren in dieser Situation die Hände gebunden.
Brächte er den Ärzterat mit einer Entscheidung zugunsten Dr. Durans gegen sich auf, wäre die medizinische Versorgung der Herrscherfamilie nicht mehr der Forschung zugänglich und eine solche Fehde würde wohl noch Generationen nach ihm betreffen.
Er musste jedoch wissen, dass es auch die Mehrheit des Ärzterates war, die die Verbannung forderte. Eetu würde eine Abstimmung veranlassen und sollte sich zeigen, dass nicht genügend Stimmen gegen Carlos vorlagen, würde er seinem Freund eine wunderbare Nachricht überbringen können.
Ein langegezogener Piepton riss den Autokraten aus seinen Gedanken. Entsetzt stellte Eetu fest, dass der Monitor eine Nulllinie anzeigte. Schnell ergriff er Aadas Hand und beugte sich über ihr Gesicht.
"Lass mich noch nicht allein, ich flehe dich an!", flüsterte er heiser. Er kämpfte gegen die Tränen an, aber es war zwecklos. Sie flossen unaufhörlich.
In dem Moment stürzte Dr. Duran durch die schwere Flügeltür, denn sein Funkarmband hatte ihm die Asystolie gemeldet.
Entschlossen setzte er zur Herz-Lungen-Wiederbelebung an, doch da spürte er einen festen Griff an seinem Oberarm. Carlos blickte in Eetus tränennasses Gesicht. Der Autokrat schüttelte kraftlos den Kopf. "Lass sie in Frieden gehen, wie sie es gewollt hat." Seine Stimme wirkte gebrochen. "Hol bitte Aatto. Er soll sich verabschieden."

Noch ehe das Beerdigungszeremoniell stattgefunden hatte, hatte die Mehrheit des Ärzterates eine Bestrafung Durans gefordert. Der trauernde Herrscher musste sich dem Urteil beugen. Er gewährte seinem treusten Freund jedoch eine dreiwöchige Frist, alles Notwendige zu regeln, bevor er ins Exil gehen musste.

Schweren Herzens teilte Carlos seiner kleinen Familie die schlimme Nachricht mit. Sofia erklärte er, dass sie auf eine lange Reise gehen würden und sie sich von Aatto verabschieden müsse.
"Werde ich ihn denn irgendwann wiedersehen?", fragte sie mit einer Mischung aus Trauer und Hoffnung in der Stimme.
"Ganz bestimmt!", log Eetu. In dieser Situation waren Notlügen unumgänglich.
"Ich möchte Aatto etwas schenken, damit er sich an mich erinnert. Ich weiß auch schon was!", Sofia hüpfte vor Freude. "Dabei muss mir Onkel Alvito helfen, geht das?"
"Natürlich, mein Schatz!"

"Alvito, Alvito! Ich möchte, dass du mir zwei Amulette machst. Eins für mich, eins für Aatto!"
Gütig lächelte Carlos Bruder, Diamantschleifer von Beruf, seine kleine Nichte an. Das süße Mädchen war das größte Opfer dieser Scharade. Musste sie doch alles zurücklassen, was sie liebte.
Er überlegte eine Weile, dann hatte er eine Idee. Er griff zu einem Aventurin prächtigen Umfangs, der der vorgesehenen Größe des Amuletts gerecht wurde. Er begann in den grünen Stein zu fräsen, hier und da zu schleifen. Langsam nahm das Objekt Gestalt an. Bald folgte der letzte Schliff und Alvito hob das Schmuckstück hoch, um es zu betrachten. Es war ein annähernd rundes Ornament, welches er in der Mitte in einer Wellenform entzweit hatte. Ein Stück passte perfekt auf das andere.
Er zeigte es seiner kleinen Kundin, die sich während der langwierigen Kunstarbeit draußen beim Spielen vergnügt hatte. "Danke, Onkel! Ein wunderschönes Geschenk für Aatto!"
"Das habe ich gerne gemacht, kleine Maus!"
Er drückte das Mädchen zum Abschied. Alvito ahnte, dass er seine Nichte nie wiedersehen würde.

"Schau, es passt aufeinander!", bemerkte Sofia nicht ohne Stolz. Misstrauisch beäugte Aatto sein Geschenk. Bei näherem Hinsehen sah man feminine Gravuren auf Sofias Hälfte und etwas gröbere auf Aattos. Würde Niilo ihn auslachen, wenn er das Medaillon trug? Bestimmt nicht. Es war sehr schön, das musste Aatto sich schon eingestehen. Für ein Geschenk von einem Mädchen zumindest, schob er in Gedanken hinterher. Die beiden umarmten sich. Aatto fürchtete, Niilo könnte diese Szene beobachten. Aber er hatte ihn nirgendwo entdecken können.
"Mach's gut, mein Freund!", sagte Sofia wehmütig, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, zwinkerte sie Aatto dann jedoch zu. "Du auch!", entgegnete dieser.
Sie drehte sich um, ging zielstrebig über den Vorhof des Palastes und stieg in die Kutsche ihres Vaters. Aatto konnte nicht so richtig begreifen, was dieser Abschied bedeuten würde.

Impressum

Texte: Saskia Schiffer
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2011

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