Du öffnest die Augen - Dunkelheit. Du liegst mitten im Nichts. Du denkst "Wo zur Hölle bin ich?", ohne zu ahnen, wie nah du mit deiner nachlässig gestellten Frage an der Wahrheit bist.
Du beschließt, deine Umgebung von deiner Position aus abzutasten.
Kalter Stein. Oder? Um sicher zu gehen lässt du deine Hand auf dem Grund ruhen.
Plötzlich fühlt sich der Stein an, als würden tausende Ameisen sich unter deiner Hand bewegen.
Reflexartig ziehst du die Hand zurück. Panik steigt in dir auf. Was war da gerade geschehen?
Ruckartig schießt du in die Höhe und stolperst zwei Schritte rückwärts. Dein Kopf trifft dabei auf gallertartige Gebilde an der Decke über dir. Du löst aus Versehen etwas davon ab. Es fällt, trifft auf und erzeugt ein Geräusch, wie es eine zerplatzende Wasserbombe auf Beton verursachen würde. Abgelenkt von dem Geschehen merkst du jetzt erst, dass du keine Schuhe trägst. Das Kribbeln ist wieder da. Du gehst in gebückter Haltung drei Schritte nach vorne. Doch je kleiner du dich machst, desto tiefer scheint dieses Zeug an der Decke über dir zu schweben.
Die Ameisen sind überall, es ist zwecklos, ihnen entkommen zu wollen. Also legst du dich wieder auf den Boden. Ohne Vorwarnung fällt die glitschige Masse von oben auf deinen Körper und bedeckt dich vollkommen. Deine erstickten Schreie unter all dem Gallert kann man fast nicht mehr vernehmen. Gerade als du denkst, du müsstest ersticken, ist das widerliche Deckenbegebilde verschwunden. Zurück lässt es eine Flüssigkeit. Eher als zähflüssig zu bezeichnen. Also hoffentlich kein Blut?
Stattdessen ist von weitem jetzt ein scherendes Geräusch zu vernehmen. Metallisches Klirren, das immer näher an dich heran kommt. Dein Herz beginnt zu rasen und ein mulmiges Gefühl bildet sich in deiner Magengrube. Doch was soll jetzt noch geschehen? Du entscheidest dich dafür, liegen zu bleiben. Das Geräusch ist schon verdammt nahe. Plötzlich fährt ein stechender Schmerz durch deinen gesamten Körper. Ein Aufschrei - der nicht aus deiner Kehle zu kommen scheint - und sofort ist wieder Stille. Die Dunkelheit schluckt jede deiner Äußerungen. Du beugst deinen Oberkörper vor, um deine Zehen zu ertasten. Wo vorher deine große Zehe war, ist jetzt nur noch ein zerfranster Stumpf.
Dein bitterliches Weinen verhallt im Nichts.
"Reiß dich zusammen!", befiehlst du dir murmelnd.
"Du musst rausfinden, wo du hier bist, und wie du wieder rauskommst!" Mut der Verzweiflung keimt in dir auf. Du rappelst dich auf, rennst und schlägst deinen Kopf mit voller Wucht an einer Mauer an.
Wie lange du so da gelegen hast, kannst du nicht einschätzen. Du merkst aber, dass dein gesamter Körper brennt. Als hätten dich Heerscharen von Ameisen bei bewusstlosem Leib angeknabbert. Voller Panik schnellst du wieder in die Höhe und versuchst hysterisch, deine Kleider auszuschütteln, doch das Brennen bleibt. Es ist furchtbar schmerzhaft, doch daran musst du dich jetzt wohl gewöhnen. Du erinnerst dich an die Mauer. Wo eine Mauer ist, muss doch auch eine Tür sein? Du gehst zwei Schritte vorwärts. Nichts. Noch einen Schritt und noch einen. Keine Mauer, weit und breit.
Du glaubst langsam, den Verstand zu verlieren.
Du gehst in die Hocke und wieder schießen dir die Tränen in die Augen. Der Zehstumpf bereitet dir Schmerzen. Dein ganzer Körper brennt und der widerliche Schleim trocknet langsam auf deiner Haut. "Kann es denn jetzt noch schlimmer kommen?"
Kaum hast du das zu Ende gedacht, erschreckt dich ein sirrendes Geräusch und etwas fliegt mit einer unglaublichen Geschwindigkeit an dir vorbei. Du spürst noch den Luftzug. Das Geräusch ertönt immer und immer wieder. Instinktiv wirfst du dich auf den Boden. Es scheint Wurfsterne zu hageln. Aber wer zum Teufel wirft sie!? Ein besonders tief fliegendes Geschoss fräst sich durch das Fleisch deines Rückens. Schon wieder geht dein Aufschrei in der Finsternis unter. Du kannst nicht mehr, deinen Kopf lässt du vor lauter Erschöpfung auf den Steinboden sinken. Das Kribbeln der Ameisen nimmst du gar nicht mehr war.
Noch einmal bäumt sich Kraft in dir auf. Mit einem martialischen Schrei springst du auf und rennst und rennst. Diesmal versperrt dir keine Mauer den Weg.
"Wo verdammt nochmal ist Konstantin?" Nico war die Verzweiflung in Sandras Stimme mehr als bewusst. Nicht nur, dass sie beide gerade erst wieder zu sich gekommen waren, nachdem sie sich am Abend zuvor bewusstlos gesoffen hatten. Nein, sie konnten auch unter all den schlaffen Armen und Beinen übermüder Partygäste ihren Kumpel nicht finden, mit dem sie abends zur Feier in das Haus an der Küste aufgebrochen waren. Bald darauf hatten sie alle Schlafenden mit ihren aufgeregten Stimmen aufgescheucht.
Keiner konnte sich so Recht erinnern, was am Abend zuvor geschehen war.
Plötzlich trat aus dem Raum neben der provisorischen Bar ein unscheinbares, hageres Mädchen mit langen, graublonden Haaren heraus und sah mit bebrillten Augen verdutzt in die Runde. "Wie jetzt, alle auf einmal
wach?"
Nachdem man Ulrike hektisch erklärt hatte, dass Konstantin fehlte, kramte sie in ihrem Gedächtnis herum.
"Das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe, hat er so eine schwarz überzogene Pille eingenommen. Fragt mich aber bitte nicht, warum ich mir das
gemerkt habe!"
"Eine schwarze Pille?! Was denn für eine schwarze Pille?!?", schrie Sandra panisch. Jetzt war sie überzeugt, dass ihrem Freund etwas zugestoßen war. Nico räusperte sich: "Ähem, das kann nur die neue Droge sein, die mein Dealer angepriesen hat wie das achte Weltwunder. "Sweet Agony". Einen unvergesslichen Trip hat er mir versprochen. Eigentlich wollte ich
mir die reinziehen, aber naja, da war Konstantin wohl schneller. Mach dir keine Sorgen, er wird schon irgendwo stecken und über die bunten Schmetterlinge lachen, die er überall sieht.", flachste Nico.
Sandra schüttelte nur geistesabwesend den Kopf. Ein ungutes Gefühl hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie ging zum großen Panoramafenster mit Blick auf das Meer und öffnete wie ferngesteuert die darin eingelassene Glastür nach draußen. Sie überquerte die ausladende Veranda und folgte den Treppenstufen zu den Klippen.
Die anderen Partygäste sahen sich fragend an.
Plötzlich zerriss ein gellender Schrei die Strandidylle. Konstantin lag tot auf dem steinigen Abhang, der hinunter zum Strand führte. Er schien mit großer Geschwindigkeit über die Klippen gesprungen
zu sein, denn er lag weit vom Felsrand weg.
Texte: Saskia Schiffer
Bildmaterialien: Saskia Schiffer
Tag der Veröffentlichung: 07.03.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet ist diese Kurzgeschichte fabiana, die mich gelehrt hat, konstruktive Kritik anzunehmen, wenn ich sie am meisten brauche ;)