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Eingeschlossen

In der Nacht zum 13 Oktober 1756 verließen die sächsischen Truppen in aller Stille ihre Stellungen auf der Ebenheit zwischen Pirna und Königstein und strebten in zwei Kolonnen der am Vortage errichteten Schiffsbrücke über die Elbe zu. Durch den strömenden Regen blieb der Abmarsch ihren preußischen Belagerern zunächst verborgen.
Sechs Wochen zuvor hatte die sächsische Armee das Lager auf der Ebenheit bezogen, nachdem die Preußen ohne Kriegserklärung in das Kurfürstentum eingedrungen waren. Dort wollte man ausharren, bis die Österreicher aus Böhmen eingetroffen waren. Proviant hatte man für vierundzwanzig Tage. Doch die Zeit verging, ohne dass die Österreicher kamen und die Lage der eingeschlossenen Sachsen wurde immer prekärer.
Die Österreicher hatten den preußischen Angriff aus Oberschlesien erwartet und ihre Truppen dementsprechend stationiert. In Eilmärschen kamen sie nun heran, aber Friedrich II. war ihnen mit einem Teil seines Heeres entgegen gezogen und konnte ihren Vormarsch verzögern, während der Rest seiner Truppen weiterhin die Sachsen bei Pirna belagerte. Doch trotz Friedrichs Erfolg bei Lobositz war es General Browne gelungen, bis Schandau vorzurücken. Dort wartete er auf den Ausbruch der Sachsen aus der preußischen Umklammerung.
Am 12.Oktober war es endlich gelungen, eine Schiffsbrücke über die Elbe zu schlagen. Auf ihr wollte General Graf Rutowski den Fluss überqueren, die am jenseitigen Ufer stehenden Truppen zurück schlagen und über die Ebenheit am Lilienstein die Österreicher in Schandau erreichen.
Richard Schwarz war vor zwei Jahren als Kadett in die sächsische Armee eingetreten. Für sein Alter von vierzehn Jahren war er ungewöhnlich groß und kräftig gebaut. Doch er war auch intelligent und hatte sich in der Kadettenanstalt besonders in Mathematik und Geometrie hervorgetan. Das waren beste Voraussetzungen für seinen Wunsch, Artillerieoffizier zu werden.
Die erste Stufe auf dem Weg dorthin hatte er bereits genommen. Bei der Mobilmachung der sächsischen Armee war man bei weitem nicht auf die geplante Sollstärke von dreißigtausend Mann gekommen und selbst unter den letztendlich bei Pirna versammelten fünfzehntausend Soldaten fehlte es an Spezialisten. So hatte man die besten Kadetten kurzerhand in die Truppe eingegliedert und Richard war Geschützführer einer Vierpfünder-Kanonen geworden, die einem Bataillon der Leibgrenadiere als Bataillonsstück zugeteilt worden war.
Dieses Bataillon bildete mit zwei weiteren Grenadierbataillonen die Vorhut der Armee. Das hatte den Vorteil, dass die Wege hinab zur Brücke zwar schon aufgeweicht, jedoch noch halbwegs passierbar waren, als Richard mit seiner Kanone den Abstieg zur Elbe begann.
Doch für die nach Wochen der Entbehrung entkräfteten Pferde war der Weg bereits viel zu glatt. Sie mussten ausgespannt und den Hang hinabgeführt werden, während Richard mit seinen Männern, unterstützt durch einige Grenadiere, das Geschütz und die Protze vorsichtig talwärts rollen ließen. Die fest angezogenen Bremsen der Protze gaben zwar etwas Halt, aber es blieb eine Schinderei, bei der die Männer immer wieder ausrutschten. Dabei musste der Abstieg in Richtung Brücke in völliger Stille erfolgen, um die Preußen am jenseitigen Ufer nicht vorzeitig zu alarmieren.
Endlich war der Fluss erreicht. Pioniere hatten hier eine Schiffsbrücke errichtet. Dazu waren jeweils zwei Bootskörper mit Balken und Brettern zu einem Ponton zusammengefügt worden und mehrere dieser Pontons bildeten die Brücke. Vor der Brücke gab es einen Stau, denn die Pioniere ließen die Soldaten nur in kleinen Gruppen über den Fluss, um die Brücke nicht über Gebühr zu belasten.
Bevor Richard mit seinen Männern an der Reihe war, spannten sie die Pferde wieder an. Dann ging es endlich los. Der erste Ponton sank spürbar ein, als Richard das Gespann auf die Brücke führte. Nach wenigen Schritten war der nächste Ponton erreicht. Nun wurde es besonders spannend, denn die Pontons waren nur mit starken Tauen verbunden. Würden die Taue das Gewicht der Kanone aushalten? Das Tauwerk ächzte verdächtig, als die Achse der Protze über die Lücke zwischen den Pontons rollte, doch es ging alles gut. Auch das Geschütz kam gut hinüber. So ging es nun von Ponton zu Ponton weiter.
Richard befand sich mit dem Geschütz kurz vor dem jenseitigen Ufer, als lautes Gewehrfeuer zu hören war. Ein preußischer Wachposten war auf die Aktivitäten am Fluss aufmerksam geworden und feuerte auf die sächsische Marschkolonne, die das Ostufer der Elbe erreicht hatte.
Unter der Führung eines Majors formierte sich das Bataillon zur Schlachtordnung und rückte in Richtung des Hanges, der steil zur Ebenheit am Lilienstein anstieg, vor. Von vorn kam ein Leutnant auf einem Pferd geritten, der schon aus der Ferne rief: „Beeilung mit der Kanone! Wenn wir den Brückenkopf halten wollen, brauchen wir Artillerieunterstützung!“
Richard trieb seine Männer zur Eile an und auch die Pferde mussten ihre letzten Reserven mobilisieren. Sobald das Peleton der Grenadiere erreicht war, ließ Richard halten und ausspannen. Der Gespannführer wurde zurück zum Ufer geschickt, um mit seinen Pferden den nachfolgenden Geschützen eventuell Hilfe leisten zu können. Die Kanone wurde von der Protze getrennt und von der Geschützbesatzung in Richtung des gegnerischen Postens ausgerichtet.
Doch die dort stationierten preußischen Jäger hatten bereits den Rückzug angetreten. Gemeinsam mit den anderen Artilleristen schob Richard die Kanone den Hang hinauf, rechts und links flankiert von zwei Grenadierkompanien, die der Kanone Deckung geben sollten. Die Protze wurde unterdessen von den, der Kanone zugeteilten, Hilfskräften der Formation hinterher gezogen.
So sehr sich Richard und seine Männer auch anstrengten, bei dem schlammigen Boden fiel es ihnen immer schwerer, dem Vormarsch der Grenadiere zu folgen. Immer wieder mussten weitere Helfer hinzuspringen, wenn es galt, ein besonders steiles Stück des Hanges zu überwinden.
Inzwischen waren die Preußen nicht untätig geblieben. Von der Ebenheit rückten drei Infanteriebataillone vor, um sich dem sächsischen Vormarsch in den Weg zu stellen.
Wieder kam der Leutnant angeritten. „Befehl von Major Rochlitz, eröffnen sie das Feuer auf das gegnerische Zentrum, sobald sie in Reichweite sind.“
„Da fehlen noch ungefähr zweihundert Meter“, antwortete Richard.
Doch die aufeinander zustrebenden Kontrahenten hatten die Distanz bald überwunden. Richard ließ halten und richten. Die Kanonen war befehlsgemäß schon vor dem Abmarsch geladen worden. „Feuer!“
Doch die Kanone blieb stumm. Im strömenden Regen war die Pulverladung trotz einer schützenden Hülle um das Zündloch feucht geworden. “Kanone entladen –Pulverladung herauskratzen!“ befahl Richard. Die Artilleristen arbeiteten fieberhaft. Trotz des Regens und der Kälte waren ihre Gesichter schweißnass. Endlich war die Kanone wieder feuerbereit. „Feuer!“
Der Vierpfünder gab ein lautes Bellen von sich und die Kugel schnitt wie ein Messer durch die anrückenden Preußen. Doch diese hatten ihre Reihen schnell geschlossen und näherten sich unbeirrt. „Nachladen! Wir schießen mit Kartätschen!“
Eine Minute später war die Kanone wieder bereit. Richard wartete, bis die Preußen in Reichweite der Kartätschenladung waren und gab dann erneut Feuerbefehl. Die Wirkung war verheerend. In einem breiten Winkel spie die Kanone Bleikugeln aus, die alles, was sich ihnen in den Weg stellte, niedermähten.
Fieberhaft luden die Kanoniere nach, während der preußische Vormarsch im Zentrum zusammengebrochen war. Richard richtet die Kanone nun auf den rechten Flügel. Auch hier zeigte der Kartätschenhagel deutliche Wirkung.
Inzwischen hatten die sächsischen Grenadiere ihre Bajonette aufgepflanzt und griffen die preußischen Bataillone an. Diese hielten nicht länger stand und wandten sich zur Flucht. Erst als die Ebenheit erreicht war, endete der sächsische Sturmangriff und der Major gab das Signal zum Sammeln.
Als Richard mit der Kanone auf der Ebenheit eintraf, standen die Grenadiere längst wieder in Formation. Major Rochlitz kam ihnen entgegen. „Gut gemacht, Kadett. Die Schüsse kamen genau zur rechten Zeit.“ Er wandte sich um und deutete auf einen blauen Heerwurm, der hinter dem Lilienstein hervorgezogen kam. „Da kommt schon die nächste Kolonne. Wenn wir nicht bald Verstärkung erhalten, bricht unser Angriff zusammen. Und von den Österreichern fehlt jede Spur.“
Der Major konnte nicht ahnen, dass sich General Browne mit seinen Truppen bereits wieder auf dem Rückmarsch nach Böhmen befand, weil er nicht länger an einen erfolgreichen Ausbruch der Sachsen glaubte.
Während die verstärkten Preußen immer näher kamen, hatte die restliche Vorhut der Sachsen die Elbe überquert und befand sich auf dem Vormarsch zur Ebenheit. Noch bevor sich die Preußen zu einem erneuten Angriff formiert hatten, waren alle drei sächsischen Grenadierbataillone auf der Ebenheit versammelt und ihre Artillerie war auf neun Kanonen angewachsen.
Deren Feuerkraft gab wieder den Ausschlag. Auch dieser Angriff brach im Hagel der Kartätschen zusammen. Derweil setzten weitere Truppen über die Elbe und die erste Kavallerieeinheit konnte den Brückenkopf verstärken.
Doch auch die Preußen erhielten weitere Verstärkungen, mit deren Hilfe sie einen dritten Angriff auf die sächsischen Linien unternahmen. Wieder konnte ihr Ansturm zurückgeworfen werden, doch waren diesmal die Verluste auch auf sächsischer Seite hoch.
Richards Kanone hatte schon den größten Teil der Munitionsvorräte aus der Protze verschossen. Ungeduldig sah Richard zurück in Richtung des anderen Ufers, das jedoch durch Regen und Nebel unsichtbar blieb. Wo war der Tross mit der restlichen Munition?
Der Rest des Tages verlief ereignislos. Während weitere sächsische Einheiten die Elbe überquerten, blieben die Preußen unter dem Lilienstein in ihren Stellungen. Voller Ungeduld warteten die Sachsen auf das Eintreffen der österreichischen Verstärkung. Diese würde endlich auch frische Vorräte mitbringen.
Doch sie warteten vergeblich und genau das war auch der Grund, weshalb die Preußen ruhig blieben. Am späten Nachmittag riss der Nebel über der Elbe kurz auf und Richard konnte einen Blick auf das jenseitige Ufer erhaschen. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Dort drüben wimmelte es von preußischen Uniformen. Die Preußen hatten das Abrücken der Sachsen bemerkt und waren ihnen dicht gefolgt. Letztendlich war es ihnen sogar gelungen, die sächsische Nachhut von der Elbe abzuschneiden. Die Sächsische Armee, eingekeilt zwischen der Elbe und der Ebenheit am Lilienstein konnte weder vor noch zurück. Und nun war sie sogar noch von ihrem ohnehin knappen Nachschub abgeschnitten. Das war das Ende.

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Tag der Veröffentlichung: 21.07.2010

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