Der Nebel lag wie ein dicker, unheimlicher Schleier über dem Moor. Vereinzelt ragten abgestorbene, morsche Bäume aus dem Untergrund und streckten ihre dürren Äste wie verkrüppelte Finger gegen den Himmel. Keine lebende Seele wagte sich zu dieser frühen Stunde ins Moor. Nur das weit entfernte, schaurige Gekrächze eines Raben drang durch den Nebel und warnte jeden Spaziergänger, der leichtsinnig genug war, sich dieser lebensbedrohlichen Gegend zu nähern. Gefährlich war das Moor allemal, und das wussten die Bewohner der näheren Umgebung. Einmal in einem unvermuteten Schlammloch gefangen, gab es kein Entrinnen mehr. Man wurde unweigerlich in die Tiefe gezogen - wie von einem gefräßigen Ungeheuer verschlugen.
Dennoch waren im Morgengrauen dieses Tages deutlich Motorengeräusche in der Ferne zu hören. Wenig später streiften vier Füße langsam und vorsichtig durch das hohe Riedgras im Moor und hinterließen fünf Abdrücke im weichen Erdreich. Sogleich wurden diese vom wässrigen Schlamm verschlungen, und keiner konnte die Anwesenheit der Fremden auch nur erahnen, die sich weiter durch die unwirtliche Gegend wagten. Immer wieder hielten sie an und das schmatzende Geräusch ihrer schweren Stiefel verstummte. Es wurde jedoch von einem atemlosen, tiefen Keuchen und angestrengtem Schnaufen abgelöst. Wie schwarze Schatten schälten sich ihre Silhouetten aus dem dichten Nebelschleier. Eine große, kräftige Gestalt ging voran und es schien so als kenne sie das Moor wie ihre eigene Westentasche. Jeder Schritt war wohl überlegt und vorsichtig gesetzt. So konnte ihr die zweite Person unbeschadet folgen. Diese war kleiner und hagerer und hatte einen länglichen Gegenstand in der Hand, worauf sie sich wie auf einem Spazierstock abstützte.
Immer wieder blieb der Vordermann stehen. Er hob seinen Kopf und lauschte. Nichts – nur die gespenstische Ruhe und Einsamkeit, welche sich über das Moor legte und einem die Gänsehaut auf die Arme zaubern konnte. Doch plötzlich, wie aus dem Nichts, durchbrach ein seltsames Geräusch die angespannte Stille. Das schaurige Gekrächze eines großen, nachtschwarzen Raben, der über den auftauchenden Umrissen einer gewaltigen Burg seine Kreise zog. Der große, kräftige Mann drehte sich zu seinem Begleiter um und nickte ihm zu.
Dieser verstand. Es war das Zeichen zum Weitermarschieren. Die beiden Männer setzten ihren Weg fort und waren bald wieder von den Nebelschwanden verschluckt.
Beinahe zur selben Zeit schluckte ein zwölfjähriger Junge aufgeregt sein wenig zerkautes Frühstücksbrot hinunter. Rasch griff er nach seiner Kakaotasse und goss sich den Inhalt in die Kehle.
„Bin im Schuppen von Familie Oberst. Hab schon gefrühstückt. Bin zum Mittagessen wieder zurück! Lukas“ kritzelte der rotblonde, großgewachsene Junge mit den Sommersprossen im Gesicht auf einen Zettel. Er stellte seine leere Tasse darauf – so konnten ihn seine Eltern nicht übersehen. Hastig schnappte er sich das weiße, bedruckte Papier von der Pinnwand neben der Haustüre, faltete es unordentlich zusammen und ließ es in seiner Jackeninnentasche verschwinden.
Lukas wohnte mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester Manuela im zweiten Stock eines modernen Hochhauses. Auch wenn es hier einen Aufzug gab – hinunter brauchte er ihn nicht. Abwärts war er mit Sicherheit schneller, als der Lift. Als Lukas ins Freie trat begann es ganz sachte zu nieseln. Er blickte nach oben und rümpfte die Nase.
„Das muss jetzt aber nicht sein,“ murrte er und zog sich seine Kapuze über die Haare. Zum Glück war es nicht weit bis zum Garten der Familie Oberst. Anton und Michaela Oberst waren Zwillinge und gingen beide mit ihm in dieselbe Klasse des öffentlichen Gymnasiums in der Karl Valentin Straße. Die Tropfen aus den Wolken wurden dicker und zahlreicher. Lukas zog seine Kapuze tiefer in die Stirn und legte an Tempo zu. Er wollte nicht komplett durchnässt bei seinen Klassenkameraden ankommen oder sich gar eine Erkältung einfangen. Die konnte er sich zurzeit gar nicht leisten.
Der Weg führte den Jungen vorbei an einem Zeitungshändler, der gerade seinen Kiosk öffnete, vorbei an der großen Kirche, welche gerade die siebente Stunde ankündigte und vorbei am großen schmiedeeisernen Tor, wohinter ein schwarzer Rottweiler alle ungebetenen Gäste mit seinem Knurren verscheuchte. Aber Lukas hatte keinen Blick für Kiosk, Kirche und Hund. Er wollte nur so rasch als möglich die Regenpfützen hinter sich lassen und in den Garten seiner Freunde huschen.
Es war fünf Minuten nach sieben, als der Zeigefinger seiner rechten Hand auf die Klingel drückte. Er wartete. Nichts rührte sich. War niemand zu Hause? War er umsonst gekommen? Noch einmal betätigte er den Knopf.
Keine Reaktion. Doch da hörte er über sich ein Geräusch. Lukas hob seinen Kopf und blinzelte zwischen die Regentropfen nach oben. Gerade wurde das Fenster im ersten Stock aufgemacht und ein Kopf mit strubbeligen Haaren erschien im Rahmen.
„Guten Morgen Mickey!“ rief er nach oben. „Ich hab tolle Neuigkeiten!“
„Und das muss unbedingt mitten in der Nacht sein,“ maulte die Gestalt am Fenster und gähnte genüsslich. Sie stütze die Ellbogen auf die Fensterbank und legte ihre Wangen in die Handflächen.
„Hat das nicht Zeit bis morgen.“
„Was heißt denn hier mitten in der Nacht. Es ist sieben vorbei Kumpel und ich hab eine Superidee wie wir unsere Ferien verbringen können.“ Aufgeregt zerrte Lukas das weiße Papier aus seiner Jacke, winkte damit in der Luft herum und freute sich wie ein Kind auf den Weihnachtsmann. „Komm schon, mach auf. Es regnet, ich bin schon ganz nass. Lass mich endlich rein.“
Als Antwort erhielt er nur einen tiefen Seufzer aus dem ersten Stock. Danach schloss sich das Fenster. Im Inneren des Hauses hörte der Junge das laute Knarren einer Holztreppe, wenn jemand bloßfüßig die Stiege abwärts ging. Wenig später öffnete ein zwölfjähriges Mädchen im Pyjama die Haustüre. Michaela, auch Mickey genannt, lehnte sich an den Türrahmen und hielt die Augen halb geschlossen. Wegen ihres Kosenamens und des bubenhaften Aussehens wurde sie gerne für einen Jungen gehalten.
„Aber unsere Ferien haben doch erst begonnen,“ erinnerte sie ihn daran.
„Das ist doch vollkommen egal,“ drängte Lukas und wedelte mit dem Zettel vor ihrer Nase herum. „Mach schon, hol den Schuppenschlüssel und lass uns in den Garten gehen.“
„Der Schuppen ist OUT, Luke,“ sagte Michaela und zog den Jungen an der Jacke in die Garderobe. „Papa hat den Schuppen selbst in Beschlag genommen. Er hat sich dort eine Bastelwerkstatt eingerichtet. Dort haben wir jetzt nichts mehr zu suchen.“
„Na schön, dann müssen wir eben mit eurem Zimmer Vorlieb nehmen,“ seufzte Lukas. Mickey schloss leise die Haustüre – der Regen sollte draußen bleiben, den brauchten sie im Haus nicht. Lukas zog seine Schuhe und seine Jacke aus und stellte sie in der Garderobe ab. So leise es möglich war schlichen die beiden über die knarrende Holztreppe ins Obergeschoss. Ein riesengroßes STOP-Schild versperrte ihnen den Weg ins Kinderzimmer.
„Das hat mir Papa von der Straßenmeisterei mitgebracht.“ Sie öffnete die Türe und ließ ihren Besuch eintreten. Michaela wohnte nicht alleine in diesem Zimmer – das sah man sofort. Die untere Etage des Stockbettes war belegt. Dort schlief ihr Zwillingsbruder – eingemummelt in seine Bettdecke.
„Hei Anton!“ rief Lukas und stieß ihn an.
„Lass mich in Ruhe,“ knurrte der bloß und drehte sein Gesicht zur Wand.
„Mann, seid ihr beide Schlafmützen!“
„Wir sind keine Schlafmützen,“ murrte Michaela und kletterte wieder ins Stockbett über ihren Bruder. Du bist ein Frühaufsteher. Wir haben schließlich Ferien. Da könnte man eigentlich noch ein wenig länger pennen. Aber bis zu dir ist diese Tatsache wohl noch nicht durchgedrungen.“
„Aber dafür hab ich euch was mitgebracht,“ flüsterte Lukas geheimnisvoll und rollte einen Drehsessel vom Schreibtisch ans Bett. Er setzte sich drauf und reichte seiner Klassenkameradin den Zettel.
„Na zeig schon her,“ maulte Mickey. „Sonst gibst du ja doch keine Ruhe.“ Sie griff nach dem Papier. „Ich hoffe nicht, dass das wieder eine Einladung zu einer der langweiligen Badepartys ist.“
Lukas grinste vom linken Ohr bis zum rechten und hätte er keine gehabt, so wäre sein Grinsen wohl rundherum gegangen. Gespannt beobachtete er das Mädchen im Stockbett. Gespannt sah er, dass Michaelas mürrischer Mine einer erfreuten wich.
„Mensch Luke!“ rief sie plötzlich und war hellwach.
„Na, hab ich zu viel versprochen,“ wollte er wissen.
„Hey Toni, das musst du dir unbedingt ansehen!“ rief Mickey und beugte sich kopfüber aus der oberen Etage – hinunter zu ihrem schlafenden Bruder. Ein genervtes Schnauben war unter der Bettdecke zu hören.
„Bei eurem Geschrei kann sowieso keiner schlafen,“ beschwerte sich Anton. Er setzte sich im Bett auf und griff nach seiner Brille.
„Was ist denn los?“ fragte er und schaute seine Schwester über den Rand seiner Gläser an.
„Schau dir das an, Bruderherz!“ freute sie sich und ließ den Zettel nach unten flattern. „Luke hat eine Einladung für ein Ferienlager mitgebracht.“
„Lernferien?“ wollte Anton wissen.
„Glaub ich nicht, du Streber,“ knurrte ihn Mickey an und schleuderte ihm ihr Kopfkissen ins Gesicht.
„Hey lass das!“ beschwerte sich die Brillenschlange. „Da kann ich doch nichts lesen. – Weißt du denn wo´s hingehen soll?“ Die Frage war an ihren Gast gerichtet. Doch der zuckte nur mit den Schultern.
„Vielleicht ans Meer. Da steht „eine Fahrt ins Blaue“ drauf,“ meinte Lukas.
„Dummerchen,“ lachte Toni und faltete das Papier sorgfältig in der Mitte. „Eine Ferienfahrt ins Blaue soll bedeuten, dass das Ziel der Reise ein Geheimnis der Veranstalter ist.“
„Und du Oberschlauberger weißt das natürlich schon wieder.“
„Natürlich – einer von uns muss doch schließlich zu recht im Gymnasium sitzen,“ erwiderte Anton und putzte seine Brille.
„Vorlauter Bengel!“ rief Micky und warf ein Kuscheltier nach ihrem Bruder.
„Hört mit der Kissenschlacht auf!“ mischte sich Lukas ein. „Fragt lieber eure Eltern ob ihr mitfahren dürft."
Beide hoben ihre Köpfe und schauten ihn an.
„So eilig ist es doch auch wieder nicht,“ meinte Toni und gab ihm den Zettel zurück.
„Doch!“ protestierte Lukas. „Wenn wir mitfahren wollen müssen wir uns bis heute Mittag im Gemeindeamt anmelden.“ Michaela setzte sich im Bett auf und ließ ihre Beine über die Kante baumeln.
„Darfst du denn mitfahren?“ fragte sie und deutete mit einer leichten Kopfbewegung zu Lukas.
„Ja,“ nickte dieser und machte ein betrübtes Gesicht. „Aber nur unter einer Bedingung.“
„Hehe, wenn du dein Zimmer aufgeräumt hast?“ fragte Mickey spöttisch.
„Quatsch, wenn ich meine kleine Schwester mitnehme.“
„Was! – Die Nervensäge!“ rief sie entsetzt und wäre beinahe vom Stockbett gefallen.
„Leider, ich kann´s nicht ändern. Entweder fahren wir beide oder keiner.“
Bereits eine Woche später standen rund vierzig Kinder zwischen zehn und zwölf Jahren vor dem örtlichen Gemeindeamt und warteten auf die Abreise.
Ein großer Glatzkopf mittleren Alters nahm die Reisetaschen, Koffer und Rucksäcke in Empfang und verstaute sie im Kofferraum seines Reisebusses. Mit seinen sehnigen Muskeln, die mit Tattoos bebildert waren, war das Gewicht der Gepäckstücke kein Problem. Rasch war diese Arbeit erledigt. Er sah auf sein Smartphone – noch war es nicht an der Zeit die Motoren zu starten. Lässig lehnte der Fahrer mit dem Rücken an der linken Busseite und steckte sich eine Zigarette an. Von dort aus beobachtete er das Treiben und blies den Rauch aus seiner Nase. Er grinste verschmitzt als er sah, dass manche der jüngeren Kinder sich mit Tränen in den Augen von ihren Eltern verabschiedeten – andere wiederrum waren sichtlich froh darüber für ein paar Tage der elterlichen Erziehung zu entkommen. Es war doch immer das gleiche – nichts hatte sich im Laufe der Jahre geändert, und der Busfahrer wusste wovon er sprach, schließlich fuhr er schon länger Kinder und Jugendliche von A nach B.
Auch Lukas, Manuela, Anton und Michaela gehörten zu den Passagieren. Von Mama und Papa erhielten sie noch gute Ratschläge und letzte Ermahnungen mit auf den Weg. Lukas bekam noch ein Päckchen von seinem Vater, der ihm schelmisch zuzwinkerte.
„Kannst du sicher gebrauchen, falls es mal langweilig wird im Ferienlager,“ sagte er.
Pünktlich auf die Minute und zum Glockenschlag der Kirchturmuhr ließ der Glatzkopf seine Zigarette allen, dämpfte sie mit der rechten Schuhsohle aus und bestieg den Bus. „Na, dann wollen wir mal!“ rief er nach hinten und rieb sich die Hände. „Alle an Bord?“
„Jaaa!“ kam es einstimmig zurück.
Er setzte sich hinter das große Lenkrad und beobachtete den jungen Mann in der ersten Reihe aus den Augenwinkeln. Es war einer der Lagerleiter – Robert – eine halbe Portion, wie er meinte. Er schenkte ihm ein provokantes Grinsen und schloss die automatischen Türen.
Endlich ging es los. Der Bus setzte sich in Bewegung. Zurück blieben nur die Eltern die heftig ihren davonfahrenden Kindern nachwinkten.
„Ob sie auch insgeheim froh darüber sind, dass sie ihre Quälgeister für ein paar Tage los sind?“ fragte sich Lukas. Neben ihm saß Mickey in der vorletzten Reihe und genoss die Fahrt. Sie hatte ihren Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Lukas hatte das Päckchen seines Vaters auf dem Schoß liegen. Er grinste in sich hinein, denn der Form nach zu urteilen konnte sich darin nur eines befinden – ein Buch. Lukas las für sein Leben gern. Vor allem Jugendkrimis hatten es ihm angetan, davon konnte er gar nicht genug bekommen. Liebend gerne würde er selbst solch aufregende Fälle lösen, wie die Juniordetektive in seinen Büchern. Er öffnete das Päckchen und seine Augen quollen über vor Freude. Das war der Band, den er sich schon so lange gewünscht hatte. Sogleich öffnete er den Einband und vertiefte sich in den Inhalt, denn er vertraute nicht darauf, dass es ihm Ferienlager langweilig werden könnte und er dort Zeit zum Lesen finden würde.
Anton Oberst steckte ebenfalls seine Nase mit der Brille in ein Buch – allerdings in ein Schulbuch, was seine Schwester überhaupt nicht verstehen konnte. Aber er wollte für das nächste Schuljahr topfit sein und da konnte man nie früh genug damit anfangen, meinte er.
Die jüngste der vier Kinder war die unruhigste. Manuela hatte ihren knallroten Rucksack auf den Knien und kramte darin herum.
„Was suchst du denn Schwesterchen?“ wollte Lukas wissen ohne sich umzudrehen.
„Ich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 18.08.2016
ISBN: 978-3-7396-6968-7
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