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1


Sie starrte ihn an. Lange, durchdringend, verzweifelt. Sie liebte ihn, sie liebte ihn mehr als ihr eigenes Leben. Schon seit dem ersten Tag, damals vor 5 Jahren. Eine so lange Zeit und doch kam es ihr vor als wäre es nur der Hauch einer Sekunde, der an ihr vorüber strich. Sein Leberfleck auf der rechten Schulter sah sie deutlich vor sich. Wie sich das sternenförmige Mal dunkel von seiner Haut abhob. Seine braunen Augen die sie mit dieser zufriedenen und begehrenden Art ansahen. Sie schienen durch sie hindurch zu sehen, bis auf den Grund ihrer Seele blicken zu können. Seine tiefe Stimme die ihr ins Ohr flüsterte alles werde gut. Seine Hände die sie berührten als wäre sie aus teurem Porzellan. So sanft, so zärtlich und so besitzergreifend… geübte Hände.
Sie streckte die Hand aus, lies sie über sein Gesicht gleiten.
Doch Wärme konnte sie nicht spüren. Das Glas des Bilderrahmens war so kalt wie der Schnee der sich meterhoch an den Straßen türmte.
Seit drei Tagen hatte es nicht aufgehört zu schneien. Mehrere Dörfer in der Umgebung waren abgeschnitten und nutzen ihre seit Jahren verstaubten Notstrom Aggregate wieder. So manche Buß Linie war außer kraft gesetzt und wer sich zu traute mit dem Auto zu fahren konnte sich auf die ein oder andere Rutschfahrt gefasst machen. Es war der 23 Dezember und wie jedes Jahr beeilten sich die letzen noch an irgendeine Art von Geschenk zu kommen. Wie jedes Jahr war am letzten Tag vor Heiligabend so gut wie nichts nützliches mehr in den Läden zu finden.
Die Fenster waren herrlich bunt geschmückt und strahlten in den unterschiedlichsten Farben.
Letztes Jahr noch, war sie mit ihm Hand in Hand durch die Straßen geschlendert und hatte den beruhigenden Anblick genossen. Weihnachten und die schneereichen kalten Tage hatten etwas geheimnisvoll Ruhiges. Es war die Zeit im Jahr in der sie einfacher als sonst zur Ruhe kam. Ihre Gedanken spielten ihr nichts vor und er musste ihr nicht ständig die Tabletten aus dem kleinen Schubfach in der Küche bringen. An manchen Tagen hatte sie das Gefühl gehabt, sie beide seien ganz einfach und ganz normal.
Dieses Jahr würde sie allein durch die kalten Gassen und Straßen gehen. Die vielen bunten Lichter würde ihr keine Wärme und Zufriedenheit vermitteln.
Sie würde nach Hause kommen und schon beim öffnen der Tür würde sie diese ungeheure Leere überfallen die sie nicht in Worte fassen konnte. Sie würde das Haus betreten und all die Erinnerungen würden sie in die Knie zwingen. So würde sie einige Minuten verweilen bis sie sich langsam aufrichten und in die Küche gehen würde.
Der glatte silberne Knauf war schon matt nach all den Jahren. Nach den tausend malen in denen er angefasst und das kleine Fach aufgezogen wurde. Entschlossen würde sie es aufziehen drei Tabletten aus der blau bemalten Porzellan Dose nehmen und sie kurz in der Hand betrachten. Mit einem Glas Wasser würde sie alle drei auf einmal schlucken. Ihren Kopf im Nacken liegen lassen und darauf warten das die ersten Tränen sich einen Weg von ihrem Auge über die Wange bis an den Hals bahnten um dort langsam zu trocknen.

2


Wir hatten schöne Zeiten zusammen. Aber das behauptet wohl jeder von allem was einmal gewesen ist. Am Ende ist es nur die Erinnerung die übrig bleibt. Manchmal erscheinen mir meine Erinnerungen als unglaubwürdig. Als eine Art um meinen Kopf zurück zu bringen in die Vergangenheit und sie noch einmal zu erleben als wär es heute. Das traurige ist das mein Gehirn es schafft mir vor zu gaukeln alles wäre eben erst passiert, allerdings nur bei den schlechten Dingen des Lebens.
Ich habe nichts verändert, weder in den Räumen in denen ich lebe noch in dem was ich tue. Aus Angst seine Gestalt würde verschwinden, habe ich seid er gegangen ist nicht einmal die Vorhänge abgenommen und gewaschen. Wenn ich einschlafe träume ich von ihm und wenn ich aufwache sehe ich ihn. Wenn ich Morgens meinen Kaffee trinke stelle ich immer zwei Tassen auf den Tisch. Er ist immer noch da. Wenn schon nicht in Fleisch und Blut dann doch in Gedanken. Es kommt niemand mehr zu mir der sich wundern würde über diese kleinen Dinge. Irgendwann werde ich einfach eine dieser alten Frauen sein die am Fenster sitzen und die Straße hinunter starren. Kinder und Eltern werden an den Scheiben vorübergehen und sich an mein Gesicht gewöhnen. Sie würden so etwas sagen wie: "Immer sitzt sie da und schaut was die Nachbarn einkaufen oder welches Auto vor der Tür steht...furchtbar diese Neugier." Sie werden nie wissen das mir wohl eigentlich egal ist was draußen vor sich geht. Man fängt an sich für nichts mehr zu begeistern oder zu interessieren. Man gibt sich auf und lässt den Geist vom Wind weit davon tragen. Nur der Körper bleibt an Ort und Stelle wie eine Hülle die mit ihrer Existenz beweißt das man noch lebt.
Ich gebe zu es nicht wirklich versucht zu haben. Alle reden von die Welt dreht sich weiter und auch das Leben muss weiter gehen. Aber ich höre ihre Stimmen längst nicht mehr. Von mir aus soll die Welt sich weiter drehen. Ich werde dafür sorgen das sie in meinen Gedanken still steht. Jeden Abend tragen mich meine Gedanken zurück an diesen sonnigen Tag im Januar. Kein Tag um den letzten Hauch des Lebens ziehen zu lassen. Und dennoch stand ich genau an diesem Tag mit schwarzen Mantel am Grab meines Mannes und sah zu wie man ihn unter der kalten Erde unserer geliebten Heimat verschwinden lies. Der Anstand verlangte das ich dabei half sein Gesicht und seinen Körper für immer aus dieser Welt zu tilgen indem ich eine Hand voll Erde auf seine Urne warf. Ich küsste die weiße Rose und lies auch sie hinunter fallen.
Das war es nun also, das war alles was am Ende von einem zu kurzen Leben blieb. Ein modriges dunkles Loch in das man für immer verschwand.Keine Hundertschaft von Freunden und Kollegen die hinter dem Sarg oder der Urne her liefen und weinten. Keine zwanzig Blumenkränze auf denen Sätze wie: "Wir vermissen dich" oder "Für immer unvergessen" prangten. Nein es gab nur diese eine Rose und mich, seine Frau. Die einzige die zu ihm gehalten hatte nach dem Unfall vor zwei Jahren. Wir wollten schon weg ziehen als er die Diagnose eines großen Tumors in der Leber bekam.
Die Eltern der kleinen Anne hatten uns gesagt sie wüssten genau das jeder seine gerechte Strafe bekam. Vermutlich hatten sie Recht und dies war unsere. Es ging alles zu schnell bei dem Unfall. Wir haben sie nicht gesehen und als wir den kurzen Schrei hörten war es bereits zu spät. Ich denke wir haben das beide nie verkraftet. Aber wirklich zugeben oder uns eingestehen wollten wir das nicht. Meine Depressionen wurden schlimmer und ich musste wieder mehr Tabletten nehmen. Unser Leben steckte buchstäblich in einer Sackgasse. Am Anfang kam es mir vor als hätten wir beide noch so viel Zeit und verfluchte die Ärzte für ihre in meinen Augen "Panikmache". Sie hatten erklärt das es jeden Tag soweit sein könnte oder aber erst in einem halben Jahr zu Ende wäre. Wirklich festlegen wollte und konnte sich niemand. Nachdem wir den dunklen November und Dezember hinter uns gebracht hatten und es ihm einigermaßen gut ging glaubte ich das wir noch einen gemeinsamen Sommer verbringen würden. Ich täuschte mich und die Ärzte behielten Recht. Nicht einmal einen Monat später schlief er ein.

3


Wohl bedacht setzt sie einen Fuß vor den anderen auf dem steilen schneebedeckten Weg. Sie hat es nicht eilig, strahlt eher eine ungewohnte Ruhe in der Hektik des Alltags aus. An der ersten scharfen rechts Kurve verlässt sie den schmalen Weg und wechselt auf einen kaum erkennbaren Trampelpfad. Lange ist es her das sie hier oben war. Die dürren Zweige der Büsche beiseite bog, die nun schon zu kräftigen Ästen heran gewachsen waren. Ein eiskalter Windzug reißt an ihren dunklen langen Haaren. Aber sie fröstelt nicht. Obwohl ihre Schuhe nass und durchgeweicht sind zitterte sie nicht. Keine Spur einer Gänsehaut bildete sich unter den Ärmeln ihres langen schwarzen Mantels. Denn es brodelt ein Feuer in ihrem Herzen welches nur sie zu spüren vermag. Zielsicher stampft sie weiter durch den Schnee. Meter um Meter entfernt sie sich weiter von all den anderen Menschen. Sehr lange war ihr dieser Weg vertraut gewesen jede abgetretene Wurzel hatte sie noch immer deutlich in Erinnerung.
Die Entscheidung war gefallen als sie die Kerze am frühen Morgen angezündet und betrachtet hatte. Da war sie, seine Wärme die von der Flamme ausging. Und wenn sie sich Mühe gab konnte sie das leise Flüstern der winzigen Flamme hören. Sie erzählte ihr die alte Geschichte der Lebens Kerzen, und dem dummen jungen Mann, der in der Hoffnung ewig zu leben eine neue Kerze auf seine alte stellte und so das Feuer erlöschen lies. Im selben Moment als der letzte Rauch des zarten Dochts vom Wind davon getragen wurde sank er in sich zusammen und war tot. Jeder Mensch hat der Sage nach eine Kerze und solange sie brennt bleibt man am leben. Wenn jemand sehr viel Glück hatte bekommt er eine neue unter die fast abgebrannte gestellt und darf noch bleiben. Ihrem Mann war dieses Glück nicht vergönnt. Er hatte keine Wahl mehr gehabt. Konnte sich nur fügen. Aber sie hatte die Wahl und konnte frei entscheiden auf welchen Pfaden sie weiter ging. Kämpfen oder aufgeben, leben oder sterben, lachen oder weinen. Und sie hatte gewählt.

Als sie endlich den steilen Pfad hinter sich gebracht hat sieht sie sich kurz zu allen Seiten um. Tief atmet sie die bekannte Luft ein die nach Wald und Zufriedenheit riecht. Auf der linken Seiten kommt schon das kleine Holzgeländer in Sicht welches die Kapelle mit der wohl schönsten Aussicht einrahmt. Ihre Schritte werden schneller angesichts der Erinnerung und Bilder die sie übermannen. An den zwei kleinen Stufen des Gotteshauses kniet sie sich tief in den Schnee und senkt den Kopf. In stiller Übereinkunft mit dem Gott an dem sie so lange zweifelte hohlt sie Ihre Kerze aus den tiefen Taschen des Mantels und hält sie lange in der Hand. Als sie das Feuerzeug an den Docht führt und die kleine Kerze beginnt zu leben kann sie wieder ihre Wärme spüren. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht während sie das kleine Licht sorgfältig in den Schnee stellt. Langsam erhebt sie sich und geht auf das glänzend kalte Metall Geländer zu. Es trennt den Aussichtspunkt von dem steilen Berghang. Sie tritt ganz nah heran und legt die nackten Hände auf den eisernen Handlauf. Ihr Blich der so voll Sehnsucht in die Ferne blickt ist leer und dennoch zuversichtlich. Sie schaut nicht nach unten auf die steilen Felszacken die aus dem Hang ragen. Sie muss auch nicht nach unten sehen um die Höhe ab zu schätzen. Es ist der höchste Punkt in der Umgebung und erlaubt deshalb diesen endlosen Blick. Ihr rechtes Bein schwingt über die Begrenzung. Sanft und leicht als wäre es keinerlei Anstrengung. Mit beiden Händen umklammert sie weiter das Eisen als sie auch ihr linkes Bein hinüber hebt. Langsam lässt sie eine Hand los und öffnet ihren Mantel der sofort flackernd vom Wind erfasst wird. Die Spitzen ihrer Schuhe stehen am äußersten Rand des Vorsprungs als man das Gefühl hat das sie zurück weichen will. Doch sie strauchelt nicht sondern legt den Kopf langsam in den Nacken. Wie jeden Tag wenn sie mit einem Glas Wasser ihre Medikamente nimmt so wartet sie auch jetzt auf die vertraute Wärme aus dem Augenwinkel. Und eine einzelne Träne bahnt sich wie immer einen Weg über das makellose Gesicht und Hals bis sie versiegt. Und genau wie immer prallt das Gefühl von Angst, Einsamkeit, tiefer Trauer und unendlicher Liebe mit voller Wucht in ihr Herz.
Doch dieser Tag ist nicht wie immer.
Leise flüstert sie "Auf deinen Spuren wandle ich, denn ich liebe dich."
Mit vom Wind zerzausten Haaren einem Lächeln und den Tränen im Gesicht lässt sie los und springt.

4


Der Platz vor der Kapelle ist leer und still. Nichts außer der flackernden Kerze zeugt mehr von der stillen Besucherin. Kein Echo und kein Bilder Regen zeigen die Momente vor 6 Jahren als sich zwei Menschen im Alter von 22 Jahren hier zum ersten mal trafen und lieben lernten.
Vor lächerlichen 6 Jahren noch voller Ideale, Zuversicht und Träumen steckten. Bis alles zusammenbrach und reglose Scherben übrig blieben. Sie schafften es nicht jede einzelne aufzusammeln und wieder zu einem ganzen zu fügen.

Aber ich denke und hoffe doch das viele Menschen kämpfen und am besten nie aufgeben.
All jenen gilt mein größter Respekt...

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Texte: Alle Rechte Soultime vorbehalten
Bildmaterialien: Jegliche Rechte Soultime vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 15.12.2012

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