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London, Oktober 1888




Ihr keuchender Atem und ihre schnellen Schritte hallten unnatürlich laut von den Steinwänden der Häuser wider. Ihre Röcke hatte sie gerafft, um besser rennen zu können. Panisch warf sie einen Blick über die Schulter nach hinten. Es war nichts zu sehen. Die Straße lag verlassen da, und doch blieb sie nicht stehen. Sie wusste, dass er noch hinter ihr war. Irgendwo in den Schatten der Häuser. Es war ihr als könne sie seinen eisigen Atem in ihrem Nacken spüren. Ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken und ließ sie noch schneller rennen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Erneut warf Catherine einen Blick über die Schulter. Es war wie ein Zwang. Sie geriet ins Stolpern. Ihre Augen weiteten sich entsetzt, während sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Für einen schrecklich langen Moment befürchtete sie, sie würde fallen und ihr Verfolger sie damit einholen. Noch einmal taumelte sie, dann hatte sie sich wieder gefangen und rannte weiter.
Eine kalte Hand schien plötzlich nach ihrem Arm zu greifen. Entsetzt stieß die junge Frau einen Schrei aus. Nur einen Augenblick später stolperte sie aus der schmalen Gasse und prallte gegen jemanden. Erneut entwich ihr ein schriller Schrei.
Hände schlossen sich wie Schraubstöcke um ihre Arme. Verzweifelt kniff sie die Augen zusammen und wehrte sich aus Leibeskräften gegen den Griff. Sie trat um sich, warf sich mit aller Kraft nach hinten und schlug blindlings zu. Voller Angst schluchzte sie auf.
„Miss“, drang eine dunkle Stimme an ihr Ohr. „Miss, beruhigen Sie sich! Sie sind in Sicherheit. Miss!“
Sie wurde geschüttelt. Ihre Gegenwehr erstarb langsam. Schweratmend stand sie da und krallte ihre Finger in die Arme des Fremden. Immer noch wagte sie nicht, die Augen zu öffnen. Ihr Herz raste so sehr, dass es schmerzte.
„Miss?“
Zögernd öffnete Catherine die Augen einen Spalt weit. Ein schwarzer Frack war das Erste, was sie sah. Dann wanderte ihr Blick langsam höher. In den Augen des schwarzhaarigen Mannes lag ehrliche Sorge. Sie schluckte. Und erst jetzt, da sie langsam realisierte, dass sie in Sicherheit war, bemerkte Catherine das Zittern, das ihren Körper ergriffen hatte. Das Nächste, was sie wahrnahm, waren die teils neugierigen und teils misstrauischen Blicke der anderen Leute, die zu dieser späten Stunde noch unterwegs waren. Doch das Wichtigste, was dies zu bedeuten hatte, war: Sie war in Sicherheit! Ein erleichterter, langer Seufzer entwich ihr.
„Miss“, sprach der fremde Mann die junge Frau erneut an, „geht es Ihnen gut? Warum sind sie zu solch später Stunde alleine unterwegs?“
„Ich … I-ich …“ Catherine stockte. Ängstlich blickte sie sich um und zurück in die dunkle Gasse, aus der sie soeben gestürzt war. Der Blick des Mannes folgte dem ihren. Aber es gab nichts zu sehen. Hatte sie sich nur eingebildet, verfolgt zu werden? Energisch schüttelte sie den Kopf. Nein, das konnte nicht sein. Wieder sah sie den Mann an. „I-ich war in Whitechapel. In der Kirche“, sagte sie zögernd mit schwacher Stimme. „Ich habe die Zeit vergessen. Und … und als Pastor Lawrence mich darauf hinwies, h-habe ich mich auf den Heimweg gemacht. A-aber die Straße … Es war alles so … still und … verlassen … und dann … Schritte …“ Catherine brach ab und warf sich schluchzend in die Arme des Mannes.
Völlig überrumpelt ließ dieser es zu, dass sie ihr Gesicht an seiner Brust verbarg und weinte. Etwas unbedarft legte er die Arme um sie und tätschelte ihren Rücken. „Kommen Sie! Ich werde Sie nach Hause begleiten. Wie ist Ihr Name, Miss? Wo wohnen Sie?“
Catherine zitterte immer noch am ganzen Leib, doch ihre Schluchzer hatten etwas nachgelassen. Vorsichtig sah sie in das Gesicht des Mannes auf. Mit einem Mal war es ihr peinlich, wie sie sich gehen ließ. Das geziemte sich nicht für ein junges Fräulein. Hastig wischte sie sich über die Augen und strich sich in derselben Bewegung eine der blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatte. Catherine räusperte sich und zwang sich dazu, ruhiger zu werden. Ein leichter Rotschimmer breitete sich auf ihren blassen Wangen aus.
„Es muss Ihnen nicht unangenehm sein, Miss“, meinte da plötzlich der Mann als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er wandte sich an einen vorbeilaufenden Jungen. „He du! Hole uns eine Kutsche!“ Der Fremde warf dem Jungen eine Münze zu, die dieser freudestrahlend fing und daraufhin eifrig nickte. Schon verschwand er eilends die Straße hinauf.
Noch einmal wischte sich Catherine die Tränen aus dem Gesicht, dann trat sie einen Schritt zurück. Verlegen senkte sie den Blick ein wenig. Das Adrenalin wich langsam aus ihren Adern, sodass sie sich müde und ausgelaugt fühlte. Sie wollte nur noch nach Hause und in ihr weiches Bett, damit sie diesen ganzen Abend am besten einfach vergessen konnte.
„Mein Name ist Anthony Clarks“, riss der Mann sie aus ihren Gedanken.
Nun sah Catherine doch wieder auf. Ihre Augen hatten sich erstaunt geweitet. Anthony Clarks war ein bekannter Barrister und gehörte zum Inner Temple – eine der vier Anwaltskammern. Zudem kannte ihr Vater ihn persönlich. Zwar hatte sie selbst Anthony Clarks bisher nicht kennengelernt, aber das war nun hinfällig. Vermutlich hätte sie es nur besser treffen können, wenn sie einem Mitglied ihrer eigenen Familie über den Weg gelaufen wäre. Ein Gefühl der Sicherheit durchströmte sie und ließ sie lächeln. „Ich danke Gott, dass ich Ihnen in die Arme gelaufen bin, Mister Clarks. Ich bin Catherine Miller.“
Anthony Clarks neigte den Kopf und platzierte einen hauchzarten Kuss auf ihren Fingerknöcheln. „Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Miller. Aber sagen Sie, geht es Ihnen wirklich gut? Sie sehen immer noch blass aus. Wovor waren Sie denn so auf der Flucht?“
Ein kalter Schauer überlief Catherine, als sie an ihren Verfolger zurückdachte. Unwillkürlich rückte sie wieder ein Stück näher an den Barrister heran. Schützend schlang sie ihre dünnen Arme um ihren Oberkörper. Die Müdigkeit, die Besitz von ihr ergriff, konnte sie immer deutlicher spüren.
„Ich weiß es nicht genau“, flüsterte sie und warf ein weiteres Mal einen ängstlichen Blick über die Schulter. „Etwas … Jemand war hinter mir her. Ich …“ Catherine schüttelte den Kopf und brach ab.
„Schon in Ordnung. Ich werde Sie erst einmal nach Hause begleiten. Sicher machen sich Ihre Eltern bereits Sorgen um Sie.“
Noch ehe Catherine etwas hätte erwidern können, bog eine Kutsche um die Ecke und kam bei ihnen zum Stehen. Der Junge, dem Anthony Clarks den Auftrag gegeben hatte, sprang vom Kutschbock. Clarks lächelte dankbar. „Vielen Dank, junger Mann.“
Wieder nickte der Junge nur und ließ sie anschließend alleine. Catherine atmete erleichtert auf. Nun war sie bald daheim. In Sicherheit. Sie ließ sich von Clarks in die Kutsche helfen, nachdem sie dem Kutscher ihre Adresse genannt hatte. Als auch der Barrister eingestiegen war, knallten schon die Zügel und das Gefährt setzte sich ruckelnd in Bewegung.
Schweigend blickte Catherine aus dem Fenster. Ihre Lider waren schwer. Sie fühlte sich matt. Das Adrenalin war vollständig aus ihrem Kreislauf verschwunden und alles, was übrig blieb, war Müdigkeit. Erschöpft sank ihr Kopf gegen das Holz der Kutsche. Erst als sie eine Berührung an ihrem Unterarm spürte, schreckte sie auf. Dann sah sie aber das beruhigende Lächeln von Anthony Clarks. Sie erwiderte es kurz. Einen Moment später bemerkte sie, dass die Kutsche gehalten hatte. Catherine sah aus dem Kutschfenster. Endlich zu Hause.
Wie schon beim Einstieg, reichte ihr Clarks die Hand und half ihr so aus der Kutsche. Dankbar schenkte sie ihm ein Lächeln. Bevor sie einen weiteren Schritt tun konnte, öffnete sich die Tür ihres Zuhauses und eine hochgewachsene, blondhaarige Frau kam auf sie zu und drückte sie fest an sich.
„Mutter!“ Catherine schluchzte und drückte sich eng an ihre Mutter.
„Oh Kind, wo bist du nur gewesen? Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Hätte ich gewusst, dass du solange wegbleibst, hätte ich darauf bestanden, dass Emma dich begleitet. Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Die Sonne ist schon lange untergegangen.“
„Ich weiß, Mutter. Es tut mir Leid.“
Liebevoll strich ihre Mutter ihr über das blonde Haar. Besorgt musterte sie ihre Tochter, lächelte gleich darauf aber und scheuchte sie ins Haus. „Du siehst müde aus. Ab ins Bett mit dir, Kind!“
Catherine hatte nicht die Kraft zu widersprechen, daher nickte sie nur und ging nach einem kurzen Abschiedsgruß an ihren Retter in ihr Zimmer. Sie wollte nur noch schlafen. Also stieg sie rasch die Stufen in den oberen Stock hinauf. Gerade schlüpfte sie in ihr Zimmer und wollte die Tür schließen, als sie noch hörte, wie ihre Mutter Anthony Clarks hereinbat und ihm dankte. Dann schloss sie die Tür und die Geräusche von unten drangen nur noch sehr gedämpft zu ihr hinauf. Nach ein paar Minuten erstarben sie völlig. Vermutlich waren sie in den Salon gewechselt. Allerdings war Catherine viel zu müde, um sich darüber weitere Gedanken zu machen. Sie nahm nicht einmal die Hilfe des Dienstmädchens in Anspruch, um sich aus ihrem Kleid zu schälen. In ihrem Unterhemd ließ sie sich in ihr Bett fallen und deckte sich zu. Bereits ein paar Augenblicke später schlief sie ein.


***
Mit geschlossenen Augen streckte Catherine ihr Gesicht der Sonne entgegen. Die leichte Wärme vertrieb die letzten Schatten, die sie noch begleitet hatten, und ließ das gestrige Erlebnis verblassen und wie einen Traum erscheinen. Sie nahm einen tiefen Atemzug und genoss den Geruch von frisch gefallenem Laub und herannahendem Regen. Der Herbst zeigte noch einmal seine schönste Seite.
Am Morgen hatte sie sich der Predigt ihres Vaters stellen müssen, der sie zu Recht darauf hingewiesen hatte, wie leichtsinnig sie sich verhalten hatte. Schließlich waren in letzter Zeit vermehrt Morde an Frauen begangen worden. Der Mörder, der sich laut den Briefen an Scotland Yard Jack the Ripper nannte. Catherine konnte sich noch gut an den Artikel dazu in der Zeitung erinnern. Sie schauderte und schob diese Erinnerung hastig wieder beiseite. Statt daran zu denken, wollte sie viel lieber den schönen Tag nutzen und auf den Friedhof gehen, solange es noch hell war.
Schnell war sie nach unten und in den Salon gelaufen, wo ihr Vater gerade saß und Zeitung las. Sie lächelte, als sie den Sessel umrundete und vor ihm stand. „Vater, ich möchte gerne James‘ Grab besuchen. Bitte!“
Ihr Vater senkte die Zeitung und sah sie besorgt an. Dann glitt sein Blick zum Fenster und wieder zu ihr zurück. Bittend faltete sie die Hände und klimperte mit den Wimpern. Langsam breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht ihres Vaters aus. Innerlich jubelte Catherine. Sie hatte schon so gut wie gewonnen. Daher setzte sie noch einmal hinzu: „Bitte, Vater! Ich werde auch rechtzeitig wieder hier sein.“
„Na schön“, seufzte ihr Vater und fuhr sich ergeben durch sein ergrautes Haar. „Aber spätestens bei Sonnenuntergang bist du wieder hier. Ich will nicht, dass du bei Einbruch der Dunkelheit noch draußen herumspazierst. Dafür ist es zu gefährlich. Und Emma wird dich begleiten.“
„Natürlich! Vielen Dank, Vater!“ Catherine fiel ihm um den Hals und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Bis heute Abend, Vater.“
Im Hausflur rief sie nach dem Dienstmädchen. Ungeduldig wartete sie, bis Emma endlich kam. Dann schlüpfte sie in ihre Schuhe und ließ sich von der Rothaarigen in ihren Mantel helfen. Wenige Minuten später waren sie mit der Pferdebahn unterwegs zum Friedhof. Allzu weit war dieser nicht entfernt, sodass sie nach wenigen Minuten bereits vor dem steinernen Torbogen standen, der den Eingang markierte.
Catherine legte den Kopf in den Nacken und musterte den Eingang. Sie war lange nicht mehr hier gewesen, um ihren Bruder zu besuchen. Ein Anflug von Schuldgefühlen stieg in ihr auf. Sie hätte viel eher hierherkommen sollen. Da ihre Eltern sich strikt weigerten, James zu besuchen, hatte er nur noch sie, die gelegentlich vorbeikam. Manchmal überlegte sie sich, ebenfalls einfach zu Hause zu bleiben. Doch jedes Mal verspürte sie danach Schuldgefühle und sie eilte zu seinem Grab. Egal wie schmerzhaft die Erinnerungen an ihn waren. Sie ertrug es. Für ihn. Und immer, wenn sie es geschafft hatte, war sie stolz auf sich, weil sie stärker war als ihre Eltern.
Rasch drängte sie diese Gedanken beiseite. Wenn sie noch länger hier herumstanden, wären sie bald durchgefroren. Auch wenn die Sonne schien, so war es doch deutlich kühler geworden. Also ging sie raschen Schrittes voraus. Emma folgte ihr.
Bunte Blätter lagen auf den Wegen, den Gräbern und der Wiese um diese herum. Viele der Bäume waren bereits kahl. Das Laub raschelte, als die beiden jungen Frauen darüber schritten oder es unbeabsichtigt bewegten. Die Wege waren menschenleer. Scheinbar war außer ihnen niemand auf die Idee gekommen, die Gräber ihrer Liebsten zu besuchen.
Das Eingangstor war nicht mehr zu sehen, als sie in einen der Seitenwege einbogen und letztlich vor einem schlichten Grab stehen blieben. Der eckige Grabstein wurde teilweise von Moos bedeckt, dennoch war der Name ihres Bruders noch deutlich zu erkennen. Beinahe ehrfürchtig strich Catherine mit den Fingerspitzen darüber, nachdem sie sich vor das Grab gekniet hatte. Emma stand mit etwas Abstand hinter ihr und schwieg.
„Hallo, James“, flüsterte Catherine und zog ihren linken Handschuh aus, um noch einmal mit bloßen Fingern über den Stein zu streichen. Rasch schlüpfte sie allerdings wieder in ihren dünnen Handschuh, um ihre Hand warmzuhalten. Eine einzelne Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und lief ihre Wange hinunter. Sie wischte sie nicht weg. Egal wie viel Zeit verging, sie würde wohl nie aufhören ihren großen Bruder zu vermissen. Aber drei Jahre waren auch noch keine lange Zeit, fand sie.
Catherin blieb noch eine ganze Weile vor dem Grab ihres Bruders so sitzen und ignorierte den Schmerz, der sich langsam in ihren Beinen ausbreitete. Sie war noch nicht gewillt zu gehen. Viel lieber wollte sie noch ein paar Minuten mit ihm alleine sein. Daher wandte sie sich auch, ohne sich umzudrehen, an Emma: „Würdest du vor dem Friedhof auf mich warten, Emma? Halte schon einmal nach der Kutsche Ausschau. Ich bleibe solange noch hier.“
„Aber Fräulein, ihr Vater wollte doch nicht, dass Sie alleine hier …“
„Ich bin doch in Rufweite, Emma, nicht wahr?“, unterbrach Catherine das Dienstmädchen und sah nun doch über die Schulter. Sie lächelte das jüngere Mädchen beruhigend an. „Du rufst, sobald du die Kutsche siehst. Ich werde dann sofort kommen, versprochen!“
Einen Moment zögerte Emma noch und Catherine glaubte schon, sie würde sich erneut weigern, doch dann nickte das Mädchen. Es behagte ihr nicht, sie hier alleine zu lassen, das konnte Catherine ihr deutlich ansehen, aber schließlich drehte sie sich um und ließ sie alleine. Erleichtert atmete Catherine auf. Nun blieben ihr wenigstens ein paar wenige Minuten mit ihrem Bruder allein.
Vorsichtig stand Catherine auf und lief ein paar Schritte auf und ab, damit wieder etwas mehr Leben in ihre Beine kam. Sie kribbelten unangenehm, aber es war erträglich. Daher stellte sie sich erneut vor das Grab von James, um auf es hinabzublicken.
Es raschelte hinter ihr. Catherine dachte sich nichts dabei. Vermutlich hatte der leichte Wind ein paar Blätter aufgewirbelt. Doch als das Rascheln noch einmal erklang und dann auch das Geräusch von Schritten zu hören war, stutzte sie kurz. Kam Emma etwa zurück?
Neugierig drehte sich Catherine um und erstarrte. Nur wenige Meter von ihr entfernt stand ihr ein Mann gegenüber. Er war in einen langen Mantel gehüllt. Seine Haare waren filzig und fielen ihm in Strähnen ins Gesicht und verdeckten so seine Augen. Der untere Teil seines Gesichtes wurde durch einen leichten Bartschatten bedeckt.
Catherines Herz schlug schneller. Sie begann zu zittern. Die Angst und die Panik, die mit einem Mal durch sie strömten, lähmten sie und hielten sie an Ort und Stelle fest, obwohl sie am liebsten weggelaufen wäre. Sie kannte diesen Mann. Zwar hatte sie bei ihrer Flucht nur einen kurzen Blick von ihm erhaschen können, aber sie war sich sicher, dass es sich bei dem Mann um ihren Verfolger von gestern handelte. Sie wich einen Schritt zurück.
Plötzlich schien es dunkler zu sein. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass graue Wolken aufgezogen waren und nun die Sonne verdeckten. Wind kam auf und brachte ihre Haare und ihren Rock zum Wehen.
„Ich habe Angst gesät“, sagte der Mann auf einmal leise. Seine Stimme klang rau und jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Ihr Herzschlag schien noch eine Spur schneller zu gehen. Der Mann legte den Kopf schief und grinste. „Oh ja … Du hast Angst.“
Catherines Mund war trocken. Mehrmals schluckte sie und versuchte zu schreien, doch sie brachte keinen Ton heraus. Ängstlich sah sie nach links und rechts. Sie waren alleine. Nur Emma war in der Nähe, aber um diese auf sich aufmerksam zu machen, musste sie schreien. Erneut versuchte sie es. Alles, was über ihre Lippen kam, war ein leises Wimmern.
„Jaja“, ergriff da der Mann wieder das Wort. „Angst habe ich gesät. Und nun werde ich ernten.“ Ein irres Flackern trat in seine dunklen Augen. Er kicherte, sodass es Catherine ein weiteres Mal einen eisigen Schauder bescherte. „Wie passend das doch ist, findest du nicht? Sagt man nicht, dass der Herbst die Zeit der Ernte ist? Oh … wir haben Herbst! Und ich ernte.“ Wieder lachte der Mann mit einem Anflug von Wahnsinn in seinen Zügen.
Catherine zitterte am ganzen Körper, doch plötzlich schien sie aus ihrer Starre gerissen worden zu sein. Panisch wich sie weiter zurück. Dann wirbelte sie herum und begann zu rennen. Weit kam sie nicht. Auf einmal wurde sie von hinten gepackt. Sie schrie, aber schon hatte sich seine Hand auf ihren Mund gelegt, sodass ihr eigentlich greller Schrei dumpf und ungehört blieb. Mit aller Kraft wehrte sie sich gegen den eisernen Griff um ihre Taille. Sie trat und schlug um sich, doch das schien dem Mann überhaupt nichts auszumachen. Nicht einmal als sie einen seiner Finger zwischen die Zähne bekam und zubiss, lockerte sich sein Griff solange, dass sie hätte abhauen können.
„Ah!“ Genießerisch atmete der Mann ein. „Ich mag es, wenn sich das Opfer wehrt. Bisher bist du die schönste Frucht. Du solltest dich geehrt fühlen, von mir beachtet zu werden.“ Er nahm seine Hand langsam von ihrem Mund.
Catherine holte schon Luft für einen neuen Schrei, da blitzte vor ihrem Auge Metall auf und im nächsten Augenblick lag die kalte Klinge eines Messers an ihrer Kehle. Der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Hektisch atmete sie ein und aus. Ihre Gegenwehr hatte sie eingestellt. Stattdessen stand sie da wie erstarrt. Wieder einmal. Während der Mann sie immer noch festhielt.
„Ja, so ist es schon besser.“
„S-S-Sie … S-Sie sind … J-Jack … the Ripper“, stammelte Catherine mit zitternder Stimme. Sie wusste nicht, wie sie darauf kam und warum sie überhaupt etwas sagte. Wie dumm eine Unterhaltung mit diesem Mann zu führen. Was tat sie hier nur? Sie sollte um Hilfe schreien. Sie sollte … irgendetwas tun. Aber sie traute sich nicht, sich zu bewegen und sah stur geradeaus auf die Gräber vor ihr.
Der Mann knurrte. Catherine wimmerte. Der Griff um sie wurde fester. „Das ist der Name, den mir ein eifriger Nachahmer gegeben hat. Mit Schlitzer

bin ich ja noch einverstanden.“
Langsam drückte er die Klinge stärker an ihren Hals, bis sie spürte, wie ihr ein dünnes Blutrinnsal den Hals hinunterlief. Tränen liefen ihr nun ungehindert über die Wangen.
„Aber Jack …“ Der Mann machte eine Pause und drückte seinen Mund eng an ihr Ohr. „Das ist ein schrecklicher Name.“
Dann hatte er sie plötzlich umgedreht. Mit rasendem Herzen und voller Angst sah sie ihm in die Augen und wusste im selben Moment, dass es zu spät war. Sie hatte verloren.
„Erntezeit“, flüsterte Jack the Ripper und stieß mit dem Messer zu.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.10.2011

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Widmung:
Beitrag zum Newbie-Wettbewerb Oktober 2011

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