Cover

Prolog




Dunkelheit … Schatten … Leere …



Schwärze umgab sie, als hätte die Unterwelt ihre Klauen nach ihr ausgestreckt und sie zu sich gerufen. Aber das war unmöglich. Sie konnte nicht sterben. Und wenn sie nicht sterben konnte, dann … war sie auch nicht tot. Doch wirklich leben tat sie auch nicht. Sie existierte bloß.
Und was war das? Eine andere Existenz? Eine andere Seele? Ja … so musste es sein. Mit dieser Erkenntnis kamen Erinnerungen. Erinnerungen an vergangene Tage. Sie stürzten auf sie ein, regneten auf sie nieder und ertränkten sie in ihrer Begierde, die enthaltene Botschaft mit ihr zu teilen. Die Seele hielt stand, gab sich ganz dem Erinnerungsfluss hin. Sie beobachtete, erinnerte sich und verstand. Und mit dem Verständnis erwachte die Wut in ihr. Unglaublicher Zorn stieg in ihr auf und ein Hass, der ihr Sein zu sprengen drohte.
Es war, als öffne sie nach jahrelanger Finsternis zum ersten Mal wieder die Augen. Die Seele erblickte ihr Gefängnis und schrie ihren Zorn hinaus. Nur konnte sie niemand hören. Nach und nach kehrten jedoch verschiedene Sinne zu ihr zurück. Sie nahm Gerüche wahr, vernahm Geräusche, fühlte weichen Stoff unter sich. Was war das? Warum war es so finster?
Plötzlich Licht. Augen öffneten sich und blickten auf eine Fensterfront, durch die man einen großen Garten sehen konnte. Aber es waren nicht ihre Augen. Es waren nicht ihre Hände, die nun die Decke fortschoben; es waren nicht ihre Füße, die über die Bettkante baumelten und einen Moment später auf den kalten Boden trafen. Ebenso wenig war es ihr Körper. Und dann wurde sie sich ihres Gefängnisses vollkommen bewusst. Ein menschlicher Körper. Der eines Kindes.
Erneuter Zorn stieg in der Seele hoch, verwandelte sich in Hass. Andere Erinnerungen überkamen sie. Erinnerungen an einen Mann und eine Frau, an schöne Tage unter einem strah-lenden Himmel, an herrliche Festessen …
Ein Name blitzte in ihren Gedanken auf. Thyri.


Thyri

, murmelte die Seele versuchsweise. Der fremde Körper erstarrte. Sein Blick glitt ziellos über die Fensterfront, hin zu einer Tür und wieder zurück. Die Seele lächelte. Thyri

. Ein erneuter Versuch.
„Wer … Wer ist da?“, murmelte eine sanfte Mädchenstimme verschlafen.
Thyri, ich bin dein Schutzengel

, raunte die Seele dem Mädchen zu. Sie spürte, wie sie augenblicklich die volle Aufmerksamkeit der Kleinen hatte. Aufregung und Neugierde durchströmten den Körper. Willst du ein Spiel mit mir spielen, Thyri?


„Oh ja“, stimmte das Mädchen voller Freude zu und klatschte begeistert in die Hände. Dann erschienen plötzlich Fragen in dem Geist der Kleinen. Die Seele sandte Thyri ihre beruhigenden Gedanken.
„Bist du meine Freundin?“, fragte Thyri plötzlich und starrte weiterhin aus dem Fenster.
Ja, Kleine.


Pure Freude durchströmte das kleine Mädchen. „Dann bleibst du auch immer bei mir?“
Natürlich, Thyri. Aber du darfst niemandem von mir erzählen. Versprichst du mir das?


Die Kleine nickte aufgeregt und klatschte erneut in die Hände.
Dann höre mir nun genau zu, mein Schatz. Ich erzähle dir eine Geschichte

. Die Seele lächelte erneut, triumphierend und voller Vorfreude auf ihre Rache.
Sie war erwacht.




Vertrag mit der Todesgöttin




Die Spitze des Dolches bohrte sich tief in die Mitte der Zielscheibe und blieb dort stecken. Dicht neben dem anderen Messer. Die junge Frau lächelte zufrieden und löste ihren Zopf. Braune Haare fielen ihr über die Schultern und umrahmten ihr schmales Gesicht.
Gut gemacht, Thyri

, lobte Orun sie. Ich denke, wir können für heute Schluss machen.


Gute Idee

, stimmte Thyri der ehemaligen Walküre zu. Ich hätte jetzt Lust auf ein heißes Bad

. Die junge Frau ging auf den Strohsack zu und zog ihre beiden Dolche heraus. Einen davon ließ sie sofort in ihren linken Stiefel gleiten, der andere kam in die dazugehörige Scheide an ihrem Gürtel. Mit entschlossenen Schritten ließ sie den Trainingsplatz hinter sich. Kaum hatte sie das große Gebäude betreten, das sie ihr Heim nannte, da kamen ihr auch schon zwei Mägde entgegengeeilt.
„Junge Herrin, eure Mutter möchte, dass Ihr Euch für das Abendmahl umzieht. Es wird Besuch erwartet“, informierte eine der beiden Thyri. Diese verdrehte nur die Augen und ging weiter den Flur entlang. Die zwei Mägde folgten ihr eilig.
Ich hasse diesen ganzen formellen Kram

, beschwerte sich die junge Frau bei ihrer einzigen Freundin. Orun entgegnete nichts, ließ Thyri nur ihre Zustimmung spüren. Sie wusste, wie das Mädchen fühlte, war sie immerhin ein Teil von ihr und hatte Einblicke in die Gefühlswelt der jungen Frau, die nicht einmal Thyri völlig verstand.
„Eure Mutter möchte, dass Ihr das rote Kleid tragt“, meldete sich eine der Mägde hinter ihr plötzlich zu Wort. Sie klang leicht außer Atem. Thyri stöhnte und drehte sich abrupt um. Beinahe wären die beiden Frauen in ihre Herrin hineingelaufen. Thyri hingegen versuchte, nicht auf die zwei loszugehen, obwohl sie am liebsten jemanden geschlagen hätte.
Ruhig, Kleine

, mahnte Orun. Die junge Frau gehorchte. Die verunsicherten Blicke ignorierend, sagte sie: „Ich werde das Kleid tragen, aber …“ Sie hielt inne und musterte die beiden Mägde eindringlich und streng. Ihre nächsten Worte machten klar, dass sie keinen Widerspruch duldete: „Aber ich werde mich selbst und vor allem alleine ankleiden. Danach werde ich zu meinen Eltern stoßen.“ Thyri warf den zwei Untergebenen noch einen undefinierbaren, aber Angst einflößenden Blick zu, bevor sie kehrtmachte und hinter der nächsten Ecke verschwand. Ihre schnellen Schritte hallten von den Wänden wider. Nur noch wenige Meter, dann könnte sie sich endlich in ihr Zimmer zurückziehen. Ihr einziger Zufluchtsort, den sie hier noch hatte. Der einzige Ort, den niemand zu betreten wagte. Es sei denn sie gab die Erlaubnis dazu. Schon war sie vor ihrer Zimmertür angekommen und riss diese auf. Mit einem lauten Knall fiel diese auch sogleich ins Schloss, kaum dass Thyri in ihrem Zimmer stand.
Den riesigen Schrank zu ihrer Linken ignorierend, lief sie auf ihr Himmelbett zu und setzte sich. Ihre Stiefel landeten in einer Ecke des Zimmers und nur kurze Zeit später gesellten sich ihre dunkle Hose und ihr ledernes Oberteil dazu.
Orun zog sich etwas zurück und ließ Thyri in Ruhe, als diese in ihre Wanne stieg. Vorsorglich war schon heißes Wasser bereitgestellt worden. Wussten die Bewohner des Anwesens doch, dass ihre junge Herrin immer ein Bad nach ihrem Training nahm.
Thyri seufzte wohlig, als das heiße Wasser ihren Körper umspielte. Sie lehnte ihren Kopf gegen den Rand der Wanne und ließ ihren Blick schweifen. Durch zwei kleinere Fenster fielen Sonnenstrahlen herein. Ihnen gegenüber an der Wand stand ein kleiner Tisch mit Spiegel. Und gleich daneben der schlimmste Alptraum von Thyri. Ein Kleid. Sie verzog verärgert das Gesicht und wandte den Blick ab.
Wie lange muss ich das alles noch ertragen, Orun?

, wollte sie wissen. Die Walküre gab keine Antwort. Die junge Frau seufzte erneut und schloss die Augen. Langsam ließ sie sich tiefer in die Wanne gleiten. Dann tauchte sie schließlich unter, um auch ihre Haare nasszumachen. Als sie nach einer ganzen Weile wieder auftauchte und die Augen öffnete, hätte sie beinahe erschrocken aufgeschrien. Statt sich jedoch etwas anmerken zu lassen, blieb ihr Blick kühl und gelassen. Genauso, wie Orun es ihr ständig gepredigt hatte. Der Blick ihrer braunen Augen traf den kalten der Göttin der Unterwelt. Während das eine so braun wie ihre eigenen Augen war, so war das andere weiß und leblos.
Als ihr die Todesgöttin das erste Mal erschienen ist, hatte sie sich eine ganze Woche nicht mehr aus ihrem Bett getraut. Bei einem solchen Anblick nicht verwunderlich. Hel hatte buchstäblich zwei Gesichter. Ihre eine Körperhälfte strotzte nur so vor Leben. Weiche Haut, schwarzes Haar und in ihrem braunen Auge blitzte es hinterhältig. Ihre andere Seite jedoch, war grauenerregend. Eingefallene, graue Haut und weißes Haar. Der Körper einer Toten. Zur Hälfte.
„Was führt Euch hierher, Hel?“, erkundigte sich Thyri und gab ihrer Stimme einen beiläufigen Klang.
Die Todesgöttin lächelte emotionslos, dann war ihre rasselnde Stimme zu vernehmen: „Ist Orun da?“
„Natürlich ist sie da“, gab die junge Frau schnippisch zurück. Plötzlich hatte sich Hel zu ihr vorgebeugt und ihr Kinn mit ihrer toten Hand fest gepackt.
„Werde nicht frech, Mädchen. Es genügt ein Wort von mir und wir sehen uns in der Unterwelt wieder.“
Ein leichter Ruck ging durch den Körper der jungen Frau. Ihr Blick veränderte sich, wurde entschlossener. Ihre Augen färbten sich glutrot. Dann schlug sie die Hand der Göttin weg, welche langsam einen Schritt zurückging und zufrieden nickte. „Was willst du, Hel?“, ertönte die Stimme von Orun aus dem Körper der Frau.
„Ich dachte, ich erinnere dich an unsere Abmachung. Thyri ist nun alt genug. Es wird langsam Zeit.“
Orun erhob sich und stieg aus der Wanne. Völlig gelassen schritt sie auf einen kleinen Hocker zu und wickelte sich in eines der Handtücher. „Ich erinnere mich sehr gut an unsere Abmachung. Mach dir keine Sorgen, wir werden bald von hier verschwinden. Und wenn wir Odin erst getötet haben, kannst du mit seinem Thron machen, was dir beliebt.“
Hel lächelte und nickte. „Gut, gut. Aber warte nicht zu lange, Orun. Ich denke, Odin wird bald entdecken, dass du erwacht bist. Ewig kann ich ihn nicht von deiner Fährte bringen. Und wenn es soweit ist, musst du hier verschwunden sein.“
Die ehemalige Walküre nickte nur. Sie hatte verstanden. Wenn Odin erfuhr, dass sie erwacht war – und das würde er sehr bald – dann wären sie hier nicht mehr sicher. Dann waren sie nirgends mehr sicher. Die Göttin der Unterwelt riss sie aus ihren Gedanken. „Vielleicht solltest du Nidhöggr ein Geschenk mitbringen, wenn du ihn endlich triffst, sonst vernascht er dich zum Frühstück.“ Dann war sie plötzlich verschwunden. Orun blieb noch einen Moment reglos stehen, dann verschwanden die roten Augen und der Körper der jungen Frau wankte kurz. „War das unbedingt nötig?“, beschwerte sich Thyri laut.
Ja

, sagte Orun schlicht und ließ Thyri in Ruhe. Die junge Frau schnaubte und zog sich das rote Kleid an. Sie betrachtete sich noch einmal im Spiegel. Das enge Kleid betonte ihre Figur und ließ ihre Haut leicht strahlen, dennoch konnte sie es schon jetzt nicht ausstehen und sehnte den Moment herbei, an dem sie sich des Kleides entledigen konnte.
Thyri atmete noch einmal tief durch und verließ ihr Zimmer, nachdem sie sich ihren goldenen Haarreif ins Haar gesteckt hatte. Sie würde diesen Abend hinter sich bringen und so schnell wie möglich von dort verschwinden.
Wir werden bald von hier verschwinden

, meldete sich Orun plötzlich zu Wort, während sie auf dem Weg zu ihren Eltern war. Erleichterung und Glück durchströmten Thyri, als sie diese Worte vernahm. Zwar war dies durchaus ihr Zuhause, aber dennoch fühlte sie sich hier manchmal eingesperrt und gefangen.
Als Thyri vor einer breiten und reich verzierten Doppeltür ankam, hielt sie einen Moment inne. Sie legte ihre Hand auf den Türknauf, ohne diesen herunterzudrücken. Hinter dieser Tür würde das Grauen beginnen. Höflichkeiten, Benehmen, Etikette. Sie spürte Oruns Aufmunterung und fühlte sich sogleich etwas gestärkt. Mit der Walküre an ihrer Seite würde sie niemals allein sein. Sie nickte sich selbst zu und schlüpfte durch die Tür. Nun befand sie sich in einem riesigen Saal. Am anderen Ende führte eine breite Treppe auf eine Empore hinauf, die durch breite Säulen gestützt wurde. Blaue Banner hangen an ihrem Geländer hinab. Auf ihnen war das Wappen des Hauses zu sehen - ein silberner Bär. Der Boden bestand aus Marmor und zu ihrer Rechten erstreckte sich eine große Fensterfront, durch welche die letzten Sonnenstrahlen fielen und die Kronleuchter zum Funkeln brachten.
Thyri ging geradewegs auf ihre Eltern zu, die vor einem der hohen Fenster standen und auf die Terrasse und den anschießenden Garten blickten. Als sie die Schritte ihrer Tochter vernahmen, drehten sie sich mit einem breiten Lächeln zu dieser um.
„Thyri“, grüßte ihre Mutter sie freudig und schloss sie in die Arme. Thyri ließ dies nur widerwillig über sich ergehen. Aber sie wusste, dass sie sich zu benehmen hatte. Ihre Mutter trug ein Kleid in einem dunkleren Rot als das ihre. Scheinbar hatte sie den verstohlenen Blick ihrer Tochter bemerkt, denn nun drehte sie sich einmal um die eigene Achse. Wie ein junges Mädchen, dachte Thyri beinahe verächtlich und zwang sich zu einem Lächeln.
„Es ist schön, nicht wahr?“, erkundigte sich ihre Mutter. Thyri nickte knapp.
„Unser Besuch wird sicher gleich da sein. Wir möchten, dass du dich von deiner besten Seite zeigst“, erhob nun ihr Vater das Wort. Ein weiteres Nicken gab ihren Eltern zu verstehen, dass sie verstanden hatte.
„Um wen handelt es sich denn, Vater?“, fragte Thyri, mehr aus gezwungener Höflichkeit als aus Interesse heraus. Das Lächeln ihrer Mutter wurde augenblicklich strahlender und auch ihr Vater schien begeistert. Thyri vermutete nichts Gutes.
„Dein zukünftiger Verlobter“, antwortete ihr Vater. Thyri konnte ihn nur blinzelnd anstarren.
„W-wie bitte?“
„Es hat jemand um deine Hand angehalten. Ein sehr vornehmer und wohlerzogener, junger Mann. Natürlich ist noch nichts entschieden, aber er hat gute Aussichten“, klärte ihr Vater sie auf.
Orun

, schrie Thyri innerlich verzweifelt.
Ich habe es gehört, Kleine.




Ein Licht am nächtlichen Himmel




Thyri sah ihre Eltern mit weit aufgerissenen Augen an. Ihre Gefühlswelt war in Aufruhr. Ein Verlobter? Sie sollte heiraten? Das konnten ihre Eltern doch nicht einfach so entscheiden. Hatte sie denn dabei gar nichts zu sagen? Sie war kurz davor wie ein kleines Kind mit dem Fuß aufzustampfen, doch sie hielt sich zurück. Orun, ich will nicht heiraten

, sagte sie in ihren Gedanken und klang dabei beinahe panisch.
Beruhige dich erst einmal, Thyri

. Die junge Frau versuchte, dem Rat ihrer Freundin nachzu¬kommen. Sie atmete tief ein und aus, bevor sie sich noch einmal an ihre Eltern wandte, die sie immer noch anlächelten und so aussahen, als könnten sie die ganze Welt umarmen. „Und was ist, … wenn … ich nicht heiraten möchte?“, fragte Thyri vorsichtig. Schlagartig wurde die Miene ihrer Mutter sanfter und sie trat auf sie zu.
Ihre Mutter streckte einen Arm nach ihrer Tochter aus und legte ihn dieser um die Schultern. „Thyri. Es wird langsam Zeit, dass du dir einen Mann suchst. Du bist beinahe zweiundzwanzig Jahre. Außerdem sollte es eine Ehre für dich sein, dass jemand wie er um deine Hand angehalten hat.“
„Ich kenne diesen Mann noch gar nicht, Mutter.“
„Du wirst ihn lieben, Thyri, glaub mir. Und jetzt komm.“ Ihre Mutter blickte sie kurz streng an und hakte sich dann bei ihrem Mann unter. Thyri blieb nichts anderes übrig, als den beiden aus der Halle in den Speisesaal zu folgen.
Wir werden verschwinden, Thyri

, meldete sich die Walküre in ihr plötzlich zu Wort. Die junge Frau wurde sofort hellhörig. Hel hat Recht, wir müssen ohnehin bald von hier verschwinden.


Um diesen Nidhöggr zu suchen?

, wollte Thyri wissen.
Ja.


Thyri nickte entschlossen und folgte schweigend ihren Eltern den Gang entlang. Sie würde diesen Abend über sich ergehen lassen, und dann würden sie von hier verschwinden. Thyri konnte es kaum erwarten. Sie wollte Orun so sehr helfen. Von klein auf hatte sie schon faszi-niert den Geschichten der Walküre gelauscht und alles in sich aufgesogen. Ihre Weltsicht war damals immer mehr und mehr ins Wanken geraten. Heute war ihr klar, dass die Götter ein falsches Spiel mit den Menschen spielten und alles dafür tun würden, um ihre Macht auszu-breiten.
Der Tisch war bereits gedeckt und Kerzen waren angezündet worden. Die Vorhänge vor den Fenstern waren zur Seite geschoben worden, sodass man einen Blick auf einen kleinen Vor-garten mit Springbrunnen erhaschen konnte. Thyri ignorierte den verzierten Saal. Beinahe sofort wurde ihr Blick von dem jungen Mann angezogen, der neben dem Tisch stand und sich nun ihnen zuwandte, als er das Öffnen der Tür vernahm. Blondes, welliges Haar umrahmte ein kantiges Gesicht und zwei dunkle blaue Augen. Der Mann deutete eine Verbeugung an und ergriff mit einem Lächeln die Hand ihrer Mutter, um ihr einen Kuss auf den Handrücken zu hauchen. Als er auch ihre Hand ergriff, um dasselbe zu tun, überlegte sie für einen winzigen Moment, ihm ihre Hand wieder zu entziehen, doch sie widerstand der Versuchung.
„Es freut mich, Euch endlich kennenzulernen, Mylady“, grüßte der junge Mann sie und schenkte ihr ein verführerisches Lächeln. Tief in ihr knurrte Orun warnend. Thyri schüttelte leicht den Kopf und setzte eine neutrale Miene auf.
„Thyri, das ist Richard von Ciran“, stellte ihr Vater den jungen Herrn vor.
Seine Tochter nickte nur und erwiderte höflich: „Es ist mir eine Freude, Euch kennenzulernen.“
Das Lächeln von Richard wurde augenblicklich noch strahlender. Er zog einen der Stühle nach hinten und half ihr, darauf Platz zu nehmen. Thyri dankte ihm. Sobald sie saß, setzten sich auch die anderen. Zu Thyris Leidwesen hatte sich Richard genau ihr gegenüber hinge-setzt. Damit war es äußerst schwer seinem aufdringlichen Blick zu entgehen. Sie war froh, als das Essen serviert wurde und vorerst ihr Vater ein Gespräch mit ihrem Heiratsanwärter be-gann.
„Was tut Ihr gerne in Eurer Freizeit, Mylady?“
Thyri riss erschrocken den Kopf hoch. Einen Moment blinzelte sie Richard nur verwirrt an, dann hatte sie sich jedoch wieder gefasst. Auf den Lippen des jungen Mannes lag schon wieder ein verführerisches Lächeln. Thyri konnte nicht anders; sie musste es einfach erwidern. „Ich glaube, ich habe eine recht ausgefallene Freizeitbeschäftigung.“
Das Lächeln von Richard wurde keinen Deut schwächer. Unverwandt sah er Thyri in die braunen Augen. Diese hielt dem Blick stand und genoss es, ihn für eine Weile einfach nur ungeniert ansehen zu können. Ihre Mundwinkel zuckten. Schließlich legte sie ihre Gabel bei-seite. „Ich übe gerne den Schwertkampf oder das Werfen von Messern“, sagte sie und wartete gespannt auf seine Antwort. Unwillkürlich hatte sie sich etwas über den Tisch zu ihm ge¬beugt.
Thyri, reiß dich zusammen

, ertönte auf einmal Oruns zornige Stimme.
Ich unterhalte mich nur.


Du hast nicht einmal bemerkt, dass deine Eltern den Saal verlassen haben

, sagte die gefangene Walküre schlicht. Thyri zuckte leicht zusammen und wandte endlich ihren Blick von dem jungen Mann ab. Nur um festzustellen, dass Orun Recht gehabt hatte. Ihre Eltern waren nicht mehr da. Hinterhältige Schlangen, schimpfte Thyri lautlos.
„Ist alles in Ordnung?“
Sofort galt ihre Aufmerksamkeit wieder dem jungen Mann. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. „Natürlich. Aber sagt nun, was interessiert Euch denn so?“
„Ich reise gerne.“
„Dann seid Ihr schon weit herumgekommen?“
Richard nickte bedächtig und legte sein Kinn auf seine gefalteten Hände. In seinen Augen blitzte es. „Seid Ihr neugierig geworden?“
Widerwillig musste sich Thyri eingestehen, dass er Recht hatte. Sie war wirklich neugierig geworden. Richard lachte leise, als sie nickte. „Ich werde Euch gerne von meinen Reisen be-richten, wenn Ihr es wünscht“, schlug er vor und zog fragend seine Augenbrauen in die Höhe. Das wäre sicherlich ein interessantes Gesprächsthema, überlegte sich Thyri. Immerhin war sie selbst bald in Midgard unterwegs. Bevor sie jedoch eine Antwort auch nur in Erwägung zie-hen konnte, meldete sich Orun wieder energisch zu Wort: Thyri, es ist wirklich Zeit, hier zu verschwinden. Er zieht dich völlig in seinen Bann. Pack sofort deine Sachen. Wir brechen in aller Frühe auf.


Meinst du das ernst?

, hakte Thyri sofort nach.
Ja, aber jetzt geh in dein Zimmer.


Thyri erhob sich mit einem entschuldigenden Lächeln und klimperte leicht mit den Augen. „Ich würde wahrlich gerne von Euren Reisen hören, doch ich bin sehr müde. Vielleicht ver-schieben wir unser Gespräch?“
Auch Richard hatte sich erhoben und nahm erneut ihre Hand und hauchte einen weiteren Handkuss darauf. Er blieb noch halb verbeugt vor ihr stehen, ihre Hand fest in seinem Griff und ein sanftes Lächeln auf den Lippen, als er sagte: „Es wäre mir eine Ehre. Ich wünsche Euch eine geruhsame Nacht.“
Thyri nickte nur lächelnd und verließ mit gemächlichen Schritten den Saal. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, rannte sie in ihr Zimmer und schmiss die Türe hinter sich zu. Draußen war es bereits dunkel. Der Mond schien hell durch die Fenster und erhellte ihr Gemach.
Pack nur das Nötigste zusammen, Thyri

, riet ihr Orun. Rasch schnappte sie sich ihren längli¬chen Lederbeutel und suchte ihre Sachen zusammen. Ersatzkleidung, eine Decke, Feuersteine, einige Münzen und etwas Proviant, den sie aus der Küche stibitzte. Als sie alles gepackt hatte, nickte sie zufrieden. Dann zog sie ihr hinderliches Kleid aus und schlüpfte, auf Oruns Rat hin, in ihre Hose und die Bluse mit dem Ledermieder. Ihre Dolche lagen griffbereit auf dem Nachttisch neben ihrem Bett und auch ihre Stiefel standen bereit.
Jetzt versuche noch etwas zu schlafen. Ich wecke dich

, sagte Orun sanft. Thyri erwiderte nichts, atmete bloß tief durch und nickte zufrieden. Danach ging sie einfach auf das Bett zu und ließ sich darauf fallen. Müdigkeit machte sich in ihr breit. Der ganze Tag war doch an¬strengender gewesen, als sie zugegeben hätte. Etwas Schlaf hatte sie sich ihrer Meinung nach wirklich verdient. Außerdem würde sie ab sofort mit Sicherheit nicht immer in einem so be¬quemen Bett schlafen können. Wer konnte schon sagen, wohin ihr Weg sie führen würde.
Sie zog die Decke bis zu ihrem Kinn hoch und drehte sich den Fenstern zu. Für eine Weile genoss sie noch den Anblick des Mondes, doch dann merkte sie, wie ihre Lider immer schwe-rer wurden. Nochmals riss sie ihre Augen auf und fixierte den hell scheinenden Vollmond. Dann glitt ihr Blick etwas zur Seite. Ein helles, blaues Licht kam genau auf sie zu. Fasziniert betrachtete Thyri den Lichtpunkt, der immer größer wurde. Ein goldener Schimmer begleitete ihn. Sie spürte, wie Oruns Sorge wuchs. Und mit einem Mal war sie hellwach.
Lauf, Thyri.







Die oberste Schildjungfer




Sonnenstrahlen ließen Asgard, die Heimat der Götter, erstrahlen. Es war ein warmer Morgen. Nicht alle waren schon auf den Beinen, doch aus Walhall drangen bereits Geräusche. Der Klang von aufeinander treffenden Schwertern, der leise Aufschlag von Pfeilen, die ihr Ziel trafen, und das vereinzelte Lachen von Männern und Frauen. Durch fünfhundertvierzig Tore konnte man Walhall verlassen und betreten. Nicht nur eines davon führte auf den riesigen Trainingsplatz, von dem die Kampfgeräusche zu hören waren. Wie jeden Tag übten sich hier die Einherjer im Kampf, um auf die endgültige Schlacht vorbereitet zu sein und den Göttern beizustehen, wenn der Weltuntergang nahe war.
Einherjer, Krieger, die ehrenvoll in der Schlacht gefallen waren und anschließend den Kuss der Walküren empfangen haben, um fortan in Walhall zu leben.
Staub wirbelte von dem sandigen Boden auf. Die Klingen blitzten im Sonnenlicht auf. Auch einige Walküren waren hier zu sehen, die gemeinsam mit den Einherjer übten. Am Rande des Platzes, im Schatten eines Vorsprungs, stand eine Walküre mit silberblauem Haar und beobachtete das Treiben auf dem Kampfplatz. Sie trug die Rüstung der Ihren, die aus einem sehr leichten, aber äußerst stabilen Metall gefertigt war, welches nur in Asgard zu finden war: Einen Brustpanzer mit dazu passenden Armschienen und Stiefeln, die bis zu den Knien reichten. Allein ihr Brustpanzer und die Stiefel besaßen ein dunkles Violett mit goldenen Verzierungen. Dazu trug sie einen hellen lavendelfarbenen Rock, dessen Saum ebenfalls mit goldenen Ornamenten bestickt war und eine gute Beinfreiheit bot. An den Enden der Schulterplatten hingen metallene Federn und an ihrer Seite hing ihr Schwert, welches sie immer bei sich trug.
Der Wind brachte ihre Haare zum Wehen und wirbelte den Staub noch weiter auf. Ihr Blick wandte sich von den Übungen der Krieger ab und glitt zu dem blauen Himmel hinauf. Seit ein paar Tagen hatte sie ein seltsames Gefühl. Eine Art Vorahnung. Irgendetwas würde geschehen, oder geschah bereits. Allerdings konnte sie nicht sagen, was es war. Es war nur ein unbestimmtes Gefühl. Vielleicht sollte sie Odin davon erzählen. Dieser würde sicherlich etwas wissen, oder ihr zumindest dabei helfen können, es herauszufinden.
Tief in Gedanken versunken, bemerkte sie nicht, wie einer der Einherjer auf sie zukam und vor ihr stehen blieb. „Herrin?“
Die Walküre reagierte nicht, starrte nur weiterhin abwesend in den Himmel hinauf.
„Hrist?“ Besorgnis schwang in der Stimme des Mannes mit. Die vertraute Anrede ließ die Schildjungfer jedoch aus ihren Gedanken schrecken. Ihre Aufmerksamkeit wandte sich dem Einherjer zu und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie ihn erkannte.
„Lando“, sagte sie erfreut und musterte ihn. Sein bronzenes Haar hing ihm ins Gesicht und verdeckte zum Teil seine braunen Augen. Sein nackter, muskulöser Oberkörper war mit Schweiß bedeckt. Hrist hob ihren Arm und strich ihm die Strähnen aus dem Gesicht. Von allen Einherjer war ihr Lando am liebsten.
„Ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte der Einherjer. Er war einen Schritt vorgetreten und stand nun nah bei der Schildjungfer. Er überragte sie um einen ganzen Kopf.
Hrists Hand hielt an seiner Wange inne und ihre grau-blauen Augen trafen die des Mannes. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie nah er ihr war. Ihr Lächeln schwand langsam und ihre Stirn runzelte sich leicht.
„Ich spüre etwas“, murmelte sie, ohne den Blick von ihm zu nehmen. Das Geschehen um sie herum war nicht mehr wichtig. Lando drängte sie nicht dazu mehr zu erzählen. Wenn es ihr Wille war, würde sie es ihm sagen. Stattdessen genoss er viel mehr ihre zärtlichen Berührungen. Ihre Hand fuhr nochmals durch sein Haar. Ihre Finger streichelten sanft über seine Wange, fuhren die Kontur seiner Lippen nach und hinterließen so eine feurige Spur auf seiner Haut.
„Ich weiß nicht, was es ist. Noch nicht“, durchbrach sie das Schweigen. Dann trat sie plötzlich einen Schritt vor und drückte sich an ihn. Ihr Kopf ruhte an seiner Brust, ihre Arme hatten sich um seinen Oberkörper geschlungen und drückten ihn fest an sich. Lando lächelte leicht und erwiderte die Umarmung. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar und genoss ihren Duft nach Wildblumen. Ihr Atem auf seiner nackten Haut ließ wohlige Schauer über seinen Körper gleiten.
Ein Räuspern störte ihre Zweisamkeit. Statt sich jedoch von ihm zu lösen, drehte Hrist nur den Kopf und sah die Walküre fragend an, die in einem weißen Kleid aus Schwanenfedern neben ihnen stand und amüsiert lächelte. „Ich störe euch zwei wirklich nur ungern, aber es gibt wichtige Dinge zu besprechen.“ Bei dem letzten Teil ihres Satzes, war ihr Gesichtsausdruck ernst geworden.
„Um was geht es, Kara?“, wollte Hrist wissen.
„Odin möchte uns sprechen.“
Hrist nickte und löste sich nun aus der innigen Umarmung. „Lando, geh wieder trainieren!“, sagte sie und ihre Stimme klang wieder befehlsgewohnt und entschlossen. Der Einherjer gehorchte sofort. Er verbeugte sich leicht und wandte sich zum Gehen. Die Walküre hielt ihn allerdings noch einmal zurück. Fragend sah er sie an. „Aber wir sehen uns später doch noch einmal?“ In ihren Augen lag beinahe etwas Flehendes. Der Einherjer und Kara mussten lächeln.
„Natürlich“, antwortete Lando und beugte sich vor, um Hrist einen sanften Kuss auf den Mund zu drücken. Dann ging er.
Eine Weile sah Hrist ihm noch verträumt hinterher, bevor Kara sie daran erinnerte, warum sie hier war. Mit schnellen Schritten verließen die beiden Walhall und machten sich auf den Weg zu Odin.

Eine prachtvolle Allee führte auf den Eingang des Götterpalastes zu. Die Bäume ragten hoch in den Himmel hinauf und die Blumen verströmten einen herrlichen Duft. Die Flügeltür stand offen, da sie zu schwer war, um sie jedes Mal zu öffnen, wenn jemand das Heim der Götter betreten oder verlassen wollte. So schritten die zwei Schildjungfern die Stufen zu der gewaltigen Tür hinauf und traten in die angenehme Kühle der Vorhalle. Ihre Schritte hallten auf dem blanken Marmorboden wider. Breite Säulen säumten den Weg zu beiden Seiten, bis sie zu einer breiten Treppe kamen und die wenigen Stufen emporstiegen, nur um durch eine weitere Tür zu gehen. Der Gang dahinter war um einiges kürzer und wurde nur durch einen grünen Läufer geziert. Die beiden Frauen gelangten in einen großen Raum, indem unzählige Stühle, Bänke und Sessel standen. Auf den Tischen standen Weinkaraffen und der lange Banketttisch in der Mitte war noch mit Essensresten bedeckt.
Hrist und Kara ignorierten das Durcheinander und gingen auf eine Tür zu ihrer Linken zu. Diese war breiter und verzierter als die anderen. Nachdem sie zweimal laut geklopft hatten, traten sie in die riesige Thronhalle. Die Blicke der anwesenden Götter flogen zu ihnen und beobachteten den Gang der Walküren.
Es war eine riesige Halle mit hohem Deckengewölbe. Die Balken, welche die Decke stützten und in spiralförmigen Säulen aus Holz auf dem Boden endeten, waren mit kunstvollen Gebilden aus Schlachten verziert.
Auf einen Wink von Odin hin verließen alle Götter mit zügigen Schritten den Saal. Nur seine Frau Frigg und sein Sohn Thor blieben zurück. Diese saßen jedoch etwas abseits und schwiegen. Vor Odin gingen die beiden Walküren in die Knie und senkten ehrerbietig den Kopf.
„Ihr habt nach uns geschickt, Allvater“, sagte Hrist.
„Erhebt euch!“
Die zwei Schildjungfern taten wie ihnen geheißen und warteten gespannt darauf, dass Odin zu sprechen begann. Das graue Haar des Gottes fiel ihm in leichten Wellen auf die Schultern und sein eines eisblaues Auge schien sie bis in die hintersten Winkel ihrer Seelen zu durchleuchten. Das andere Auge war von einem unklaren Nebel durchzogen, der den Glanz dämpfte und es beinahe weiß erscheinen ließ. Sein Seherauge, mit welchem er über das Geschehen der Welten wachte. Nun beugte er seinen Oberkörper vor und sagte: „Orun ist erwacht.“
Auf diese Aussage herrschte eine ganze Weile lang vollkommene Stille. Selbst Frigg hatte aufgehört ihre braunen Haare zu kämmen. Mit gerunzelter Stirn blickte sie jetzt ihren Gatten an und wartete auf das, was folgen sollte.
„Wie ist das möglich?“, wollte Hrist wissen und umfasste mit einer Hand den Schwertknauf.
„Ich weiß es nicht. Scheinbar ist bei ihrer Reinkarnation in den menschlichen Körper irgendetwas unvollendet geblieben“, vermutete Odin und legte sein Kinn in die Hand.
„Ich hätte das Siegel stärker machen sollen. Verdammt! Das ist allein meine Schuld.“ Hrist senkte schuldbewusst den Blick. Ihr Griff um ihr Schwert wurde fester, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten.
„Nein, Hrist. Rede nicht solchen Unsinn! Du hast sie an ihrer Flucht damals gehindert und sie hierher zurückgebracht. Niemand gibt dir die Schuld an ihrem Erwachen“, mischte sich nun die mächtige Gestalt von Thor ein. Mit schweren Schritten kam er näher und stellte sich neben seinen Vater. Seine roten Haare und der Bart waren zerzaust. Wahrscheinlich war er eben erst von einem Ausritt zurückgekommen.
Die Walküre hob den Blick und begegnete den feurigen Augen des Donnergottes. Sie wollte schon etwas erwidern, doch Odin kam ihr zuvor: „Thor hat Recht. Es ist nicht deine Schuld, aber lassen wir das nun. Ich habe euch herholen lassen, weil ich einen Auftrag für dich habe, Hrist.“
Diese nickte und symbolisierte damit, dass sie aufmerksam zuhörte.
„Ich will, dass du Orun aufsuchst und sie zurück nach Walhall bringst, wo sie erneut verurteilt wird. Ich dulde keine Verräterin in Midgard. Selbst als bloße Seele in einem menschlichen Körper ist sie zu stark, um einfach ignoriert zu werden.“
„Natürlich, Herr. Ich werde mich gleich auf den Weg machen.“
Odin nickte zufrieden und lehnte sich in seinem Thron zurück. „Tue, was nötig ist. Wenn es sich nicht vermeiden lässt … dann töte sie“, sagte der Göttervater. Er duldete keinen Widerspruch. Hrist nickte. Zufrieden wandte sich der Gott an die zweite Walküre, die bis jetzt schweigend daneben gestanden hatte: „Du wirst, solange Hrist weg ist, ihre Pflichten als oberste Schildjungfer übernehmen, Kara.“
„Wie Ihr wünscht.“
„Jetzt geht. Verliere keine Zeit, Hrist. Wer weiß, was Orun plant. Sie wird nicht untätig sein. Nicht solange ich noch lebe.“ Odins Stimme war ernst, doch sein Gesicht zeigte die Sorge, die eine freie Walkürenseele in sich barg. Die zwei Walküren verneigten sich rasch und verließen, ohne Umwege, den Götterpalast.

Nur wenige Zeit später brach Hrist auf. In Form einer blauen Lichtkugel, die es den Walküren ermöglichte schnell von einem Ort zum anderen zu gelangen, machte sie sich auf den Weg nach Midgard. Sie verließ die sicheren Äste von Yggdrasil, dem Weltenbaum, und raste in unglaublicher Geschwindigkeit den Wurzeln entgegen. Kaum hatte sie die Welt der Menschen betreten, spürte sie ganz deutlich Oruns Anwesenheit. Dann war sie es also gewesen, die ich gespürt habe, dachte sich Hrist und beschleunigte ihr Tempo. Sie sauste über den nächtlichen Himmel und näherte sich einem großen Anwesen, das einsam auf einem kleinen Hügel stand. In der Ferne waren die Lichter einer kleinen Stadt zu erkennen.
Auf einmal ging in einem der Zimmer das Licht an und eine junge Frau blickte ihr direkt entgegen. Der Körper, der die Seele von Orun beherbergte.
Mit einem lauten Knall zersplitterte das Glas, als Hrist in das Zimmer stürzte und ihre wahre Gestalt wieder annahm. Mit gezogenem Schwert stand sie nun vor der verängstigten Frau. Ihr Blick war ernst und sie war fest entschlossen, Orun nach Walhall zu bringen.
„Du hast gegen Odins Wort verstoßen, Orun. Kehre sofort zurück nach Walhall!“, befahl die oberste Schildjungfer. Die junge Frau wich ängstlich ein paar Schritte zurück. So weit, dass sie mit einem Mal gegen die Wand prallte. Gehetzt sah sie zu der Tür, die ihre einzige Möglichkeit auf eine Flucht bot. Doch ihr schien klar zu sein, dass sie diese nie rechtzeitig erreichen könnte. Hrist kam langsam einen Schritt näher. „Kehre zurück, Orun!“
Ein Ruck ging durch den Körper der Frau und im nächsten Augenblick begegnete sie dem eindringlichen Blick zweier roter Augen. „Orun“, sagte Hrist nur.
„Lange nicht gesehen, Hrist. Ich sollte mich wohl geehrt fühlen, dass er gleich dich schickt“, entgegnete die verbannte Walküre spöttisch. Hrist folgte ihren Bewegungen mit den Augen, als diese sich immer mehr dem Bett näherte. Sie ließ es zu, dass Orun sich einen Beutel nahm und sich diesen über die Schultern hängte. Doch dann zog sie plötzlich einen Dolch. „Ich werde nicht zurückkehren, Hrist. Ich werde Odin niemals verzeihen, was er Artur angetan hat“, schrie Orun ihr entgegen.
„Dann lässt du mir keine andere Wahl, Schwester.“ In Hrists Stimme klang Bedauern mit, aber sie war fest entschlossen, ihren Auftrag auszuführen. Sie würde Orun zurück nach Walhall bringen.
„Das bin ich schon lange nicht mehr“, erwiderte Orun leise. Dann stürmte sie auf die oberste Walküre zu. Hrist blieb stehen und erwartete ihren Angriff. Mit voller Wucht traf die kleine Klinge des Dolches die des Schwertes. Ein heller Lichtschein bildete sich um die Schwertklinge. Der Dolch zerbrach. Orun knurrte und wich zurück. Plötzlich hielt Hrist einen Pfeil in der Hand, der von dem gleichen brennenden Licht umgeben war, wie ihr Schwert.
„Das ist deine letzte Chance, Orun. Kehre zurück und ich werde den Körper der Frau verschonen.“
„Niemals!“
„Dann sei es so, Schwester.“ Hrist holte aus und warf den Pfeil auf Orun zu. Diese konnte im letzten Moment ausweichen, wurde jedoch von der Druckwelle gegen die Wand geworfen. Die Wände bekamen Risse und auf einmal drohte die Decke einzustürzen. Allerdings war auch Hrist von der Druckwelle erfasst worden. Blitzschnell war sie auf den Beinen und rannte auf die Stelle zu, an der Orun lag. Doch plötzlich war diese schon aufgesprungen und hatte den Pfeil in der Hand. Hrist stoppte schlitternd und wich langsam zurück. Mit der Macht eines Walkürenpfeils war nicht zu spaßen. Traf er einen in der Brust, war dieser sofort tot und die Seele wurde auf direktem Weg in die Unterwelt geschickt, wenn sie nicht von einer Walküre zurückgehalten wurde.
In Oruns Augen blitzte es mordlüstern auf. Sie schleuderte den Pfeil zurück auf die oberste Schildjungfer. Die Explosion, als der Pfeil den Boden vor Hrist traf, ließ das ganze Haus erschüttern und riss sie von den Füßen. Hrist hob die Arme vor ihr Gesicht, um es zu schützen. Trotzdem wurden ihre Haut und ihr Haar von dem Feuer der Explosion versengt. Ihr Aufprall raubte ihr für einen Moment den Atem und sie sah nichts als Schwärze. Ihr Kopf hämmerte, und als sie eine Hand an diesen hob, fühlte sie die warme Flüssigkeit, die ihr hinunterlief. Mit vor Schmerz verzogenem Gesicht kam Hrist langsam wieder auf die Füße und taumelte durch die Staubwolke und die vielen Trümmer nach draußen. Sie ließ ihren Blick umherschweifen, doch sie konnte spüren, dass Orun nicht mehr da war. Sie war weg. Hrist taumelte weiter. Sie musste zurück nach Walhall und sich erholen. Dann würde die Jagd beginnen.




Zu Odins Trunk




Orun rannte so schnell sie konnte. Immer noch behielt sie die Kontrolle über diesen Körper. Zu viel Zeit würde vergehen, wenn sie Thyri den Weg erklären müsste. Und Zeit hatten sie nicht. Niemand konnte sagen, wie viel Vorsprung sie hatten. Hrist könnte direkt hinter ihnen sein und sie würde es nicht merken. Immerhin war sie nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte.
Orun warf einen schnellen Blick nach hinten und tauchte dann in den Schutz der Bäume ein. Das Anwesen stand in Flammen. Ein riesiges Loch klaffte nun dort, wo noch vor wenigen Minuten das Zimmer von Thyri gelegen hatte.
Glaubst du, sie haben überlebt?

, meldete sich Thyri vorsichtig zu Wort. Die Walküre wandte ihren Blick von dem zerstörten Haus ab. Sie konnte Thyris Trauer und ihre Verwirrung spüren. Orun antwortete nicht. Die junge Frau kannte die Antwort darauf bereits. Es war schon ein halbes Wunder, dass sie überlebt hatten. In letzter Sekunde hatte es Orun geschafft einen schützenden Wall aus Magie um Thyri herumzuziehen. Nun waren ihre Energiereserven erschöpft. Dieser Schild hatte sie ihre ganze Kraft gekostet. In nächster Zeit würde sie keine Magie mehr einsetzen können, aber es würde auch nicht nötig sein. Es sah nicht danach aus, dass Hrist ihnen folgte. Vermutlich hatte sie die Explosion nicht ganz so gut überstanden wie Orun und Thyri. Dennoch war sich die verbannte Walküre sicher, dass Hrist noch lebte. So etwas brachte die oberste Schildjungfer nicht um.
Ihr Herz raste und ihr Atem ging stoßweise. Als das Anwesen nicht mehr zu sehen war, lehnte sich Orun gegen einen Baumstamm und ließ sich daran hinabsinken. Ihre Kräfte waren verbraucht. Thyri, du musst weiterlaufen.


Aber ich weiß doch gar nicht, wo lang

, murmelte die junge Frau in Gedanken.
Ich werde noch bis an den Waldrand gehen, dann musst du nur noch auf die Lichter der Stadt zugehen. Aber halte dich von dem Weg fern.


Thyri teilte Orun stumm ihre Zustimmung mit. Zufrieden nickte diese und stand wieder auf. Sie mussten die Stadt erreichen. Sie brauchten ein Pferd. Zügig lief sie weiter und ignorierte ihre vielen kleinen Blessuren. Die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht und aus mehreren Schnitten tropfte Blut. Aber es war nichts Schlimmes. Nur ihr Fuß, den sie sich verstaucht hatte, könnte Probleme bedeuten.
Die Walküre blickte starr geradeaus und taumelte mehr vorwärts, als dass sie ging. Vor ihr konnte sie den Waldrand sehen. Danach würde eine weite, hügelige Landschaft beginnen, die nicht viel Schutz bot. Doch wenn Thyri schnell lief, könnten sie die Stadt noch in dieser Nacht erreichen und dann müssten sie nicht unter freiem Himmel schlafen.
Schließlich blieb Orun stehen und beobachtete ein paar Augenblicke aufmerksam die Gegend vor ihr. Es war still und friedlich. Mit einem erleichterten Seufzer zog sie sich zurück und überließ Thyri die Kontrolle.
Auf diesen schnellen Wechsel war die junge Frau nicht vorbereitet gewesen, sodass sie ein paar Schritte nach vorne taumelte und um ihr Gleichgewicht kämpfte. Allerdings fing sie sich noch rechtzeitig und verhinderte damit einen Sturz.
Eine nächtliche Brise wehte über die Landschaft und ließ das Gras in wogenden Bewegungen hin und her schwingen. Der Ruf einer Eule war zu vernehmen, Glühwürmchen tanzten über die Wiese. Thyri blickte in den klaren Sternenhimmel hinauf und vergaß für einen Moment einfach alles, ließ alles hinter sich zurück und bereitete sich innerlich darauf vor, was nun vor ihr lag. Die Mondsichel strahlte hell auf sie hinab und schien ihr den Weg zu leuchten. Als sie nach vorne blickte, konnte sie die Lichter der Stadt erkennen, die Orun gemeint hatte. Dorthin musste sie jetzt gehen. Ihre Freundin verließ sich auf sie. Und Thyri wollte sie nicht enttäuschen. Also ging sie entschlossen einen Schritt nach vorne. Und noch einen … und noch einen …
Thyri blickte nicht zurück. Hinter ihr lag ihre Vergangenheit, vor ihr die Zukunft. Sie musste sich nun auf ihre Aufgabe konzentrieren. Sie musste Orun helfen. Thyri verschwendete keinen Gedanken mehr an ihre Eltern oder an ihr ehemaliges Zuhause. So etwas hatte sie nun nicht mehr.
Früher hatte sie es sich ausgemalt wie es wohl wäre, wenn sie endlich mit Orun loszog und ihre Familie zurücklassen würde. Sie hatte von Abenteuern geträumt und von all den Orten, die ihr die Walküre zeigen wollte. Es gab so viele, die sie nur aus Geschichten kannte und zu denen nur die Götter und deren Untergebenen Zutritt hatten. Die Weltenesche Yggdrasil, Walhall, der Palast der Götter. All diese Orte würde sie mit Orun aufsuchen, um der Walküre ihre Rache zu ermöglichen.
Thyri wusste nicht, was Orun sich unter dieser Rache vorstellte, doch von klein auf hatte ihr die verbannte Walküre eingeschärft, dass die Götter hinterhältig und verlogen waren. Nicht so, wie die Menschen sie beschrieben. Sie waren nicht gütig und gerecht.
Die junge Frau holte weiter aus, entfernte sich immer weiter von ihrem alten Zuhause, lief immer schneller über die Wiese.
Sie würde Niflheim sehen, das Heim von Hel. Sie würde die anderen Götter sehen. Sie würde Odin sehen.
Vorfreude flammte in ihr auf. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Sie begann zu rennen. Der Wind zog an ihren Haaren und Kleidern, gab ihr das Gefühl zu fliegen. Thyri packte ihren Lederbeutel fester und rannte noch schneller. Ein Lachen stieg in ihrer Kehle hoch, bis es als leises Kichern aus ihrem Mund drang. Es war befreiend. Rasch erstarb das Kichern und wurde zu einem lauten und befreitem Lachen. Thyri fühlte sich glücklich. Sie fühlte sich frei.

In den frühen Morgenstunden erreichte Thyri die Stadt. Es herrschte schon geschäftiges Treiben auf den Straßen. In der Nacht hatte sie nur wenige Rasten eingelegt, wollte sie immerhin so schnell wie möglich weiterziehen. Aber nun war sie erschöpft und fühlte sich ausgelaugt. Zudem pochte ihr Knöchel und ließ sie langsamer gehen. Sie wollte sich ausruhen, sich einfach nur hinlegen und die Anstrengungen und die Ereignisse der letzten Nacht hinter sich lassen.
Lass mich

, murmelte Orun und meldete sich damit zum ersten Mal wieder zu Wort. Thyri war froh, dass ihre Freundin sie nicht allein hier in dieser Stadt umherirren ließ. Sie war nie aus dem Haus ihrer Eltern hinausgekommen, hatte nie eine andere Stadt zu Gesicht bekommen. Umso mehr begeisterten sie die fröhlichen Farben der Marktstände und die großen und kleinen Häuser, die sich dicht aneinander drängten. Mit großen Augen sog sie alles in sich auf. Sie wollte keine einzige Sekunde verpassen. Als sie stolperte, übernahm Orun kurzerhand die Kontrolle. Lass mich, wiederholte sie und erstickte die Proteste von Thyri damit im Keim. Du kannst kaum noch aufrecht stehen, Thyri. Ruh’ dich aus!


Die junge Frau widersprach nicht. Die Walküre hatte Recht. Sie war müde und es würde sicher helfen, wenn sie sich etwas zurücklehnen konnte. Also betrachtete sie die Welt aus Oruns Augen.
Die verbannte Schildjungfer schritt mittlerweile entschlossen auf ein breites Haus zu, an dessen Frontseite ein Holzschild mit der Aufschrift „Zu Odins Trunk“ angebracht war. Ein Gasthaus.
Kühle schlug ihr entgegen, als die Walküre durch die Tür trat. Nur Wenige hatten sich bereits so früh hier versammelt. Oder sie waren immer noch hier, dachte Orun abfällig. Zielsicher schritt sie auf den Tresen zu, hinter dem ein dicker, bärtiger und glatzköpfiger Mann stand und ein paar Gläser abtrocknete. Das typische Abbild eines Wirtes, dachte sich die Walküre und musste schmunzeln.
„Was kann ich für Euch tun, gnädiges Fräulein?“, erkundigte sich der Wirt höflich. Seine Augen glitzerten gierig und betrachteten sie lüstern. Oruns Miene blieb ausdruckslos.
„Ein Zimmer für heute Nacht und eine warme Mahlzeit.“
„Natürlich, junge Dame. Aber …“ Sofort wurde er von der Walküre unterbrochen, die mit einem dumpfen Aufschlag einen kleinen Beutel auf die Theke fallen ließ. Hastig griff der Wirt danach und lugte in den kleinen Sack. Seine kleinen Augen weiteten sich und ein breites Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Gelbe Zähne kamen zum Vorschein. „Wenn Ihr mir bitte folgen wollt.“ Der Wirt verbeugte sich leicht und deutete auf eine Treppe, die in den oberen Stock führte, und ging dann voraus.
Orun warf noch einen kurzen Blick zurück und folgte dem Mann dann die wenigen Stufen hinauf. Der Gang, in den die Treppe mündete, war eng und zu beiden Seiten führten Türen weg. Vor einer dieser Türen blieb der Wirt nun stehen und öffnete sie, trat jedoch nicht ein. Orun schritt mit erhobenem Kopf an ihm vorbei und musterte den kleinen Raum. Ein schmales Bett, eine kleine Kommode und eine Waschschüssel auf einem Tisch waren alles, was das Zimmer zierte. Aber für ihre Zwecke war es völlig ausreichend. Sie nickte zufrieden.
„Wollt Ihr das Essen hier zu Euch nehmen?“, erkundigte sich der Wirt. Orun drehte sich zu ihm um und musterte ihn erneut.
„Ich werde mich zuerst ausruhen. Heute Abend werde ich in die Schenke kommen und dort essen.“
„Wie Ihr wünscht.“ Nach diesen Worten verneigte er sich erneut und verschwand die Treppen hinunter. Orun schloss die Tür. Sogleich ließ sie den Beutel auf den Boden fallen, schnallte sich das Schwert ab und stieg aus ihren Stiefeln, um sich anschließend auf das Bett fallen zu lassen. Sie schloss die Augen.
Ruhe dich gut aus, Thyri. Nach dem Essen heute Abend werden wir sofort weiterziehen

, ließ die Walküre die junge Frau wissen.
Warum reisen wir bei Nacht?

, wollte diese sofort wissen.
Es ist nur für die ersten Tage. Bis wir etwas weiter entfernt sind. Es ist leichter, unerkannt zu bleiben.


Thyri erwiderte nichts darauf. Orun wusste schon, was sie tat. Sie vertraute ihr. Mit diesen Gedanken schliefen die beiden rasch ein und wachten erst am späten Nachmittag wieder auf.

Die Sonne war bereits dabei langsam unterzugehen. Thyri saß an einem der Tische in der Schenke und genoss die warme Suppe und das frische Brot. Das Gasthaus war gut besucht und der Lärm war bis auf die Straße zu hören. Vor dem Kamin hatten sich zwei Barden zusammengetan und gaben ihre Lieder zum Besten. Ihre Musik erfüllte den ganzen Raum. Es war stickig, die Männer grölten und pfiffen den Schankmädchen hinterher. Das Feuer warf lange Schatten an die Wände. Auf einmal wurde ihre Sicht auf die Barden durch etwas verdeckt. Thyri runzelte verärgert die Stirn und sah auf. Ihre Augen wurden groß und sie erstarrte mitten in der Bewegung, als sie den Mann vor sich sah, der sie amüsiert musterte. „Richard?“





Begleitung




„Richard?“ Thyri blinzelte ein paar Mal und rieb sich über die Augen. Sie konnte einfach nicht glauben, wen sie da vor sich sah. Wie hatte er die Explosion und das Feuer überlebt? Und wie war er so schnell hierhergekommen? Ob es dann auch noch andere Überlebende gab? Fragen über Fragen schossen im Bruchteil weniger Sekunden durch ihren Kopf und sie war sich absolut nicht sicher, was sie nun tun sollte. Sie wusste nicht einmal, was sie überhaupt denken sollte. In all diese Verwirrung mischte sich Oruns ruhige Stimme: Deine Eltern haben nicht überlebt, Thyri. Das hätte ich gespürt.
Aber du hast gewusst, dass er überlebt hat?

, hakte Thyri sofort nach und selbst aus ihren Gedanken konnte man ihre Aufregung hören. Sie war aufgebracht und schlichtweg etwas überfordert.
Die Walküre zögerte mit einer Antwort. Schließlich stieß sie in Thyris Gedanken einen Seufzer aus und sagte leise: Ja, Thyri. Ich habe gewusst, dass Richard überlebt hat.
Warum hast du mir dann nichts davon gesagt?
Thyri, beruhige dich bitte. Richard ist … nun … Er …

, Orun stockte und schwieg. Thyri fiel beinahe die Kinnlade herunter. Sie war sich durchaus bewusst, dass Richard immer noch vor ihr stand und sie mittlerweile auf eine seltsame Art und Weise musterte, doch das kümmerte sie im Augenblick herzlich wenig. Was sie in diesem Moment so aus der Bahn warf, war die Tatsache, dass Orun so zögerte und stockte. Das kannte sie von ihrer Freundin gar nicht. Sie war immer die Stärkere von ihnen beiden gewesen. Sie war es, die die Sachen in die Hand nahm, wenn Thyri einmal nicht weiter wusste. Und nun fielen der Walküre nicht die passenden Worte ein? Was war hier nur los?
Richard riss sie aus ihren Gedanken. „Thyri? Alles in Ordnung?“
Die junge Frau blinzelte und schüttelte den Kopf, als wäre sie gerade aus einer tiefen Starre erwacht. Orientierungslos sah sie sich um und bemerkte, dass Richard sich neben sie gesetzt hatte und sie wohl schon eine ganze Weile besorgt betrachtete.
„Ich … Ja. Entschuldige, ich habe dich einfach nicht hier erwartet. Ich meine, … das Feuer und …“ Thyri stockte und versuchte, den plötzlichen Kloß hinunterzuschlucken, der sich in ihrem Hals gebildet hatte.
Richard lächelte sie verständnisvoll an und legte seine Hand auf die ihre. Thyri blickte auf ihre Hände auf dem Tisch und dann zurück in sein Gesicht. Der Blick seiner blauen Augen nahm sie gefangen. Richard erwiderte schweigend ihren Blick. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Orun grummelte irgendetwas Unverständliches, zog sich jedoch zurück und steigerte damit Thyris Verwirrung. Richards Blick nahm sie im Moment aber so sehr gefangen, dass sie nicht länger darauf achtete und sich einfach nur darauf konzentrierte zu atmen.
„Ich bin froh, dass auch du es aus dem Haus geschafft hast. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht“, durchbrach der junge Mann mit einem Mal die Stille. Thyri störte es nicht, dass er so vertraut mit ihr sprach. Sie lächelte schwach. Sie würde es nicht zugeben, aber irgendwie war auch sie froh, dass er überlebt hatte.
Thyri, wir sollten aufbrechen

, meldete sich die Walküre schließlich doch zu Wort, als die beiden sich immer noch anstarrten. Die junge Frau zuckte leicht zusammen, woraufhin der Blick ihres Gegenübers sofort wieder Besorgnis ausdrückte. Thyri riss sich zusammen und streckte ihren Rücken durch. Sie stand auf und Richard tat es ihr mit verwirrtem Gesichtsausdruck gleich.
„Es hat mich sehr gefreut, Euch wohlauf zu sehen, aber wenn Ihr mich nun entschuldigt, es ist Zeit für mich aufzubrechen.“ Sie schnappte sich ihren Beutel, streifte sich diesen über die Schulter und überprüfte noch einmal den Sitz ihres Schwertes, bevor sie auf die Straße hinaustrat. Thyri sog tief die Nachtluft ein und ging los. Die Straßen waren leer, in den Häusern brannte Licht. Der Himmel war klar und Mond und Sterne spendeten genug Licht, um einen Blick auf das umliegende Land zu haben.
Entschlossenen Schrittes näherte sie sich dem Stadtrand, doch plötzlich wurde sie am Arm gepackt und herumgerissen. Bevor sie aber einen Schrei ausstoßen konnte, legte sich eine Hand auf ihren Mund und sie wurde dicht an einen Körper gedrückt. Thyris Herz raste vor Schreck. Ihre Augen waren weit aufgerissen.
„Es tut mir leid“, sagte eine, ihr bekannte, Stimme und die Person nahm die Hand von ihrem Mund. Thyri schnappte nach Luft und trat einen Schritt zurück, brachte etwas Abstand zwischen sie beide. Dann hob sie den Blick und erkannte Richard im Licht des Mondes. Sie atmete hörbar aus.
„Verzeih mir, Thyri. Es lag nicht in meiner Absicht, dich zu erschrecken.“
Die junge Frau konnte das leichte Lächeln in seiner Stimme hören. Dieser hartnäckige Idiot

, murrte Orun.
„Warum brichst du jetzt noch auf? Nachts kann überall Gesindel lagern und dich überfallen. Wo willst du überhaupt hin?“, wollte Richard wissen. Er streckte eine Hand nach ihr aus und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Thyri stockte fast der Atem. Als sie nichts erwiderte, ließ Richard seine Hand sinken, trat aber einen Schritt näher und musterte sie besorgt. Thyri senkte den Blick und starrte verlegen auf ihre Stiefelspitzen.
Wie so oft in letzter Zeit, ging ein sanfter Ruck durch den Körper der jungen Frau, bevor Orun das Ruder an sich riss. Mit rötlichen Augen sah sie auf und blickte dem jungen Mann direkt in dessen blaue Augen. Richard wich einen Schritt zurück und zog erschrocken die Luft ein. „Thyri?“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
„Es ist nötig, dass ich bei Nacht reise. Frag’ nicht danach! Und jetzt entschuldige mich, ich habe noch einen weiten Weg vor mir.“ Damit wandte sich die Walküre ab und schritt zügig voran.
War es nötig, ihn so grob abzuwimmeln?

, wollte Thyri leise wissen. Sie hätte sich am liebsten noch einmal umgedreht. Bestimmt stand er immer noch dort. Mit verwirrtem Gesichtsausdruck, und sie lief einfach davon.
Er hätte sonst keine Ruhe gegeben. Du bist immer noch zu weich, Thyri.


Das Mädchen erwiderte darauf nichts. Die Walküre hatte bereits die letzten Häuser hinter sich gelassen, als sich die junge Frau noch einmal zu Wort meldete: Und was ist mit dem Pferd, das wir kaufen wollten?
Wir kaufen es in der nächsten Stadt

, erwiderte Orun etwas grob. Thyri zuckte innerlich zusammen. Die verbannte Schildjungfer verlangsamte ihren Schritt und meinte mit sanfterer Stimme: Tut mir leid, Kleine. Das war nicht so gemeint.


Thyri atmete erleichtert auf und ließ Orun spüren, dass sie ihr verzieh.

Die beiden hatten die kleine Stadt schon ein gutes Stück hinter sich zurückgelassen und Orun hatte Thyri die Kontrolle über ihren Körper wiedergegeben, als sie das Schlagen von Hufen hörten. Die junge Frau hielt inne und drehte sich neugierig um. Die Walküre wusste bereits, wen sie gleich sehen würden, und sie behielt Recht.
Richard saß auf einem braunen Hengst und lächelte zu Thyri hinunter. Er streckte einen Arm nach ihr aus. Diese blickte verwirrt von seiner Hand zu ihm auf. Der junge Mann lachte leise. „Glaubst du wirklich, ich lasse eine junge Dame einfach so durch Midgard reisen? Ganz ohne Begleitung und Schutz?“
„Du … du willst mich begleiten?“, murmelte Thyri staunend. Warum sollte er das tun? Orun schnaubte nur und zog sich zurück. Dieser Mann würde sich nicht mehr vertreiben lassen. Thyri war unsicher. Sie wusste nicht, ob sie das Angebot annehmen sollte. Sie kannte ihn ja kaum. „Was ist mit deiner Familie? Willst du nicht zu ihnen zurück?“, wollte sie wissen und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Richards Lächeln wurde sanfter. Noch immer hielt er ihr seine Hand hin.
„Ich bin ein erwachsener Mann, Thyri. Ich kann tun und lassen, was ich will. Und ich möchte dich begleiten“, ließ er sie wissen und blickte ihr dabei direkt in die Augen. Beinahe endlos lange sahen sie sich einfach nur an. Dann, erst ganz langsam, streckte Thyri ihre Hand nach ihm aus. Sie zögerte und zog diese wieder etwas zurück, doch dann legte die junge Frau sie rasch in Richards Hand und lächelte. Ihr Gegenüber erwiderte ihr Lächeln aus ganzem Herzen.
Ohne große Kraftanstrengung, zog er sie hinter sich auf sein Pferd. Thyri schlang ihre Arme um seine Körpermitte und murmelte: „Wir müssen eine Weile einfach nur dem Weg folgen.“
Richard nickte kommentarlos und sie ritten gemeinsam in die Nacht hinaus. Einem unbekannten Abenteuer entgegen.




Die Jagd beginnt




Der Einherjer betrachtete besorgt seine geliebte Walküre. Sie schlief friedlich in ihrem Bett; eine ihrer silberblauen Haarsträhnen war ihr ins Gesicht gerutscht. Lando strich diese zur Seite. Er hätte sie begleiten sollen. Dann hätte er es vielleicht verhindern können, dass Hrist von der Explosion erfasst worden war. Nun lag sie hier und erholte sich. Orun war stärker, als sie gedacht hatten. Aber das durfte nicht sein. Das verstieß gegen das Gesetz der Götter. Keine verbannte Walküre durfte bei Bewusstsein sein.
Lando seufzte und fuhr mit dem Finger über Hrists Wange. Ihre Haut war so weich und zart.
Er erinnerte sich noch genau an den Tag vor hundertachtundzwanzig Jahren. So lange war es nun schon her. Doch für eine Walküre und einen Einherjer war dies beinahe nur ein Wimpernschlag.
Damals hatte Krieg geherrscht. In vorderster Front hatte er für seinen König gekämpft und seine Freunde verteidigt. Er hatte viele Feinde getötet, bevor sich ein Schwert tief in seine Brust gebohrt hatte und er sterbend auf dem Schlachtfeld lag, während der Kampf allmählich abflaute. Niemand hatte ihn beachtet. Sie waren alle zu sehr damit beschäftigt gewesen, von dem Kampfgeschehen zu verschwinden.
Sie hatten an diesem Tag gewonnen, aber er hatte diesen Sieg nicht mehr feiern können. Er hatte mit seinem Leben abgeschlossen, hatte akzeptiert, dass nun die Zeit gekommen war, um in die Unterwelt einzuziehen. Aber es war anders gekommen. Hrist war ihm erschienen. Sie war für ihn ein Licht in der Dunkelheit gewesen, und das war sie auch heute noch. Als er in ihre graublauen Augen gesehen hatte, da hatte er gewusst, dass er für Walhall bestimmt war. Er war ehrenvoll auf dem Schlachtfeld gestorben. Er war für seine Heimat gestorben. Lando, der Kämpfer für die Heimat.
Hrist hatte ihm die nassen Haare aus der Stirn gestrichen und ihm einen sanften Kuss auf den Mund gehaucht. Mit diesem hatte sie sein Schicksal besiegelt. Der Kuss der Walküren war bindend. Niemand konnte sich gegen seinen Ruf wehren. Wer einmal geküsst worden war, blieb bis zur entscheidenden Schlacht in Walhall, um die Götter zu verteidigen und ihnen zur Seite zu stehen.
Schon damals hatte der Einherjer sich zu der Walküre hingezogen gefühlt. Er hatte es sich nicht erklären können, aber er genoss ihre Nähe und er hatte sich geschworen, sie vor jeder Gefahr zu beschützen.
Aber dieses Mal war er nicht dabei gewesen. Dieses Mal hatte er seinen Schwur nicht halten können. Er hatte Hrist enttäuscht. Er hätte darauf bestehen sollen, sie zu begleiten. Dann wäre das vielleicht anders ausgegangen.
Lando wusste, dass Hrist stark war und selbst auf sich achten konnte, dennoch gab er sich die Schuld. Doch von nun an würde er nicht mehr von ihrer Seite weichen. Wenn sie das nächste Mal aufbrach, um ihren Auftrag auszuführen, dann würde er sie begleiten. Egal was sie dazu sagen mochte, er würde mit ihr gehen. Sie durften Orun nicht noch einmal unterschätzen.
Der Krieger wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Hrist sich regte. Er nahm ihre Hand in seine und wartete gespannt darauf, dass sie aufwachte. Dann schlug die Schildjungfer die Augen auf und ihre Blicke trafen sich. Der Einherjer lächelte.
„Lando“, murmelte die Walküre und lächelte nun auch. Der Krieger streichelte ihre Wange und beugte sich etwas tiefer über sie.
„Wie geht es dir?“, fragte er und aus seiner Stimme sprach all die Sorge, die er sich gemacht hatte. Den ganzen Tag hatte sie geschlafen, ohne einen Ton von sich zu geben. Er war unendlich erleichtert, dass sie nun wieder wach war. Er hatte sich Vorwürfe gemacht, als Hrist völlig erschöpft und verletzt in Walhall angekommen war, nachdem sie Odin von ihrem Versagen berichtet hatte. In seinen Augen jedoch hatte sie nicht versagt. Das hatte sie noch nie. Sie würde ihre Aufgabe erfüllen, da war er sich sicher.
„Gut. Ich bin bereit, aufzubrechen“, sagte Hrist und setzte sich auf, wie um ihre Worte zu unterstreichen.
Die Stirn des Einherjer legte sich in Falten. „Bist du sicher, dass du schon wieder los willst?“
„Ich habe einen Auftrag zu erledigen, Lando. Wir dürfen nicht zögern. Wer weiß, was Orun beabsichtigt.“
Lando nickte. Er verstand es. Die Schildjungfer lächelte ihn liebevoll an und legte ihre Hand an seine Wange. Der Krieger schloss die Augen und schmiegte sich in diese Berührung. „Du weißt, dass ich dich begleiten werde“, sagte er. Hrists Daumen fuhr die Konturen seiner Lippen nach und hinterließ eine prickelnde Spur.
„Ich weiß“, flüsterte sie. Dann berührten ihre weichen Lippen die seinen. Lando nahm ihr Gesicht in seine Hände und zog sie näher zu sich. Ihr Kuss wurde fordernder. Plötzlich kicherte die Walküre. Der Einherjer löste sich von ihren Lippen und wich etwas zurück, trotzdem waren sie nur Zentimeter voneinander entfernt.
„Ich habe dich vermisst“, murmelte Hrist und sah ihn an. Lando lächelte und erwiderte ihren Blick aus den klaren Augen. Er nickte und küsste sie wieder. Ein Klopfen an der Tür zwang sie dazu, in ihrer Tätigkeit innezuhalten. Hrist seufzte und setzte sich auf die Bettkante. Lando stand auf. Schon ging die Tür auf und der hünenhafte Donnergott betrat das helle Zimmer. Die Schildjungfer sprang hastig auf und senkte ehrerbietig den Kopf. Auch der Einherjer nahm Haltung an. Thor grinste und fuhr sich durch die roten Haare, die ihm in allen Richtungen vom Kopf standen.
„Lasst das“, bat er die beiden.
„Was führt Euch hierher?“, wollte die Schildjungfer wissen und sah den Gott neugierig an. Es kam nicht oft vor, dass sich einer der Götter, außer Odin und Freya, hierher verirrten. Bei Odin und Freya war ein Besuch verständlich, da sie sich den Oberbefehl über die Walküren teilten. Doch dass Thor hierher kam, kam nun wirklich nicht allzu oft vor.
„Ich wollte mich selbst davon überzeugen, dass es dir wieder besser geht“, antwortete der Donnergott und verschränkte lässig seine muskulösen Arme vor seiner breiten Brust. An seiner Seite baumelte sein Hammer. Hrist erwiderte sein Lächeln, doch ihr war auch klar, dass der Gott des Donners nicht nur deswegen den Weg nach Walhall auf sich genommen hatte. Auch wenn dieser nicht weit war.
Die Walküre schlüpfte in ihren Harnisch und schnallte sich ihr Schwert um. Lando und Thor beobachteten sie schweigend dabei. Als sie fertig war, wandte sie sich an Thor und hob fragend eine Augenbraue. Dieser verstand und nickte. „Odin möchte wissen, wann du aufbrichst.“
Die Walküre nickte. Das hatte sie sich schon gedacht. Ihr Auftrag, Orun zurückzuholen, hatte immer noch oberste Priorität. „Ich werde einige Einherjer mitnehmen. Nach meiner Auswahl breche ich sofort wieder auf.“
Thor schien zufrieden. Er stieß sich von der Wand ab, gegen die er sich zwischenzeitlich gelehnt hatte, und wandte sich zum Gehen. „Odin stellt dir Hugin zur Verfügung, falls du seine Hilfe benötigen solltest.“ Thor hob zum Abschied die Hand und ging.
Hrist und Lando tauschten einen Blick. Es war Odin wirklich wichtig, wenn er ihnen sogar einen seiner beiden Raben zur Verfügung stellte. Die beiden waren sich einig. Sie würden sofort aufbrechen, nachdem Hrist ein paar Einherjer ausgewählt hatte, die sie begleiteten.
Lando folgte der Walküre, als diese ebenfalls das Zimmer verließ und mit weit ausgreifenden Schritten durch die Gänge und Hallen eilte, bis sie auf dem Trainingsplatz ankamen. Schon von weitem war der Lärm zu hören gewesen. Entschlossen und zielsicher ließ die Walküre ihren Blick über die Kämpfenden gleiten. Da entdeckte sie am Rand den ersten Einherjer, der sie begleiten sollte. Hrist und Lando traten rasch auf ihn zu.
„Telar!“, rief die oberste Schildjungfer. Sogleich stoppte der angesprochene Einherjer seinen Übungskampf und verneigte sich, als er die Walküre sah. „Telar, du wirst mich begleiten, um meinen Auftrag auszuführen.“
„Wie Ihr wünscht!“ In seinen Augen blitzte es abenteuerlustig auf. Es war schon lange nichts mehr geschehen und ein Auftrag würde auf jeden Fall für Abwechslung sorgen.
„Wir werden Orun jagen und zurück nach Walhall bringen“, beantwortete Hrist die unausgesprochene Frage des Kriegers. Dieser nickte entschlossen.
Wie alle anderen wusste auch er von der verbannten Walküre, die nun erwacht war. So eine Neuigkeit blieb nicht lange unverbreitet.
Hrist ließ ihren Blick weiterschweifen, bevor er wieder auf Telar ruhte. „Suche Baldwin. Sag’ ihm, um was es geht. Wir treffen uns so schnell wie möglich wieder hier am Rand des Platzes. Wir brechen augenblicklich auf“, befahl die oberste Walküre ihm. Telar nickte und machte sich sofort auf die Suche nach Baldwin.
„Wen noch?“, fragte Lando und erhob seine Stimme, um sich über den Lärm hinweg verständlich zu machen. Die Walküre lächelte bloß, packte ihn bei der Hand und zog ihn weiter in die Mitte des Platzes. Sie hatte ihn schon entdeckt. Wenn er mitkam, wären sie vollständig. Dann würden sie umgehend aufbrechen und Orun zurück nach Walhall holen. Und wenn es nötig sein sollte, dann würde sie ihre Walkürenschwester auch umbringen. Dieser Gedanke behagte ihr nicht, aber sollte sie keine andere Wahl haben, würde sie nicht zögern.
Die Einherjer, an denen sie vorbeikamen, hielten einen Moment in ihren Kämpfen und Übungen inne und neigten zur Begrüßung ihre Köpfe. Hrist eilte weiter, Lando immer noch im Schlepptau. Für einen Augenblick verlor sie ihr Ziel aus den Augen, doch dann stach ihr der helle Blondschopf wieder in die Augen. Die Schildjungfer ließ Lando los und zog mit einem breiten Lächeln ihr Schwert. Gerade holte der blonde Einherjer aus, um seinen Gegner zu entwaffnen. Hrist, die nun auf ihn zu gerannt kam, bemerkte er nicht. Sein Gesicht wirkte konzentriert. Bevor die zwei Klingen der Einherjer aufeinandertreffen konnten, streckte Hrist ihren Schwertarm aus und parierte den Schlag. Völlig überrumpelt blieben die beiden Einherjer in ihrer Position stehen. Dann sprangen sie wie von der Tarantel gestochen auseinander und senkten ihre Waffen. Auch Hrist steckte ihr Schwert zurück in die Scheide und lachte. Lando hinter ihr musste grinsen.
„Ihr habt uns erschreckt, Schildjungfer“, beschwerte sich der blonde Einherjer gespielt entrüstet. Er war kleiner als die meisten hier, aber er war ein geschickter Kämpfer und Fährtenleser. Die Walküre wurde ernst.
„Du wirst mich auf einen Ausflug begleiten, Ragin“, kam Hrist sogleich auf den Punkt. Der Angesprochene tauschte einen schnellen Blick mit seinem Partner. „Wir brechen sofort auf“, fügte die Walküre an. Die Überraschung auf dem Gesicht des Kriegers wich Entschlossenheit. Als Hrist sich abwandte und zu ihrem Treffpunkt schritt, folgte er ihr.
Am Rand des Platzes standen schon Telar und Baldwin. Die beiden lächelten ihnen erwartungsvoll entgegen, als die kleine Gruppe immer näher kam. Nachdem die vier Einherjer anschließend nebeneinander standen, ließ Hrist noch einmal einen prüfenden Blick über die vier gleiten. Sie nickte zufrieden. Sie hatte sich die fähigsten Einherjer für ihre Mission ausgewählt. Noch einmal nickte sie zufrieden.
„Seid ihr bereit?“, wollte die Walküre wissen. Die vier Kämpfer nickten einstimmig. Hrist schloss ihre Augen und formte ihre Hände zu einer Art Trichter. Dann murmelte sie: „Meine Einherjer, kämpft an meiner Seite für das Schicksal Midgards.“
Ein sanfter Windhauch brachte ihre langen Haare in Bewegung. Ein Licht bildete sich um die vier Kämpfer, bis von ihnen nur noch vier winzige, leuchtende Schwaden übrig waren. Diese schwebten nun auf die Walküre zu und sammelten sich in deren ausgestreckten Händen. Hrist öffnete die Augen und sah die vier Lichter einen Moment lang an, bevor sie diese zu ihrer Brust führte und sie verschwanden.
Nun waren sie in ihrem Innern, jederzeit bereit von ihr gerufen zu werden und ihr zu helfen. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, verließ Hrist Walhall erneut und machte sich auf den Weg nach Midgard. Dieses Mal würde sie nicht eher wiederkehren, bis sie Orun in ihrem Gewahrsam hatte.
Nun würde die Jagd durch Midgard beginnen.





Vater und Tochter




Es war düster und dunkel. Durch keines der Fenster drang Licht in den stickigen Raum. Alle waren sie durch Vorhänge verdeckt. Man konnte nicht einmal die Hand vor Augen sehen. Aber man konnte die Anwesenheit zweier mächtiger Gestalten wahrnehmen. Ein Rascheln, dann ein Räuspern. Ein kurzes Aufblitzen zweier Augen in der Dunkelheit, dann wieder Finsternis.
„Sie ist unterwegs“, sagte die kleinere Person plötzlich in die Stille des dunklen Raumes hinein. Sie erhielt keine Antwort. Es herrschte Schweigen. Dann ein erneutes Räuspern, welches die Stille wie einen Peitschenhieb zerriss.
„Glaubst du, sie kann ihn überzeugen?“, fragte eine dunkle Stimme nach einer Ewigkeit. Wieder war ein leises Rascheln zu hören. Vermutlich ein Umhang, der über den Boden glitt.
„Ich hoffe es, Vater.“
„Hoffen reicht nicht. Der Baum muss welken!“ Die Stimme der zweiten Person war streng und leise, sie duldete keinen Widerspruch. Ein winziges Licht erschien in dem Raum und erleuchtete für einen Moment die vermummte Gestalt, die sich gegen die Wand lehnte. Man konnte einen kurzen Blick auf zwei nachtschwarze Augen werfen, dann war das Licht erloschen und der Raum wurde wieder in Dunkelheit gehüllt.
„Warum besuchst du ihn dann nicht selbst?“, wollte die weibliche Stimme wissen.
Wieder herrschte eine Weile Schweigen, bevor ihr Gesprächspartner antwortete: „Er hat eine Schwäche für ihre … Art.“ Ein leises Lachen erklang. Der männliche Part der beiden Gestalten stimmte nicht in das Lachen seiner Tochter ein. Diese Angelegenheit war zu ernst. Wenn sie Ragnarök einleiten wollten, dann brauchten sie Unterstützung. Und dafür musste die Walküre herhalten. Sie war ihr Mittel, um den Verfall des Weltenbaumes einzuläuten. Wenn Yggdrasil zu welken und zu beben begann, dann würde das Weltenende nahen. So lautete die Legende. Und es gab nur einen, der die riesige Esche zum Welken bringen konnte und ihnen dabei helfen würde: Nidhöggr.
Wenn sie dafür eine kleine Walküre opfern mussten, machte das auch nichts aus. Es waren immer Opfer nötig, um eine Weltordnung zu ändern. Und wenn Odin erst einmal von seinem Thron gestoßen wurde, dann konnte ihn niemand mehr aufhalten. Dann würde er eine Ordnung einführen, wie sie ihm gefiel.
Seine Stimme war kratzig, als er nun zu sprechen begann: „Hrist hat sich mit einigen Einherjer auf ihre Fährte begeben. Früher oder später wird sie unsere kleine Walküre finden. Und dann wird es nicht mehr so glimpflich ausgehen, das weißt du. Ich darf mich nicht einmischen. Odin würde es sofort merken, aber du bist unabhängiger. Achte auf sie! Sie darf nicht vom Weg abkommen, und Hrist darf sie nicht finden.“
„Natürlich, Vater“, erwiderte sie unterwürfig. Die Gestalt stieß sich von der Wand ab. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider, als sie auf die kleinere Person zuging. Dicht vor ihr, blieb der Mann stehen.
„Ich kann mich doch auf dich verlassen?“ Eine unausgesprochene Drohung schwang in dieser harmlos gestellten Frage mit. Ein kurzes Zittern ergriff den Körper der kleineren Gestalt, doch sie nickte und hauchte erneut ein „Natürlich, Vater.“.
Der Mann schien zufrieden. Ohne weitere Worte, wandte er sich ab und verließ den Raum. Als er die Tür öffnete, durchflutete für ein paar Sekunden Licht das Zimmer. Lange und mächtige Schatten bildeten sich, die genauso schnell wieder verschwanden, wie sie erschienen waren. Schon war die vermummte Gestalt zur Tür hinaus und hatte diese hinter sich zugeworfen.
Wind brachte seinen Mantel zum Wehen. Er ignorierte alles um ihn herum und machte sich auf den Rückweg. Niemand durfte Verdacht schöpfen. Keiner der Götter durfte wissen, was er vorhatte. Aber jetzt, da Hrist unterwegs war, war es etwas sicherer in der Heimat der Götter. Die oberste Schildjungfer war wachsam. Sie würde Odin mit ihrem Leben beschützen, das wusste er. Doch jetzt war sie nicht da und Kara hatte ihre Pflichten übernommen. Die vermummte Gestalt lachte kurz auf, während sie den Weg entlang schritt. Kara war nicht für das Amt der obersten Schildjungfer geschaffen. Sie war zu gutmütig. Das konnte vielleicht noch von Vorteil sein.
Dadurch, dass er Orun erweckt hatte, waren die Götter und Hrist zu sehr mit der verbannten Walküre beschäftigt und achteten nicht auf das, was direkt vor ihrer Nase geschah. Er hatte so lange gewartet und im Verborgenen seine Pläne geschmiedet. Bald würde der Tag kommen, an dem er seine eigene Ordnung erschaffen konnte. Dann würde er nicht mehr in Odins Schatten stehen. Und dann wäre dieser endgültig vernichtet, wäre endlich von dieser Welt verschwunden.
Das grausame Lachen schallte über die Landschaft und ließ alle Lebewesen im unmittelbaren Umkreis für einen Moment erstarren. Yggdrasil musste zu welken anfangen. Das würde Ragnarök einläuten. Dann wäre sein Ziel erreicht. Und nun, da dies ins Rollen gebracht worden war, konnte er sich auf ihr Überleben konzentrieren.
Odin war es, der in der entscheidenden Schlacht umkommen musste. Natürlich würden auch andere Götter den Tod finden. Es würde viele Tote geben, doch auch das war ein Opfer, welches er gerne in Kauf nahm. Kein Krieg und kein Sieg, ohne Opfer. Aber was kümmerten ihn schon die Leben von Walküren oder Einherjer. Schade wäre es nur um das Götterblut, das fließen würde, doch daran konnte man nichts ändern.
Vor ihm erschien die Brücke, über die man Asgard erreichen konnte. Wie einfältig die anderen Götter doch waren. Sie würden es noch bereuen, dass sie ihn unterschätzt hatten. Aber dann würde es für sie zu spät sein. Dann würde es für alle zu spät sein.
Die vermummte Person schritt schließlich über die große Brücke nach Asgard. Zurück in die Heimat der Götter, um sich wieder unter seine Familie zu mischen.





Rote Augen




Sie ritten nachts und rasteten tagsüber unter freiem Himmel oder in Herbergen, an denen sie vorbeikamen. Genauso wie Orun es gewollt hatte. Immer weiter entfernten sie sich von Thyris altem Zuhause. Sie dachte kaum noch daran zurück. Dachte sie an ihre Eltern, schlich sich hin und wieder noch ein trauriger Ausdruck auf ihr Gesicht, doch Richard schaffte es immer, sie auf andere Gedanken zu bringen. Auch wenn er nie wusste, woran sie dachte. Er begleitete sie, schützte sie und sorgte für ihre Unterkunft und das Essen. Und all das ohne zu wissen, was das Ziel ihrer Reise war. Er fragte auch nicht danach.
Mit jedem Tag wurde dieser Mann ein größeres Rätsel für Thyri. Orun hielt sich zurück und half ihr nicht, dieses zu lösen. Die Walküre verbarg sich tief in ihrem Gefängnis. Immer noch befürchtete sie, dass Hrist sie zu schnell finden würde. Aber das durfte sie nicht. Sie durften nicht gefunden werden, bevor sie die Wurzeln von Yggdrasil erreicht hatten.
Irgendwann wechselte ihr Rhythmus. Die winzige Reisegruppe ruhte nachts und zog tagsüber weiter. Thyri und Richard redeten nicht viel. Die junge Frau war immer noch etwas verunsichert, weil sie nicht sagen konnte, warum Richard sie begleitete. Sie verstand ihn nicht. Und Orun war ihr keine große Hilfe. Diese meldete sich immer nur kurz zu Wort, um Thyri den weiteren Weg zu beschreiben, doch dann zog sie sich wieder zurück. Sie wollte nicht von den anderen Walküren oder den Göttern entdeckt werden. Noch war es nicht an der Zeit, sich allen zu zeigen. Noch musste sie möglichst unerkannt bleiben. Natürlich wusste sie, dass Hrist nun hinter ihr her war. Aber solange Orun keine Magie anwandte und sich tief in Thyri versteckt hielt, würde es für die oberste Schildjungfer schwieriger werden, sie aufzuspüren.
Vor zwei Tagen hatten sie endlich ein zweites Pferd gekauft, sodass Thyri nun auf einer grauen Stute ritt. Sie hatte das Tier sofort ins Herz geschlossen.
Nun ritten die beiden nebeneinander den verlassenen Weg entlang. Richard kannte Wege, die nur selten oder gar nicht benutzt wurden und auf denen sie keine Gefahr liefen, entdeckt zu werden. Thyri bewunderte ihn dafür. Dafür, dass er sich so gut in Midgard auszukennen schien; dafür, dass er keine lästigen Fragen stellte; dafür, dass er einfach nur da war. Die junge Frau konnte sich schon beinahe gar nicht mehr vorstellen, wie es ohne ihn war. Er war immer an ihrer Seite. Er brachte sie zum Lachen, übernahm einen Großteil der Wache in der Nacht. Und kein einziges Mal beschwerte er sich oder fragte nach ihrem Ziel. Er schien vollkommen zufrieden damit zu sein, dass er Thyri begleiten durfte. Auf seinen Lippen lag immer ein leichtes Lächeln. Trotzdem war sein Blick wachsam und er würde eine Gefahr sicherlich rechtzeitig entdecken. Bisher hatten sie Glück gehabt, wenn man einmal von dem Angriff der obersten Walküre absah. Aber auch davon wusste Richard nichts. Er wusste nicht, warum es eine so gewaltige Explosion gegeben hatte. Er wusste nicht, warum Thyri unterwegs war.
Richard warf seiner Begleiterin einen verstohlenen Blick zu. Sie schien tief in Gedanken zu sein. Er war froh, dass er auf Thyri gestoßen war. Eigentlich hatte er angenommen, dass auch sie bei der Explosion ums Leben gekommen war, aber er hatte sich geirrt. Das erfreute ihn. Er mochte die junge Frau. Und als er sie in dem Gasthaus gesehen hatte, ganz alleine und ohne Schutz, da hatte sein Beschützerinstinkt zugeschlagen. Er hatte es einfach für richtig gehalten, ihr zu folgen und sie zu begleiten. Und das tat er immer noch. Richard wusste einfach, dass es richtig war. Es war richtig, hier an ihrer Seite zu sein.
Das Land erstreckte sich vor ihnen in einer hügeligen Wildnis. Sträucher und kleine Baumgruppen waren wild verstreut und in der Ferne konnte man das blaue Glitzern eines Flusses entdecken. Die Sonne neigte sich bereits wieder dem Horizont entgegen, um einen weiteren Tag zu Ende gehen zu lassen.
Richard wusste, dass sie nur selten durch ein Dorf oder eine Stadt kommen würden, wenn sie weiterhin auf diesem Weg blieben. Aber er wusste auch, dass Thyri nicht zimperlich war und auf dem Boden ebenso gut schlief, wie in einem weichen Bett. Also hielt er nach einem geeigneten Rastplatz für die Nacht Ausschau. Diesen fand er auf einer geschützten, kleinen Lichtung. Die Bäume standen dicht und es war nur eine winzige Gruppe. Hier würden sie sicher schlafen können.
Die Vögel zwitscherten ihre letzten Lieder, bevor sie sich ebenfalls für die Nacht zurückzogen. Schweigend errichteten die beiden Reisegefährten ihr Lager und banden die Pferde an. Bald waren nur das sanfte Flüstern des Windes und das Prasseln des Feuers zu hören.
Thyri und Richard saßen sich gegenüber und hatten soeben ihr Abendessen beendet. Richard hatte sich bereits auf dem Rücken ausgestreckt und sah durch ein kleines Loch in der Blätterdecke zum Nachthimmel empor. Thyri betrachtete ihn gedankenverloren. Können wir ihm nicht sagen, wohin wir wollen? Ich bin mir sicher, dass wir dann schneller an unser Ziel kommen würden

, gab die junge Frau nach einer Weile zu bedenken.
Orun antwortete nicht sofort. Wir kommen auch so ganz gut vorwärts,

entgegnete die Walküre schließlich. Sie klang etwas störrisch. Thyri unterdrückte den Drang, die Augen zu verdrehen.
Orun

, sagte Thyri in ihren Gedanken flehend. Sie wollte es ihm so gerne sagen. Sie wollte es ihm nicht verheimlichen. Vielleicht konnte er ihnen wirklich helfen. Orun grummelte etwas Unverständliches und zog sich wieder etwas weiter zurück. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf das Gesicht der jungen Frau. Sie fuhr sich durch ihre Haare und strich diese zurück. Sie wertete das als ein Ja. Anschließend fixierte sie den Mann, der immer noch auf dem Rücken lag und in den Himmel starrte.
„Richard?“, fragte sie leise. Sofort drehte dieser seinen Kopf und sah sie an. Er lächelte und wartete. Thyri biss sich unschlüssig auf die Unterlippe und sah verlegen ins Feuer. Sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte.
Allerdings schien Richard ihre Gedanken erraten zu haben, denn er setzte sich auf und fragte: „Wo liegt unser Ziel, Thyri?“
Ihre Mundwinkel zuckten. Nun fragte er sie also endlich. Nachdem sie den Anfang machen wollte. Ob er das so geplant hatte? Sie schüttelte leicht den Kopf. Das war nicht wichtig.
„Wir …“ Sie stockte und hielt für einen Moment den Atem an. Orun war wieder so präsent, als stünde sie direkt neben ihr. Ihre mahnenden Gefühle wallten in Thyri auf. „Also ich … Ich möchte zu den Wurzeln von Yggdrasil“, sagte sie rasch, bevor sie sich wieder verplappern konnte oder sie den Mut dazu verlor. Gespannt wartete sie auf eine Reaktion von Richard. Ihre Hände hatte sie ineinander verschlungen, wie zum Gebet. Ihr Herz raste aus keinem bestimmten Grund.
Auch die Walküre wartete neugierig auf eine Reaktion, doch Richard saß einfach nur da und starrte sie an. Schließlich kam Bewegung in ihn, als er sich nach hinten auf seine Hände stützte. Keine Sekunde ließ er Thyri aus den Augen, die seinen Blick etwas unsicher erwiderte. Was würde er dazu sagen? Würde er sie für verrückt erklären? Abhauen? „Richard?“, sagte sie mit leicht zitternder Stimme. Langsam machte er ihr Angst. Warum sagte er denn nichts? Dann lächelte er plötzlich.
„Auch dorthin werde ich dir folgen“, sagte er voller Inbrunst. Thyri riss die Augen auf voller Unglaube und gleichzeitig viel eine ungeheure Last von ihren Schultern. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie gehofft hatte, dass er weiterhin bei ihr blieb. Und das würde er nun. Sie lächelte, und ihr Lächeln spiegelte ihre ganze Erleichterung wider.
„Warum?“, entschlüpfte es Thyri, bevor sie darüber nachdenken konnte, und ihr wurde klar, dass Orun ihr einen Stoß gegeben hatte, damit sie diese Frage stellte. Richard wandte zum ersten Mal für einen Augenblick den Blick von ihr ab. Einen Moment sah er wieder zu dem Blätterdach empor, bevor er seinen Blick wieder auf seine Reisegefährtin richtete. In ihren braunen Augen konnte er ihre Neugierde, aber auch ihre Verwirrung über seine Antwort lesen. Er lächelte verlegen und fuhr einmal durch sein Haar.
„Weißt du“, begann er, „das war wohl eher eine … spontane Entscheidung. Aber versteh’ mich jetzt nicht falsch. Ich bin froh, dass ich dich begleite. Und es fühlt sich … richtig

an. Ich weiß auch nicht, wie ich das erklären soll.“ Richard hob verlegen und ratlos die Schultern und ließ sie sogleich wieder sinken.
Thyri erwiderte sein Lächeln. Sie verstand es nicht völlig, aber das war jetzt auch nicht wichtig. Bevor sie noch etwas sagen konnte, hatte Richard schon wieder das Wort ergriffen und fragte: „Was willst du an den Wurzeln des Weltenbaumes?“
Die junge Frau blinzelte. Sie fühlte sich plötzlich, als hätte ihr jemand eiskaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Sie wandte den Blick ab und spielte unsicher mit einer Haarsträhne. Ich wusste es

, murmelte Orun in ihr. Thyris Atmung beschleunigte sich. Was sollte sie denn jetzt tun? Sie konnte ihm doch nicht sagen, dass eine Walküre in ihr gefangen war und sie darum bat.
Sie wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. Richard wartete immer noch gespannt auf eine Antwort. Aus den Augenwinkeln sah die junge Frau, wie er dazu ansetzte etwas zu sagen, doch da ging ein sanfter Ruck durch ihren Körper. Ihre Körperhaltung wurde strenger, sie saß mit gestrecktem Rücken da. Dann hob sie den Kopf und das Lächeln auf Richards Gesicht verblasste. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, seine Stirn runzelte sich. Rote Augen fixierten ihn und hielten ihn in ihrem Blick gefangen.
„Das ist unwichtig“, sagte Orun durch Thyri entschieden. Sie sah, wie der junge Mann leicht zusammenzuckte. Er konnte ihre veränderten Augen sehen, doch er konnte nicht sagen, was diese Veränderung herbeigeführt hatte. Und das würde auch so bleiben, dachte sich Orun. Die Walküre musterte ihn abschätzend. Er erwiderte ihren Blick, ließ sich nicht zu sehr einschüchtern. „Du kannst immer noch gehen. Niemand hindert dich daran. Aber frage mich nicht mehr nach meinen Beweggründen.“ Die Stimme der Walküre war streng. Sie duldete keinen Widerspruch.
Richard legte einfach nur den Kopf zur Seite und starrte sie weiterhin an. Er sagte nichts, zeigte mit keiner einzigen Regung, dass er verstanden hatte oder dass er einverstanden war, blickte ihr einfach nur in die roten Augen. Einen Moment hielt Orun diesem Blickduell noch stand, dann schloss sie die Augen und gab Thyri die Kontrolle über ihren Körper zurück. Diese sackte leicht zusammen. Sofort wurde Richards Blick sorgenvoll. Ihm war es nicht entgangen.
„Es geht schon. Tut mir leid“, murmelte Thyri aus keinem bestimmten Grund. Einfach nur, um die Stille zu durchbrechen, die sie plötzlich als so unangenehm empfand.
„Rote Augen“, flüsterte Richard. Thyris Kopf fuhr hoch. Ihre braunen Augen trafen auf seine blauen. Eine Frage lag in den Augen des Mannes, doch er stellte sie nicht. Stattdessen legte er sich wieder auf den Rücken und schloss die Augen, als wolle er jetzt schlafen. Die Hände verschränkte er unter dem Kopf. „Rote Augen“, wisperte er noch einmal mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen, dann war er still.
Minuten verstrichen, in denen Thyri ihn einfach nur ansah und wartete. Richard blieb stumm und wenig später vernahm sie seine gleichmäßigen, ruhigen Atemzüge. Er war eingeschlafen. Die junge Frau atmete aus.
Wir sollten vorsichtig sein

, sagte Orun leise. Thyri nickte und stimmte damit der Walküre zu. Dann legte auch sie sich hin und versuchte zu schlafen.




Durch die Berge




Sie brachen früh am nächsten Morgen auf. Richard ritt hinter Thyri, sodass er sie in Ruhe beobachten konnte. Zielsicher folgte diese dem Weg und schien zu wissen, wo sie hin musste.
Immer wieder glitt sein Blick von der jungen Frau vor ihm weg und schweifte über die Landschaft, um nach möglichen Gefahren Ausschau zu halten. Sobald er dies getan hatte, heftete sich sein Blick aber wieder auf den gestreckten Rücken seiner Begleiterin. Ihre braunen Haare fielen ihr in leichten Wellen über die Schultern. Richard würde nur zu gerne wissen, warum sie zu den Wurzeln des Weltenbaumes wollte und wie sie den Weg dahin finden wollte, doch er erinnerte sich an ihre Warnung letzte Nacht. Mit diesem Gedanken kam auch die Erinnerung an diese roten Augen wieder an die Oberfläche. Er wusste, dass er sich diese nicht eingebildet hatte. Aber er konnte es sich nicht erklären. Wie konnten klare, braune Augen plötzlich zu zwei roten Flammen werden? Es war unerklärlich für ihn. Irgendetwas verbarg sie vor ihm. Aber was es war, konnte er nicht sagen.
Richard konzentrierte sich wieder auf die Umgebung. Nach und nach veränderte sich die Landschaft und am Horizont erschienen die Umrisse einer Bergkette. Das Land wurde zunehmend unebener. Das Gras ging zurück, wurde durch Dornenbüsche und anderes Gestrüpp abgelöst. Immer häufiger waren nun große Steine und Felsen zu sehen, die den Weg säumten. Und obwohl die Gipfel der Berge immer näher rückten und stetig größer und bedrohlicher in den Himmel ragten, dauerte es noch weitere vier Tage, bis sie die Ausläufer des Gebirges erreicht hatten.
In dieser Nacht fanden sie eine windgeschützte Stelle zwischen zwei größeren Felsen, wo sie ihr Lager aufschlugen. Die Pferde banden sie an einen der wenigen kahlen Bäume, die auch hier noch wuchsen.
Während Richard ein Feuer entfachte, packte Thyri den Proviant aus, um ihr Abendessen vorzubereiten. Sie summte vergnügt vor sich hin. Immer wieder huschte ihr Blick zu dem jungen Mann.
Gewöhne dich nicht zu sehr an ihn, Thyri

, mahnte Orun sie leise. Die junge Frau drehte sich ertappt um. Eine leichte Röte schoss ihr in die Wangen und färbte das sonst eher blasse Gesicht.
„Ich mag ihn eben“, murmelte die junge Frau und konnte nicht verhindern, dass ihr Blick erneut zu dem Mann hinüber huschte. Richard hatte es geschafft ein Feuer zu entzünden und lehnte nun mit geschlossenen Augen gegen die Felswand. Wie er so dasaß, sah er unglaublich friedlich aus.
Leise grummelnd musste die Walküre feststellen, dass ihre junge Freundin den Mann mit verträumtem Blick betrachtete. Sie bemerkte ihr seliges Lächeln gar nicht. Orun machte ihrem Unmut kurz Luft, was Thyri einfach ignorierte oder gar nicht erst wahrnahm, bevor sie sich dann zurückzog. Sie würde die beiden einfach eine Weile alleine lassen. Sie mussten durch das Gebirge und das würden die zwei auch ohne ihre Hilfe schaffen. Zudem konnte sie es nicht länger mit ansehen, wie dieser Mensch immer weiter zu Thyris Herz vordrang. Orun konnte keine Hindernisse gebrauchen. Sie würde sich um ihn kümmern müssen, wenn er ihrem Ziel im Wege stand. Sie würde sich ihre Rache von nichts und niemandem zerstören lassen. Schon gar nicht von einem einfältigen Menschen. Orun schnaubte und zog sich endgültig zurück.
Thyri registrierte nur am Rande, dass die Walküre sich wieder tiefer in ihr zurückzog. Ihr Blick ruhte immer noch auf Richard. Schließlich löste sie sich aus ihrer Starre und setzte sich mit einem Lächeln neben ihn. „Hunger?“, fragte sie und hielt ihm Brot und Trockenfleisch hin.
Richard schlug die Augen auf und schon trafen sie seine blauen Augen. Er lächelte. „Danke dir“, erwiderte er freundlich, während er das Essen entgegennahm.
Der Himmel war schon die ganze Zeit grau und düster, doch nun wurde es noch dunkler. Die Nacht hielt Einzug. Es waren keine Sterne zu sehen, die das Land erhellten, und auch der Mond blieb verschollen. Thyri schlang ihre Arme um die Knie, als die Kälte der Nacht in ihr Lager geschlichen kam. Die Berge taten ihr Übriges, um die Umgebung noch grauer aussehen zu lassen.
Richard beobachtete die junge Frau an seiner Seite. Er konnte nicht lange mit ansehen, wie sie fror. Ohne über mögliche Konsequenzen nachzudenken, legte er einen Arm um Thyris Schultern und zog sie an sich. Ein überraschtes Keuchen drang über ihre Lippen und für einen Moment versteifte sie sich. Doch dann ließ sie es geschehen und schmiegte sich sogar an ihn. Sie bettete ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen.
Richard legte die Decke über sie beide. Seinen Kopf lehnte er so gegen den Stein, dass er Thyri beobachten konnte. Sie war wunderschön. Eine seltsame Anziehung schien von ihr auszugehen. Eine Anziehung, die ihn dazu gebracht hatte, ihr zu folgen. Er konnte es sich nicht erklären, warum sie seinen Beschützerinstinkt geweckt hatte. Es war ebenso.
Gedankenversunken betrachtete er ihr braunes Haar und ihr friedliches, sanftes Gesicht. Vorsichtig strich er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich in ihr Gesicht verirrt hatte und ihm so die Sicht auf dieses verwehrte. Ginge es nach ihm, dann würde er sie wohl den ganzen Tag lang so betrachten. Was war nur an ihr, das ihn so ansprach?
Andererseits erinnerte er sich auch an diese Augen. Rote Augen. Augen, die eine Entschlossenheit ausstrahlten, die nicht zu Thyri zu gehören schien. Doch neben dieser Unerschrockenheit hatten diese seltsamen Augen auch etwas Anderes ausgestrahlt: Kälte.
Er konnte es sich einfach nicht erklären. Vielleicht sollte er sie noch besser im Auge behalten. Darüber machte sich Richard im Moment jedoch nicht allzu viele Gedanken. Zu sehr genoss er ihre Nähe. Ihre gleichmäßig ruhigen Atemzüge lullten ihn ein. Seine Augen fielen zu und schon bald war auch er eingeschlafen.

Von ihren Pferden waren sie schon lange abgestiegen. Der Pfad, dem sie nun folgten, war zu steil, um auf den Pferden reiten zu können. So waren sie dazu gezwungen, diese nun an den Zügeln zu führen.
Der Himmel hatte sich weiter verdüstert. Der Wind hatte zugenommen. Er wehte durch ihre Haare und zerrte an ihren Kleidern. Ein kurzer Blick in den Himmel sagte Richard, dass sie möglichst schnell einen Unterschlupf finden mussten. Ein Sturm zog auf.
Über die Schulter sah er zurück. Thyri folgte ihm in einigem Abstand. Die Augen hatte sie zum Schutz vor dem Wind zu kleinen Schlitzen geschlossen. Er konnte sehen, dass sie zitterte. Er ging weiter und hielt Ausschau nach einer Höhle. Es war nicht das erste Mal, dass er durch genau dieses Gebirge zog, doch er hatte es noch nie von dieser Seite überquert. Richard wusste, dass es hier haufenweise Höhlen gab, aber eine zu finden war das Problem. Vor allem, wenn es dunkel war.
Blitze zuckten über den Himmel, die für Sekundenbruchteile die Umgebung erhellten. Keine Höhle war zu sehen. Nur Steine und Felsen. Nicht einmal ein Dornenbusch. Das Gebirge schien wie ausgestorben. Es dauerte nicht lange, da hallte der erste Donnerschlag von den Bergen wider. Dröhnend laut klang er in ihren Ohren und ließ Thyri erschrocken zusammenzucken. Sie beschleunigte ihren Schritt, um den Abstand zu Richard zu verringern. Dieser verschwand gerade hinter einem Felsen und für einen winzigen Moment wallte Panik in Thyri auf. Solange bis sie ebenfalls um die Kurve schritt und beinahe in Richard hineinlief, der stehen geblieben war.
Der Wind hatte seine Haare zerzaust, was ihn in Thyris Augen noch besser aussehen ließ. Er drehte seinen Kopf und lächelte. Ein Donnerschlag erklang genau in dem Moment, in dem er ihr etwas sagte. Sie schüttelte den Kopf und deutete auf ihr Ohr. Richard nickte verstehend und deutete mit seiner Hand nach vorne. Thyri folgte seinem ausgestreckten Arm, konnte aber nichts entdecken. Wieder schüttelte sie den Kopf. Richard blickte in den Himmel und lief mit raschen Schritten weiter. Thyri folgte ihm dicht auf. Plötzlich fielen die ersten Regentropfen. Schnell regnete es in Strömen und durchnässte die beiden Reisegefährten.
Thyri stolperte mehrmals auf dem steinigen Pfad, hielt sich aber dennoch dicht hinter Richard. Sie wollte es nicht riskieren, ihn zu verlieren. Sie fror. Ihr war kalt und ihre Kleidung war durchnässt. Sie stand kurz davor Richard anzusprechen, als dieser erneut stehen blieb, sie ansah und ihr winkte, ihm zu folgen. Dann verschwand er. Thyris Augen wurden größer und sie rannte ihm rasch hinterher. Anschließend fand sie sich plötzlich in einer großen Höhle wieder. Staunend sah sie sich um.
Der Eingang war relativ schmal, was dafür sorgte, dass der Wind nicht bis in die hintersten Winkel der Höhle vordringen konnte. Wäre Richard nicht da gewesen, dann würde sie wohl immer noch draußen im Regen umherlaufen. Mit zitternden Gliedern folgte die junge Frau ihrem Begleiter bis ans Ende der Höhle.
„Zieh deine trockene Kleidung an. Dann setz’ dich hin und wickle dich in die Decken“, wies Richard sie an. Thyri war zu erschöpft, um zu widersprechen oder sich darüber zu beschweren, dass er ihr sagte, was sie tun solle. Außerdem hatte er Recht.
Richard nahm ihr die Zügel aus der Hand und führte die beiden Pferde in eine Ecke der Höhle, wo er sie absattelte und trocknete. Währenddessen zog Thyri sich um.
Immer wieder warf sie aufmerksame Blicke in Richards Richtung, doch er sah kein einziges Mal zu ihr herüber. Ist auch besser für dich, dachte sie und lächelte leicht. Dann setzte sie sich und lehnte sich gegen die Höhlenwand. Sie zitterte immer noch am ganzen Körper und kuschelte sich in die Decken.
Schließlich kam Richard zurück und entfachte ein Feuer. Danach zog er sich plötzlich noch einmal zurück und für eine Weile konnte Thyri ihn nicht sehen, bis er in trockenen Kleidern zurückkam. Er setzte sich dicht neben die junge Frau und zog sie erneut in seine Arme.
Sofort schmiegte sich Thyri an ihn. Gegenseitig spendeten sie sich Wärme. Richard streichelte ihr fast abwesend über den Arm. Und Thyri genoss seine Berührungen. Sie schloss die Augen.
„Thor scheint erzürnt zu sein“, flüsterte sie. Ein leichtes Rucken ging durch Richards Körper und sie wusste, dass er genickt hatte.
„Schlaf jetzt, Thyri“, murmelte er in ihr Haar und streichelte sie weiter. Ein leises „Danke!“ verließ noch ihre Lippen, bevor sie der Schlaf übermannte.





Gestörte Zweisamkeit




Thyri schlug langsam die Augen auf. Sie blinzelte verwirrt und fragte sich für einen Moment, wo sie sich befand, doch dann erinnerte sie sich an das Unwetter und daran, dass sie in der Höhle Schutz gesucht hatten. Sie konnte nicht sagen, ob es draußen immer noch gewitterte, aber das war ihr im Moment auch egal. Viel interessanter war es, dass sie, dicht an Richard geschmiegt, auf dem Boden lag. Sie mussten in der Nacht irgendwie zur Seite gekippt sein.
Mit einem verträumten Lächeln betrachtete sie sein friedliches Gesicht. Ganz sacht strich sie ihm über die Wangen. Sie waren leicht rau, aufgrund der kleinen Härchen. Als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte er keinen Bart besessen. Gut, diese paar Härchen konnte man auch noch nicht als Bart bezeichnen, aber es war ein Anfang.
Thyri stützte sich auf einen Ellenbogen, um Richard besser ansehen zu können. Mit ihrer anderen Hand streichelte sie immer wieder über das Gesicht des schlafenden Mannes. Noch nie hatte sie jemand so sehr fasziniert. Sie wollte ihn nicht mehr missen wollen. Was war nur an diesem Mann? Es kam ihr allerdings auch wie eine Ewigkeit vor, dass sie noch gesagt hatte, sie wolle niemanden heiraten. Als ihr nun dieser Gedanke kam, fragte sie sich, was sie damals geritten hatte, so etwas zu behaupten. Richard war wundervoll. Er war nett und zuvorkommend, aufmerksam und beschützte sie in jeder Lage.
Ein angenehmes Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus. Was war das? Warum wurde ihr plötzlich so warm, wenn sie den schlafenden Mann musterte und an ihn dachte?
Richard drehte den Kopf und Thyri hielt augenblicklich still. Er wachte nicht auf. Also machte die junge Frau da weiter, wo sie aufgehört hatte. Sie fuhr seine Züge nach. Erst die Wangenknochen entlang, an der Seite seines Halses hinunter, bis zu seiner muskulösen Brust, die andeutungsweise im Ausschnitt seines Hemdes zu sehen war. Thyris Herzschlag beschleunigte sich. Sie konnte sich nicht erklären warum. Was war das nur?
Ihre Finger glitten wieder hinauf zu seinem Gesicht. Wie zarte Windstöße flogen sie über seine Wangen, über seine Stirn, strichen ihm die Haare aus den Augen und fuhren wieder hinunter zu seinem Mund. Kurz bevor sie seine einladenden Lippen berührte, hielt sie inne. Reglos verharrten ihre Finger nur Millimeter von den roten Lippen entfernt. Sie schluckte. Ihr Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. Mit der Zunge fuhr sie sich über ihre eigenen Lippen. Ihr Atem beschleunigte sich leicht. Dann überwand sie die letzte Distanz. Es war wie ein kleiner, elektrischer Schlag, der durch ihren Körper ging, als sie diese berührte. Zärtlich fuhr sie die Umrisse nach und stellte sich vor, wie es wohl wäre, diesen Mann zu küssen. Ihre Lippen zu vereinigen und Richards Geschmack zu kosten.
Ihr Kopf kam dem von Richard näher. Ihr Mund näherte sich immer weiter den Lippen, die sie zu rufen schienen. Sie war nur noch wenige Zentimeter davon entfernt, ihre Lippen auf Richards zu pressen, als dieser plötzlich die Augen aufschlug und ihre Blicke sich trafen. Thyri erstarrte. Augenblicklich schoss ihr die Röte ins Gesicht. Wie hatte sie sich so gehen lassen können?
Verlegen wich sie seinem Blick aus. Stattdessen hefteten sich ihre Augen für einen Moment auf Richards Mund, der zu einem zärtlichen Lächeln verzogen war. Ein begieriger Ausdruck trat in ihre Augen. Sie wollte diese Lippen so dringend spüren.
Thyri wurde heiß. Sie wollte weg, bevor sie noch etwas Unbedachtes unternehmen würde. Sie zog ihren Kopf zurück und wollte aufstehen, doch plötzlich umfasste Richard ihr Gesicht und zog sie wieder zu sich herunter. Nun lag sie halben auf seiner Brust. Sein warmer Atem traf ihre Lippen. Ein Schaudern ging durch ihren Körper. Ihr Atem beschleunigte sich wieder voller Vorfreude. In Richards Augen konnte sie sehen, dass er es wollte. Er blickte sie genauso gierig an.
Ihre Augen schlossen sich langsam und Richard zog sie schließlich völlig zu sich. Ihre Lippen trafen sich. Es war berauschend. Ein elektrisierendes Kribbeln zog durch ihren ganzen Körper.
Richard legte eine Hand auf Thyris Rücken und plötzlich fand sie sich unter ihm wieder. Keine Sekunde lang hatten sich ihre Lippen voneinander gelöst. Die seinen waren unglaublich weich. Und er war so zärtlich. Ein wohliger Schauer fuhr das Rückgrat der jungen Frau hinab, als seine Zunge über ihre Lippen strich. Unwillkürlich öffnete sie diese und ein Keuchen entfloh ihr, als Richard mit seiner Zunge in ihren Mund stieß. Thyri gab sich ganz dem wohligen Gefühl hin, das ihren Körper in Besitz nahm und durch ihre Adern pulsierte. Ihre Hände griffen in sein blondes Haar.
Als Richard sich von ihr löste, schnappten sie beide nach Luft. Ihre Blicke trafen sich. Freude, Genuss sprachen aus ihnen. Wieder lagen seine Lippen auf ihren. Dann wanderten diese ihren Wangenknochen hinauf und wieder hinunter. Seine kleinen, zarten Küsse schienen ihren Körper unter Strom zu setzen. Als seine Küsse ihr Schlüsselbein erreichten, entlockte er ihr damit ein weiteres unterdrücktes Stöhnen. Genussvoll schloss Thyri die Augen. Dann trafen sich erneut ihre Lippen zu einem Kuss. Dieses Mal ergriff die junge Frau selbst die Initiative. Ihre Zunge strich über Richards weiche Lippen. Sein Geschmack war unbeschreiblich. Richards rechte Hand vergrub sich in ihrem Haar, während die andere an ihrer Seite hinab glitt.
ES REICHT!

, schrie Orun mit voller Lautstärke in Thyris Gedanken. Die junge Frau kniff schmerzerfüllt die Augen zusammen. Ein Wimmern drang über ihre Lippen. Richard hielt sofort inne und sah sie erschrocken an.
„Thyri?“, fragte er vorsichtig. Er strich ihr über die Haare und musterte sie besorgt. Da öffnete diese plötzlich die Augen. Rotes Feuer jagte einen eisigen Schauer durch seinen gesamten Körper. Kälte schlug ihm entgegen.
„Fass mich nie wieder an!“, zischte die junge Frau und stieß ihn von sich herunter. Sie sprang auf und drückte den perplexen Mann gegen die Wand. Diese roten Augen starrten ihn zornig an. Richard musste unwillkürlich schlucken. Was war das nur? Das war doch nicht Thyri. Das war nicht seine Thyri! Er machte sich keine Gedanken darüber, dass er sie gerade wirklich seine

Thyri genannt hatte, aber er musste sich eingestehen, dass sie ihm in diesem Moment unheimlich war. Warum verhielt sie sich jetzt so? Sie hatte es doch genossen. Sie hatte es auch gewollt. Verwirrung sprach deutlich aus dem Blick des jungen Mannes.
„Thyri“, begann er, wurde aber von ihr unterbrochen.
„Ich will mich nicht wiederholen. Halt dich fern von ihr!“, sagte die Frau bedrohlich. Die roten Augen blitzten.
„Ihr?“, hakte Richard sofort nach. Was hatte das nun zu bedeuten? Irgendetwas passte hier nicht zusammen, und er musste herausfinden, was es war. Etwas stimmte nicht mit Thyri. Das war einfach nicht sie. Es war nicht Thyri

. Immer und immer wieder wiederholte er diesen Satz in seinen Gedanken. Er war fest davon überzeugt, dass das nicht Thyri war. Nicht die Thyri, die er kannte. Irgendetwas war mit ihr passiert. Und er war sich sicher, dass es mit diesen roten Augen zusammenhing.
Sein Gegenüber – wer immer es auch war – wurde für einen Moment unsicher und lockerte seinen Griff. Richard nutzte diese Gelegenheit sofort und schlüpfte unter ihren Armen hindurch. Dann drückte er Thyri – besser gesagt, das Etwas, das sie beherrschte – gegen die Wand und hielt ihre Arme auf dem Rücken zusammen. Er ließ ihr kaum Platz. „Wer bist du?“, fragte er so ruhig wie möglich. Das war nicht Thyri, wiederholte er wieder. Sie war ... besessen. So war ihr unterschiedliches Verhalten am besten zu beschreiben. Er hatte davon gehört, es aber noch nie erlebt.
Ein Fauchen kam aus dem Mund der jungen Frau. Sie wehrte sich heftig, versuchte, Richards Griff zu entkommen, doch es gelang ihr nicht. Dieser drückte sie stärker gegen die Wand. Sie schnappte nach Luft.
„Wer. Bist. Du?“, wiederholte er eindringlich seine Frage, jedes Wort betonend. Die junge Frau presste ihre Lippen zusammen. Da sie ihn nicht direkt ansehen konnte, warf sie ihm aus den Augenwinkeln tödliche Blicke zu.
Wie konnte er es wagen, sie hier festzuhalten? Erneut stemmte sie sich gegen seinen Griff. Erfolglos. Orun fluchte innerlich. Sie war so zornig gewesen, dass sie nicht auf ihre Wortwahl geachtet hatte. Sie hatte die beiden nur unterbrechen wollen. Sie hatte es einfach nicht länger ertragen, die zwei so intim zu sehen. Sie hatte es nicht ertragen, Thyris starke Gefühle zu spüren. Diese hatten sie zu sehr an das erinnert, was sie wegen Odin verloren hatte. Wut wallte in ihr auf, als sie an den Göttervater dachte. Dieser Richard gefährdete ihre Rache. Er lenkte Thyri ab. Das durfte sie nicht zulassen! Sie brauchte Thyri, um zu den Wurzeln des Weltenbaumes zu gelangen.
Orun gab ihre Gegenwehr nun völlig auf. Es hatte keinen Sinn. Thyris Körper war dem kräftigen Mann nicht gewachsen. Da halfen auch ihre Kampferfahrungen nicht weiter.
„Wer bist du?“
Die Walküre schnaubte verächtlich, als er ihr diese Frage schon wieder stellte. Als würde sie ihm das auf die Nase binden, dachte sie sich. Sie schwieg. Dieser Mensch ging ihr langsam auf die Nerven. Sie musste in Ruhe darüber nachdenken, was sie jetzt mit ihm anstellen sollte. Er war hartnäckig. Und jetzt, da er Verdacht geschöpft hatte, würde er nicht so leicht locker lassen. Die verbannte Walküre warf ihm einen letzten finsteren Blick zu. Anschließend ging ein kurzer Ruck durch den Körper der jungen Frau, als sie sich in die hintersten Winkel von Thyri zurückzog.
Richard fing sie auf, als Thyri zusammensackte. Er sah noch, wie das Rot ihrer Augen verschwand, dann schlossen sich diese und er hielt sie in den Armen. Ein paar Sekunden wartete er auf irgendeine Reaktion, doch nichts geschah. Verwirrt blickte er die bewusstlose Frau an. Ihre Gesichtszüge waren wieder friedlich. Was war da eben passiert? Er konnte es noch gar nicht richtig realisieren. Jetzt war er sich aber sicher, dass das gerade eben nicht Thyri gewesen war. Irgend... etwas

hatte sich ihres Körpers bemächtigt. Etwas, das jetzt wieder verschwunden war.
Ratlos schüttelte Richard den Kopf und bettete Thyri vorsichtig auf den Höhlenboden. Dann deckte er sie zu und entfachte das Feuer neu. Wenn sie erwachte, würde er ein paar Antworten verlangen. Er wollte wissen, was das alles zu bedeuten hatte. Er wollte wissen, was es mit diesen roten Augen auf sich hatte. Und bei all seiner Verwirrung und Ratlosigkeit machte er sich unglaubliche Sorgen um die junge Frau. Er hatte sie gerne; sehr gerne sogar. Doch es machte ihm auch Angst, was mit ihr da geschah. Diese roten Augen machten ihm Angst.
Er ließ Thyri keine Sekunde aus den Augen, und so wartete er, bis sie erwachte. Dann würde er seine Antworten bekommen, das versprach er sich selbst. Ansonsten würde er hier wohl noch verrückt werden. Er musste wissen, was los war. Er musste es einfach wissen ...




Blutsbrüder




Sein Kinn in eine Hand gestützt, saß Odin mit gerunzelter Stirn auf seinem Thron Hlidskjalf. Sein Blick richtete sich in die Ferne und schien keinen bestimmten Punkt zu fixieren. Sein milchig-weißes Auge huschte in seiner Höhle umher, als suche es etwas oder jemanden. Seine direkte Umgebung nahm er nur noch zweitrangig war. Stattdessen konzentrierte sich der Allvater voll und ganz auf sein Seherauge, welches er im Austausch für sein richtiges erhalten hatte. Mit diesem war es ihm möglich, das Geschehen in Midgard auf einen Blick zu überwachen und erfuhr so, was sich dort unten in der Welt der Menschen zutrug. Dies war nur ein Weg seine Neugier zu stillen.
Auf seiner linken Armlehne saß ein ungewöhnlich großer Rabe, dessen schwarzes Gefieder glatt und glänzend war. Mit schräg gelegtem Kopf beobachtete dieser seinen Herrn und wartete auf Anweisungen. Sein Bruder Hugin war vor einiger Zeit nach Midgard aufgebrochen, um dort Hrist bei der Suche zu helfen. Gleichzeitig waren die beiden Raben auch Boten und brachten Nachrichten von dem Heim der Götter nach Walhall und wieder zurück. Ein leises Krächzen verließ den Schnabel des Raben. Sofort erlangte er dadurch Odins Aufmerksamkeit. Der Göttervater wandte ihm seinen Blick zu und streichelte liebevoll über das Gefieder.
„Orun ist gerissen. Sie verbirgt sich tief in dem Körper, in den ich sie einst verbannt habe. Hrist wird es schwierig haben. Sie muss das Menschenmädchen finden. Aber nicht einmal mein Seherauge vermag zu sagen, wo dieses sich aufhält. Es ist, als würde eine dunkle Wolke über Midgard schweben und die verräterische Walküre vor meinem Blick schützen“, murmelte der Gott und fuhr sich durch sein weißes Haar. Warum konnte er das Menschenmädchen nicht ausfindig machen? Es war als mische sich jemand in das Weltgeschehen ein. Augenblicklich versteifte sich Odin. Seine Augen weiteten sich leicht. Ob es das war? Mischte sich tatsächlich jemand in die Geschichte ein? Versuchte jemand, Einfluss zu nehmen?
„Munin“, wandte er sich an den Raben, der ihn daraufhin aus aufmerksamen Augen ansah, „flieg zu Hrist, überbringe ihr die Nachricht, dass sich jemand in die Geschichte einmischt. Jemand versucht zu verhindern, dass Orun gefunden wird. Einer der Götter wird es nicht sein, sie wissen, dass sie nicht direkten Einfluss auf das Geschehen nehmen dürfen, allerdings ...“ Odin stockte kurz und überlegte. War es möglich ... „Vielleicht ist es Nidhöggr. Auch er besitzt die Macht dazu. Warne sie, Munin. Flieg schnell!“
Der Rabe krächzte und erhob sich elegant in die Lüfte. Munin kreiste einmal über dem Kopf des Allvaters, um daraufhin mit schnellen Flügelschlägen die Halle zu verlassen und sich zu der obersten Schildjungfer aufzumachen. Odin sah seinem treuen Raben hinterher. Der Midgardschlange würde ein solches Verhalten ähnlich sehen, dass sie sich mit einer verräterischen Walküre zusammentat, wollte sie immerhin Ragnarök einleiten. Nidhöggrs dunkle Seite hatte schon immer den größeren Teil seiner Persönlichkeit ausgemacht. Das kommt davon, wenn Riesenblut in den Adern fließt, dachte Odin verächtlich. Noch tief in Gedanken versunken, bemerkte der Gott nicht die Gestalt, die soeben die Halle betrat. Erst ein leises Räuspern ließ ihn auf sehen, direkt in die schwarzen Augen von Loki. Ein schelmisches Lächeln lag auf dessen Lippen, als er sich auf die Stufen vor Odins Thron sinken ließ und die Beine ausstreckte.
„Was bedrückt dich, Bruder?“, wollte Loki wissen. Seine Stimme war tief und einschmeichelnd. Der Feuergott fuhr sich in einer lässigen Bewegung durch seine kurzen, rabenschwarzen Haare und lehnte sich zurück. „Bist du immer noch hinter dieser Walküre her?“, fragte er weiter, als er keine Antwort erhielt.
„Natürlich, Loki. Du weißt, dass sie nicht hätte erwachen dürfen.“
„Ah, verzeih. Ich vergaß, sie brach deine Gesetze“, erwiderte sein Bruder theatralisch und kam anmutig wieder auf die Beine. Seine schwarze Kleidung lag eng an und betonte die wohlgeformten Muskeln. Loki drehte sich einmal um die eigene Achse, als wolle er sich zur Schau stellen, dann stoppte er und sah seinem Blutsbruder in die Augen. Dieser hatte mittlerweile die Stirn gerunzelt. Er wirkte ungehalten. Odin seufzte.
„Wolltest du etwas Bestimmtes, Loki?“, fragte er den Gott des Feuers, dessen Lächeln schwand. Er legte eine Hand an seine Brust und blickte Odin gespielt betroffen an.
„Kann ich nicht einmal meinem lieben Bruder einen Besuch abstatten, ohne dass dieser mir gleich etwas unterstellt? Auch ich wohne hier, Bruder“, entgegnete Loki und gab seiner Stimme einen gekränkten Klang. Nun war es an Odin zu lächeln. Nur wenige Sekunden später schallte sein lautes Lachen durch die Halle. Loki schmunzelte.
„Du hast dich eine Weile nicht mehr hier sehen lassen“, gab Odin zu bedenken. Die Miene des Feuergottes wurde daraufhin wieder ernst und er ließ sich erneut auf den Stufen nieder.
„Ich hab Familienbesuche gemacht. Hier geschieht in letzter Zeit recht wenig. Ich habe mich gelangweilt.“
„Also warst du bei Hel? Oder Nidhöggr?“
„Bei Hel“, gab Loki bereitwillig Auskunft. Sein verträumter Blick glitt zur Decke hinauf. Der Göttervater musterte ihn schweigend. Eine ganze Weile saßen sie zusammen und genossen einfach nur die Stille. Doch dann sprang der Feuergott plötzlich wieder auf die Beine und glitt elegant durch die Halle. Wie in einem anmutigen Tanz, den er nur für sich alleine aufführte, bewegte sich Loki durch den leeren Raum, bis er vor seinem Blutsbruder wieder zum Stehen kam. Er setzte dazu an, etwas zu sagen, doch wurde er von der aufgehenden Tür unterbrochen. Beide Götter wandten ihren Blick zu der großen Holztür. Als Loki die Frau erblickte, die nun in eleganten Bewegungen auf sie zukam, verzog er für einen Moment das Gesicht, bevor seine Miene wieder gelassen und neutral wurde. Trotzdem konnte er wohl den leicht sehnsuchtsvollen Ausdruck nicht völlig aus seinen schwarzen Augen bannen, denn die silberblonde Göttin schenkte ihm ein keckes Lächeln, stellte sich neben Odin, um ihn im Blick zu haben. Ihr Kleid verbarg nur dürftig ihre schlanke Gestalt und ließ viel Spielraum für einige Fantasien, die Loki zu unterdrücken versuchte. Der Feuergott ballte seine Hände hinter dem Rücken zu Fäusten.
„Freyja“, begrüßte Odin sie mit einem Lächeln. Die angesprochene Göttin neigte das Haupt und ließ einen lasziven Blick über Lokis muskulösen Körper wandern. Sie wusste, wie wenig ihm dies behagte, doch nutzte sie jede Gelegenheit, um ihn etwas zu ärgern.
„Loki, sieht man dich also auch einmal wieder. Ich dachte schon, du gehst mir aus dem Weg“, sagte Freyja mit lieblicher Stimme. Der Angesprochene gab nur ein leises Schnauben von sich und versuchte krampfhaft, nicht in dieser Weise an die Göttin zu denken, in der er es soeben tat. Er wollte sich nicht vorstellen, wie sie nackt aussah oder wie es wäre, ihre vollen Lippen zu küssen.
Freyja war zweifellos die schönste aller Göttinnen; mit ihrer schlanken Statur, den üppigen Rundungen an genau den richtigen Stellen, dem hüftlangen, silbrig glänzendem Haar, den hellen blauen Augen, dem ... Loki unterbrach abrupt seine Gedanken. Ein kaum hörbares Knurren kam ihm über die Lippen. Freyja lachte.
„Ich habe dich auch vermisst.“ Da stand sie plötzlich vor ihm und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Lokis blasses Gesicht gewann schlagartig an Farbe. Für einen Augenblick kniff er seine Augen fest zusammen und konzentrierte sich. Freyja wurde gerne umgarnt, sie machte gerne Anspielungen. Ihr laszives Wesen war oft unberechenbar. Er durfte sie nicht auf diese Weise sehen. Er durfte sie nicht als Geliebte sehen. Denn das war sie nicht. Und das würde sie wohl nie sein. Das hatte sie ihm schon oft genug klar gemacht. Loki drehte sich abrupt um und stürmte aus der Halle. Freyjas Lachen klang ihm in den Ohren.
„Glaubst du nicht, das war etwas … gemein?“, wollte Odin amüsiert wissen. Die Göttin wandte sich dem Allvater zu.
„Ich glaube nicht.“
„Er hat es immer noch nicht überwunden, dass du ihn abgewiesen hast.“
Freyja zuckte nur mit den Schultern und wandte sich einem anderen Thema zu, als sie sagte: „Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich ein paar der Walküren nehme und mich auf dem Schlachtfeld vergnüge, das gerade in Kentar entsteht?“
Odins Lächeln wurde sanfter und in seinen Augen blitzte es erheitert auf. Es war schwer die Göttin von einem Kampf auszuschließen. Allerdings wusste er auch nicht, was dagegen sprach, dass sie sich etwas amüsierte. Also zuckte er mit den Schultern. „Wie du willst. Aber sei wachsam.“
Freyja nickte strahlend lächelnd und lief beschwingt aus der Halle. Odin sah ihr noch lange nach. Sein Gesichtsausdruck war wieder ernst und seine Gedanken hatten sich wieder der verbannten Walküre zugewandt. Er hoffte inständig, dass Hrist sie bald finden und zurückbringen würde. Er musste seine Familie schützen. Und eine freie Walküre, die nicht unter seinem Befehl stand, war eine Gefahr für ganz Asgard.





Auf der Suche




Ein kleiner, schimmernder Lichtpunkt schwebte über die Landschaft hinweg. Abseits von Dörfern und Städten flog er dicht über den Boden hinweg; ansonsten hielt er sich bedeckt, um nicht gesehen zu werden. Das Licht umkreiste Bäume, tanzte anmutig über Blumen hinweg. Es kam gerade in einen kleinen Wald und fand eine geschützte Lichtung. Vögel gaben ihre Lieder zum Besten und ein Kaninchen huschte in das nächste Gebüsch. Der kleine Lichtpunkt hielt mitten auf der Lichtung in seiner Bahn inne, verharrte nur wenige Meter über dem Boden. Plötzlich erstrahlte er und wurde größer. Ein Umriss schälte sich langsam heraus. Dann verschwand das Licht und Hrist stand aufrecht auf der kleinen Lichtung des Waldes. Ihr Blick glitt aufmerksam über die Bäume und Büsche, als suchten sie nach etwas Bestimmtem. Ein Vogel flog über ihren Kopf hinweg. Die Walküre folgte dem kleinen Spatz mit ihren Augen, bis er in einer dichten Baumkrone verschwunden war. Erneut suchte sie die Lichtung nach einem Hinweis ab.
Sie hatte mit ihrer Suche an dem Ort begonnen, an dem sie sich das letzte Mal gegenüber gestanden hatten. Doch in den Ruinen des Anwesens war niemand mehr gewesen. Hrist hatte auch nicht geglaubt, dass Orun dort bleiben würde, aber es war ein guter Ausgangspunkt für ihre Suche gewesen. Ab und an konnte sie ganz schwach die Präsenz der verbannten Walküre wahrnehmen. Hrist vermutete, dass Orun sich die meiste Zeit in den Körper des Menschen zurückzog, um ihre Präsenz zu unterdrücken. Jedes Mal, wenn die oberste Schildjungfer Orun jedoch spüren konnte, musste sie sich wieder gezeigt haben. Erst vor ein paar Tagen war die Präsenz von Orun besonders stark gewesen. Die verbannte Walküre musste sehr aufgebracht gewesen sein, dass sie sich hatte so gehen lassen und es riskiert hatte entdeckt zu werden.
Nun stand sie hier auf dieser Lichtung und suchte nach etwas, das ihr den jetzigen Aufenthaltsort der Walküre sagen konnte. Hierher hatte sie ihr Gefühl geleitet. Ihr Gefühl und die Hilfe ihrer Einherjer, die sie auf verschiedenste Weise unterstützten.
Hrist sandte einen Funken ihrer Magie über die Lichtung und tastete damit die diese ab. Eine geschützte Stelle in der Nähe ihrer eigenen Position erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie wandte sich dieser zu und ging in die Hocke. Ihre Hand glitt über das Gras. Hier hatte ein Lagerfeuer gebrannt. Ihre Sinne wurden schärfer. Hier hatte Orun gelagert! Aber nicht allein. Eine weitere Person war an ihrer Seite, doch das störte die Schildjungfer nicht. Sie würde Orun finden.
Hrist legte eine Hand auf ihre Brust und suchte nach den Einherjer in ihrer Seele. Dann ließ sie diese frei. Vier Lichter sprangen aus ihr heraus und nur wenige Augenblicke später standen sie vor ihr. Lando stellte sich sogleich dicht neben die Walküre und blickte fragend auf sie herab. Hrist erhob sich und lehnte sich an den muskulösen Einherjer. Dann glitt ihr Blick zu den anderen drei.
„Sie war hier.“ Hrist deutete auf die Stelle vor ihren Füßen, wo Orun ihr Nachtlager aufgeschlagen hatte. Die Einherjer richteten sofort ihre ganze Aufmerksamkeit darauf. Ragin pustete sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und ging in die Hocke. Beinahe zärtlich strich er über den Boden und musterte diesen genau.
„Kannst du etwas erkennen?“, wollte die Schildjungfer wissen. Ragin war ein guter Fährtenleser, deswegen hatte sie ihn ausgewählt. Er erkannte Vieles, was anderen verborgen blieb. Der Einherjer nickte und erhob sich wieder.
„Es ist nicht allzu lange her, dass hier gerastet wurde. Sie sind in diese Richtung weiter gewandert.“ Der Einherjer deutete in eine Richtung. Alle anderen folgten seiner Geste. Baldwin, ein Einherjer, der bereits seit über dreihundert Jahren in Walhall weilte, runzelte die Stirn.
„In dieser Richtung liegt das Gebirge“, sagte er leise und nachdenklich. „Es ist schwierig zu durchqueren. Eigentlich kann ich nicht glauben, dass sie wirklich dort sind.“
„Es ist ein Versuch wert. Einen besseren Hinweis haben wir nicht“, gab Lando zu bedenken. Hrist nickte und ließ die Einherjer wieder in ihrem Inneren verschwinden. Sie könnten auch zu Fuß weitergehen, aber auf ihre eigene Art und Weise ging es wesentlich schneller. Sie durften keine Zeit verlieren. Je eher sie Orun fanden, desto eher konnten sie zurück. Und schon huschte der Lichtpunkt weiter über die Landschaft und folgte dem verlassenen Weg, der sich dem Gebirge entgegen schlängelte. Die Ebene glitt unter ihm hinweg und schon bald hatten sie den kleinen Wald weit hinter sich zurückgelassen und die Berge am Horizont rückten immer näher.
Hrist legte keine Pause ein. Das brauchte sie nicht, wenn sie in dieser Form unterwegs war. So kam sie bereits einen Tag später bei den Ausläufen des Gebirges an. In einem lockeren Kreis standen die fünf beieinander und überlegten, wie sie weiter vorgehen sollten.
Der Himmel verdunkelte sich, düstere Gewitterwolken zogen auf. Hrist blickte in den schwarzen Himmel hinauf und runzelte die Stirn. Thor schickte ihnen ein Gewitter. Vielleicht würde dies ihnen helfen. Zwei Menschen konnten unmöglich bei einem Unwetter durch das Gebirge ziehen. Sie würden sich mit Sicherheit einen Unterschlupf suchen und abwarten, bis es wieder aufklarte.
„Das Unwetter könnte von Vorteil für uns sein“, sprach Telar ihren Gedanken aus und strich sich durch sein dunkles Haar. Baldwin stimmte ihm zu. Da erschall plötzlich ein Krächzen und die fünf drehten sich dem Geräusch entgegen. Ein großer Rabe saß auf einem flachen Felsen.
„Hugin, hast du etwas entdeckt?“, wollte Hrist von Odins Raben wissen. Es war eine gute Idee des Göttervaters gewesen, dass er ihnen den Raben zur Verfügung gestellt hatte. Hugin war klug und schnell. Er konnte dicht über Städte hinwegfliegen und Informationen aufschnappen, an die Hrist und ihre Einherjer nicht kommen konnten.
„Sie suchen einen Unterschlupf. Der Wind in den Bergen ist bereits stärker und der junge Mann weiß, dass es gefährlich werden kann. Ich habe mich umgesehen und nicht weit von ihnen entfernt ist eine Höhle. Vermutlich werden die beiden Menschen sie auch entdecken und dort unterkommen“, erzählte Hugin ihnen mit krächzender Stimme.
„Hab Dank, Hugin“, sagte Hrist und lächelte. Das war eine wirklich gute Neuigkeit. Wenn Hugin nun wusste, wo sie unterkamen, war es ein Leichtes sie aufzuspüren. Bald würden sie sich also erneut gegenüberstehen, aber dieses Mal würde ihr Aufeinandertreffen anders ausgehen. Hrist würde nicht erfolglos nach Asgard zurückkehren. Sie tauschte einen entschlossenen Blick mit Lando, der kaum merklich nickte.
„Wir sollten die Menschen erst diese Höhle erreichen lassen und warten, bis sie schlafen. Dann können sie uns nicht mehr entwischen“, schlug Telar vor.
„Ja, so machen wir es“, entschied Hrist. Die Einherjer ließen sich auf unterschiedlichen Steinen nieder und warteten, bis es wieder weiter ging. Plötzlich ertönte ein zweites Krächzen. Heller als das vorige. Die silberhaarige Walküre hob den Kopf und entdeckte einen zweiten Raben, der sich nun anmutig neben dem ersten niederließ. Die Walküre blinzelte überrascht. „Munin?“
Der Rabe krächzte und schüttelte sein Gefieder. Dann sah er sie aus seinen schwarzen Augen an. „Meister Odin schickt mich. Er hat eine Nachricht für dich.“
Sofort wurde die kleine Gruppe hellhörig. Es war selten, dass Odin einen der Raben darum bat, einen Botengang bis nach Midgard zu machen.
„Wie lautet sie?“, erkundigte sich Hrist und stellte sich vor die beiden Rabenbrüder.
„Er sagt, du sollst auf der Hut sein. Jemand mischt sich in die Geschichte ein und verbirgt die verräterische Walküre vor den Blicken der Götter und vor seinem Seherauge.“
Die Walküre sog scharf die Luft ein. Sie wusste, was dies bedeutete. Jemand sehr mächtiges mischte sich in das Geschehen ein. Nur jemand göttlicher Abstammung war zu einer solchen Tat in der Lage. Aber wer sollte ein Interesse daran haben, einer verbannten Walküre zu helfen? Hrist umfasste nachdenklich ihr Kinn und begann hin und her zu laufen. Lando folgte ihr mit seinem Blick. Auch die anderen Einherjer schienen beunruhigt und unterhielten sich leise. Wer sollte so etwas tun? Wer konnte Orun helfen wollen?
„Ich danke dir, Munin“, wandte sich die oberste Schildjungfer schließlich wieder an den Raben und streichelte ihm sanft über das seidige Gefieder. Munin genoss diese Liebkosung und legte seinen Kopf schräg. Hrist trat wieder einen Schritt zurück und musterte ihn mit neuem Ernst im Blick. Der Rabe sah sie neugierig an. Dann sagte die Walküre schließlich: „Richte Odin aus, dass wir ihr auf der Spur sind. Sie werden vor dem Gewitter einen Unterschlupf suchen. Hugin hat sie gefunden.“
Munin schlug mit den Flügeln und krächzte. Er zwickte seinem Bruder zum Abschied spielerisch in den Flügel und flog davon. Hrist sah ihm nach, bis sie ihn nicht mehr ausmachen konnte und die schwarzen Wolken ihn zu verschlucken schienen. Kurze Zeit später machte auch Hugin sich wieder auf den Weg, um nach den beiden Menschen zu sehen. Die Walküre bedachte ihre Einherjer mit einem entschlossenen Blick. „Haltet euch bereit!“




Kraftwelle




Hrist lief tief in Gedanken auf und ab. Der Sturm nahm zu und dennoch hinderte dies Telar und Baldwin nicht daran, einen kleinen Übungskampf zu machen. Ragin hingegen saß stillschweigend gegen einen Felsen gelehnt und blickte in den dunklen Himmel hinauf. Die silberblauen Haare der Walküre wehten umher und verdeckten immer wieder ihr Gesicht. Plötzlich wurde sie an den Schultern gepackt und umgedreht. Für einen Moment sah sie in Landos braune Augen, dann fand sie sich in seinen starken Armen wieder. Hrist seufzte wohlig und schmiegte sich an ihn. Der Einherjer strich ihr sanft über ihr glattes Haar und murmelte: „Wir werden es schaffen, Hrist.“
Die Walküre lächelte leicht. Scheinbar wusste er immer, was ihr Sorgen bereitete. Aber diese war doch berechtigt, oder? Das letzte Mal war sie gescheitert. Orun hatte fliehen können. Und deswegen war sie nun auf ihrer Spur. Was hatte die verbannte Walküre nur vor? Hrist seufzte, was Lando aufhorchen ließ. „Hrist“, begann er und wusste nicht, wie er fortfahren sollte. Die oberste Schildjungfer blickte zu ihm auf und lächelte.
„Ist schon gut, Lando. Es ist nichts. Ich mache mir nur ein paar Sorgen.“
„Du machst dir immer Sorgen. Es wird schon alles gut werden.“
„Ich hoffe es“, flüsterte Hrist und lehnte ihren Kopf erneut an die Schulter des Einherjer. Es donnerte und blitzte, der Wind nahm zu und schließlich begann es zu regnen. Hrist und die Einherjer störten sich nicht daran.
Die Walküre löste sich aus Landos Umarmung, drehte sich zu den hohen Bergen und hielt Ausschau nach Hugin. Mittlerweile hatten die beiden Menschen mit Sicherheit die Höhle erreicht und dort ihr Lager aufgeschlagen. Ob sie bereits schliefen? Lando legte der Walküre einen Arm um die Schultern und folgte ihrem Blick. Schweigend standen sie nebeneinander. Es gab nichts zu sagen.
„Da kommt er“, sagte Hrist plötzlich und trat einen Schritt vor. Der Arm ihres Einherjer glitt von ihrer Schulter. Telar und Baldwin unterbrachen ihren kleinen Kampf und gesellten sich wieder zu den anderen.
Odins Rabe kam rasch näher und landete auf einem Felsen. Als ein Rabe eines Gottes hatte er keine Probleme damit bei solch einem Gewitter zu fliegen. Jedoch konnte er den Regen nicht ausstehen. Er schüttelte sich. Dann blickte er Hrist in die Augen, die ihn fragend musterte. „Sie sind in der Höhle untergekommen“, informierte er sie. Die Walküre nickte.
„Wir sollten aufbrechen“, meinte Ragin, während er sich erhob. Alle nickten einstimmig.
„Wir gehen zu Fuß. Ich will nicht, dass Orun möglicherweise spürt, dass wir kommen und bereits so nah sind“, entschied Hrist und blickte die Einherjer nacheinander eindringlich an. Niemand hatte etwas dagegen. Und selbst wenn dem so gewesen wäre, hätten sie nichts gegen die Walküre ausrichten können. Wenn es ihr Wille war, hatten sie zu folgen. Diese nickte nun noch einmal, um sich selbst Mut zuzusprechen, und ging dann los. Die vier Einherjer folgten ihr und Hugin erhob sich in die Lüfte.

Sie alle waren durchnässt und ihnen war kalt. Aber die Reisegruppe war zäh und ausdauernd. Der Pfad stieg mittlerweile stark an. Der Wind pfiff ihnen um die Ohren. Nur durch die gelegentlichen Blitze wurde die Umgebung erhellt.
Hrist stemmte sich gegen den starken Wind und kletterte über einen Stein, der im Weg stand. Lando vor ihr drehte sich um und half ihr. Und auch als sie wieder auf dem Pfad stand, ließ er ihre Hand nicht los. Die Walküre klammerte sich an ihn und lief dicht hinter ihm, um der Wucht des Windes etwas zu entgehen. Trotzdem zerrte dieser mit unvorstellbarer Kraft an ihren Kleidern. Ein Donnerschlag hallte ohrenbetäubend in den Ohren der Gefährten wider.
Ein Ruck ging durch den Körper der Walküre und sie blieb wie angewurzelt stehen. Da Lando immer noch ihre Hand hielt, wurde er zurückgezogen und kam ebenfalls zum Stehen. Mit sorgenvollem Blick drehte er sich zu Hrist um und musterte sie. Selbst in dieser Dunkelheit konnte er erkennen, wie blass sie plötzlich war.
Die Augen der Walküre weiteten sich. Es war wie ein elektrischer Schlag, der durch ihren Körper zog. Sie schien zu brennen. Die Kraftwelle, die sie durchströmte, ging nicht von ihr aus. Orun, schoss es Hrist durch den Kopf. Die verbannte Walküre war wütend. Sie konnte es ganz deutlich spüren. Und sie war nah. So nah. Aber was hatte sie derart in Rage versetzt, dass sie ihre Tarnung vergaß? Ihre Aura pulsierte wie ein Leuchtfeuer durch die Nacht.
„Hrist? Hrist, verdammt, sag doch etwas!“ Erst jetzt drang die Stimme von Lando zu ihr durch. Sie blinzelte. Wie lange hatte sie reglos im Regen verharrt? Die Einherjer hatten einen Kreis um sie gebildet und musterten sie besorgt. Sie schüttelte ihre Benommenheit ab. Ihr Blick wurde entschlossen und kämpferisch.
„Orun hat sich gezeigt. Ich spüre sie. Sie ist ganz in der Nähe“, schrie Hrist über den Sturm hinweg, um sich verständlich zu machen. Überraschung huschte über die Gesichter der Männer, die jedoch gleich durch tiefe Entschlossenheit verdrängt wurde. Hrist machte sich aus dem stützenden Griff von Lando los und sprintete den Weg weiter, dicht gefolgt von den Einherjer. Jeden Moment würden sie endlich auf die verstoßene Walküre treffen. Orun war gleich um die nächste Ecke. Hrist konnte es spüren. Sie schoss um die Ecke und erstarrte. Die anderen liefen beinahe in sie hinein und kamen erst im letzten Moment zum Stehen. Verwirrt tauschten sie Blicke aus, bevor sie die Walküre ansahen.
„Was ist?“, wollte Telar wissen. Unruhe war aus seiner Stimme zu hören. Doch nicht nur er war beunruhigt. Was war geschehen? Warum konnte sie Orun nicht länger spüren? „Ihre Aura ist weg“, murmelte Hrist. Die Einherjer sahen sie verständnislos an. Sie wiederholte es lauter.
„Wie kann das sein?“, erkundigte sich Baldwin. Die Walküre schüttelte ratlos den Kopf. Vielleicht hatte sich Orun wieder zurückgezogen. Dennoch wusste sie, wo die verbannte Walküre zu finden war. Das Leuchtfeuer ihrer Kraft war zu stark gewesen, um dies nicht in Erfahrung zu bringen.
„Ich weiß trotzdem, wo sie zu finden ist“, schrie die oberste Schildjungfer über den Sturm hinweg. Die Einherjer nickten und folgten ihrer Anführerin, als diese sich wieder in Bewegung setzte. Hrist beschleunigte ihre Schritte. Sie entdeckte Odins Raben, der dicht an der Felswand gelandet war und ihnen nun den Blick zuwandte. Die Walküre deutete auf einen Fleck hinter Hugin. Dort vorne war es. Dort versteckte sich Orun.
Schlitternd bremste sie ab und entdeckte den schmalen Höhleneingang. Sie tauschte einen Blick mit ihren Einherjer, die einstimmig nickten. In ein und derselben Bewegung zogen die fünf ihre Schwerter. Dann betraten sie die Höhle.





Weltentor




Der Sturm tobte immer noch vor der Höhle, auch wenn er bereits etwas nachgelassen hatte. Trotzdem wäre es Irrsinn, jetzt nach draußen zu gehen. Zudem schlief Thyri immer noch. Richards Blick kehrte zu der Schlafenden zurück. Sein Blick wurde nachdenklich und er legte sein Kinn in die Hand. Was war nur mit Thyri los gewesen? Das war nicht sie selbst gewesen. Nein … Aber wer war es dann gewesen? Warum hatte sie auf einmal rote Augen gehabt? Die Fragen schwirrten ziellos in seinem Kopf umher. Er fand keine Antwort. Auf keine der unzähligen Fragen. Wo war er da nur hineingeraten? Er hatte doch nur bei Thyri sein wollen, hatte sie beschützen wollen. Und nun musste er sich mit etwas auseinandersetzen, das sein Verständnis überstieg. Verwirrung war das vorherrschende Gefühl, welches sich seiner bemächtigt hatte.
Der junge Mann seufzte und dachte nicht länger über seine Fragen nach. Zumindest versuchte er es, doch einer dieser Gedanken schaffte es immer wieder seine Mauer zu durchbrechen, sodass er sich erneut den Kopf darüber zerbrach, bis er es wieder schaffte, diese aus seinem Kopf zu verbannen. Er legte das letzte Feuerholz nach, das sie bereits vor dem Unwetter gesammelt hatten, um das Feuer wieder höher lodern zu lassen. In nächster Zeit würden sie wohl ohne ein Feuer auskommen müssen.
Bevor es ihm richtig bewusst wurde, was er im Begriff war zu tun, hatte Richard sich auch schon erhoben und sich dicht zu der schlafenden, jungen Frau gesetzt. Liebevoll strich er ihr über die Haare. Seine Finger glitten weiter hinab und fuhren ihre Wangenknochen entlang, hinunter zu ihrem Schlüsselbein und wieder hinauf. Ein warmes Kribbeln breitete sich in ihm aus, sein Herzschlag beschleunigte sich leicht. Was war nur an dieser Frau, das ihn so in ihren Bann zog?
Thyris Lider flatterten und Richard hielt inne in dem, was er tat. Seine Hand erstarrte an ihrer Wange. Dann öffneten sich ihre Augen. Ihr Blick glitt suchend umher und dann hatte sie ihn entdeckt. Er starrte direkt in ihre braunen Rehaugen. Eine leichte Röte färbte plötzlich ihre Wangen. Trotzdem wandte sie ihren Blick nicht ab. Richard schluckte und blieb für einen winzigen Moment noch reglos sitzen, dann zog er so schnell seine Hand zurück, als hätte er sich soeben verbrannt. Verlegen wandte er den Blick ab und starrte auf seine Hände.
„Richard?“
Der Angesprochene hob sofort den Blick und versank förmlich in ihren Augen. Ein kleines, zärtliches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Langsam streckte er eine Hand aus und strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich in ihr Gesicht verirrt hatte.
„Wie geht es dir?“, erkundigte er sich mit leiser Stimme. Fürsorglich und besorgt musterte er ihr Gesicht, als könnte er aus ihm lesen. Aber es schien nichts von den Geheimnissen preiszugeben, die sich hinter diesen Augen verbargen.
„Es tut mir leid“, murmelte Thyri. Eine Träne lief ihre Wange hinab. Richard sah sie erschrocken an. Als sie dabei war sich aufzusetzen, wollte er sie erst zurück auf die Decken drücken, doch dann half er ihr.
„Thyri …“, begann er und stockte. Was sollte er sagen? Sollte er sie direkt auf diesen … Vorfall ansprechen? Sollte er es vorsichtig angehen? Plötzlich warf sich Thyri jedoch an seine Brust und schluchzte hemmungslos. Für ein paar Sekunden blieb Richard wie erstarrt und völlig perplex sitzen, dann hatte er sich wieder gefasst und legte die Arme um sie. Sanft strich er über ihre Haare und drückte sie fest an seine Brust. Ihre Tränen benetzten sein Hemd, aber es störte ihn nicht. Er wollte nur wissen, warum sie weinte. Er wollte sie trösten, wollte sie lächeln sehen. „Sch, Thyri, ruhig. Es ist ja alles gut“, murmelte Richard und legte seine Wange auf ihr Haar.
„Es tut mir so leid“, wiederholte Thyri immer und immer wieder zwischen ihren Schluchzern. Es war schwer, sie richtig zu verstehen, doch Richard schaffte es. Aber warum sollte sie sich entschuldigen? Es sei denn … Wusste sie, was geschehen war? Hatte sie alles mitbekommen?
„Thyri“, hob er erneut an, doch sie unterbrach ihn. Erst schniefte sie und versuchte noch einen Moment, sich zu fassen, was ihr auch halbwegs gelang, dann sah sie ihn an.
„Ich wollte nicht, dass … dass das p-passiert.“ Ihre Schultern bebten unter weiteren Schluchzern. Richard hob beide Hände an und wischte ihr die Tränen weg. Als er sie nun beruhigend ansah, lag so viel Liebe und Sorge in seinem Blick, wie Thyri es noch nie gesehen hatte. Sie wollte es ihm sagen. Sie wollte ihm alles sagen. Er hatte es verdient. Und sie wollte ihn nicht verlieren. Sie hätte nie gedacht, dass Orun so weit gehen würde. Und nun, da die Walküre tief in ihr zu ruhen schien, musste sie die Chance einfach ergreifen und es Richard erzählen. „D-das von … von vorher … also … das …“, schluchzte Thyri und stockte wieder.
„Ist schon gut, Thyri. Hör auf zu weinen, bitte.“
Thyri versuchte sich an einem Lächeln, welches ihn beruhigen sollte, doch es wollte ihr nicht so richtig gelingen. Sie hob ihre Hand und streichelte über seine raue Wange. Sie atmete tief durch und sagte: „Ich wollte nicht, dass sie das tut.“
Richard sah sie verständnislos an. Seine Augen verengten sich leicht, als er versuchte, einen Sinn hinter ihrer Aussage zu finden. Bevor er nachhaken konnte, fuhr Thyri bereits fort: „Orun kann … sehr aufbrausend sein. Aber du musst mir glauben! Ich wollte das nicht. Ich wollte dir nie wehtun. In keiner Weise. Ich wollte …“
„Thyri, ich kann dir nicht ganz folgen“, unterbrach Richard sie zärtlich. „Wer ist Orun?“
Die junge Frau seufzte und lehnte sich gegen ihn. Unwillkürlich schlang er sofort seine Arme um sie. „Du wirst es sicher nicht verstehen, oder nicht glauben“, flüsterte sie kaum hörbar.
„Du kannst es ja versuchen“, ermunterte Richard sie und begann, ihren Rücken zu streicheln. Thyri atmete noch einmal tief durch, drückte sich etwas enger gegen seine Brust.
„Orun ist … eine Walküre. Na ja, die Seele einer Walküre. Sie wurde verbannt in einen menschlichen Körper, also mich.“ Thyri hielt inne und sah auf. Richard sah sie nicht an. Sein Blick war konzentriert, seine Miene ernst, aber er sah sie nicht an. Sie seufzte. Er glaubte ihr nicht. Seine Hand hatte aufgehört sie zu streicheln. Nun begann sie von vorne.
„Also lebt … noch eine andere Seele

in deinem Körper, die auch die … die Kontrolle übernehmen kann?“
Thyri erschrak beinahe, als er die Stimme erhob. Er sah sie immer noch nicht an. Ihr Puls beschleunigte sich etwas vor Aufregung. „Du glaubst mir?“, fragte sie und konnte die Aufregung nicht aus ihrer Stimme bannen.
„Ich versuche es, Thyri. Aber … es ist nicht einfach und …“ Richard hielt inne und hob den Kopf. Thyri sah ihn fragend an, doch er ignorierte sie für den Moment. Seine Stirn war gerunzelt und er schien angestrengt auf etwas zu lauschen. Er erhob sich und zog Thyri mit sich hoch. Verwirrt blinzelte sie und folgte seinem Blick, der Richtung Höhleneingang gerichtet war.
„Was ist?“, fragte sie mit einer leisen Spur Angst in ihrer Stimme. Richard schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte er es sich nur eingebildet. Mit einem beruhigenden Lächeln wandte er sich an die Frau an seiner Seite.
„Nichts. Ich dachte …“ Richard wurde abrupt unterbrochen, als plötzlich nacheinander fünf Personen in der Höhle erschienen. Alle hatten sie gezogene Schwerter, ihre Blicke wirkten ernst. Sie waren in leichte Rüstungen gekleidet. Eine Frau war unter ihnen. Es dauerte nur eine weitere Sekunde, bis Richard reagierte. Er zog Thyri hinter seinen Rücken und zog noch in derselben Bewegung sein Schwert.
„Wer seid ihr?“, verlangte Richard zu wissen. Seine Stimme war hart, befehlend, entschlossen. Thyri spähte an ihm vorbei und schluckte. Vier Männer zeigten mit den Schwertspitzen auf sie, eine Frau mit silberblauen Haaren stand in ihrer Mitte. Ihr Blick war entschlossen, streng.
„Es ist nicht wichtig, wer wir sind. Wir wollen ein Blutvergießen vermeiden. Wir sind nur wegen der Walküre Orun hier“, sagte die Frau und trat bedrohlich einen Schritt vor. Thyri erstarrte und auch Richard schien sich zu versteifen. Dann ging ohne Vorwarnung ein Ruck durch die junge Frau. Sie schloss ihre Augen und als sie diese dann wieder öffnete, flammten sie rot auf.
„Ihr werdet mich niemals bekommen. Nicht, bevor Odin bezahlt hat“, schrie Orun ihrer ehemaligen Schwester entgegen.
„Orun, du wirst nach Walhall zurückgerufen, auf dass du erneut verurteilt wirst“, ließ Hrist sie wissen. Die verbannte Walküre knurrte und zog zwei Dolche, stellte sich kampfbereit neben Richard. Dieser ignorierte diesen plötzlichen Wechsel. Es war wichtig, dass sie hier lebend rauskamen. Er musste Thyri beschützen.
Dann geschah plötzlich alles ganz schnell. Die kleine Gruppe um die oberste Walküre rannte direkt auf sie zu. Richard hielt Thyri am Arm zurück. Nein, nicht Thyri, sondern Orun, verbesserte er sich selbst in Gedanken. Sie mussten warten. Sie durften nicht vorschnell handeln. Dann waren sie da und Schwerter trafen aufeinander. In wenigen Augenblicken hatten die Fremden es geschafft, sie zu umzingeln. Richard und Orun standen Rücken an Rücken und warteten auf den nächsten Zug.
„Ich werde nicht zurück nach Walhall gehen, Hrist. Odin wird dafür büßen, dass er mir Artur genommen hat“, schrie die verbannte Walküre. Hektisch sah sie sich nach einem Fluchtweg um.
„Es gibt kein Entkommen“, sagte Hrist und kam näher. „Du hast einen Menschen nach Walhall gebracht, der nicht den Kuss der Walküren empfangen hat. Du weißt, dass keine Lebenden diese Gefilde betreten dürfen, Orun. Empfange deine gerechte Strafe!“ Die oberste Walküre holte mit ihrem Schwert aus und wollte die letzte Distanz zwischen ihnen überwinden, als sie und ihre Einherjer plötzlich zurückgeschleudert wurden und hart gegen die Felswand krachten.
Orun und Richard tauschten einen schnellen Blick und wichen zurück. Was war eben passiert? Da flimmerte es auf einmal in der Luft und im nächsten Moment erschien eine Frau vor den zweien. Die eine Hälfte ihres Körpers war alt, verschrumpelt, leblos, während die andere vor Leben zu strotzen schien. Richard wich mit aufgerissenen Augen erschrocken zurück. Dieses Mal war es Orun, die ihn fest am Arm packte und ihn zurückhielt. Richards Blick war steif auf die erschienene Frau geheftet.
„Hel“, sagte die verbannte Walküre nur und nickte. Sie warf einen Blick auf ihre Feinde, die sich langsam wieder aufrappelten.
„Ihr müsst verschwinden“, begann die Göttin der Unterwelt mit rauer Stimme. Orun nickte nur wieder. Richard blickte immer noch völlig überfordert zwischen den beiden hin und her. Was ging hier nur vor? „Ein starker Energiestrom fließt durch diese Höhle. Es ist mir möglich, ein Weltentor zu öffnen. Aber nur für kurze Zeit. Deine Rache ist nah, Orun. Eilt euch!“ Damit streckte Hel ihren gesunden Arm aus und deutete auf die Felswand hinter Richard und Orun.
Die verbannte Walküre konnte die Macht fühlen, die sich hier plötzlich sammelte, und auch Richard spürte etwas. Langsam breitete sich ein heller Lichterkreis an der Wand aus. Immer größer wurde er, bis er schließlich aufhörte zu wachsen.
„Eilt euch!“, wiederholte die Göttin der Unterwelt. Hrist und ihre Einherjer kamen bereits schwankend zum Stehen. Orun nickte und zog Richard hinter sich her, direkt auf den seltsamen Lichterkreis zu. Seine Ränder flimmerten und in seiner Mitte war ein unklares Bild zu sehen. Es war schwer zu erkennen.
„Was …“, setzte Richard an.
„Sei still und komm mit, wenn du am Leben bleiben willst!“, zischte Orun und zog ihn weiter. Kurz bevor sie durch das Tor trat, warf sie einen Blick zurück. Hel war verschwunden und Hrist stürmte auf sie zu.
„Orun!“, schrie die oberste Schildjungfer wütend. Die verbannte Walküre schenkte ihr ein grausames Lächeln, dann trat sie gemeinsam mit Richard durch das Weltentor.





Schrecklicher Verdacht




Hrist schrie ihren Zorn hinaus und trat mit Wucht gegen die Felswand. Sie scherte sich nicht um den Schmerz, der daraufhin durch ihren Knöchel zog. Wütend lief sie auf und ab, wie eine gefangene Wölfin. Ihre Augen wurden dunkel vor Zorn. Blitze schienen in ihnen zu toben. Unbewusst hatte sie die Hände zu Fäusten geballt.
Die Einherjer standen etwas abseits und beobachteten die Schildjungfer bei ihrer ruhelosen Wanderung entlang der Felswand, wo wenige Minuten zuvor noch das Weltentor gewesen war. Sie konnten den Zorn, den die Walküre verströmte, beinahe am eigenen Leib spüren. Als würden verzehrende Flammen in Stoßwellen von ihr ausgehen und die Haut der Männer verbrennen. Lando trat einen Schritt nach vorne, als er plötzlich am Arm gepackt wurde. Er sah zurück und blickte direkt in die Augen von Ragin. Sein Gesicht schien hochkonzentriert, seine Stirn war gerunzelt und immer wieder huschte sein Blick zu Hrist hinüber.
„Vielleicht sollten wir sie eine Weile in Ruhe lassen. Es ist jetzt schon das zweite Mal, dass Orun ihr entkommen ist“, sagte Ragin leise und eindringlich. Besorgnis war aus seiner Stimme zu hören.
Lando seufzte und sah zu seiner geliebten Walküre, bevor er sich wieder dem anderen Einherjer zuwandte. „Ich muss zu ihr. Gerade deswegen. Wir müssen Odin davon berichten“, erwiderte er genauso leise.
„Odin weiß sicher schon davon. Jetzt, da Hel sich offen gezeigt hat, hat er es sicher mit seinem Seherauge gesehen. Und Hugin ist bereits auf dem Weg zu ihm.“
Ein erneuter Seufzer entwich Lando. Beinahe behutsam befreite er sich aus Ragins Griff. Sein Freund schüttelte noch einmal warnend den Kopf. Hrist war wütend. Er konnte es spüren. Und er war sich absolut nicht sicher, wie sie reagieren würde. Auch wenn es Lando war. Hrist war aufgebracht. Sie alle waren wütend, dass Orun ihnen entwischt war, aber sie konnten nicht gegen eine Göttin ankommen. Doch die Walküre nahm das alles noch ernster. Es war schon das zweite Mal, dass Orun ihr entwischt war. Das zweite Mal, dass Hrist versagt hatte. Lando zögerte einen Moment, dann ging er auf die oberste Schildjungfer zu. Er musste es zumindest versuchen, sie zu beruhigen. Er ertrug es nicht, wenn er sie so sah.
„Hrist“, sagte er eindringlich. In seiner Stimme schwang so viel Zärtlichkeit und Liebe mit, sie konnte es unmöglich überhört haben. Dennoch schritt sie auch weiterhin mit wütenden Schritten auf und ab. Sie schien ihn und ihre Umgebung gar nicht mehr wahrzunehmen. Ihre Faust krachte gegen die Höhlenwand und sie kam zum Stehen. Wieder und wieder schlug sie auf die Stelle ein, wo das Weltentor erschienen war. Ein Wutschrei kam über ihre Lippen.
Lando trat vor und schlang seine Arme von hinten um sie. Sie wehrte sich, wand sich hin und her. Ihre Arme waren fest gegen ihren Körper gepresst. Sie trat nach ihm, doch der Einherjer ignorierte es. Er drückte sie noch enger gegen seinen Körper, hielt sie einfach nur fest. Und allmählich zeigte es Wirkung. Hrists Bewegungen erstarben, bis sie mit gesenktem Kopf dastand. Jegliche Spannung war aus ihrem Körper gewichen. Ihr Atem ging hektisch, aber nach und nach beruhigte auch dieser sich. Hrist schloss ihre Augen und lehnte sich gegen Lando. Sie versuchte, sich auf seine ruhige Atmung zu konzentrieren, auf die Ruhe, die er verströmte.
„Ich habe erneut versagt, Lando“, murmelte die Walküre nach einer Ewigkeit. Für einen kurzen Moment versteifte sich der Einherjer, bevor er den Kopf schüttelte.
„Das ist nicht wahr, Hrist.“
„Doch“, widersprach sie. Ihre Stimme zitterte leicht. Ein unangenehmer Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet und sie versuchte vergeblich, diesen hinunter zu schlucken. Sie schlug ihre Augen auf und drehte sich in den Armen ihres Einherjer um. Dann lehnte sie ihren Kopf gegen seine Brust. „Sie ist mir schon wieder entkommen. Odin wird erzürnt sein“, meinte Hrist leise und blickte zu ihm auf. In ihren Augen schimmerten Tränen.
Es zerriss Lando fast das Herz sie so zu sehen. Noch nie hatte er sie so aufgelöst gesehen. Hrist war immer die starke, entschlossene Anführerin gewesen. Sie hatte nie gezögert, immer alles Nötige getan und nie an sich gezweifelt. Aber jetzt? In ihren Augen lag Verzweiflung. Sie machte sich für das, was geschehen war, verantwortlich. Er konnte es in ihr lesen. Sie nahm die ganze Schuld auf sich, aus dem einen Grund, weil sie wirklich glaubte, dass es so war. Der Krieger schüttelte entschieden den Kopf und umfasste ihr Gesicht sanft mit seinen Händen. Mit dem Daumen wischte er die einzelne Träne weg, die sich aus ihrem Augenwinkel gestohlen hatte. Ihre Hände krallten sich in sein Hemd.
„Es ist nicht deine Schuld, Hrist“, sagte er eindringlich. „Du konntest nichts dagegen unternehmen. Nicht einmal du bist mächtig genug, um gegen eine Göttin anzukommen.“
„Ich hätte sie daran hindern müssen, durch das Weltentor zu gehen.“
„Das konntest du nicht, Liebste. Hel ist mächtig, vergiss das bitte nicht. Sie ist eine Göttin. Eine Göttin, die über ein ganzes Reich gebietet.“
„Aber …“, setzte Hrist an und wollte erneut widersprechen. Lando schüttelte wieder den Kopf und erstickte ihren Protest mit einem sanften Kuss. Er lehnte seine Stirn gegen ihre. Hrist nahm seinen Geruch in sich auf und erfreute sich an seiner Nähe.
„Du bist nicht gescheitert!“, sagte Lando langsam und betonte dabei jedes einzelne Wort. Er blickte ihr tief und eindringlich in ihre grau-blauen Augen. Die Walküre seufzte und lehnte sich erneut an ihn. Lando strich ihr liebevoll über ihr langes Haar und warf den anderen einen Blick zu. Diese atmeten erleichtert auf. Ihre Anführerin hatte sich beruhigt. Das war gut. Lando drückte seiner geliebten Walküre noch einen Kuss auf den Scheitel, bevor er sich zu den anderen Einherjer wandte und Hrist dabei mitzog. Als sie vor ihnen standen, hielt er immer noch ihre Hand.
„Was sollen wir jetzt machen?“, wollte Telar wissen. Bevor die Walküre jedoch antworten konnte, kamen Hugin und Munin in die Höhle geflogen und krächzten, um die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken. Die beiden Raben landeten auf einem kleinen Felsen und zogen die neugierigen Blicke der Gruppe auf sich.
„Odin kommt“, murmelte Hrist plötzlich. Sie entzog Lando ihre Hand und ging ein paar Schritte auf die beiden Rabenbrüder zu. Dann blieb sie stehen und wartete angespannt. Es war selten, dass sich Odin in Midgard zeigte. Und wenn er es tat, dann meistens nur in der Gestalt eines alten Mannes in einem langen Umhang und mit Wanderstab. In dieser Gestalt mischte er sich manchmal unter die Menschen, aber er kam nie wegen der Aufgabe einer Walküre nach Midgard.
„Baldur wird bei ihm sein“, informierte Munin sie. Hrists Augen weiteten sich. Warum sollte dieser hierher kommen? Er war der Gott der Gerechtigkeit. Ein Gott der Güte und Reinheit. Was also wollte er hier? Die Walküre kam nicht dazu, diese Frage einem der beiden Raben zu stellen, denn schon spürte sie die Präsenz der beiden Götter. Einem Wirbelwind gleich kamen sie näher und rauschten in Form von dichtem Nebel in die Höhle, bevor sie sich in ihrer wahren Gestalt zeigten. Hrist und ihre Einherjer knieten sofort mit gesenktem Kopf nieder. „Mein Gebieter“, grüßte die oberste Walküre Odin ehrerbietig.
„Erhebt euch, meine Freunde.“ Odins Stimme war ruhig und freundlich. Sie taten, wie ihnen geheißen. Hrist ging einen weiteren Schritt auf den Göttervater zu und senkte schuldbewusst den Kopf.
„Verzeiht mir, dass ich Euch enttäuscht habe. Ich habe sie wieder entkommen lassen.“
Lando wollte schon zu ihr eilen, doch Odin gebot ihm mit einer raschen Handbewegung Einhalt, sodass er blieb, wo er war. „Du hast mich nicht enttäuscht, Hrist. Hugin hat mir berichtet, was geschehen ist. Er hat euren kleinen Kampf aufmerksam beobachtet“, sagte Odin. Dann stand er plötzlich dicht vor der Walküre, packte vorsichtig ihr Kinn und hob es an, sodass sie gezwungen war ihn anzusehen. Hrist konnte keinen Vorwurf in seinen Augen sehen. Plötzlich durchströmte sie pure Erleichterung.
„Du hast nicht versagt, Hrist. Hel ist eingeschritten.“ Odin sah sie noch einen Moment an, dann ließ er ihr Kinn los und stellte sich vor die Wand, an der das Weltentor erschienen war. Baldur stellte sich neben ihn. Neben seinem Vater wirkte er noch zierlicher, als er ohnehin schon war. Seine bronzenen Haare hatte er zu einem Zopf zusammengebunden. Ein paar Augenblicke starrte auch er einfach nur die Höhlenwand an, dann legte sich der Blick seiner grünen Augen auf das Gesicht seines Vaters. Er musste zu ihm auf sehen.
„Hel hätte sich nicht einmischen dürfen, Vater. Sie hat die Machtlinie, die hier verläuft, angezapft, um das Weltentor zu öffnen“, sagte Baldur mit ruhiger Stimme. Selbst diese klang zierlich. Odin nickte.
Die Einherjer blieben schweigend stehen und beobachteten die beiden Götter, während sich Hrist zu den beiden gesellte. Sie strich mit einer Hand über den rauen Felsen. „Könnt Ihr erkennen, wohin das Weltentor führte?“, wollte sie wissen und wandte sich dabei mehr an Baldur. Ihr Blick traf den seinen.
Langsam nickte er. „Ich denke schon. Wenn du mir deine Kraft, Oruns Präsenz zu spüren, leihst. Du bist enger mit ihr verbunden als wir Götter.“
Die Walküre atmete tief durch und nickte. Baldur schien zufrieden. Er streckte seine Hand nach ihr aus, die Hrist auch sogleich ergriff. Dann wandte sich der Gott der Höhlenwand zu. Odin trat einen Schritt zurück. Bedächtig legte Baldur seine Handfläche auf die raue Felswand. Ein sanftes Licht ging plötzlich von ihm aus und Hrist konnte spüren, wie er auf ihre Kraft zurückgriff. Sie ließ es geschehen.
Nach einer Weile ließ er ihre Hand los und wandte sich stirnrunzelnd an seinen Vater: „Wenn ich das richtig erkannt habe, dann …“ Baldur stockte kurz, bevor er fortfuhr: „… führt das Weltentor direkt zu den Wurzeln von Yggdrasil.“
Absolute Stille herrschte nach diesem Satz. Hrist fühlte sich wie versteinert. Zu den Wurzeln des Weltenbaumes? Das konnte er nicht ernst meinen! Keinem Menschen und keiner Walküre war es gestattet, dorthin zu gehen.
„Was sollte Orun dort wollen?“, durchbrach Telar schließlich die Stille. Hrist wurde blass, als ihr eine Möglichkeit durch den Kopf schoss.
„Sie will sich rächen“, sagte sie leise und sah dabei Odin an. Dieser schien zu begreifen. Seine Augen weiteten sich.
„Ragnarök“, murmelte er. Eine eisige Hand schien plötzlich nach ihnen gegriffen zu haben. Das konnte Orun unmöglich vorhaben. Was sollte sie auch davon haben? Das konnte einfach nicht sein.





Ragnarök




Hrist und Kara standen in der riesigen Halle der Götter und beobachteten Odin dabei, wie dieser auf und ab ging. Baldur saß auf den Stufen und hatte nachdenklich sein Kinn in die Hand gestützt. Auch Thor war anwesend. Seine muskelbepackten Arme hatte er vor der Brust verschränkt und lehnte gegen eine der dicken Säulen.
Nachdem Odin seinen Verdacht in der Höhle ausgesprochen hatte, waren sie sofort zurückgekehrt. Nun da sie wussten, dass Orun Unterstützung von Hel bekam, nahm dieser Kampf andere Dimensionen an. Eine Göttin mischte sich in das Geschehen ein. Hel stellte sich gegen Odin, gegen seinen Willen. Odin würde sie dafür bestrafen. Das war jedem klar. Aber der Gedanke, dass Orun wirklich Ragnarök einleiten wollte, war zu abstrus. Das konnte sie unmöglich machen. Sie konnte nicht den Untergang einer Welt wollen. Oder doch? Die Welt der Menschen würde untergehen. Es würde erst alles zerstört werden, bevor sich aus dem Staub und den Trümmern eine neue Welt erheben würde. Es würden auch viele Götter sterben.
„Sag es mir noch einmal, Hrist“, verlangte der Göttervater. Er hielt in seinem Tun inne und sah die Walküre beinahe verzweifelt an. Hrist schluckte und tauschte einen unsicheren Blick mit Kara. Odin kannte die Vorhersagung. Sie konnte nicht verstehen, warum er sie immer und immer wieder hören wollte. Dennoch kam sie seinem Wunsch, der eher einem Befehl glich, nach. Sie räusperte sich. Auch Baldur und Thor sahen sie an, als wäre sie die Einzige, die den genauen Wortlaut kannte.

„Brüder kämpfen
und bringen sich Tod,
Brudersöhne
brechen die Sippe;
arg ist die Welt,
Ehbruch furchtbar,
Schwertzeit, Beilzeit,
Schilde bersten,
Windzeit, Wolfzeit
bis die Welt vergeht -
nicht einer will
des andern schonen.“



Die Walküre verstummte. Es waren düstere Aussichten. Die Verse erzählten von der Einleitung, wenn Ragnarök bevorstand. Kämpfe und wilde Stürme und andere Naturkatastrophen würden den Weltuntergang ankündigen. Die Herrschaft des Göttergeschlechts, wie sie es bisher kannten, würde enden und es würde sich eine neue Macht erheben, um eine neue Welt auf den Trümmern der alten aufzubauen.
„Thor!“ Odin wandte sich an seinen ältesten Sohn. Dieser stieß sich von der Säule ab und blickte seinem Vater entschlossen entgegen. Bereit alles zu tun, was auch immer Odin von ihm verlangen könnte. „Bring mir Loki. Ich will wissen, ob er etwas damit zu tun hat“, befahl der Allvater.
Der Donnergott nickte ruckartig und wollte sich schon auf den Weg machen, als er sich noch einmal umdrehte und fragte: „Was soll ich ihm sagen, wenn er nach dem Grund deines Rufes fragt?“
„Sag ihm, dass seine Tochter in Schwierigkeiten steckt.“
Thor nickte erneut und ging. Die Tür schien hinter ihm mit einem endgültigen Schlag zuzufallen. Hrist runzelte die Stirn. Sie war sich nicht sicher, ob Loki etwas damit zu tun hatte. Er war immerhin Odins Blutsbruder. Und er hatte ihnen schon so oft geholfen. Warum also sollte er den Weltuntergang wollen? Jedoch hatte Hel auch keinen wirklichen Grund dazu. Oder?
Mit einem tiefen Seufzer, der Hrist aus ihren Gedanken schrecken ließ, ließ sich Odin auf seinen Thron fallen. In einer müden Geste fuhr er sich durch sein graues Haar und stützte sein Kinn in die Hand. Sein Blick legte sich auf die beiden Walküren, doch er schien sie nicht zu sehen. Der Göttervater war tief in Gedanken.
Plötzlich ging ein Beben durch den Boden und ließ die Säulen erzittern. Odin hob den Kopf und sah sich alarmiert um. Hrist und Kara tauschten einen besorgten Blick.
„Ob es schon beginnt?“, fragte Baldur leise und erhob sich von den Stufen. Mit besorgtem Blick trat er zu seinem Vater. Dieser schüttelte den Kopf.
„Midgard ist noch ruhig“, sagte Odin, nachdem er durch sein Seherauge auf die Welt der Menschen geblickt hatte. Erneut ging ein Ruck durch den Boden. Dieses Mal jedoch nicht so stark wie der vorige.

„Yggdrasils Stamm
steht erzitternd,
es rauscht der Baumgreis;
der Riese kommt los.
Alles erbebt
in der Unterwelt,
bis der Bruder Surts
den Baum verschlingt.“



Ruckartig wandten sich die Blicke der obersten Walküre zu, die mit blassem Gesicht da stand. Hrist hob ihren Blick und sah Odin an.
„Wenn Yggdrasil zu welken oder zu beben beginnt, naht das Weltenende“, murmelte sie. Ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet. Sollte es so schnell gehen? Kara nahm in einer tröstenden Geste Hrists Hand in ihre. Aufmunternd drückte sie diese kurz. Ein Blick in die Augen der zweiten Walküre verriet Hrist, dass diese genauso besorgt war wie sie selbst. Als die beiden ihre Blicke wieder den zwei Göttern zuwandten, konnten sie sehen, wie Odin gerade Gebrauch von seinem Seherauge machte. Sein Blick wirkte glasig und er schien in weite Ferne zu starren. Dann wurde dieser plötzlich wieder klar.
Odin runzelte die Stirn. „Nidhöggr verstärkt seinen Griff um die Wurzeln des Weltenbaumes“, sagte der Gott.
„Vater“, begann Baldur und legte Odin seine zierliche Hand auf dessen Schulter. Die Blicke von Vater und Sohn trafen sich und sie schienen sich wortlos auszutauschen. Odin nickte und wandte seinen nun entschlossenen Blick Kara zu.
„Warne die Walküren und Einherjer. Bereite sie auf einen möglichen Kampf vor. Wir werden nicht zulassen, dass Ragnarök eingeleitet wird. Es ist noch nicht Zeit.“
Die Walküre nickte und rauschte in ihrem weißen Kleid davon. Hrist sah ihr nach, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
„Komm zu mir, Hrist. Ich möchte, dass du hier bist, wenn Thor mit Loki kommt“, sagte Odin und deutete auf die Stelle neben seinem Thron. Hrist nickte und stellte sich sogleich mit gestrecktem Rücken und neutralem Gesichtsausdruck auf Odins andere Seite. Die drei mussten nicht lange warten. Schon wurde die Tür geöffnet und ein wütender Loki kam mit ausgreifenden Schritten auf sie zu. Ihm folgte in einigem Abstand der Donnergott.
Hrist trat bedrohlich einen Schritt vor, um Loki zu verdeutlichen, dass sie nicht zögern würde Odin zu schützen. Der Blick des Feuergottes huschte zu der Walküre und sein Temperament schien sich etwas abzukühlen. Noch vor den Stufen blieb er stehen und richtete seinen dunklen Blick auf seinen Blutsbruder. Thor stellte sich in ein paar Metern Entfernung neben Loki.
„Sag mir, was du von mir willst, Odin!“, verlangte der Gott des Feuers zornig. Odin hob eine Augenbraue und sah kurz zu Thor. „Wenn du einen Verdacht hast, dann sag ihn mir ins Gesicht und such keine Ausreden, um mich hierher zu locken.“
„Was …“, setzte der Göttervater an, wurde sogleich aber von Loki unterbrochen.
„Ich kann zwischen den Zeilen lesen, Bruder. Schon vergessen? Man kann nichts vor mir verbergen. Hel steckt in Schwierigkeiten?“ Loki schnaubte. „Aber du hast den Verdacht, dass ich mit ihr unter einer Decke stecke. Habe ich nicht Recht?“
Odins Blick wurde ernst. Es war zwecklos dies nun zu leugnen. Er nickte. Hrist griff langsam nach ihrem Schwert. In Lokis Augen flackerte plötzlich ein gefährliches Feuer.





Brennende Leidenschaft




Ein Wirbelstrom aus Farben schien ihn umschlossen zu haben. Ein Strudel, der ihn immer weiter zu ziehen schien, immer weiter vorwärts. Im einen Moment schien er sich zu drehen, dann flog er wieder geradewegs einen langen, farbigen Tunnel entlang. Sein Blick glitt über die vielen Farben, und schien sich doch nirgends festzunageln.
Richard wusste nicht, wie lange er in diesem seltsamen Strudel gefangen war. An seiner Seite war Thyri, die immer noch seine Hand hielt. Oder war es doch Orun; die Walküre, die in Thyri gefangen war? Er war sich nicht sicher. Er konnte ihre Augen nicht ausmachen.
Die Begegnung mit der anderen Walküre, den Kriegern und schließlich der Göttin der Unterwelt hatten ihn in einen tauben Zustand versetzt. Er nahm alles und doch nichts wahr. Er sah die Farben, konnte aber dem allen keine Bedeutung zumessen. Richard hatte Hel sofort erkannt. Es gab genug Bilder der Göttin. Es gab genug Bilder von allen Göttern. Und natürlich viele Erzählungen und Geschichten. Aber er hätte es sich nie träumen lassen, dass er einmal einer Göttin gegenüberstehen würde. Und in Thyri sollte eine Walküre gefangen sein?
Richard schloss die Augen und wartete. Er wollte endlich aus diesem Wirbel heraus. Er wollte wissen, wo er landen würde. Und er wollte verdammt noch einmal wissen, wo er da hineingeraten war.
Trotzdem war der Gedanke, jetzt auszusteigen und Thyri allein zu lassen, immer noch abwegig. Er konnte sie nicht alleine lassen, und er wollte es auch gar nicht. Sie hatte sich unbemerkt in sein Herz geschlichen, und das seit ihrer ersten Begegnung.
Genau wie Thyri selbst hatte er eine arrangierte Heirat für nicht gut befunden, doch dann hatte er sie gesehen und der Gedanke, dass es zumindest eine Überlegung wert war, war in ihm aufgetaucht. Als das Haus dann plötzlich in Flammen gestanden hatte und er Thyri nicht finden konnte, hatte ihn für einen Moment die nackte Angst übermannt. Ziellos war er umhergeirrt, bis er dann irgendwann in dieser Stadt angekommen war. Und wie durch ein Wunder war er ihr dort wieder begegnet. Sie hatte überlebt. Sein Herz hatte einen freudigen Satz gemacht. Er hatte sich wohl noch nie so erleichtert gefühlt. Ab diesem Zeitpunkt war es ihm unmöglich gewesen sie alleine zu lassen. Richard wollte immer ihr Lächeln sehen, in ihre braunen Augen blicken. Und daran konnte auch eine gefangene Walküre nichts ändern. Er würde wahrscheinlich auch noch an Thyris Seite bleiben, wenn die Welt untergehen sollte.
Der junge Mann schlug die Augen auf, als er plötzlich merkte, dass sich etwas veränderte. Er schien langsamer zu werden und der Strom der Farben verblasste nach und nach. Als er seinen Blick hob und nach vorne blickte – zumindest glaubte er, dass es vorne war – sah er ein helles Licht.
Ob das nun das Ende war? Was würde geschehen, wenn sie dieses Licht erreicht hatten? Würden sie aufhören zu existieren?
Dann waren sie auch schon da und glitten durch das Licht hindurch. Richard kniff die Augen, aufgrund der plötzlichen Helligkeit, zu. Das Licht drang durch seine Lider, aber genauso schnell wie es gekommen war, genauso schnell war es dann auch wieder verschwunden. Als Richard dann zögernd die Augen öffnete, fand er sich liegend auf einer Wiese vor, am Fuße eines riesigen Baumes, dessen gewaltige Wurzeln teilweise auch aus dem Erdboden ragten. Die Sonne drang durch das dicke Blätterdach und wärmte sein Gesicht. Vorsichtig setzte er sich auf und blickte sich um. Wo war er hier nur?
Sein Blick glitt zu seiner Seite und er sah Thyri, die neben ihm lag. Mit einem leichten Lächeln beugte er sich über sie und strich ihr mit dem Handrücken über die Wange. Er konnte keine Verletzungen sehen und das stimmte ihn fröhlich. Allein schon die Tatsache, dass Thyri immer noch an seiner Seite war, ließ sein Herz höher schlagen.
Seine Finger glitten von ihrer Wange weiter über ihr seidiges Haar und wieder zurück bis hinunter zu ihrem Schlüsselbein. Ein leichtes Kribbeln hatte von ihm Besitz ergriffen und pumpte Adrenalin durch seine Adern. Sein Atem beschleunigte sich leicht. Er lehnte sich vor, war nur noch Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Wieso waren ihre Lippen plötzlich so verführerisch? Sollte er sie nicht lieber wecken und sich mit ihr darüber unterhalten, was gerade passiert war? Stattdessen dachte er gerade an nicht gerade anständige Sachen. Wäre er nicht so besessen von ihrem Anblick und davon sie zu berühren, hätte er sich wohl selbst in Gedanken zurechtgewiesen.
Seine Lippen rückten ein weiteres Stück näher. Er lag halb auf der schlafenden Frau. Oder war sie bewusstlos? Für einen winzigen Moment schrak er bei diesem Gedanken zurück, doch dann lehnte er sich wieder vor, während seine Finger zärtlich über ihre Wange strichen. Da flatterten plötzlich Thyris Lider und erneut machte sein Herz einen Satz. Dann schlug sie die Augen auf. Braune Rehaugen blickten ihn an. Ein Lächeln zierte auf einmal ihr Gesicht, welches Richard einfach erwidern musste. „Hallo“, hauchte er und kam erneut ein Stückchen näher.
„Wo sind wir?“, fragte Thyri leise, ohne den Blick von ihm zu nehmen.
„Ich weiß es nicht.“
Thyri kicherte leise und streckte die Hand nach seinem Gesicht aus. Ganz sacht legte sich ihre Hand an seine Wange. Richard schloss die Augen und genoss diese einfache Berührung, die unzählige Schauer über seinen Rücken jagten. Was war nur los mit ihm?
Bevor er eine Antwort auf diese Frage gefunden hatte, legte ihm Thyri die Arme um den Hals und zog ihn an sich. Ihre Lippen trafen sich. Hitze durchströmte sie beide mit einem Mal. Schon nach wenigen Minuten waren sie außer Atem und blickten sich mit fiebrigem Blick an. Richard war davon überzeugt, dass Thyri sein laut schlagendes Herz hören musste. Zärtlich fuhr sie durch sein Haar und drückte erneut ihre Lippen auf seine.
„Lass mich nicht los, Richard“, flüsterte sie auf einmal. Dieser sah sie einen Moment verwirrt an, dann wurde sein Blick weicher. Zärtlichkeit und Liebe lagen in seinen Augen und das Gleiche konnte er auch in ihren entdecken. Und plötzlich war die Erkenntnis da. Es stand so deutlich vor ihm, dass es ihn wunderte, dass er nicht früher darauf gekommen war. Wie hatte er so blind sein können?
Richard gab Thyri einen kurzen und sanften Kuss, dann beugte er sich zu ihrem Ohr hinunter und flüsterte: „Ich liebe dich.“
Er spürte den Ruck, der durch Thyri ging, ihr Atem beschleunigte sich. Ihre Lippen legten sich auf seine, doch dieses Mal schwang Verlangen in diesem Kuss mit. Heiße Schauder durchliefen Richards Körper. Er presste sich enger an die junge Frau, wollte so viel wie möglich von ihr berühren und sie einfach nur spüren und schmecken. Seine Küsse wanderten von Thyris Mundwinkel über ihre Wangen und hinunter zu ihrem Schlüsselbein. Thyri erschauerte.
„Ich liebe dich.“ Es war nur ein schwacher Hauch, doch Richard hörte sie, die drei Worte, die ihn zum glücklichsten Mann machten.
Seine Hand glitt unter ihr Hemd, während er sie weiter mit kleinen Schmetterlingsküssen liebkoste. Thyri wand sich unter ihm und versuchte, ihm noch näher zu kommen, indem sie sich ihm entgegenbog. Ein leises Stöhnen entwich ihr, welches Richard lächeln ließ. Erneut versiegelte sein Mund ihren mit einem langen und leidenschaftlichen Kuss.
Thyris Hände fuhren erst durch seine Haare und glitten dann hinunter, um ihm das Hemd über den Kopf zu ziehen. Richard richtete sich etwas auf und schon landete das Hemd neben den Wurzeln des Riesenbaumes. Er erschauerte, als ihre Hände zärtlich über seine Brust strichen und sie kleine Küsse darauf verteilte. Richard packte ihre Handgelenke und hielt sie über ihrem Kopf fest. Ihre Blicke trafen sich und er konnte den Hunger in ihren Augen erkennen. Den gleichen Hunger, der auch ihn befallen hatte.
Richard küsste sich an ihrem Hals hinunter, bis zum Ansatz ihrer Brüste, was Thyri einen lustvollen Seufzer entlockte. Rasch befreite er sie von ihrem Hemd und legte sich wieder auf sie. Sanft strich er ihr die Strähnen aus dem Gesicht. Ihr beider Atem kam stoßweise und beinahe hektisch. Richards Hand glitt an ihrer Seite hinunter, während er mit der anderen immer noch Thyris Handgelenke festhielt.
„Richard“, flehte sie eindringlich. Er musste lächeln, ließ sie aber nicht los. Seine Küsse zogen eine feurige Spur hinunter. Als er an ihrem Schlüsselbein angekommen war, ließ er endlich ihre Handgelenke los und küsste sich einen Weg weiter hinunter.
Thyris Körper erschauerte. Ein Verlangen stieg in ihr auf, welches sie so noch nie zuvor gespürt hatte. Ihre Hände strichen unbeirrt über Richards Schultern und seine muskulöse Brust, dann über seinen Rücken. Seine Finger berührten ihren Hosenbund. Ein Keuchen entwich über ihre Lippen. Wieder trafen sich ihre Blicke.
Thyri lächelte. Richard küsste sie hungrig und verlangend und ließ sie alles um sie herum vergessen. Es war nicht mehr wichtig. Leidenschaft pulsierte durch ihre Körper und es gab nichts mehr, was sie nun stoppen könnte …





Nidhöggr




Thyri blinzelte und öffnete langsam die Augen. Sie blickte hinauf in ein grünes Blätterdach, durch welches vereinzelt Sonnenstrahlen fielen. Einen Moment lang war sie sich nicht sicher, wo sie sich befand, doch dann fiel ihr alles wieder ein. Der Strudel aus Licht, die breiten Wurzeln, welche aus dem Erdreich ragten, der riesige Baum und der Nebel, der diesen in einiger Entfernung einzuhüllen schien, und natürlich Richard. Thyri saß aufrecht, bevor sie es überhaupt richtig registrierte. Ihr Blick glitt zur Seite und sie fand Richard neben ihr liegen. Ihr Herz machte einen Satz. Er sah so friedlich aus. Augenblicklich entspannte sie sich. Ein glückseliges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie ihn betrachtete. Sie legte sich wieder neben ihn und kuschelte sich dicht an ihn. Dann malte sie mit ihrem Finger kleine Kreise auf seine muskulöse Brust. Ihre Hand glitt hinauf, streichelte über seine Wange, bevor sie wieder begann Muster auf seine Brust zu zeichnen.
Langsam regte er sich. Ein Seufzer glitt über seine Lippen und Thyri musste ein Kichern unterdrücken. Dann schlug er plötzlich die Augen auf, was Thyri vor Schreck in ihrer Tätigkeit innehalten ließ. Als sich ihre Blicke jedoch trafen, lächelte sie wieder und hauchte: „Hallo.“
Richard erwiderte ihr Lächeln liebevoll und legte seine Hand in ihren Nacken, um sie zu einem Kuss zu sich herunterzuziehen. Ein Kribbeln lief durch Thyris Körper. Doch dann verspürte sie einen seltsamen Schmerz, der sie zurückschrecken ließ. Richard musterte sie besorgt und setzte sich auf, als Thyri mit geradem Rücken neben ihm saß und die Stirn runzelte. Unwillkürlich legte sie eine Hand auf ihre Brust, genau an die Stelle, wo das Herz saß. Unruhe breitete sich in ihr aus.
„Thyri? Was ist?“, erkundigte sich Richard nun deutlich besorgt.
„Ich …“, setzte die junge Frau an, doch dann versteifte sie sich auf einmal. Im nächsten Moment streifte sie Richards Hand ab, die auf ihrer Schulter lag und erhob sich. Rasch schlüpfte sie in ihre Kleidung, ohne den Mann neben ihr auch nur eines Blickes zu würdigen.
Richard wurde misstrauisch. Er wusste, dass etwas nicht mehr stimmte. In einer geschmeidigen Bewegung stand auch er auf und ging auf Thyri zu, die nach ihrer Tasche griff und sich diese umhängte. Er packte sie am Arm und zwang sie dazu ihn anzusehen, indem er ihr Kinn anhob und es umfasst hielt. Seine Augen verengten sich und er schnaubte. „Ich hätte es wissen müssen.“ Abrupt ließ er sie los und zog sich ebenfalls an. „Hättest du dich nicht noch etwas zurückhalten können?“, fragte er gereizt und drehte sich wieder um. Rote Augen blitzten verärgert und musterten ihn.
„Ich habe mich schon länger als gewollt zurückgehalten. Es war gar nicht so leicht das zu ignorieren, was ihr letzte Nacht getrieben habt“, zischte Orun. Richard wurde rot um die Nase, und die Walküre konnte auch Thyris Unbehagen spüren. Es kümmerte sie im Moment wenig. Sie war endlich dort angekommen, wo sie schon so lange hin wollte. Endlich war sie da.
Orun?

, meldete sich Thyri zaghaft zu Wort, unsicher was sie sagen sollte.
Nicht jetzt, Thyri. Lass mich meinen Plan ausführen. Ich habe schon zu lange darauf gewartet.

Die Walküre blickte zu den gewaltigen Ästen von Yggdrasil hinauf und dann zurück zu dem dichten Nebel. Sie schritt darauf zu.
„He! Warte! Was ist mit Thyri?“, rief Richard ihr hinterher und hatte sie wenig später eingeholt. Orun warf ihm einen kurzen Blick zu, verlangsamte aber nicht ihren Schritt und hielt weiter auf den Nebel zu, der einen Blick auf das, was dahinter liegen mochte, verwehrte.
Als Richard sie mit einem wütenden Schnauben am Arm packte und sie herumriss, packte sie ihn bei den Schultern und stieß ihn gegen die nächste Wurzel, nagelte ihn dort fest. Sie kam seinem Gesicht näher und blitzte ihn wütend an, während sie zischte: „Fass mich nicht an, Kleiner. Mit Thyri kannst du meinetwegen machen, was du willst, aber halte dich fern von mir!“
Richards Augen wurden größer, bevor auch in seine Augen ein zorniges Funkeln trat. „Dir ist Thyri egal, nicht wahr?“
„Ich bin nun mal hier drin gefangen, daran kann ich nichts ändern. Ich muss also nehmen, was mir gegeben wurde. Und ich werde mich sicher nicht von dir oder einem kleinen Mädchen daran hindern lassen, Odin dafür bezahlen zu lassen, was er mir angetan hat“, erwiderte Orun kalt. Sie spürte Thyris Schock, als sie diese Worte vernahm. Es kümmerte sie nicht. Sie war ihrem Ziel so nahe, und man gewann einen Kampf nicht, wenn man jeden mit Samthandschuhen anpackte. Sie rechnete schon damit, dass Thyri etwas sagen würde, doch sie schwieg und zog sich weiter zurück. Die verbannte Walküre konnte die Verwirrung und Unsicherheit der jungen Frau spüren. Auch das kümmerte sie nicht. Sollte dieses Mädchen doch wissen, dass sie für sie nicht wichtig war.
Orun hielt Richard immer noch fest und starrte ihm in die Augen. Wieder überkam sie dieses seltsame Gefühl, dass etwas mit diesem jungen Mann nicht stimmte. Nur konnte sie immer noch nicht sagen, was es war.
„Warum hasst du Odin so sehr?“, stieß Richard zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er versuchte, sich aus ihrem eisernen Griff zu lösen, doch die Walküre drückte ihn nur noch stärker gegen die Wurzel. Ein gefährliches Flackern lag plötzlich in dem Blick der verbannten Walküre. Sie wirkte schon fast wahnsinnig. Unbändiger Hass leuchtete in ihren Augen und sie begann zu zittern.
„Vor einundzwanzig Jahren“, begann Orun mit hasserfülltem Blick, „gab es eine große Schlacht.“
„Die Schlacht von Halam“, murmelte Richard mit großen Augen. Sein Vater hatte ihm davon erzählt, als er etwas älter war. Sein großer Bruder hatte an dieser Schlacht zwischen den zwei machthungrigen Fürsten teilgenommen und war dabei ums Leben gekommen.
Vor den Toren der Stadt Halam waren die beiden Heere aufeinander getroffen. Der Kampf hatte die Familien in der Stadt eingeschlossen und lange war es ungewiss gewesen, welche Seite gewinnen würde. Es hatte viele Tote gegeben. Und scheinbar hatten sich die Walküren eingemischt.
„Ja, die Schlacht von Halam.“ Orun nickte. „Odin hatte es nicht mehr ertragen und hat uns befohlen einzugreifen. Es gab viele gute Männer, die sich einen Platz in Walhall verdient hatten. Darunter auch Artur. Aber Hrist …“ Die Walküre stieß diesen Namen wie einen Fluch aus. „Hrist hat nicht geglaubt, dass er für einen Einherjer geeignet gewesen wäre. Sie meinte, er hätte ein zu sanftes Gemüt und wäre nicht würdig als Einherjer in Walhall einzuziehen.“
„Du hast ihn geliebt“, platzte es Richard plötzlich heraus. Die Ohrfeige traf ihn unvorbereitet, doch er sagte nichts dazu. Er wusste nicht, warum die Walküre ihn geschlagen hatte, aber das war im Moment nicht wichtig. Er war gerade dabei herauszufinden, warum sie Odin so sehr hasste und für ihre Rache gewillt war, Thyri in Gefahr zu bringen.
„Ich habe ihn schon vor dieser Schlacht geliebt“, knurrte Orun und wieder erschien dieses irre Flackern in ihrem Blick. Ob sie überhaupt noch wusste, was sie tat? Richard bezweifelte es. Seine Sorge um Thyri wuchs.
„Als er dann in der Schlacht von Halam schwer verletzt wurde, habe ich ihm den Kuss der Walküre gegeben. Er war zwar noch nicht tot, als er ihn empfangen hatte, aber dadurch hatte er die Erlaubnis mit mir nach Walhall zu gehen. Doch Hrist war skeptisch. Sie meinte, Artur wäre zu sanft, zu zurückhaltend und nicht für ein Leben als Einherjer geeignet. Sie sagte, Artur habe immer noch zu viel von einem Menschen in sich. Sie meinte, er hätte es nicht verdient in Walhall Einzug zu halten. Und dann hat Odin sich in unseren Streit eingemischt.“ Die Walküre stieß sich von Richard ab und ballte die Fäuste. Wut und Hass fraßen sich durch den Körper der jungen Frau und ließen Thyri sich noch weiter zurückziehen. Die Wucht dieser Gefühle ängstigte sie. So außer sich hatte sie Orun noch nie erlebt.
„Er war mit Hrist einer Meinung“, schrie die Walküre wutentbrannt. Ihre Fingernägel gruben sich tief in ihre Handflächen. „Er wollte Artur zu den Toten schicken, aber das konnte ich nicht zulassen. Also flohen wir. Damit widersetzte ich mich dem Befehl des Göttervaters, doch das war mir egal.“
Richard hatte die Stirn in Falten gelegt und ließ die tobende Walküre keinen Augenblick aus den Augen. Sie atmete schwer und ging auf und ab. Dann blieb sie wieder stehen und starrte ihn an. Ein Schauer lief seinen Rücken hinunter, und es war kein angenehmer.
„Ich habe Einherjer und Walküren umgebracht, um Artur zu schützen. Aber dann hat Odin selbst eingegriffen. Er verbannte Artur ins Totenreich und mich steckte er in diesen verfluchten Körper. Nur mit einem hatte er nicht gerechnet.“ Ein eisiges Lächeln erschien auf Oruns Zügen und entstellte diese. Richard musste unwillkürlich schlucken. Er verspürte so etwas wie Angst. Ob es Thyri gut ging?
Die verbannte Walküre kam auf ihn zu, blieb dicht vor ihm stehen und sagte: „Ich bin erwacht. Und das ist etwas, was nie hätte geschehen dürfen, wenn es nach Odin gegangen wäre. Hrist hat das Siegel, welches mich hier gefangen halten sollte, nicht stark genug gemacht, und nun stehe ich hier. Und jetzt wird Odin dafür bezahlen.“
Mit einem Ruck wandte sie sich um und schritt wieder auf den Nebel zu. Richards Herz hämmerte in seiner Brust. Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er ihr hinterher sah. Unschlüssig was er nun machen sollte, setzte er sich langsam in Bewegung und folgte ihr. Er musste dafür sorgen, dass Thyri diese Sache unbeschadet überstand. So ganz hatte er die Walküre noch nicht verstanden, aber er wusste, dass sie nicht mehr klar bei Verstand war. Der Hass auf Odin verzehrte sie.
Die Schildjungfer blieb so abrupt stehen, dass Richard beinahe in sie hineingelaufen wäre. Im letzten Moment konnte er einen Schritt zur Seite machen und kam neben ihr zum Stehen. Sie standen nicht weit entfernt von der dichten Nebelwand, neben ihnen ragte eine mächtige Wurzel aus dem Erdreich.
„Ich werde dafür sorgen, dass Odin alles verliert, was ihm wichtig ist“, murmelte Orun und kicherte. Richard schluckte erneut. Was hatte sie vor? Ihr irrer Blick traf den seinen und ließ ihn förmlich erstarren. „Ich finde, Ragnarök ist eine angemessene Strafe für ihn“, sagte Orun gelassen und kicherte wieder.
Richard schnappte nach Luft. Ragnarök? Entgeistert starrte er die Walküre an, die ihn nicht mehr beachtete und sich stattdessen der Wurzel zugewandt hatte. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein, oder? „Das … Das kannst du nicht machen“, brachte Richard nach mehreren Anläufen endlich hervor. Orun warf ihm einen verächtlichen Blick zu und trat gegen die Wurzel.
Sie antwortete ihm nicht. Stattdessen wandte sie sich wieder von ihm ab und schrie: „Nidhöggr, zeig dich! Ich weiß, dass du hier irgendwo bist.“
Erst geschah nichts, doch dann ging plötzlich ein Beben durch den Boden. Richard stützte sich an der Wurzel ab und blickte hektisch umher. Orun wartete gelassen, ihr Blick auf den Nebel vor ihr gerichtet. Da verzog sich dieser plötzlich etwas und ein riesiger Kopf samt Hals erschien. Lange, scharfe Zähne ragten aus dem Mund der Schlange, silberne und schwarze Schuppen bedeckten den gesamten Körper, die Augen gelb mit langen Pupillen und zwei Fächer schienen seitlich an seinem Kopf angebracht zu sein. Diese stellten sich nun auf, als der Blick der riesigen Schlange sich auf sie richtete.
„Wer wagt es, mich zu rufen?“, erklang die tiefe und grollende Stimme von Nidhöggr.





Es spitzt sich zu




Hrist umfasste den Griff ihres Schwertes fester. In Lokis Augen loderte ein gefährliches Feuer. Eines, das sie nicht zum ersten Mal dort sah. Sie durften Loki nicht unterschätzen. Auch wenn er ihnen schon oft geholfen hatte, so hatte er sie mindestens genauso oft in Schwierigkeiten gebracht.
Der Gott des Feuers trat einen bedrohlichen Schritt auf seinen Blutsbruder zu. Obwohl die beiden sich nahestanden, ließ er selten eine Gelegenheit aus Odin zu schaden, wenn es in seine Pläne passte. So war seine Natur. Und dennoch war er ein wichtiger Bestandteil des Göttergeschlechts. Odin erhob sich und starrte Loki wütend an. Hrist trat an seine Seite.
„Also gibst du es zu? Hast du dich mit Hel gegen uns verschworen?“, fragte Odin, seine Stimme war leise und unheilschwanger. Loki hielt dem Blick seines Bruders stand, straffte sich.
„Es war die passende Zeit, Bruder

“, entgegnete der Feuergott und spie das letzte Wort aus, als verbrenne es ihm die Zunge. Thor hinter ihm straffte sich ebenfalls, bereit jederzeit einzugreifen. Baldur hingegen hielt sich im Hintergrund und beobachtete das Geschehen. „Es wird Zeit, dass du abdankst. Dank deiner widerspenstigen Walküre ist es mir möglich, endlich zuzuschlagen“, sagte Loki, immer noch dieses bedrohliche Funkeln in seinen schwarzen Augen.
Thor ballte hinter ihm die Fäuste. Er wusste, dass Loki mächtig war, und auch, dass er immer wieder versucht hatte, nach Odins Thron zu greifen, aber er würde sich ihm entgegenstellen, um seinen Vater zu schützen.
„Dann bist du also immer noch auf meinen Platz als Allvater aus? Wann gibst du diesen Plan endlich auf? Es ist dir nicht vorherbestimmt meinen Platz einzunehmen, Loki.“ Odins Stimme vibrierte vor unterdrückter Wut. Er hatte wirklich geglaubt, dass Loki seine Intrigen aufgegeben hatte, aber scheinbar hatte er sich geirrt. Ein bedrohliches Schweigen breitete sich zwischen den Anwesenden aus und es schien, als bliese ein eiskalter Wind durch die Halle. Odin durfte nicht zulassen, dass sein Bruder es schaffte Ragnarök einzuleiten. Das musste verhindert werden. Es war noch nicht die richtige Zeit. Jeder der Götter wusste das, und dennoch stellte sich Loki gegen diesen Glauben. Wieder einmal.
„Loki“, hob Odin an. Er trat einen Schritt vor und blickte seinen Blutsbruder mit entschlossenem Blick an. Er würde dies nicht zulassen. Odin kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Loki wirbelte herum, packte Thor und schleuderte ihn gegen die Wand, wo dieser eine tiefe Delle hinterließ und daran heruntersank. Dann wandte er sich Odin zu. Seine Augen glühten durch ein finsteres Feuer.
Hrist handelte schnell und instinktiv. Sie zog ihr Schwert und stellte sich vor Odin, und dies keine Sekunde zu früh. Plötzlich hatte Loki ein flammendes Schwert in der Hand. Funken sprühten, als die beiden Klingen aufeinander trafen. Der Gott des Feuers fluchte, schlug noch einmal zu und wich dann hastig zurück, als die Walküre zum Gegenschlag ansetzte. Die beiden setzten zu einem wilden Schlagabtausch an.
Thor hatte sich mittlerweile wieder aufgerappelt und lief auf die zwei Kämpfenden zu. Noch im Laufen zog er seinen Hammer aus dem Gürtel und näherte sich Loki von hinten. Hrist wirbelte herum, blockte einen Schlag, täuschte einen anderen an und sprang zurück, als Thor mit seinem Hammer ausholte. Loki registrierte die Bewegung des Donnergottes aus den Augenwinkeln und konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen, sodass die Wucht des Schlages den Boden traf und dort ein Loch hinterließ. Thor knurrte und hob seinen Hammer erneut an.
„Es reicht!“, sagte Loki entschieden und richtete sich auf. „Du kannst mich nicht aufhalten, Odin. Orun hat Nidhöggr bereits getroffen. Es ist zu spät.“ Im nächsten Moment war Loki wie vom Erdboden verschwunden. Odin ballte die Hände zu Fäusten und ließ die Halle durch seinen Wutschrei erbeben. Baldur trat zu ihm und legte seinem Vater eine Hand auf den muskulösen Arm.
„Hrist“, rief Odin wütend. Die Walküre blickte zu ihm auf und steckte das Schwert zurück in die Scheide. „Benachrichtige Freyja und Kara. Sorgt dafür, dass die anderen Walküren und Einherjer bereit sind, falls uns ein Kampf bevorstehen sollte. Ich möchte ihn vermeiden, aber Loki ist nicht zu unterschätzen.“
Die Walküre nickte und drehte sich um, verließ eiligen Schrittes die Halle. Nachdem sie gegangen war, wandte sich Odin seinem ältesten Sohn zu. „Thor, du wirst mit Baldur zu den Nornen gehen. Vielleicht können sie uns helfen. Sie lenken immerhin die Geschicke der Götter.“
„Was wirst du tun, Vater?“, wollte Baldur sofort wissen. Odin sah seinen Sohn an. Sein Blick war entschlossen.
„Ich werde zu Nidhöggr gehen. Ihr kommt nach, wenn ihr bei den Nornen gewesen seid.“
Thor und Baldur nickten nur. Odin klopfte seinem Sohn noch einmal auf die Schulter und verließ dann mit wehendem Mantel die Halle. Seine Augen sprühten vor Zorn und Entschlossenheit. So leicht würde er es Loki nicht machen. Er würde nicht zulassen, dass seine Familie in Gefahr gebracht wurde. Er musste alle schützen. Und wenn er erst einmal verhindert hatte, dass Loki seinen irren Plan in die Tat umgesetzt hatte, würde er sich seinen Bruder vornehmen. Es war ihm nicht möglich ihn zu töten, aber er kannte andere Strafen, die möglicherweise sogar noch schlimmer waren. Odin schüttelte den Kopf bei dem Gedanken seinen Blutsbruder zu töten. Trotz allem hatten sie Loki viel zu verdanken. Er hatte den Asen schon oft geholfen.
Jetzt würde der Göttervater zu Nidhöggr gehen, um mit ihm zu reden. Yggdrasil durfte nicht anfangen zu welken. Und hatte er sich erst einmal darum gekümmert, dass diese Schlange diesen Vorgang nicht beschleunigen würde, dann würde er sich um Orun kümmern.
Odin wusste, dass Hrist sich die Schuld an ihrem Erwachen gab, weil sie glaubte, ihr Siegel nicht stark genug gemacht zu haben, aber er trug auch einen Teil der Schuld. Er hatte diesen Körper ausgesucht und dabei nicht auf die Stärke geachtet, die in dem Geist der Sterblichen steckte. Orun hatte sich an diese geklammert, wodurch es ihr möglich war, sich an dieser zu stärken und das Siegel zu brechen. Wenn die Walküre dieses Mal vor ihm stand, würde er sie richtig verbannen. Da es ihm auch unmöglich war eine Walküre zu töten, blieb ihm nur diese Möglichkeit. Er hatte geglaubt, Orun würde zur Vernunft kommen, nachdem der Mensch gestorben war, sodass er sie wieder in seine Reihen aufnehmen konnte. Aber darauf hoffte er wohl vergeblich. Dieses Mal würde sie nicht wiederkehren können. Dafür würde er Sorge tragen.
Seine Schritte wurden ausholender und schon bald hatte er das Heim der Götter verlassen und blickte in den Himmel. Einen Moment später stieß er einen lauten Pfiff aus und wartete. Plötzlich hörte er ein Wiehern und er drehte sich in die Richtung, aus der dieses Geräusch gekommen war. Odin lächelte, als er sein achtbeiniges Schlachtross sah, das auf ihn zu galoppiert kam. Schnaubend kam es vor ihm zum Stehen und ließ sich von Odin streicheln.
„Wir werden Nidhöggr einen Besuch abstatten, Sleipnir“, murmelte der Göttervater in die lange Mähne des Hengstes. Dann stieg er auf und ergriff die Zügel. „Wir müssen uns eilen.“
Sleipnir stieß ein weiteres Wiehern aus und fiel in einen leichten Trab. Rasch wurde er schneller, bis er schließlich abhob und immer höher stieg. Odins Haare und sein Mantel wehten im Wind. Nichts konnte ihn mehr aufhalten, als er auf seinem Ross zu den Wurzeln von Yggdrasil eilte. Er würde Ragnarök verhindern. Er würde verhindern, dass Loki siegreich aus diesem Kampf hervorging.




Die Nornen




Thor schritt mit grimmigem Gesicht voran und ließ sich nicht von seinem Weg abbringen. Baldur eilte hinter ihm her und war schon bald außer Atem, da der Donnergott ein rasches Tempo vorgab. Baldur selbst war es nicht gewohnt so zügig zu laufen. Er war kein Krieger, wie die meisten der anderen. Er war der Gott der Güte, der Reinheit und Gerechtigkeit. Er kämpfte nicht. Er hatte es nie gewollt und würde es auch nie wollen.
Baldur beschleunigte seine Schritte und fiel in einen leichten Lauf, um Thor einzuholen. Er keuchte und gab sein Bestes, um mit seinem Bruder Schritt zu halten. Sein Blick heftete sich konzentriert auf den gepflasterten Weg vor ihm, um nicht zu stolpern. So entging ihm der Blick, den Thor über die Schulter zurückwarf. Als dieser seinen kleinen Bruder heftig schnaufend hinter ihm her eilen sah, wurde er langsamer.
„Verzeih‘ mir, Baldur“, entschuldigte sich der Donnergott, als dieser ihn eingeholt hatte. Baldur nickte nur und atmete tief durch. Dann warf er ihm ein aufmunterndes Lächeln zu und nickte zum Zeichen, dass sie weitergehen konnten. Thor ging weiter, lief dieses Mal aber um einiges langsamer.
Die beiden ließen das Götterheim schon bald hinter sich und folgten dem Weg weiter. Nur wenige Minuten später kamen sie an den Stallungen an. Während Baldur geduldig vor dem riesigen Gebäude wartete, verschwand Thor im Inneren. Der Gott hörte Wiehern, dann die Ziegen und unwillkürlich musste er lächeln. Es drang noch einiges an Rascheln und Rumpeln an sein Ohr, dann öffneten sich die breiten Tore vollständig und Thor führte seine zwei großen Ziegenböcke heraus, die seinen Streitwagen hinter sich her zogen. Vor Baldur kam das Gespann zum Stehen. Thor begegnete dem Blick seines Bruders und grinste. „Das wird ein aufregender Ritt.“
Der Donnergott streichelte über das borstige Fell seiner beiden Tiere, die diese Zärtlichkeit mit geschlossenen Augen genossen. Baldur stellte sich in den Streitwagen und wartete darauf, dass sich Thor zu ihm gesellte. Dieser kam auch sofort und nahm die Zügel in die Hand.
„Bist du bereit?“, fragte er und hob die Augenbrauen. Baldur klammerte sich an den Rand des Wagens und nickte. Wieder grinste Thor, ließ die Zügel knallen und rief: „Tanngrijostr, Tanngrisnir, auf geht es. Zur Quelle der Urd.“
Die Ziegenböcke setzten sich in Bewegung und während sie immer schneller wurden, hoben sie schließlich ab und rasten mit unglaublicher Geschwindigkeit über den Himmel. Immer direkt auf das Heim der Nornen zu, an den Wurzeln von Yggdrasil.
„Wie kannst du diese Ziegenböcke nur Zähnefletscher und Zähneknirscher nennen? Das ist völlig absurd“, schrie Baldur über den Fahrtwind hinweg. Thors Antwort bestand nur aus einem lauten Lachen und einem Knall der Zügel, um seine kleinen Lieblinge weiter anzuspornen.
Baldur klammerte sich fester an den Wagenrand, schloss die Augen und öffnete diese erst wieder, als der Fahrtwind verschwand und sie zum Stehen kamen. Nun erblickte er die riesige Weltenesche und deren Wurzeln. Er staunte immer wieder darüber wie groß sie doch war. Wollte man sie zu Fuß umrunden, würde man wohl mehrere Tage damit verbringen. Als ihm dieser Gedanke kam, runzelte er automatisch die Stirn und dachte an seinen Vater, der nun wohl auf der entgegengesetzten Seite von ihnen sein würde, um mit Nidhöggr zu sprechen. Jetzt da er hier war, konnte er die Präsenz der riesigen Schlange spüren.
Thor riss ihn aus seinen Gedanken, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte und sie ermutigend drückte. Die beiden Ziegenböcke standen, immer noch an den Wagen gespannt in einiger Entfernung und grasten. Baldur warf einen kurzen Blick auf den Nebel, dann folgte er Thor auf den Stamm von Yggdrasil zu. Sie schlüpften unter einer breiten Wurzel hindurch, umrundeten halb eine andere. Dann konnten sie den Brunnen endlich sehen. Er war schlicht, ohne jeglichen Verzierungen und schmiegte sich an den Baumstamm. Um den Brunnen herum gab es Schlamm. Drei wunderschöne Frauen in langen Gewändern in unterschiedlichen Farben saßen auf dem Rand dieses und sahen ihnen entgegen.
Vor den drei Nornen blieben die beiden stehen und neigten kurz ihre Köpfe für eine Begrüßung. Zwei der Nornen hatten braunes Haar, während die dritte im Bunde helles, blondes Haar hatte. Alle drei jedoch hatten sie lavendelfarbene Augen. Die Frauen lächelten den beiden Göttern zu.
Die Blondhaarige stellte den Wasserkrug beiseite und erhob sich dann gemeinsam mit den anderen beiden. Die Haut der drei Nornen war blass, beinahe vollständig weiß. Es war das erste Mal, dass Baldur die Nornen persönlich traf und er murmelte: „En þat vatn er svá heilagt, at allir hlutir, þeir er þar koma í brunninn, verða svá hvítir sem hinna sú, er skjall heitir, er innan liggr við eggskurn.


Thor musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, doch Baldur ging nicht weiter auf die Worte in dieser seltsamen Sprache ein, sondern wandte sich nun direkt an die drei Nornen: „Urd – das Gewordene, Verdandi – das Werdende, Skuld – das Werdensollende. Wir bitten um eure Hilfe. Loki …“
„… versucht den Untergang der Götter herbeizurufen“, beendete Verdandi, die blonde Norne, Baldurs Satz. Der Gott schluckte und nickte. Thor neben ihm wartete angespannt.
„Die Fäden des Schicksals sehen es noch nicht vor, dass Ragnarök eingeläutet wird“, sagte nun Skuld. Es klang fast wie ein Singsang.
„Und doch versucht gerade zu diesem Zeitpunkt die Walküre, Nidhöggr dazu zu bringen, dass er schneller am Verfall der Esche arbeitet.“ Wieder war es Verdandi, die das Wort ergriffen hatte. Baldur runzelte besorgt die Stirn und tauschte einen schnellen Blick mit seinem Bruder. Die beiden waren sich nicht sicher, was genau sie hier eigentlich wollten. Sie wussten nicht, wie genau die Nornen ihnen helfen konnten. Sie lenkten das Geschick der Götter und vor allem das der Menschen, aber wie sollte ihnen das helfen Ragnarök zu verhindern? Urd, Verdandi und Skuld verkörperten die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, aber konnten sie wirklich sagen, ob es passieren würde oder wer siegreich aus diesem Kampf hervorging?
Thor setzte gerade dazu an, etwas zu sagen, als Urd zu sprechen begann: „Der Gott des Feuers hat es auch in der Vergangenheit oft versucht und ist daran gescheitert. Wir können nur unser Tun weiter verfolgen. Wir gießen die Wurzeln und kümmern uns um Yggdrasil. Mehr steht nicht in unserer Macht zu tun.“
„Noch ist es nicht zu spät den Feuergott aufzuhalten. Ihr müsst euch eurem Vater anschließen und Nidhöggr gegenübertreten. Sollte er die Seelen der beiden Sterblichen in sich aufnehmen, wird er eine große Macht besitzen und ihr werdet ihn nicht aufhalten können. Es sind zwei mächtige Seelen, die in den beiden ruhen. Eine Walküre und ein schlummernder Einherjer“, fuhr Skuld fort, sobald Urd geendet hatte.
„Geht nun. Es gibt nichts weiter zu sagen“, sagte Verdandi und nickte ihnen zu. Baldur und Thor blieben keine Möglichkeiten, eine Frage zu stellen oder die genaue Bedeutung ihrer Worte zu entziffern. Sie grübelten immer noch über das nach, was Skuld ihnen soeben über diese zwei Seelen und Nidhöggr verraten hatte, während sich die Nornen schon von ihnen abwanden und sich an den Brunnen setzten. Baldur und Thor sahen ihnen verblüfft hinterher und tauschten einen Blick. Verwirrung lag in den Augen beider Götter.
„Vielleicht sollten wir zu Odin“, meinte Thor schließlich. Sein Bruder nickte. Zögernd wandten sie sich ab und liefen zu dem Streitwagen zurück. Baldur warf einen letzten Blick zurück über die Schulter, aber die drei Nornen blickten den beiden nicht hinterher.
Etwas ratlos schüttelte Baldur den Kopf und dachte über die Worte von Skuld nach. Zwei mächtige Seelen. Eine Walküre und ein schlummernder Einherjer. Mit der Walkürenseele musste Orun gemeint sein, aber was bedeutete das mit dem Einherjer? Ein schlummernder Krieger? Was hatte das zu bedeuten? Baldur war so tief in Gedanken versunken, dass er gar nicht merkte, wie Thor ihn am Arm packte und auf den Wagen führte. Dort klammerte er sich instinktiv an den Wagenrand.
Der Donnergott musterte seinen Bruder aus den Augenwinkeln, als er Tanngrijostr und Tanngrisnir den Befehl gab sie auf die andere Seite von Yggdrasil zu bringen. Diesen Ausdruck auf dem Gesicht von Baldur kannte er nur zu gut. Er dachte über die Worte der Norne nach und ersann einen Plan, um Ragnarök verhindern und Odin helfen zu können. Ihm selbst blieb die Bedeutung der Worte der Nornen im Unklaren. Er war Krieger. Baldur war besser in den Dingen, wenn es darum ging etwas zu entschlüsseln. Er würde es also ihm überlassen, ihn in Ruhe darüber nachdenken lassen. Und wenn sie bei Odin angekommen waren, wusste Baldur hoffentlich, was zu tun war.




Ruf des Feuers




Die Tür knallte gegen die Wand. Loki hielt nicht inne, sondern schritt wütend voran und lief den Gang entlang. Das Zimmer, in welches er dann trat, wurde nur durch wenige Fackeln erhellt. Totenköpfe, Knochen und andere seltsamere Gegenstände zierten die Wände, lagen in den Regalen. An einer Seite gab es einen großen Kamin, in dem ein Feuer brannte. Davor stand Hel und sah ihrem Vater mit zusammengekniffenen Augen entgegen. Ihre tote Hälfte verzog sich dabei zu einer unmenschlichen Grimasse.
„Wieso hast du dich Hrist gezeigt? Ich hatte dir gesagt, du sollst dafür sorgen, dass Orun Nidhöggr gegenübertritt und dich selbst bedeckt halten“, schrie Loki und kam vor ihr abrupt zum Stehen. Seine Miene war wutverzerrt, seine Augen dunkel vor Zorn. Unwillkürlich wich Hel einen Schritt zurück.
„Ich habe getan, was ich tun musste, Vater“, verteidigte sich Hel endlich. „Hätte ich nicht eingegriffen, wäre Orun von Hrist gefangen genommen worden. Ich musste sie durch das Weltentor schicken.“
Loki stieß ein Schnauben aus und schritt wütend auf und ab. Odin wusste, dass er Ragnarök einleiten wollte, und bestimmt war er nun auf dem Weg zu Yggdrasil, um mit Nidhöggr zu sprechen, oder was auch immer. Andererseits war Orun bereits dort. Es könnte also noch gelingen, dass die Riesenschlange die Walkürenseele in sich aufnahm. Dann würde die Kraft dieser Seele Nidhöggr durchströmen und er würde sich nicht davon abbringen lassen, die Wurzeln Yggdrasils zu schädigen. Er würde in doppeltem, wenn nicht sogar dreifachem Tempo arbeiten und sich nicht aufhalten lassen. Die Seele war wichtig für ihn. So würde er vor Odins Zaubern und seiner Stärke geschützt sein. Wenigstens für eine Weile.
„Der Mensch, der Orun begleitet, trägt die Seele eines Einherjer in sich.“
Loki wirbelte zu seiner Tochter herum, als er ihre Worte vernahm. Was hatte sie da gesagt? Seele eines Einherjer? Das war nicht möglich. Gefallene Einherjer wurden nicht wiedergeboren. Und das bedeutete, dass dieser Mensch ein zukünftiger Einherjer sein würde. Aber das war unmöglich. Es war bisher erst vier Mal vorgekommen, dass man bereits zu so früher Zeit gewusst hatte, dass ein Mensch zum Leben eines Einherjer bestimmt war. So etwas entschied sich für gewöhnlich auf dem Schlachtfeld, in der Stunde des Todes eines jeden Kriegers. Die Walküren beobachteten, urteilten und verteilten dann ihre Küsse an diejenigen, die würdig waren diesen zu empfangen.
„Ein zukünftiger Einherjer“, murmelte der Feuergott schließlich und fuhr sich durch sein schwarzes Haar. Hel nickte, als brauche es ihrer Zustimmung. „So etwas gab es schon lange nicht mehr. Nidhöggr würde durch ihn noch stärker werden. Solche Seelen sind selten“, flüsterte Loki und klang beinahe heiser. In seine Augen schlich sich ein Feuer, das im Stande war alles zu verzehren.
Die Mundwinkel des Feuergottes hoben sich zu einem kleinen Lächeln. Das brachte neue Möglichkeiten. Sie hatten noch eine Chance auf den Sieg. Die Seele eines Einherjer war stark, mächtig. So wie die Seele einer Walküre die Magie dieser in sich trug, so beherbergte eine Einherjerseele die innere Stärke der Krieger, die sich für ihr Vaterland opferten und für die Ihren kämpften. Eine solche Stärke war nicht zu unterschätzen. Nidhöggr würde den Zaubern des Göttervaters lange genug widerstehen können, um den Verfall von Yggdrasil beginnen zu lassen. Sobald die Blätter des Weltenbaumes in erhöhtem Tempo welken würden, wäre es nur noch eine Frage von wenigen Tagen, bis Yggdrasil völlig zusammenfallen würde. Dann gab es nichts mehr, was dies aufhalten könnte. Das Gleichgewicht würde verschwinden und auch die Nornen könnten es nicht wiederherstellen.
Kämpfe, Kriege würden ausbrechen. Verzweiflung, Schmerz und Hass würden die vorherrschenden Gefühle sein. Die Welt der Menschen würde in Schlachten und Blut untergehen. Die Götter würden sich bei dem Versuch, die Welt zu retten, verausgaben. Die Toten würden auferstehen und gemeinsam mit den Lebenden gegen die Götter antreten.
Naturkatastrophen würden das Ganze noch schlimmer machen. Letztlich würde Midgard untergehen und auch die Götter, denen es vorherbestimmt war, würden einer nach dem anderen fallen. Die Sonne würde verschluckt werden und dann war Odins Tod nahe. Und war der Göttervater erst einmal tot, würde er, Loki, eine neue Welt aus der Asche der alten schaffen. Eine Welt, die nach seinen Regeln lebte. Eine Welt, deren Bewohner ihn fürchten würden. Eine Welt, in der es niemand wagen würde, sich ihm zu widersetzen. Sie durften nur nicht scheitern.
„Erwecke deine Krieger, Hel. Odin wird auf dem Weg zu Nidhöggr sein und Asgard nicht schützen können. Ziehe gegen Asgard und lenke die Aufmerksamkeit auf mein Heim“, befahl Loki nach einem beinahe endlosen Schweigen. Er begegnete dem Blick seiner Tochter. Ihre Augen zeigten ihre Entschlossenheit und den leisen Wunsch, der Erwartung ihres Vaters gerecht zu werden. Loki hoffte, dass sie nicht versagen würde.
„Was wirst du tun, Vater?“, fragte Hel neugierig.
Ein Lächeln voller Vorfreude umspielte seinen Mund. „Ich werde mit meinen Kriegern Nidhöggr einen Besuch abstatten und das Geschehen dort etwas aufmischen.“
Die Göttin der Toten lächelte freudig, als sie diese Worte vernahm. Sie nickte nur und verschwand aus dem Zimmer, als ihr Vater sie an ihren Auftrag erinnerte. Loki blickte ihr hinterher, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Hel würde den Göttern nicht ernsthaft schaden können, aber sie würde sie lange genug ablenken, sodass er in Ruhe zum Weltenbaum konnte, um sich dort Odin zu stellen. Er musste verhindern, dass sein Bruder Ragnarök aufhalten konnte. Das durfte einfach nicht passieren.
Loki wandte sich dem Feuer im Kamin zu und konzentrierte sich auf die Flammen, die freudig flackerten. Funken sprühten, die Hitze verdichtete sich. Das Feuer spiegelte sich in den schwarzen Augen von Loki wider, ließ seinen Schatten länger werden. Es ließ den Gott größer wirken, ließ ihn erstrahlen, und gleichzeitig legte sich ein Schatten auf sein Gesicht, was diesem auch zugleich einen finsteren und bedrohlichen Ausdruck gab.
„Krieger des Feuers“, hob Loki leise an, den Blick fest auf die Flammen gerichtet, „hört meinen Ruf. Folgt dem Ruf des Feuers, auf dass ihr an meiner Seite kämpfen werdet.“
Das Feuer züngelte empor. Die Hitze wurde größer. Funken sprangen aus dem Kamin auf den Boden, schienen zum Leben erwacht zu sein und einen irren Tanz aufzuführen. Das Feuer wuchs, streckte sich und langte nach den Beinen des Feuergottes. Loki störte sich nicht daran. Das war sein Element; es konnte ihm nichts anhaben.
„Krieger des Feuers, erwacht aus eurem Schlummer. Erhebt euch aus den Flammen, auf dass ihr Tod und Verderben über die Welt bringt.“
Das Feuer flackerte, zischte, schien mit ihm zu sprechen. Die Flammen leckten immer gieriger an ihm, bahnten sich langsam einen Weg über seinen ganzen Körper, liebkosten jeden Zentimeter seiner Haut, den sie erreichen konnten. Loki schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Seine Arme breiteten sich beinahe von selbst aus, während sich ein fast wahnsinniges Kichern in ihm anbahnte und sich den Weg freikämpfte. Unnatürlich laut und verzerrt wurde es von den steinigen Wänden widergegeben. Das Feuer leckte gieriger an dem dunklen Gott. Und ein letztes Mal hob Loki an, um seine Worte an dieses zu richten: „Krieger des Feuers, hört meinen Ruf. Nach euch wird verlangt, auf dass ihr Seite an Seite mit mir kämpft und meinem Willen gehorcht.“
Das Feuer schien zu bersten. Gleich einer Explosion stoben Flammenarme nach vorne. Feuerkugeln rollten über den Boden, bis sie zum Stillstand kamen und sie sich gen Decke streckten. Formen bildeten sich. Nach und nach wurden aus den Feuerkugeln Menschen, die umgeben von Feuer waren. Haare aus Flammen und Augen so rot wie die Glut verströmten Hitze und das Verlangen nach Blut.
Loki öffnete die Augen und lächelte zufrieden und bösartig. Eine geraume Weile musterte er seine Feuerkrieger. Es waren fünf Männer, auferstanden aus den Flammen. Seine Feuerkrieger. Nichts würde sie aufhalten können. Sie würden erbarmungslos kämpfen und keine Gnade walten lassen. Klingen konnten sie nicht töten und ein jeder von ihnen war so stark wie sieben Sterbliche und hatte eine unerschöpfliche Ausdauer.
Der Feuergott nickte zufrieden. Sein Blick war entschlossen. Er würde gar nicht verlieren können. Entschieden schritt er auf die Zimmertür zu und verließ Hels Heim. Seine Feuerkrieger folgten ihm schweigend. Allein das Knistern der Flammen und die Hitze, die sie verströmten, wiesen auf ihre Gegenwart hin. Sie würden sich nie an einen Gegner heranschleichen können, aber das war auch nicht nötig. Sie waren stark. Sie brauchten das Überraschungsmoment nicht.
Loki holte weit aus, ein festes Ziel vor Augen – Yggdrasil. Sein Blutsbruder würde verlieren und er würde siegen. Jetzt würde es kein Versteckspiel mehr geben. Die Karten lagen offen vor ihnen. Ein jeder kannte die Stärken des anderen … und auch die Schwächen. Es würde kein einfacher Kampf werden. Doch damit hatte Loki zu keinem Zeitpunkt gerechnet. In diesem Moment war nur eines wichtig: Ragnarök musste eingeläutet werden!





Möge der Kampf beginnen




Kaum dass Sleipnirs Hufen den Boden berührten, sprang Odin aus dem Sattel und umfasste seinen Speer Gungnir fester. Er spürte ein unterdrücktes Brodeln in der Luft, die Spannung stieg. Der Göttervater konnte es fühlen. Es würde nicht mehr lange dauern. Es braute sich etwas zusammen. Als sein Ross hinter ihm schnaubte und die weiche Schnauze gegen seine Schulter drückte, riss er sich aus seinen Gedanken los und nickte. Gewohnheitsmäßig ließ er sein Seherauge über Midgard blicken und wandte sich dann Asgard zu. Noch war alles friedlich, aber eine dunkle Wolke schien über dem Götterheim zu liegen. Und plötzlich zeigte ihm sein Auge eine Vision eines erbitterten Kampfes. Totenkrieger gegen Götter. Odin erstarrte. Asgard war in Gefahr. Blitzartig drehte er sich zu Sleipnir um und legte seinem achtbeinigen Ross eine Hand auf den Hals.
„Du musst schnell zurück nach Asgard, Sleipnir. Warne die anderen Götter. Sie sollen sich zum Kampf rüsten und so lange aushalten wie nur irgend möglich“, sprach der Göttervater dem Tier eindringlich zu. Sleipnir schnaubte und scharrte mit den Hufen. Er hatte verstanden. Und so gerne Odin auch selbst zurückgehen würde, um sein Heim und seine Familie zu beschützen, wurde er hier dringender gebraucht, das fühlte er. Er beobachtete Sleipnir dabei, wie dieser sich umwandte und schließlich aus seinem Sichtfeld verschwand. Dann schritt er um die breiten Wurzeln herum, auf der Suche nach Nidhöggr. Er konnte ihn spüren. Allzu weit konnte er nicht entfernt sein.
Odin holte weiter aus, beschleunigte seinen Schritt. Er durfte nicht zu spät kommen. Wenn Orun bei Nidhöggr war, zählte jede Sekunde. Der riesige Drache durfte die Seele der Walküre nicht in sich aufnehmen; er durfte seine Kraft nicht auf diese Weise stärken. Es würde ihn resistenter gegen die Waffen der Götter machen, und dies wiederum würde es für sie schwieriger machen, gegen Nidhöggr zu bestehen und ihn zurück in seine Schranken zu weisen.
Dann sah Odin seinen riesigen Kopf. Sein Blick wurde grimmig. Voller Entschlossenheit überwandte er die letzte Distanz in einem schnellen Laufschritt. Und doch würde er zu spät kommen, musste er mit Entsetzen im Blick feststellen. Der Kopf der Drachenschlange beugte sich herunter, direkt auf zwei Menschen zu. Der Mann hatte sein Schwert gezogen und sich schützend vor die junge Frau gestellt, die Orun beherbergte. Aber gegen Nidhöggr konnte er nichts ausrichten. Im nächsten Moment wurde er von diesem von den Füßen gerissen und gegen die nächste Wurzel geschleudert, sodass er benommen oder gar bewusstlos auf dem Boden aufkam und sich nicht mehr rührte.


Richard starrte mit Entsetzen und gleichzeitiger Ehrfurcht zu dem riesigen Kopf empor. Die spitzen Zähne waren deutlich zu sehen, die dunklen Augen fixierten die beiden Menschen und schienen jede ihrer Bewegungen, und sei diese noch so klein, zu bemerken und zu verfolgen. Unwillkürlich zog Richard sein Schwert aus der Scheide und stellte sich näher zu Orun. Auch wenn sie gerade die Kontrolle hatte, war es immer noch Thyris Körper, den sie da bewohnte. Und er sollte verdammt sein, wenn er zuließ, dass ihr etwas geschah.
Die roten Augen der Walküre blickten zu Nidhöggr auf und wandten sich nicht von diesem ab. „Nidhöggr“, schrie sie mit lauter Stimme, „es ist Zeit, Ragnarök einzuleiten. Beschleunige den Verfall von Yggdrasil!“
Ein furchterregendes Grummeln drang aus der Brust der riesigen Schlange. Ihre Schuppen glänzten in der Sonne und die Augen funkelten bedrohlich. „Warum sollte ich das tun? Ich lasse mir keine Befehle von einer Sterblichen erteilen“, grollte Nidhöggr und senkte den riesigen Kopf noch etwas weiter.
Die verbannte Walküre stieß ein empörtes Schnauben aus und trat vor, an Richard vorbei, der vergeblich versuchte, sich vor sie zu stellen. „Nun hör endlich auf und lass mich meine Aufgabe vollziehen“, fuhr sie ihn an und wandte ihre roten Augen wieder Nidhöggr zu, als sie erneut zu sprechen begann: „Ich bin Orun, Walküre aus Walhall und ich verlange Rache für das, was man mir angetan hat.“
Nidhöggrs Augen leuchteten plötzlich voller Neugier. Er beugte sich noch weiter vor, seine gespaltene Zunge züngelte heraus und glitt um die Gestalt von Orun. Richard hieb mit dem Schwert nach der tiefroten Zunge, verfehlte diese jedoch.
„Törichter Mensch!“ Nidhöggr schnaubte und schnappte nach Richard. Dies tat er in einem solch rasanten Tempo, dass dieser keine Zeit mehr hatte, um auszuweichen. Die spitzen Zähne bohrten sich in seinen Schwertarm, sodass er sein Schwert fallen ließ. Dann wurde er gegen eine Wurzel geschleudert. Ein lautes Krachen war zu hören und Richard blieb bewusstlos am Boden liegen.
Orun hatte dies teilnahmslos beobachtet, doch als Richard nun dort lag und sich nicht rührte, schrie Thyri innerlich und gewann, aufgrund der plötzlich Intensität an Gefühlen, die Oberhand über ihren Körper zurück.
„Richard!“, schrie Thyri und rannte auf ihn zu. Plötzliche Tränen verschleierten ihre Sicht, als sie sich neben ihn kniete und ihn vorsichtig herumdrehte, mit einiger Mühe. Zärtlich strich sie ihm das Haar aus der Stirn. Eine offene Wunde, außer der an seinem rechten Arm, konnte sie nirgends sehen. Allerdings hatte es so ein fürchterliches Geräusch gemacht, als er gegen die Wurzel geprallt war. Sie hatte Angst, dass er sich ein paar Rippen gebrochen hatte. Aber hier konnte sie das unmöglich feststellen und behandeln, wenn dem so war.
Die junge Frau warf einen ängstlichen Blick auf die riesige Schlange. Ein Schluchzen stieg in ihr auf, welches sie gerade so zurückdrängen konnte. Wie hatte sie nur so blind sein können? Sie hatte geglaubt, Orun wollte sich nur an Odin rächen, weil er einst ihre Liebe zerstört hatte. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber gleich Ragnarök? Das konnte die Walküre einfach nicht ernst meinen. Orun war ihr immer eine gute Freundin gewesen. Als sie noch klein war, sogar mehr wie eine Mutter, da ihre eigene nie wirklich Zeit für sie hatte. Und jetzt sollte Orun sie so hintergangen haben? Ein erneuter Schluchzer stieg in ihr auf, den sie nicht zurückhalten konnte.
Thyri beugte sich tiefer über Richards Oberkörper, ihre Tränen fielen auf sein Hemd. „Mach die Augen auf, Richard, bitte“, flüsterte sie flehend. Wie sollte sie hier nur wieder wegkommen? Was sollte sie jetzt tun? Richard wüsste mit Sicherheit einen Plan.
Ein Rascheln ließ sie herumfahren. Die Schlange hatte sich auf das Gras geschlängelt, sodass nur noch ihr hinterer Teil im Nebel verschwand, und sie bewegte sich langsam auf sie zu. Thyri begann zu zittern. Was sollte sie nur tun?
„Du trägst tatssssächlich eine Walküre in dir, Menschenkind“, zischte Nidhöggr. Unwillkürlich zuckte Thyri zusammen, als sie den streng riechenden Atem der Riesenschlange vernahm. Sie klammerte sich an Richards unverletzten Arm und betete, dass er doch aufwachen möge, um sie vor diesem Ungeheuer zu schützen. „Deine Sssseele im Tausch für meinen Gehorssssam deinem Wunsch gegenüber.“
Thyri runzelte die Stirn ob der verwirrenden Worte und stieß gleich darauf einen spitzen Schrei aus, als der Kopf der Riesenschlange vorschnellte und sich seine raue Zunge um ihren Körper wickelte. Die junge Frau wehrte sich aus Leibeskräften. Tränen flossen ihre Wangen hinab und Schreie verließen ihre Kehle, bis ihre Stimme ganz heiser wurde.
„Richard!“, schrie Thyri mit letzter Kraft und sah hinab zu dem bewusstlosen Mann. Dann verdunkelte sich plötzlich die Welt um sie herum. Es schien, als fiele sie in ein schwarzes Loch. Orun erschien vor ihr, die Augen leuchteten rot und gefährlich. Nidhöggrs Kopf tauchte wie aus dem Nichts aus, seine Zunge schlängelte sich um Orun. Plötzlich riss diese in Entsetzen die Augen auf und öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. Ihre Gestalt verblasste nach und nach. Thyri konnte nur geschockt zusehen.
„Sie ist mein“, hörte sie die Schlange noch sagen, dann durchfuhr sie ein brennender Schmerz und das Nichts schien sie zu rufen, umhüllte sie mit einer wohltuenden Ohnmacht.


Odin sprang über eine Wurzel und kam abrupt zum Stehen. Vor ihm war Nidhöggr. Seine Zunge war um eine Menschenfrau gewickelt und auf dem Boden lag ein bewusstloser Mann. Odins Gesicht wurde blass, als er erkannte, was Nidhöggr tat. Er kam zu spät. Die Seele von Orun war nun im Besitz der Schlange. Das würde den Kampf schwieriger machen. Aber aufgeben durfte er deswegen nicht. Der Untergang einer ganzen Welt stand auf dem Spiel.
In dem Moment, als die Frau zu Boden fiel, hob der Mann den Kopf. Seine Augen weiteten sich, als er das Menschenmädchen sah und er kroch zu ihr, schüttelte sie und redete auf sie ein. Odin schüttelte den Kopf. Nur Hrist konnte dem Mädchen jetzt wohl noch helfen. Eine grausame Trennung von Walkürenseele und Wirtskörper konnte ungeahnten Schaden verursachen. Und Odin spürte, wie nah sie dem Tod war. Nidhöggr war keineswegs sanft vorgegangen. Vermutlich war Orun selbst so perplex gewesen, dass sie nicht einmal die Chance zur Gegenwehr gehabt hatte.
Der Göttervater riss sich von diesen Gedanken los und stürmte auf die riesige Schlange zu. „Nidhöggr“, rief er dabei und hob zielsicher seinen Speer. Nidhöggr wandte ihm langsam den Kopf zu, in seinen Augen blitzte es amüsiert. Doch noch ehe die beiden Kämpfer aufeinander trafen, tauchte plötzlich Loki hinter einer Wurzel auf und stellte sich seinem Blutsbruder mit einem kalten Lächeln in den Weg. Feurige Gestalten traten aus ihren Verstecken hervor und gesellten sich zu ihm.
„So schnell sieht man sich wieder, Bruder“, murmelte Loki. Odin schluckte. Er war eindeutig in der Unterzahl. Seine Finger schlossen sich fester um seinen Speer, sein Blick spiegelte pure Entschlossenheit. Ragnarök musste aufgehalten werden! Mehr zählte nicht.
„Nidhöggr“, begann Loki in aller Seelenruhe, „begib dich an deine Aufgabe. Ich werde mich um Odin kümmern.“
Ohne ein Wort des Protestes, glitt Nidhöggr auf die Nebel zu, um darin zu verschwinden. Odin schrie auf und stürmte auf die riesige Schlange zu, doch Lokis Feuerkrieger versperrten ihm den Weg. Gerade noch rechtzeitig konnte er einem Hieb einer Feuerfaust ausweichen. Er holte aus und durchbohrte den Feuerkrieger, der daraufhin in sich zusammenfiel und zu Glut wurde. Odin wusste, dass er sich wieder neubilden würde, solange der Funken nicht vollkommen gelöscht werden würde, doch dafür hatte er nun keine Zeit, denn die anderen Krieger und Loki selbst attackierten ihn bereits.
Der Kampf hatte begonnen, und Odin war sich im Moment nicht sicher, wer als Sieger daraus hervorgehen würde.





Seele eines Einherjer




Aus den Nebeln, die um Asgard wogten, traten die Gestalten, lautlos und schweigend. In dichten Reihen schritten sie auf die Türen zu. Sie hatten schon ein gutes Stück des Weges hinter sich gebracht, als das Horn von Asgard zu hören war und seine Warnung blies. Leben kam in das friedlich anmutende Heim. Die Krieger, welche unter Hels Führung auf Asgard zumarschierten, blieben nun stehen, während die Todesgöttin noch zwei weitere Schritte vortrat.
Die Türen öffneten sich und heraus kam Freyja. Mit gezogenem Schwert und in einem glänzenden Harnisch trat sie auf Hel zu, blieb ein paar Meter vor ihr stehen. Ihre Augen sprühten Funken des Zorns, ihre Miene war verkniffen. Ihr silberglänzendes Haar trug sie zu einem straffen Zopf geflochten, als hätte sie geahnt, was heute auf die Götter zukam. Niemand sagte ein Wort. Freya ließ ihren Blick über die Krieger von Hel gleiten. Es waren allesamt Tote. Skelette, halb verweste Leichen, sogar einige Geister waren unter ihnen. Hin und wieder war ein schauriger Laut aus den toten Kehlen zu hören und der Wind trug ihren Verwesungsgeruch an ihre Nase.
Hrist hatte sie und die anderen Götter gewarnt, hatte ihnen gesagt, was Odin befürchtete, doch nie hätte sie es für möglich gehalten, dass es wirklich so kommen würde. Und doch hatte sie gespürt, dass irgendetwas auf das Heim der Götter zugekommen war. Dass Hel mit einer kleinen Armee hier auftauchen würde, hätte sie nicht erwartet. Aber warum wunderte sie dies? Wenn Loki gegen Odin arbeitete, so kämpfte Hel an seiner Seite, war sie immerhin seine Tochter. Hrist hatte die Walküren und Einherjer unterrichtet. Sicher würden sie in wenigen Minuten eintreffen, und sie würde mit den Walküren und ihren Kriegern an der Seite Asgard beschützen.
Doch bevor die Schildjungfern ankamen, traten zwei weitere Götter aus dem Götterheim und stellten sich in voller Kampfmontur zu beiden Seiten von Freyja auf. Tyr der Kriegsgott und Heimdall, Schutzgott und Wächter der Brücke Bifröst, welche Midgard und Asgard miteinander verband. Beide hatten ihre Schwerter, wie schon Freyja, gezogen und bauten sich mit ihrer enormen Statur vor den Feinden auf. Blondes und braunes Haar wehte im Wind. Tyrs blaue Augen blitzten wütend und er erhob seine tiefe Stimme: „Hel, du wagst es, bewaffnet und mit deinen Kriegern nach Asgard zu marschieren. Dennoch sei dir gestattet, unbeschadet wieder abzuziehen.“
Die Todesgöttin lachte auf und schüttelte den Kopf. „Ich werde nicht abziehen. Odins Untergang ist gekommen. Und mit seinem auch der eure.“ Mehr sagte sie nicht. Plötzlich hielt sie eine Peitsche mit Dornen in der Hand und stürmte auf die drei Götter zu. Ihre Gefolgsleute folgten ihr unter grausigen Schreien und furchteinflößendem Stöhnen. Schwerter trafen auf Knochen und verfaultes Fleisch. Dann waren plötzlich die Schlachtrufe der Einherjer zu hören. Einen winzigen Moment sah Freyja zurück und warf einen Blick auf die näherkommenden Walküren mit ihren Kriegern. Kara führte sie an. Nur wenig später stießen sie zu ihnen und wütenden unter den lebenden Toten. Sie waren nicht länger in der Unterzahl.


Thor ließ die Zügel knallen und trieb seine beiden Ziegenböcke weiter an. Yggdrasil war breit und die dicken Wurzeln verhinderten es, dass sie den Streitwagen auf dem Boden um den Stamm herumführten. So hatten sie sich wieder in die Lüfte erhoben und waren auf dem Weg, um zu Odin zu stoßen. Eile war geboten. Genau wie Baldur hatte auch er gespürt, dass der Kampf begonnen hatte. Zudem hatten sie diese seltsame Kraftwelle gespürt. Baldurs Gesicht war blass. Schlimmes befürchtete er, doch er sprach es nicht laut aus.
Den ganzen Weg machte er sich Gedanken über das Gesagte der Nornen. Eine Seele eines Einherjer. Er war sich immer noch nicht sicher, was Nidhöggr mit einer solchen anfangen sollte. Klar war, dass in diesem Menschen, der Orun begleitete, eine solche schlummerte. Und genauso bewusst war ihnen, dass Nidhöggr wohl Oruns Seele, die Seele einer Walküre, in sich aufgenommen hatte. Lange war es her, dass dies vorgekommen war. Nun besaß Nidhöggr weitaus größere Macht als üblich. Odin konnte also ernsthafte Schwierigkeiten bekommen. Zudem spürte Baldur noch eine andere Präsenz, die ihn sehr an Loki erinnerte. Aber noch wollte er das nicht wahrhaben. Er musste einen Plan entwickeln, der es ihnen ermöglichte Nidhöggr zu besiegen und Loki wieder in seine Schranken zu weisen. Ragnarök durfte nicht eingeleitet werden. Der Verfall von Yggdrasil musste verhindert werden. Dies war allen bewusst.
„Ich sehe sie“, riss Thor ihn aus seinen Gedanken. „Sie kämpfen bereits.“
Baldur sah auf und folgte Thors ausgestrecktem Arm. Und tatsächlich, auf einer großen und freien Fläche zwischen einigen Wurzeln lieferten sich Odin und Loki einen erbitterten Kampf, und der Göttervater unterlag. Lokis Feuerkrieger umzingelten ihn und schlugen von allen Seiten auf ihn ein. Ein Mann kniete neben einer scheinbar bewusstlosen Frau, welche er in seinen Armen hielt. Niemand schien ihn zu beachten. Von der riesigen Schlange war nichts zu sehen, doch kaum hatte Baldur dies gedacht, ging ein gewaltiger Ruck durch Yggdrasil und ließ den Baum erzittern. Der junge Gott riss in Entsetzen die Augen auf. Sein älterer Bruder warf ihm einen besorgten Blick zu.
„Nidhöggr beginnt bereits, Thor. Er attackiert die Wurzeln“, stieß Baldur hervor. Der Donnergott nickte nur mit grimmig entschlossener Miene.
Schlitternd setzte der Wagen auf dem Gras auf. Kaum dass dieser stillstand, sprangen beide Götter heraus. Baldur lief sogleich auf die beiden Menschen zu und wich den Kämpfenden aus, wenn einer ihm zu nahe kam. Er war kein Kämpfer. So sehr es ihn auch danach verlangte seinem Vater zu helfen, so wäre er keine große Hilfe, sondern würde viel mehr im Weg stehen. Thor hatte seinen Hammer gezückt, seine roten Haare gaben ihm ein wildes Aussehen, wie sie da im Wind wehten, als er sich in das Kampfgetümmel warf.
Der Mann hob erschrocken den Blick und sah ihn aus blauen Augen an, als Baldur sich zu den beiden kniete. Seine Augen wurden noch größer, wenn das überhaupt möglich war. „Keine Sorge. Ich werde dir nichts tun“, beschwichtige Baldur ihn sogleich. Er musterte die bewusstlose Frau und legte ihr schließlich eine Hand auf die kalte Stirn. Ihr Atem ging nur noch flach und sie war bleich.
„Was ist mit ihr?“, fragte der junge Mann besorgt. Baldur sah ihn mitfühlend an. Er wusste genau, was los war. Allerdings hatte er keine Ahnung, wie weit dieser Mensch in das Geschehene eingeweiht war, wie viel er wusste. Ein kleiner Seufzer entrang sich ihm.
„Orun wurde ihr entrissen“, murmelte der Gott schließlich, viel mehr zu sich selbst, als zu irgendwem sonst.
„Die Walküre?“
Baldur hob überrascht den Blick, als dieser Mann ihn mit diesem Wissen konfrontierte. Also wusste er davon. Er nickte. „Nidhöggr hat ihr einen wichtigen Teil ihrer selbst entrissen. Die beiden Seelen waren schon zu sehr miteinander verschmolzen, sodass sie nicht ohne Schaden auseinandergerissen werden konnten.“
„Und was heißt das?“, verlangte der Mensch zu wissen. Aus seinen Augen sprach Sorge. Ehrliche Sorge um das Mädchen.
Baldur seufzte erneut und fragte dann: „Wie heißt du?“
Für einen Augenblick erntete er nur einen verwunderten und beinahe irren Blick, doch dann atmete der Mann tief durch und murmelte: „Richard.“
Baldur nickte wieder und rückte näher an die beiden Menschen heran. Es gab nichts, was er für das Mädchen tun konnte. Allein Hrist könnte ihr vielleicht helfen, oder eine andere ranghohe und mächtige Walküre. Dennoch standen die Chancen gering, zumal Hrist auch gar nicht hier war, sondern Asgard verteidigte, falls es angegriffen werden sollte.
Baldur ignorierte den Kampflärm und die Kämpfenden und sagte: „Ihre Seele war lange Zeit mit der von Orun verbunden. Es wird nicht nur ein bloßer Schock gewesen sein, als Nidhöggr diese in sich aufgenommen hat.“
„Warum hat man ihr dies überhaupt angetan? Warum war diese Seele in ihrem Körper?“, fragte Richard leise, sein Blick stur auf das Mädchen gerichtet. Baldur seufzte erneut.
„Wir Götter töten keine Walküren“, begann er nach einer Weile schließlich. „Dazu sind wir auch gar nicht in der Lage. Nur eine andere Walküre kann eine ihrer Art töten. Aber Orun, obwohl sie einen schweren und unverzeihlichen Fehler begangen hatte, verdiente den Tod nicht. Odin wollte ihr eine zweite Chance geben. So sperrte er sie mit Hilfe der obersten Walküre in einen menschlichen Körper. Oruns Seele sollte dort ein Menschenleben lang schlafen und nach dieser Zeit zurück nach Walhall geholt werden, um zu sehen, ob sie wieder … zu Sinnen gekommen war.“ Der junge Gott machte eine kurze Pause und musterte ein weiteres Mal das blasse Antlitz der Menschenfrau. „Orun war stark genug, um zu erwachen und hat das Mädchen für ihre Zwecke missbraucht.“
„Sie heißt Thyri“, flüsterte Richard. Eine einzelne Träne lief über seine Wange. „Kann ihr denn wirklich nicht geholfen werden?“ Hoffnungsvoll blickte er den Gott an. Richard war sich nicht sicher, was von alldem um ihn herum wirklich passierte. Er war sich nicht einmal sicher, ob er dies vielleicht alles nur träumte und ob er all dies verstanden hatte, was ihm da erzählt worden war. Aber fest stand, dass es Thyri schlecht ging. Und er wollte ihr helfen. Er sah das Zögern des Gottes und wollte schon weiter in ihn dringen, als der Gott Luft holte.
„Es gibt eine Möglichkeit. Hrist könnte ihr helfen, aber sie ist nicht hier“, fing Baldur an und begegnete Richards flehendem Blick. Und da sah er es zum ersten Mal. Ein Aufflackern einer Kraft, die dem Menschen wohl nicht bewusst war. Innere Stärke, schoss es Baldur durch den Kopf. Plötzlich war ihm alles klar. Dieser Mann hatte wahrlich die Seele eines Einherjer. Er würde eines Tages den Kuss der Walküren empfangen und in die Hallen von Walhall einziehen. Er trug eine seltene Kraft in sich, die Nidhöggr noch nicht bemerkt hatte, sonst hätte dieser auch Richards Seele in sich aufgenommen.
In Baldurs Augen leuchtete neuer Eifer. Vielleicht war noch nicht alles verloren. Vielleicht konnten sie diese Frau retten und Ragnarök verhindern. Aber sie mussten schnell handeln. Er würde Richards Hilfe brauchen. Besser gesagt, die Kraft, die noch in seiner Seele schlummerte. Der Seele eines Einherjer.
„Du musst genau tun, was ich dir sage! Nur dann können wir vielleicht nicht nur dem Mädchen helfen“, sagte Baldur eindringlich. Richards Blick spiegelte plötzlich Entschlossenheit wider. Er nickte.
„Alles“, murmelte er. „Ich werde alles tun, was nötig ist.“





Unterstützung




Es war ein unausgeglichener Kampf. Ein Gott samt fünf Kriegern aus Feuer und Asche gegen den Allvater und seinen ältesten Sohn. Odin und Thor erwehrten sich ihrer Haut so gut es ging, doch schon jetzt trugen sie viele kleine Wunden aus dem Kampf davon. Die Feuerkrieger nahmen keine Rücksicht, genauso wenig wie Loki selbst, der mit seinem Schwert gezielte Schläge austeilte und immer dann zuschlug, wenn sie es am wenigsten erwarteten.
Thors Hammer fuhr mit voller Wucht auf einen der Krieger hinunter. Das Feuer loderte auf, umhüllte die Gestalt, die in sich zusammensackte und im nächsten Augenblick schon wieder auf den Beinen stand. Der Donnergott stieß einen Fluch aus und wehrte auch weiterhin Schlag um Schlag ab. Die Krieger konnten auf diese Weise nicht besiegt werden, doch war ihm bisher nicht klar, wie man sie vernichten könnte. Aus dem Augenwinkel warf Thor seinem Bruder einen kurzen Blick zu. Baldur hatte sich zu den zwei Menschen gekniet und redete auf den Mann ein. Thor hatte keine Ahnung, was er dort machte, aber er hoffte, dass es ihnen half. Sie durften diesen Kampf einfach nicht verlieren. Er schnaubte. Wie oft hatte er diesen Gedanken nun schon gedacht? Und es hatte nichts an der Situation geändert. Verbittert kämpften sie gegen Loki und seine Krieger, und gegen die Zeit.
Ein Beben lief durch den Boden und brachte den Donnergott ins Straucheln. Die flammende Klinge seines Gegners zischte haarscharf an ihm vorbei. Im selben Moment sprang Thor nach vorne und rammte ihm seinen Hammer gegen die Brust. Das Feuer, das durch die Adern des Mannes floss, glühte auf; die schwarze Haut aus Kohle und Asche schien für einen Moment grau zu werden und zu verfallen, doch dann drang erneut das Feuer hervor, brachte die Glut wieder zum Glühen. Der Krieger kämpfte weiter. Es war unmöglich, diese Gegner zu besiegen, dachte sich Thor verärgert.
Aus den Augenwinkeln sah er seinen Vater, der gleich von drei der fünf Gestalten attackiert wurde. Loki hüpfte am Rand des Kampfes umher, wandte sich seinem Blutsbruder zu, um im nächsten Moment einen Schlag gegen Thor auszuführen. Ein grausames Lächeln lag auf seinen Zügen und in seinen Augen glänzte Freude. Loki genoss den Kampf und die Hilflosigkeit der beiden Götter. Baldur schien er gar nicht zu bemerken. Thor hoffte, dass dies auch so blieb. Zwar war er sich nicht sicher, wie und ob Baldur ihnen helfen konnte, doch solange ein Gott gegen Loki antrat, würde er mit Sicherheit scheitern. Solange es noch einen gab, der dem Feuergott die Stirn bot.
Thors Gedanken wandten sich wieder dem Kampf zu. Er atmete bereits heftig und Schweiß lief ihm über die Stirn, durchtränkte sein Hemd. Seine Muskeln stachen deutlich hervor, spannten sich an, als er den Hammer wieder und wieder herabsausen ließ, einen Schlag nach dem anderen parierte.

Baldur beobachtete mit wachsender Besorgnis den Kampf. Es hatte sich noch nichts getan. Keiner schien zu gewinnen. Widerstrebend wandte er sich wieder ab und sah Richard eindringlich an.
„Konzentriere dich“, befahl der Gott. Richard nickte und schloss die Augen. Thyris Hand hielt er in den seinen. Er atmete tief durch und versuchte, Baldurs Anweisungen nachzukommen. Der Gott der Gerechtigkeit hatte es ihm in wenigen Worten erklärt. Richard musste ihm einfach vertrauen und machen, was er von ihm verlangte. Alles andere würde zu lange dauern. Also konzentrierte sich Richard, um ruhig zu werden. Er dachte an nichts, auch wenn ihm dies äußerst schwer fiel. Immerhin lag Thyri bewusstlos vor ihm und rührte sich nicht. Er konnte sich nicht einmal sicher sein, ob sie das hier überleben würde. Richard schluckte, als er daran dachte. So weit durfte es gar nicht kommen.
„Atme ruhig. Konzentrier‘ dich und gewähre mir Zugang zu deiner Seele“, hörte er Baldur sagen. Richard atmete tief durch. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er sich verspannt hatte. Langsam beruhigte sich sein wild schlagendes Herz. Die Geräusche um ihn herum ebbten ab. Er fühlte nur noch seinen gleichmäßigen Herzschlag, die Hand von Thyri in seiner.
Richard horchte in sich hinein und versuchte, irgendetwas von dem wahrzunehmen, was Baldur ihm beschrieben hatte. Eine ungeahnte Kraft, ein seltsames Gefühl, unerklärbares Wissen. Doch der Mann fühlte nichts dergleichen, nur Hilflosigkeit und Sorge.
Er wollte schon aufgeben und die Augen wieder öffnen, als er ein leichtes Zupfen wahrnahm. Es schien von innen zu kommen, direkt an seiner Seele zu rühren. Instinktiv versteifte er sich und war bereit, sich und Thyri zu verteidigen, doch das sollte nicht nötig sein. Plötzlich erklang Baldurs Stimme in seinem Kopf und murmelte beruhigende Worte, woraufhin sich Richard wieder entspannte und ruhig wurde. Und dann spürte er es: Eine ungewohnte Kraft schien sich in ihm auszubreiten. Adrenalin schoss durch seinen Körper, sein Herzschlag beschleunigte sich wieder. Sein Innerstes schien bersten zu wollen, da es dieser ungeheuren Kraft nicht standhalten konnte.
Richard konnte nicht beschreiben, was er in diesem Moment fühlte. Er war sich nicht einmal sicher, was es war, das ihn sich plötzlich so stark fühlen ließ.
„Rufe nach Thyri“, sagte Baldur leise, und Richard tat es. Mit all seinen Gedanken, seiner ganzen Seele schrie er nach Thyri, während ihr Name nur als ein Flüstern über seine Lippen kam. Ein Teil seiner Stärke schien aus ihm herauszufließen und auf die bewusstlose Frau überzugehen. Er ließ es widerspruchslos geschehen. Wenn er ihr so helfen konnte, sollte es ihm nur recht sein.
Auf einmal fühlte er sich erschöpft. Er sackte in sich zusammen und öffnete die Augen, atmete schwer. Die Kraft, die Stärke war verschwunden. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Richard warf einen kurzen Blick zu Baldur. Dieser sah konzentriert auf Thyri hinab. Aus seiner Miene war nichts zu lesen. Also senkte Richard den Blick wieder nach unten und betrachtete Thyris bleiches Gesicht. Er drückte ihre Hand fester.
Baldur beobachtete Richard aus den Augenwinkeln. Der Junge war erschöpft, doch er hatte seine Arbeit gut gemacht. Seine Seele war wahrlich die eines Einherjer. Sie hatte auf das Vertraute in Thyri reagiert, auf die Präsenz der Walküre, die immer noch an dem Mädchen haftete. Walküren und Einherjer waren auf eine Art und Weise miteinander verbunden, die vielen unerklärlich war. Diese zwei Arten bildeten eine Einheit. Ohne das Eine, gab es das Andere nicht.
Ein plötzliches Beben brachte die Weltenesche erneut zum Schwanken. Baldur musterte den breiten Stamm besorgt. Noch waren keine Anzeichen für ihren Verfall zu sehen, doch das konnte sich schnell ändern. Ein lautes Brüllen riss den jungen Gott aus seinen Gedanken und ließ ihn herumfahren. Aus den Augenwinkeln sah er, dass auch Richard den Blick hob und sich verwirrt und besorgt umsah. Da teilte sich der Nebel leicht und Nidhöggr kam zum Vorschein.
Baldurs Gesicht wurde fahl. Die Schlange ignorierte die Kämpfenden und schlängelte sich durch das weiche Gras direkt auf sie zu. Baldur schluckte. Hatte Nidhöggr den Einherjer in Richard gespürt? Hatte er diese Kraft gespürt? Der Gott der Gerechtigkeit erhob sich und wandte den beiden Menschen den Rücken zu. Nidhöggr durfte die Seele des Einherjer nicht auch noch in sich aufnehmen. Das musste er um jeden Preis verhindern!
Lautlos kam die riesige Schlange näher. Der hintere Teil des gewaltigen Leibes verschwand immer noch im Nebel, als sie dicht vor ihnen stoppte und auf sie herabblickte. Die dunklen Augen funkelten gierig, die gespaltene Zunge züngelte hervor, die Schuppen glänzten in der Sonne. Es war ein beeindruckender und zugleich furchteinflößender Anblick, der sich ihnen bot.
„Nidhöggr!“, hörte Baldur seinen Vater schreien. Odin versuchte, sich aus dem Kampfgetümmel zu lösen, doch zwei der Feuerkrieger versperrten ihm den Weg und auch Loki stellte sich ihm nun entgegen, um ihn daran zu hindern der Drachenschlange zu nahe zu kommen.
„Geh mir ausssss dem Weg“, verlangte Nidhöggr mit grollender Stimme. Baldur konnte nur den Kopf schütteln. Er traute seiner eigenen Stimme nicht. Er schluckte. Ein verzweifelter, hilfesuchender Blick wanderte zu seinem Bruder, doch der sah ihn nicht, war zu sehr mit seinen Gegnern beschäftigt.
Nidhöggrs Kopf senkte sich. Baldurs Herzschlag verdoppelte sich. Da tauchte plötzlich eine Schwertspitze neben ihm auf, die direkt auf die große Schlange deutete. Richard stand neben ihm, mit entschlossenem Blick und immer noch schwer atmend. Seine Hände zitterten leicht und damit auch die Klinge, welche er von sich streckte.
„Du wirst Thyri nicht bekommen“, stieß der junge Mann hervor. Ein grollendes Lachen kam aus Nidhöggrs Kehle, während er sich noch weiter vorbeugte und Richard gierig musterte.
„Ich will dich!“, erwiderte Nidhöggr nur und schnellte nach vorne. Der junge Mann hatte keine Zeit zu reagieren. Baldur neben ihm stieß einen entsetzten Schrei aus und riss ihn zu Boden. Der Kopf der Riesenschlange glitt nur wenige Zentimeter über sie hinweg, dann zog sie diesen wieder zurück und stieß erneut zu. Entsetzt und verzweifelt starrten Richard und Baldur dem offenen Maul entgegen. Plötzlich bohrte sich ein Pfeil in Nidhöggrs Seite. Schmerzerfüllt schrie dieser auf und riss seinen Kopf zurück, musterte den leuchtenden Pfeil aus Licht. Blut lief über seine Schuppen.
Baldurs Augen wurden größer. Ein Walkürenpfeil! Sein Blick suchte den Ursprung und er hätte beinahe erleichtert losgeheult, als er Hrist auf sie zu rennen sah. Obwohl er die Tränen erfolgreich zurückhielt, konnte er ein glückliches Wimmern nicht vollständig unterdrücken. Doch niemand schien es zu bemerken. Richard lag wie erstarrt auf dem Boden, sein Blick wanderte zwischen der Walküre und Nidhöggr hin und her, das Schwert hielt er immer noch fest umklammert.
Mit Hrist kamen auch einige Einherjer. Baldur atmete erleichtert auf. Nun würde sicher doch noch alles gut enden. Er sah, wie die Schildjungfer den Kriegern Befehle erteilte. Noch im Gehen zog sie ihr Schwert. Einige der Einherjer lösten sich aus der Gruppe und eilten Odin und Thor zu Hilfe, die anderen blieben bei Hrist und stellten sich Nidhöggr, der sich nun der neuen Gefahr entgegengestellt hatte. Sein Blick war furchteinflößend und mordbegierig.
Ein weiterer leuchtender Pfeil erschien wie aus dem Nichts in Hrists Hand. Nidhöggr brüllte, schnellte auf sie zu. Im selben Moment warf die oberste Schildjungfer ihren Pfeil und traf die riesige Schlange direkt unterhalb des Maules, wo die verwundbarste Stelle lag. Das markerschütternde Brüllen von Nidhöggr hallte über die ganze Weite und ließ die Wurzeln von Yggdrasil erzittern.
Schon war die Walküre heran und kniete sich neben Baldur, während die Einherjer Nidhöggr fortdrängten und ihn in Schach hielten. Ihnen war klar, dass sie die Schlange nicht töten konnten, aber aufhalten konnten sie diese.
Baldur lächelte Hrist voller Dankbarkeit und Erleichterung entgegen. Die Walküre half ihm auf, dann packte sie auch Richard und zog ihn grob in die Höhe. „Zieht euch hinter die Wurzeln zurück, weiter weg vom Kampfplatz!“, befahl Hrist, schnappte sich die bewusstlose Frau und rannte hinter die nächste dicke Wurzel. Baldur und Richard folgten instinktiv. Bevor Hrist die junge Frau ablegen konnte, war Richard heran und hatte sie ihr aus dem Arm genommen. Die Walküre zuckte nur mit den Schultern und wandte sich an Baldur. „Bleibt hier“, sagte sie eindringlich. „Ich werde wiederkommen, sobald das hier vorbei ist.“ Sie warf Thyri einen undeutbaren Blick zu.
„Nidhöggr hat ihr Oruns Seele entrissen“, sagte Baldur leise.
Hrists Augen weiteten sich. Sie starrte den jungen Gott einen Moment einfach nur an. Anschließend nickte sie. „Ich werde mich später um das Mädchen kümmern.“
Baldur lächelte dankbar. Ohne ein weiteres Wort, wandte sich die Schildjungfer von ihm ab und rannte auf ihre Einherjer und die Riesenschlange zu. Wieder erschien ein Walkürenpfeil in ihrer Hand. Sie verlangsamte ihre Schritte und kam schließlich vor dem blutenden Nidhöggr zum Stehen. Dieser schnappte immer wieder nach den Einherjer, die sich jedoch nicht erwischen ließen. Er war der Raserei nahe. Hrist trat vor.
„Nidhöggr“, schrie sie und hatte sofort seine ungeteilte Aufmerksamkeit, „du siehst den Pfeil. Verhalte dich ruhig oder ich werde ihn dir in dein verdammtes Herz schleudern.“
Ein tiefes Grollen kam aus der Brust der Drachenschlange, doch sie blieb ruhig, verharrte wo sie war. Die Walküre nickte zufrieden. Vorerst musste das genügen. Sie mussten auf Odin warten, doch dieser kämpfte noch mit Loki. Nur zu gern wäre Hrist jetzt an seiner Seite, aber der Walkürenpfeil war eine der wenigen Waffen, die Nidhöggr wirklich Schmerzen zufügen konnten, und diese verabscheute die Schlange. Doch plötzlich zuckte der Kopf dieser nach vorne, direkt auf die Schildjungfer zu.




Göttlicher Zauber




Verbissen kämpften Odin und Thor gegen die Feuerkrieger und Loki. Thor wütete unter den glühenden Kriegern und machte seinem Titel als Donnergott alle Ehre. Lautes Donnern erklang, als er nun seinen Hammer auf den Kopf eines der Feuermonster niedersausen ließ. Der Krieger taumelte zurück; das Feuer, das ihn am Leben hielt, flackerte für einen Moment und loderte dann neu auf, damit er weiterkämpfen konnte. Den beiden Göttern lief der Schweiß hinunter, doch auch Loki war außer Atem. Selbst mitzukämpfen und gleichzeitig seine Feuerkrieger am Leben zu erhalten forderte allmählich auch bei ihm seinen Tribut. Doch noch war es nicht vorbei, also würde er auch nicht aufgeben.
Hinter ihnen, in einiger Entfernung, kämpften die Einherjer und Hrist mit Nidhöggr. Odin warf ihnen einen raschen Blick zu, bevor er mit seinem Speer einen Schlag von Loki abblockte. Er musste Hrist zu Hilfe eilen. Sie konnte nichts gegen die Riesenschlange ausrichten, außer diese zu verletzen, aber das würde Nidhöggr nicht lange zurückhalten. Sie mussten diesen Kampf hier endlich beenden.
„Willst du nicht aufgeben, Bruder?“, fragte Loki atemlos, während er erneut nach ihm schlug. Schwert und Speer trafen Funken sprühend aufeinander.
„Du wirst verlieren, Loki. Nur du.“ Odin versetzte seinem Blutsbruder einen kräftigen Tritt in den Bauch, der ihn zurückwarf und dem Allvater eine kurze Atempause verschaffte. Dann warf er aus einem Instinkt heraus seinen Speer, direkt auf Loki zu. Die Spitze des Speeres sauste haarscharf am Kopf des Feuergottes vorbei, der übermütig auflachte, als die Waffe ihn verfehlte.
„Freu dich nicht zu früh, Bruder“, murmelte Odin. Schon drehte der Speer in seiner Flugbahn um und sauste von hinten auf den Feuergott zu, der davon nichts mitzubekommen schien. Sein Speer Gungnir verfehlte nie das Ziel. Und das würde er auch dieses Mal nicht.
Gungnir bohrte sich von hinten durch Lokis Seite und blieb stecken. Der Feuergott keuchte schmerzerfüllt, fasste hinter sich nach dem Griff des Speeres, doch ihn rauszuziehen schaffte er nicht. Langsam sackte er in sich zusammen, fiel auf die Knie. Durch den dunklen Stoff seines Hemdes war das Blut, welches aus der Wunde lief, nicht zu sehen. Loki presste seine Hand fest auf die Wunde.
Plötzlich kam Wind auf, die Feuerkrieger hatten in ihrem Kampf innegehalten. Verwirrt blickten sie sich um, während die Glut langsam erlosch und verblasste. Einen kurzen Moment standen sie da, bestanden nur noch aus Asche und Ruß, dann verfielen sie und der Staub wurde vom Wind davongetragen. Nichts blieb von ihnen übrig, als hätte es sie nie gegeben.
Thor stand schwer atmend und zum nächsten Schlag bereit da und blickte sich nun irritiert um. Sein Blick fiel auf seinen Vater, der vor dem knienden Feuergott stand. Er trat zu ihnen.
„Ragnarök wird nicht geschehen“, sagte Odin mit entschlossenem Blick. Loki lächelte nur verächtlich.
„Es ist noch nicht vorbei, mein Bruder“, erwiderte der Feuergott gepresst und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. „Nidhöggr hat die Walkürenseele in sich aufgenommen. Er wird nicht aufhören an Yggdrasils Wurzeln zu nagen, in verstärktem, schnellerem Tempo. Und du wirst ihn nicht aufhalten können.“ Loki lachte, hielt aber abrupt inne, als ihn erneut der Schmerz durchzuckte. Mit einem schnellen Ruck hatte Odin seinen Speer aus seinem Blutsbruder gezogen und hielt ihn fest umfasst. Der Feuergott schrie auf und fiel zur Seite. Schmerz verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, während er beide Hände auf die blutende Wunde drückte und hasserfüllt zu Odin aufsah.
„Du wirst für deine Taten zur Rechenschaft gezogen werden, Loki“, sagte der Allvater kühl und wandte sich dann an Thor. „Gib darauf Acht, dass er ruhig bleibt. Ich werde mich um Nidhöggr kümmern.“
Sein Sohn nickte hastig. Odin wandte sich von ihm ab und sah zu der riesigen Schlange hinüber. Die Einherjer hatten sie umzingelt und Hrist stand vor dieser mit einem ihrer Walkürenpfeile in der Hand. Es schien so, als hätten sie Nidhöggr unter Kontrolle. Aber plötzlich ruckte sein Kopf vor, schoss genau auf die Schildjungfer zu. Der Allvater riss entsetzt die Augen auf. Er rannte los, obwohl er wusste, dass er nicht rechtzeitig kommen würde. Im Rennen schleuderte er seinen Speer, zielte mit diesem auf die Riesenschlange.
Das entsetzte Schreien der Einherjer war zu hören. Nidhöggr schleuderte die Männer zur Seite, als wären sie nicht mehr als Spielzeuge für ihn und widmete sich wieder ganz der Walküre, die hastig vor ihm zurückwich. Doch der Schlangenkopf schnellte nach vorne. Hrist sprang instinktiv zur Seite und entging damit nur knapp einem tödlichen Hieb. Stattdessen bohrten sich Nidhöggrs spitze Zähne in ihren Arm.
Hrist schrie auf und rammte der Schlange ihren Pfeil gegen den Kopf, ungezielt, aber es erzeugte die gewünschte Reaktion. Nidhöggr ließ sie los und brüllte laut, setzte jedoch zu einem neuen Angriff an. Allerdings war da schon Odins Speer heran und bohrte sich nun in den Hals der Schlange. Ein erneutes Brüllen verließ das gewaltige Maul.
Die oberste Schildjungfer wurde augenblicklich von einigen Einherjer umgeben. Dann war Odin heran und neben ihr. „Ist alles in Ordnung?“, wollte er wissen. Seine Walküre biss die Zähne zusammen und nickte. Kurz besah er sich die Wunde, die doch tiefer war, als er erst gedacht hatte. Doch darum konnte er sich jetzt nicht kümmern. Beinahe ruckartig wandte er sich wieder der riesigen Schlange zu, die nun wild den Kopf schüttelte. Gungnir löste sich aus dem Fleisch der Drachenschlange und kehrte zielsicher in Odins ausgestreckte Hand zurück, so wie er es immer tat.
Der Allvater trat einen Schritt vor, auf Nidhöggr zu, der ihn misstrauisch und leise knurrend beobachtete. Sofort waren zwei Einherjer an seiner Seite. Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass auch Hrist sich zu ihm gesellen wollte, doch er schüttelte den Kopf, was sie augenblicklich zum Stoppen brachte. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Nidhöggr zu. Er spürte die neue Kraft, die sein Gegner ausstrahlte, und welche er von Orun übernommen hatte.
Langsam entspannte Odin seine angespannten Muskeln und konzentrierte sich auf seine ganz eigene Kraft als Göttervater. Im Grunde war es bereits vorbei. Loki hatte nie wirklich eine Chance gehabt, und er verstand es immer noch nicht, warum sein Bruder ausgerechnet jetzt gehandelt hatte. Immer wieder lagen sie im Konflikt miteinander und nicht selten endete dies in Kämpfen. Doch dies gehörte zu ihrem Kreislauf, zu ihnen selbst. Aber Ragnarök sollte noch nicht geschehen. Es war noch nicht soweit. Loki musste dies genauso spüren wie er selbst. Warum also hatte er es dennoch versucht? Odin schüttelte all diese Gedanken ab. Dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Er würde sich später mit Loki beschäftigen.
Erneut konzentrierte er sich auf seine Kraft, schloss halben die Augen. Die Einherjer hielten Nidhöggr in Schach. Odin spürte, wie die Macht in ihm anschwoll und sich sammelte. Aber seine Kraft alleine würde nicht reichen, um Nidhöggr wieder in seine Schranken zu weisen. Nicht mit der Walkürenseele, die er aufgenommen hatte.
Vorsichtig ließ er seinen Geist die Umgebung abtasten. Er spürte die ungeheuerliche Kraft der Weltenesche und griff sachte darauf zurück. Er würde nur einen kleinen Teil dieser gewaltigen Energie brauchen, und Yggdrasil würde ihm diese sicher überlassen.
Einen Moment später spürte er, wie ihn Yggdrasils Kraft erfüllte. Es kam ihm so vor, als müsste er strahlen. Plötzlich fühlte er sich ausgeruht und wieder so kräftig wie zuvor, sogar noch kräftiger. Der Griff um seinen Speer wurde fester.
„Es wird Zeit, dass du an deinen Platz zurückkehrst, Nidhöggr“, sagte Odin entschlossen. Die Schlange knurrte, schnappte nach den Einherjer und versuchte zu dem Gott vorzudringen. Die Reihe der Einherjer wurde auseinandergerissen, der Kopf der Riesenschlange schoss wütend auf Odin zu. Dieser blieb gelassen stehen und ließ sich weiterhin von dieser reinen und starken Kraft durchströmen.
„Kehre zurück!“, befahl er und streckte seine freie Hand aus. Ein gleißendes Licht schoss daraus hervor, umhüllte ihn und wenig später die ganze Umgebung. Odin schloss geblendet die Augen. Wie aus weiter Ferne hörte er ein Brüllen, dann ging ein Beben durch den Boden. Hatte er etwas falsch gemacht? Hatte sein Gotteszauber doch nicht gewirkt? Oder warum bebte der Boden so? Zögernd öffnete er die Augen. Das grelle Licht war verschwunden. Odin sah sich um. Das Beben hielt noch einen Moment an, bevor es schlagartig aufhörte. Der Göttervater schluckte. War es nun vorbei?
Yggdrasil erstrahlte und schien so lebendig wie zuvor. Leben pulsierte durch seine Wurzeln und den Stamm, bis hinauf in die Baumkrone.
Gerade so sah er noch, wie der letzte Teil von Nidhöggr im Nebel verschwand. Die Lichtung, auf der sich der Weltenbaum befand, wirkte so friedlich und rein wie vor dem Kampf. Einen Augenblick herrschte absolute Stille, dann ging ein Aufatmen durch alle Anwesenden. Es war vorbei. Es war wahrlich vorbei. Odin drehte sich zu Hrist um.
„Ihr habt es geschafft“, sagte sie lächelnd. Der Göttervater nickte nur und betrachtete jetzt ihre Wunde. Noch hatte er einen kleinen Rest der Kraft von Yggdrasil in sich. Diesen ließ er nun in seine oberste Walküre fließen und heilte damit ihre Wunde.
„Habt Dank, Odin.“ Hrist schmunzelte und lehnte sich gegen den Einherjer neben ihr, der sofort einen Arm um sie legte.
„Vater!“ Die Stimme ließ Odin herumwirbeln. Baldur winkte von einer der Wurzeln zu ihm herüber, dann verschwand er dahinter. Scheinbar war es noch nicht ganz vorbei, überlegte Odin stirnrunzelnd. Gefolgt von Hrist und dem Einherjer, der immer noch den Arm um sie gelegt hatte, eilte er zu seinem Sohn. Hinter der Wurzel kniete Baldur bereits neben einer bewusstlosen jungen Frau, in der Odin sofort die Trägerin von Orun erkannte. Ein Mann saß neben ihr und hielt ihre Hand.
Hrist trat wortlos an ihm vorbei und kniete sich zu ihnen. Odin sah schweigend zu. Die Walküre ließ eine Hand über ihrem Gesicht schweben, bevor sie zu ihrer Brust glitt und darüber verharrte. Ihr Blick traf den von Odin. „Sie stirbt“, sagte Hrist, was den Mann zusammenzucken ließ. „Aber es würde eine Möglichkeit geben. Sie besitzt noch einen Rest von Oruns Kraft. Die Walküre ist sehr ausgeprägt in ihr.“
Odin nickte und überlegte einen Moment. Sein Sohn sah ihn bittend an. Er wusste, um was sie ihn baten. „Meinetwegen. Auf deine Verantwortung, Baldur.“
Sein Sohn nickte eifrig, lächelte und wandte sich, genau wie Hrist, wieder der jungen Frau zu. Hrists Hand leuchtete auf. Wärme breitete sich um die Bewusstlose aus, das Licht umhüllte sie. Die Walküre konzentrierte sich und ließ einen Teil ihrer eigenen Kraft, ihrer eigenen Magie in die Frau fließen. Sie beugte sich vor und gab der jungen Frau einen Kuss auf den Mund. Den Kuss der Walküren.
Schweigend und staunend beobachtete Richard, wie die Farbe in Thyris blasse Haut zurückkehrte und ihre Atmung kräftiger und regelmäßiger wurde. Er fühlte sich wie in einem Traum, war sich nicht sicher, ob dies alles wirklich geschah, ob vor ihm wirklich Götter, Walküren und Einherjer standen. Doch im Moment war nur Thyri wichtig für ihn. „Was wird nun geschehen? Wird sie überleben?“, wollte Richard wissen, als das Licht verblasste und Hrist aufstand.
Baldur legte ihm eine Hand auf die Schulter und lächelte ihm zu. „Sie wird überleben.“
Richard atmete erleichtert aus und strich Thyri eine Haarsträhne hinter das Ohr.
„Aber nicht als Mensch“, erhob nun Hrist das Wort. Sofort hatte sie Richards Aufmerksamkeit. „Sie ist nun ein Teil von uns. Eine Walküre. Ihre menschliche Seite hat die Strapazen und den Schmerz, als Orun ihr entrissen wurde, nicht ertragen. Jedoch war sie lange genug mit Oruns Seele verschmolzen, sodass ein Teil von Oruns Kraft auf sie übergegangen ist. Dadurch war es mir möglich, sie zu einer von uns zu machen.“
„Also … werde … ich sie nicht mehr sehen?“, brachte Richard krächzend heraus.
„Es gibt eine Möglichkeit“, sagte Baldur. „Aber lasst uns erst hier verschwinden und sehen, wie es in Asgard aussieht.“




Epilog

In Asgard spürte man die Veränderung sofort. Durch die Walküren und Einherjer hatten sie sich erfolgreich gegen Hel und ihre Armee verteidigen können, doch sie hatten dennoch nicht die Oberhand gewonnen. Nun war dies allerdings anders. Die Verteidiger Asgards schöpften neue Kraft, als sie die warme Druckwelle verspürten, die plötzlich durch sie hindurchrauschte. Jeder spürte Odins Macht, vermischt mit der von Yggdrasil.
Hel sah in den Himmel auf und zögerte. Was war nur los? Was hatte das zu bedeuten? Sie parierte einen Angriff von Freyja, doch sie spürte, wie ihre Kraft nachließ. Irgendetwas musste mit Loki passiert sein. Sie spürte, wie sie selbst und ihre Krieger immer weiter zurückgedrängt wurden, weil ihnen die zusätzliche Kraft des Feuergottes fehlte, die er ihnen überlassen hatte.
Ein Beben ging plötzlich durch den Boden. Risse entstanden, Löcher taten sich auf und verschluckten Hels Kreaturen. Nicht einmal die körperlosen Geister konnten dem Sog entkommen, der aus den Rillen zu kommen schien. Nur die Götter, die Walküren und Einherjer blieben davon verschont. Verzweifelt schaute Hel sich um und wich zurück. Das konnte nicht sein! Auf einmal sah sie sich von Freyja, Heimdall und Tyr umzingelt, die sie mit entschlossenem Blick beobachteten.
„Es ist aus, Hel“, sagte Heimdall mit tiefer Stimme. Die Göttin der Unterwelt schluckte. Ihre Armee war verschwunden. Niemand war mehr übrig. Von einer Sekunde auf die andere. Irgendetwas war passiert. Aber sie konnte sich noch nicht erklären was. Auch sie hatte den Kraftschub gespürt. Die Vereinigung der Kräfte von Yggdrasil und Odin. Doch was genau dies bedeutete, wusste niemand der hier Anwesenden. Klar war nur, dass Hel besiegt war. Asgard würde nicht fallen.
Die Todesgöttin fluchte leise, als sie von Heimdall und Tyr gepackt und in die Götterhalle geführt wurde. Es war sinnlos, sich gegen den eisernen Griff der beiden Götter zu stemmen, und so ließ sie es stillschweigend geschehen. Ihre Kraft war plötzlich am Ende. Sie fühlte sich ausgelaugt und erschöpft.
Freyja und ihre Walküren folgten ihnen nicht in das Heim der Götter, sondern warteten draußen auf die Rückkehr von Odin und den anderen. Auf diese mussten sie auch gar nicht lange warten. Gemeinsam mit Thor, Loki und den Einherjer kehrte der Allvater zurück und musterte die kleine Gruppe.
„Ihr habt gesiegt“, meinte Freyja lächelnd und ließ es beinahe wie eine Frage klingen, obwohl sie die Antwort darauf schon kannte. Der Göttervater nickte nur, ging an ihr vorbei. Während Walküren und Einherjer den Auftrag bekamen, nach Walhall zurückzukehren, folgten Thor und Freyja dem Allvater in die Halle der Götter, wo die anderen bereits auf sie warteten.
Thor hatte Loki fest im Griff, der nur düster vor sich hinstarrte, kein Wort sagte. Als er nun seine Tochter sah, warf er ihr einen vernichtenden Blick zu, als wäre allein sie am Scheitern seines Planes schuld. Hel zuckte merklich zusammen und senkte den eigenen Blick.
Odin musterte die beiden mit wütend zusammengekniffenen Augen. Nach einer kleinen Ewigkeit durchbrach er das eisige Schweigen: „Ihr wolltet Ragnarök einläuten. Ihr habt nicht nur unsere Welt der Gefahr der Vernichtung ausgesetzt, sondern auch Midgard.“ Er machte eine kleine Pause. „Wäret ihr keine Götter, würde ich euch auf der Stelle töten lassen, doch dies ist mir leider nicht möglich. Ich werde kein Götterblut vergießen und den Zorn der Nornen auf mich ziehen.“
Loki spuckte verächtlich aus und funkelte seinen Blutsbruder an. „Und was gedenkst du dann zu tun?“
„Das Einzige, was mir möglich ist.“ Odin wandte sich Hel zu und fixierte sie mit seinem Blick. Erneut zuckte die Todesgöttin zusammen, erwiderte nur zögernd den Blick. Ihre tote Seite wirkte plötzlich noch eingefallener, doch Odin scherte sich nicht darum, als er sagte: „Du wirst Nifflheim nicht mehr verlassen und dich nur noch um deine Aufgaben kümmern.“
Hel schluckte und nickte, wie er es von ihr erwartete. Noch nie war sie in Nifflheim eingesperrt gewesen.
Odin wandte sich schon Loki zu. „Du, Bruder, wirst hier bleiben, in Asgard. Hier habe ich dich im Auge. Glaube nicht, dass du in den nächsten hundert Jahren einen deiner Ausflüge nach Midgard oder sonst wohin unternehmen darfst. Zudem werden dir vorerst deine Götterkräfte genommen.“
„Das kannst du nicht machen! Das darfst du nicht!“, schrie Loki und wehrte sich gegen Thors Griff, der nur umso stärker die Arme des Feuergottes umfasste.
„Ich kann und ich werde!“, erwiderte Odin finster. „Es mag nicht für immer sein, aber für eine lange Zeit, bis das Gleichgewicht wieder vollständig hergestellt ist. Vorher wirst du Asgard nicht verlassen. Deine dir ach so teure Freiheit hast du nun verspielt, Loki. Begehrt ihr auch nur einmal gegen eine dieser Maßnahmen auf, werde ich einen Weg finden, wie ich euch loswerden kann.“ Odin musterte die beiden Götter ein letztes Mal eindringlich, bevor er stumm das Zeichen gab, die beiden abzuführen. Für eine lange Weile würden die beiden ein Leben im Exil verbringen müssen, abgeschnitten von der Welt der Menschen und fern von Yggdrasil, wo sie sich neue Kraft holen könnten.
Als Thor und Heimdall mit den beiden verschwunden waren, atmete Odin erleichtert auf. Es würde nicht leicht werden Loki unter Kontrolle zu bringen, aber vorerst würde dieser keinen neuen Versuch starten, ihn zu stürzen. Vorerst würde Ruhe herrschen.
„Wo sind Baldur und Hrist?“, erkundigte sich Freyja schließlich.
„Sie erledigen noch etwas und kommen dann nach“, antwortete Odin und ließ sich auf seinem Thron nieder. Jetzt hatte er sich eine Ruhepause verdient.


Richard, Thyri, Hrist und Baldur standen zusammen auf einer Wiese in Midgard, nicht weit entfernt von einer Stadt, aber doch so weit entfernt, dass sie niemand entdecken konnte. Richard und Thyri hatten stillschweigend und aufmerksam gelauscht, als die Walküre und der Gott ihnen erklärt hatten, was nun passierte und geschehen musste, oder auch geschehen war.
Thyri war nun eine Walküre. Hätte Hrist sie nicht zu einer ihrer Art gemacht, wäre sie gestorben. Orun war besiegt und nicht länger eine Gefahr, doch ein Teil ihrer Magie war in der jungen Frau verblieben, sodass sie zu einer Schildjungfer gekürt werden konnte.
Auch hatte Hrist sich bei der Frau entschuldigt für das, was Orun ihr angetan hatte. Es war nie geplant gewesen, dass Orun in ihr erwachte. Eine Walküre, die gegen die Regeln von Asgard verstoß, musste bestraft werden. Bei Orun hatte man sich für eine Verbannung ausgesprochen, weil man gehofft hatte, dass sie vielleicht doch noch zur Besinnung kommen würde. Ein Menschenleben wollte man ihr dafür zugestehen. Also hatte man einen kräftigen, munteren Säugling gesucht, dessen Geist stark genug gewesen wäre, um die Walkürenseele unter Kontrolle zu halten. Niemand hatte damit gerechnet, dass Orun das Siegel, welches sie an den menschlichen Körper gebunden hatte, teilweise durchdringen konnte und so in der Lage gewesen war, sich mit Thyri zu verständigen.
Richard legte einen Arm um die junge Frau und zog sie an sich. Sie wollten sich beide nicht von dem anderen trennen, doch ihnen war klar, dass es keinen anderen Weg gab. Thyri durfte nicht länger in Midgard bleiben. Als Walküre musste sie in Walhall leben.
„Du weißt, ich sagte dir, dass es eine Möglichkeit geben würde, die euch vielleicht wieder vereint“, erhob Baldur nun das Wort. Richard horchte auf und nickte. „Du trägst eine Einherjerseele in dir“, fuhr Baldur fort, „deswegen hast du dich so zu Thyri hingezogen gefühlt. Einherjer und Walküren gehören zusammen, reagieren auf die Anwesenheit des anderen. Schon lange nicht mehr war es so deutlich, dass ein Mensch die Chance darauf hat, ein Einherjer zu werden. Du weißt also, was zu tun ist, um mit ihr wieder vereint zu sein?“ Der Gott deutete auf Thyri und sah Richard fragend an. Dieser nickte zögernd und sah Thyri an. Sie lächelte ihm aufmunternd zu.
„Ich muss einen ehrenvollen Tod sterben“, meinte Richard dann leise.
„Führe ein ehrenvolles Leben, Richard“, ergriff Hrist das Wort. Thyri und Richard blickten die Walküre fragend an. „Ein ehrenvoller Tod ist nicht genug. Und das ist etwas, das Orun nie begriffen hat. Einherjer sind ehrenvolle Krieger, die für ihr Land und für ihre Lieben kämpfen. An vorderster Stelle steht der Schutz anderer. Lebe dein Leben so, dass du nichts bereust und bleibe deinem Herzen treu, Richard.“
Entschlossen nickte der junge Mann. Das würde er tun. Wenn es bedeutete, dass er dann wieder mit Thyri vereint war, würde er dies tun.
„Wir müssen gehen. Es ist Zeit“, sagte Baldur schließlich leise. Richard seufzte und wandte sich vollends zu Thyri um. Er wollte sie nicht verlassen, aber es musste sein.
„Ich werde auf dich warten“, versprach ihm Thyri leise und streichelte zärtlich über seine Wange. Richard lächelte, beugte sich zu ihr hinunter. Ihre Lippen trafen sich, sanft, zärtlich.
„Wir werden uns wiedersehen“, flüsterte Richard und gab Thyri einen weiteren Kuss.
Thyri standen Tränen in den Augen, als sie sich nun neben Hrist stellte. Ihr Blick ruhte unentwegt auf Richard. Dann umhüllte ein helles, warmes Licht die drei, bis sie nicht mehr zu sehen waren.
Richard schloss geblendet die Augen und hob zusätzlich die Hand vor diese. Als er seine Hand wieder herunternahm und die Augen öffnete, waren Thyri und die anderen beiden verschwunden.
Noch eine ganze Weile blickte er einfach über die Wiese. Der Himmel färbte sich langsam rötlich. Ein neuer Morgen brach an. Noch einmal nickte sich Richard selbst zu, machte sich selbst Mut. Er würde es schaffen! Er würde ein Einherjer werden, um Thyri wiederzusehen. Und dann wären sie für immer vereint. Was war schon ein Leben, das er ohne sie verbringen musste, wenn er danach immer an ihrer Seite sein konnte?
Richard ging entschlossen los, auf die nächste Stadt zu. Er würde Thyri wiedersehen. Irgendwann.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.08.2011

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