Cover

Prolog




Wenn man vor einem Abgrund stand, dachte man nicht mehr an das, was hinter einem lag. Man sah nach vorne und in die Tiefe; man blickte nicht mehr zurück. Nicht, wenn man fest entschlossen war, alles hinter einem zurückzulassen. Nicht, wenn man alles vergessen wollte.
Und warum sollte sie auch nicht alles vergessen wollen? Warum sollte sie nicht in das Nichts eintauchen wollen, das ihr versprach, alle Erinnerungen auszulöschen?
Ein Schritt, dann wäre alles vorbei. Nur ein Schritt trennte sie vom Ende ihrer Qualen.
Ein letztes Mal nahm sie einen tiefen Atemzug. Dann schloss sie die Augen … und machte einen Schritt nach vorne.




Ein schlechter Tag




Wie immer hatte sie gehofft, dass der Tag besser beginnen würde. Doch wie schon so oft wurde sie auch dieses Mal enttäuscht. Mit rasendem Herzschlag fuhr sie aus dem Schlaf hoch und unterdrückte den Schrei, der schon auf ihren Lippen lag. Yela stützte die Ellenbogen auf ihre Knie und legte den Kopf in die Hände. Dann schloss sie die Augen und versuchte tief durchzuatmen. Nach einer Weile hatte sich ihr rasendes Herz wieder beruhigt, schlug nun langsam und in einem regelmäßigen Takt in ihrer Brust.
Ohne einen Gedanken an den Alptraum zu verschwenden, stand sie aus dem schmalen Bett auf und beugte sich über die Waschschüssel, die auf einem alten Tisch an der gegenüberliegenden Wand stand. Yela runzelte die Stirn, als sie sich im Wasser betrachtete. Wie immer konnte man ihr nicht ansehen, wie schlecht sie geschlafen hatte. Normalerweise bekam man mit der Zeit dunkle Augenringe, wenn man schlecht oder gar nicht schlief. Das hatte sie zumindest gehört, und sie sah die dunklen Ringe auch manchmal bei anderen Leuten, doch sie selbst hatte noch nie welche bekommen. Yela sah erholt aus. Als hätte sie die ganze Nacht friedlich durchgeschlafen. Sie seufzte und dachte nicht mehr darüber nach. Sie hatte schon lange aufgehört, nach einer Antwort auf diese Frage zu suchen.
Hellbraune Strähnen mit einem leichten Bronzestich fielen ihr ins Gesicht. Unwillkürlich fuhr sie sich mit der Hand durch die kurzen Haare. Eine Weile erwiderte sie den Blick ihrer braunen Augen, dann tauchte sie die Hände in das Wasser und spritzte es sich ins Gesicht. Das kalte Nass vertrieb auch noch die letzten Schatten des Alptraumes und ließ sie völlig erwachen. Rasch schlüpfte sie in ihre Hose und zog sich die lange Tunika über, bevor sie in ihre alten Stiefel stieg.
Mit wenigen Schritten hatte sie das Zimmer durchquert, um aus dem kleinen Fenster zu schauen. Der Himmel war grau. Es regnete. Es würde also einer dieser

Tage werden. Ein weiterer Seufzer entwich ihr. Sie mochte keinen Regen. Er ließ einen schlechten Tag nur noch deprimierter wirken. Aber vielleicht würde der Tag ja doch noch besser werden. Eine winzige Hoffnung bestand immer.
Yela verließ das kleine Schlafzimmer und kam in einen Raum, der ihr sowohl als Wohnzimmer als auch als Küche diente. Die Einrichtung war mager. Ein altes und abgewetztes Sofa, ein alter Tisch mit zwei klapprigen Stühlen, sowie eine Kochstelle, daneben ein kleines Regal mit Vorräten. Mehr gab es nicht. Die zwei Fenster wurden von löchrigen, schmutzigen Vorhängen verdeckt.
Yela ging zu dem Vorratsschrank und nahm sich eine Scheibe Brot heraus. Das Ganze spülte sie mit einem kräftigen Schluck Wasser hinunter. Anschließend ging sie hinaus. So wie jeden Tag. Das war ihr alltäglicher Ablauf. Eine Konstante, auf die sie sich verlassen konnte.
Ihr winziges Haus stand auf einer kleinen Lichtung, umgeben von riesigen Bäumen. Von außen sah es genauso schäbig aus wie von innen, doch das störte sie nicht. Hier hatte sie wenigstens ihre Ruhe.
Da es tief im Wald stand, wagte sich niemand so tief hinein, dass man diesem auch nur nahe kam. Der Wald war den Leuten unheimlich. Sie erzählten sich gerne Geschichten von blutrünstigen Monstern, die in den Tiefen des Waldes hausten und verirrte Wanderer überfielen. Keine dieser Geschichten stimmte. Yela kannte den Wald und hier lebten keinerlei Monster. Das gefährlichste Tier, das man hier finden konnte, war ein räudiger Bär. Und diese gab es auch in anderen Wäldern.
Was den Leuten Angst machte, war viel mehr die Tatsache, dass sie sich im Wald nicht zurechtfinden konnten. Es war ihnen nicht möglich, mehr als ein paar hundert Meter in den Wald hineinzugehen, ohne Gefahr zu laufen, sich zu verirren.
Es gab eine unsichtbare Grenze, die den Wald in zwei Abschnitte teilte. Sobald man diese überschritt, konnte man nicht mehr aus dem Wald herausfinden. Nicht einmal, wenn der Waldrand nur wenige Meter von einem entfernt war. Die Wege des Waldes änderten hinter dieser Grenze ständig ihre Richtung. Lief man an einem Tag auf direktem Weg auf den Waldrand zu, konnte man sicher sein, dass der Weg am nächsten Tag woanders hinführte. Yela war die Einzige, die sich hier zurechtfand. Egal wie tief sie in den Wald hineinging, sie fand immer einen Weg nach draußen.
So ging sie auch jetzt zielstrebig durch den Wald und achtete auf die kleinen Zeichen, die ihr den Weg wiesen. Es waren buchstäblich Zeichen

. Mit feinen Linien waren sie in die Stämme der Bäume eingelassen und zeigten ihr die Richtung. Niemand konnte sie entziffern. Niemand, außer Yela. Deswegen verlief sie sich nie in diesem Wald. Die Markierungen zeigten ihr immer den richtigen Weg an. Die Pfade konnten sich noch so sehr verändern, es konnten neue Wege entstehen oder alte verschwinden, doch die Zeichen würden immer da sein und den richtigen Ausweg markieren. Und auch auf diese Frage, warum sie als Einzige die seltsamen Zeichen lesen konnte, suchte sie keine Antwort mehr. Es war eben so.
Yela verharrte einen winzigen Moment an einer Kreuzung und strich mit dem Finger über eines der Symbole. Dann entschied sie sich für den rechten Weg und ging, ohne Zögern, weiter. Bald wurden die Stämme weniger massiv und kündeten die Grenze an, die beide Waldteile voneinander trennte. Yela spürte, wie sie die Banngrenze überschritt und in den Teil des Waldes trat, der seine Wege nie veränderte. Ebenso wie hier die Wege aufhörten sich zu verändern, endeten auch die Zeichen. Trotzdem fand Yela ihren Weg ohne Probleme. Schon zu oft war sie diesen Pfad entlang gegangen, als dass sie sich jetzt auf den letzten Metern hätte verlaufen können.
Wenige Minuten später ließ sie den Wald hinter sich und lief den Weg entlang, der schnell immer breiter wurde und direkt auf das kleine Dorf zuführte, das zwischen zwei Hügeln in einer tiefen Mulde lag. Der Weg führte bergab, und schon erreichte sie die ersten Holzhütten.
Auf den Straßen herrschte bereits reges Treiben, trotz des starken Nieselregens. Yela sah, wie die Löcher in den älteren Häusern verschlossen wurden, um den Regen daran zu hindern ins Innere zu gelangen und dort alles zu durchnässen. An einem Haus wurden hastig die Bettlaken hereingeholt, die zum Lüften aus dem Fenster gehangen hatten, an einem anderen wurden die Fenster verriegelt. Kinder, die von Pfütze zu Pfütze sprangen, wurden ausgeschimpft und nach drinnen geschickt und auch die wenigen Pferde, die das Dorf besaß, wurden in die Ställe geführt.
Yela schaute wieder zum Himmel und seufzte. Es war wirklich ein schlechter Tag. Es würde nicht bei Regen bleiben. Der Wind hatte schon zugenommen. Ein Sturm würde aufziehen. Sie beschleunigte ihre Schritte und ignorierte die Blicke, die man ihr zuwarf, wenn sie an den Leuten vorüberging. Die Kinder, die immer noch draußen waren, kicherten und klatschten freudig in die Hände, als sie die junge Frau erblickten und rannten zu ihr. Yela zwang sich zu einem Lächeln, während sie weiterhin die Blicke der anderen ignorierte, die sich nun in ihren Rücken bohrten, als sie über den Dorfplatz lief. Die Erwachsenen beäugten sie misstrauisch und schon bald wurden die ersten Kinder mit wütenden Stimmen zurückgerufen.
Als Yela schließlich unter das Vordach der einzigen Schenke trat, waren nur noch vier Kinder bei ihr. Sie hätte sich gewünscht, dass auch diese nicht mehr da wären, aber sie hüllte sich in Schweigen.
„Yela?“, ergriff eines der Kinder schließlich mutig das Wort. Die Angesprochene unterdrückte einen Seufzer und drehte sich lächelnd zu den Kindern um. „Erzählst du uns eine Geschichte?“, fragte der kleine Junge von eben schüchtern weiter.
Natürlich, dachte Yela und zwang sich dazu, immer weiter zu lächeln. Was anderes, außer einer Geschichte, konnten sie schon wollen? Wieder blickte sie in den Himmel auf. Der Regen war stärker geworden und schlug laut auf den matschigen Boden. Ihr Lächeln verschwand.
„Yela?“
Die junge Frau seufzte und blickte die Straße entlang. Aus den Fenstern warfen die Eltern der Kinder ihr wachsame Blicke zu. Dann fiel ihr Blick wieder auf die Kinder. „Heute nicht“, sagte sie schließlich.
„Warum nicht?“, hakte dieses Mal ein vielleicht sechsjähriges Mädchen nach, welches sich an seinen großen Bruder klammerte.
„Euren Eltern wäre es bestimmt lieber, wenn ihr jetzt heimgeht. Es zieht ein Sturm auf.“
„Nur eine Geschichte. Bitte, bitte, bitte!“
„Ja, Yela. Biiitteee!“
„Bitte!“
Wieder stieß Yela einen Seufzer aus und drückte Daumen und Zeigefinger gegen ihre Nasenwurzel. Es war wirklich ein schlechter Tag. Warum mussten die Kleinen ausgerechnet heute so hartnäckig sein? Sie wollte doch nur neue Vorräte kaufen und dann wieder nach Hause. Sie wollte allein sein, sich in ihrem Häuschen verkriechen und vor Ende des Sturmes nicht mehr herauskommen.
Yela schloss die Augen und rieb sich mit den Fingern die Schläfe. Hinter ihr ging die Tür auf. „Wie’s aussieht, hast du wieder eine kleine Schar Bewunderer um dich herum.“
Yela öffnete die Augen und warf dem Jungen, der neben sie trat, einen finsteren Blick zu. Sie ließ die Hand sinken und sah wieder zu den Kleinen hinab. „Geht nach Hause. Der Sturm ist bald da. Ihr müsst vorher daheim sein.“
Wie um ihre Worte zu bekräftigen, ertönten die ersten Rufe der Eltern, die ihre Kinder nun doch endlich nach Hause riefen. Die Kleinen zogen alle im selben Moment einen Schmollmund und sahen Yela flehend an.
„Ein andermal“, murmelte diese und vermied es, einen genauen Zeitpunkt festzulegen. Trotzdem hellten sich die Mienen der vier Sprösslinge augenblicklich auf. Sie zogen es überhaupt nicht in Betracht, dass Yela sie anlügen könnte. Schließlich zogen die vier ab und kehrten zu ihren Eltern zurück. Als sie außer Sichtweite waren, seufzte Yela erleichtert auf. Sie hatte es geschafft den Kindern einen weiteren Tag zu entkommen. Wie lange würde ihr dies noch gelingen?
„Sie werden sich nicht mehr lange so leicht abschütteln lassen, Yela“, sagte der Junge neben ihr, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
„Dann sollte ich vielleicht einfach nicht mehr hierher kommen“, meinte sie leise und mehr zu sich selbst.
„Sei nicht kindisch. Du musst ab und an auch aus deinem Unterschlupf herauskommen. Du musst unter Leute kommen und darfst dich nicht ständig abkapseln.“
„So ist es aber leichter. Die Leute hier können sich nicht an mich gewöhnen. Und sie mögen es auch nicht, wenn ich mich dem Willen ihrer Kinder beuge und ihnen meine Geschichten erzähle. Ich hätte nie nachgeben dürfen, als sie mich das erste Mal danach fragten.“
„Sie waren eben hartnäckig und neugierig. Du weißt doch: Hierher verirren sich nicht oft Fremde. Es war eine Sensation für sie, als du damals aufgetaucht bist“, sagte der Junge kichernd.
„Ja, tolle Sensation“, erwiderte Yela bitter. „Ein völlig verdrecktes Mädchen mit zerrissenen Kleidern und keinerlei Erinnerungen an ihr früheres Leben.“ Sie machte eine Pause und verdrängte die Erinnerung daran, wie sie benommen und eher tot als lebendig, in das kleine Dorf gestolpert war. Deswegen mieden die Erwachsenen sie. Es war ihnen unheimlich, dass ein Mädchen, ohne jegliche Erinnerungen an das eigene Leben, so viele Geschichten aus früheren Zeiten kannte. Aber das waren ihre einzigen Erinnerungen. Und Yela klammerte sich an diese Geschichten, auch wenn das bedeutete, dass sie Nacht für Nacht diese Alpträume ertragen musste. Ihre richtigen Erinnerungen, ihre Erinnerungen an das eigene Leben, begannen erst mit dem Tag ihrer Ankunft hier. Von der Zeit davor wusste sie nichts. Sie konnte nicht einmal sagen, wie sie es hierher geschafft hatte. „Vielleicht sollte ich weiterziehen, Willy.“
Der Junge sah sie erschrocken an. „Nein, Yela. Das musst du doch nicht. Die anderen werden sich schon noch an dich gewöhnen. Hab Geduld!“
„Ich bin nun schon seit zwei Jahren hier. Sie werden mich nicht akzeptieren. Diese Chance habe ich mir selbst genommen, als ich in den Wald gegangen bin und ohne Probleme wieder herausgefunden habe.“
Willy wollte schon wieder widersprechen, aber Yela schüttelte den Kopf und bedeutete ihm zu schweigen. Es war zwecklos darüber zu diskutieren. Es würde sich nicht ändern, und das wusste er genauso gut wie sie selbst. „Ich bin nur gekommen, um neue Vorräte zu kaufen, Willy. Dann gehe ich wieder.“
Der Junge seufzte und strich sich durch die roten Haare. Es war sinnlos mit ihr zu reden, wenn sie in diesem Ton sprach. Dann würde sie nicht nachgeben. Also nickte er nur und ging wieder in die Schenke. Kurze Zeit später kam er mit einem abgedeckten Korb wieder und übergab ihn ihr. Yela griff automatisch nach dem Beutel an ihrem Gürtel, doch Willy ergriff ihr Handgelenk und hielt sie auf. „Nicht, Yela. Wie oft soll ich es dir noch sagen, dass du dafür nicht zu zahlen brauchst? Das ist doch alles, was du hast. Behalte es lieber. Vielleicht brauchst du es irgendwann einmal.“
„Aber ...“
„Kein aber“, unterbrach er sie und lächelte. „Das geht auf mich. Und jetzt geh. Es donnert schon.“
Die beiden blickten zum Himmel auf. Ein Blitz zuckte über den Himmel, Donner erschall. Der Wind blies ihnen wild um die Ohren und peitschte ihnen die Haare ins Gesicht. „Mach’s gut, Yela. Bis zum nächsten Mal.“
Yela brummelte irgendetwas vor sich hin und rannte den Weg zurück zum Wald und ließ Willy grinsend zurück.
Lange bevor sie ihre kleine Hütte erreichte, war sie bis auf die Haut durchnässt und zitterte vor Kälte. Sie schlug die Tür hinter sich zu und stellte anschließend den Korb auf dem Tisch ab. Dann nahm sie rasch ein paar der Äste, die ihr als Feuerholz dienten, und legte sie in den alten Kamin. Sie brauchte mehrere Anläufe, bis sie es endlich schaffte, ein Feuer zu entfachen, so sehr zitterten ihre Hände. Als das Feuer jedoch endlich von alleine brannte, lief sie in ihr kleines Schlafzimmer und zog erst ihre einzigen anderen Klamotten an, bevor sie ihre nassen Kleider neben dem Feuer aufhängte, damit diese trocknen konnten.
Ihr war immer noch kalt und so setzte sie sich auf das Sofa, umschlang ihre Beine mit den Armen und zog sie dicht an den Körper. Der Wind heulte laut um ihr Heim, während die Regentropfen laut gegen die Fenster klopften. Yela kauerte sich noch mehr zusammen.
Nach einiger Zeit spürte sie endlich die Wärme des Feuers und legte sich zusammengerollt auf das Sofa. Ihre Augenlider wurden schwer und fielen zu. Erschrocken öffnete sie sie wieder und blinzelte. Sie wollte noch nicht einschlafen. Es war noch zu früh für Alpträume. Sie war doch erst aus dem letzten aufgewacht. Wieder fielen ihr die Augen zu. Verzweifelt versuchte sie, gegen die Müdigkeit anzukämpfen, doch der warme Schein des Feuers wiegte sie in den Schlaf.




Geschichten aus vergangenen Zeiten




Erschrocken wachte Yela auf und sah sich irritiert um. Im ersten Moment kam sie nicht darauf, was anders war, doch dann zog sie überrascht die Luft ein. Es war kein Alptraum gewesen, der sie geweckt hatte. Sie hatte keinen Alptraum gehabt! Verblüfft blinzelte sie. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht, das ebenso schnell wieder verschwand. Darauf durfte sie sich nichts einbilden. Und sie durfte sich schon gar keine Hoffnungen machen, dass es beim nächsten Mal wieder so sein würde. Das war bestimmt nur eine einmalige Sache gewesen. Zufall, mehr nicht.
Yela seufzte und schüttelte diese Gedanken ab. Es brachte nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Die Alpträume würden sie so schnell nicht loslassen. Da war sie sich sicher. Also gab es auch keinen weiteren Grund, darüber nachzudenken.
Yela streckte sich und stand auf. Das Feuer im Kamin war ausgegangen, doch Yela machte sich nicht die Mühe, es neu zu entfachen. Stattdessen ging sie direkt auf die Tür zu und trat nach draußen auf die Lichtung. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Sonne ließ sich trotzdem noch nicht blicken. Der Himmel war immer noch mit grauen Wolken bedeckt und der Wind war noch etwas stärker als sonst.
Yela runzelte die Stirn und sah in den Himmel. Wie lang hatte sie geschlafen? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Sturm so schnell wieder vorbei gezogen war. Er hatte bestimmt den ganzen Tag gewütet und wahrscheinlich einen großen Teil der Nacht. Aber das würde bedeuten, dass sie den ganzen restlichen Tag und die Nacht durchgeschlafen hatte. Und das ohne einen einzigen Alptraum. Wie war das möglich? Yela schüttelte verwirrt den Kopf. Sie musste sich versichern, musste nachprüfen, ob sie wirklich so lange geschlafen hatte.
Ohne groß zu überlegen, schlug sie die Tür hinter sich zu und machte sich auf den Weg ins Dorf. Ihre Schritte wurden immer schneller und als sie schließlich den Waldrand vor Augen hatte, begann sie zu rennen. Wie immer flogen die Blicke zu ihr, sobald sie in Sichtweite kam. Die Straße war noch matschig und große Pfützen bedeckten den Boden, doch Yela kümmerte sich nicht darum. Auf dem Dorfplatz verlangsamte sie ihren Schritt und hielt schließlich leicht außer Atem vor der Gaststätte. Sie atmete tief durch, bevor sie die Schenke betrat. Innen war es angenehm warm. Ein Feuer knisterte in dem großen Kamin und einige der Tische waren besetzt. Als die Tür aufging, hoben die Anwesenden die Köpfe und sahen sie erst überrascht, dann mit einer Spur von Misstrauen im Blick an. Yela ignorierte geflissentlich alle Blicke und ging geradewegs auf den Tresen zu. Sie sah Willy sofort. Mit seinem leuchtend roten Haar war er schwer zu übersehen. Auch er schien sie gesehen zu haben, denn er lächelte und kam hinter dem Tresen hervor.
„Guten Morgen, Yela. Was führt dich so früh hierher?“, fragte er gut gelaunt und versuchte, seine Überraschung über ihren Besuch zu verbergen. Dies gelang ihm nicht besonders gut, doch Yela kümmerte es nicht. Seine Verwunderung und auch die aller anderen, war berechtigt. Normalerweise kam sie nie so früh ins Dorf.
„Morgen?“, vergewisserte sich Yela leise und ihre Augen wurden größer. Sie lehnte sich gegen den Tresen und fuhr sich unbewusst durch ihr Haar. „Wie lange hat der Sturm getobt?“, wollte sie wissen und sah Willy fragend an.
„Die ganze Nacht hindurch“, antwortete dieser verwirrt. „Sag bloß, du hast davon nichts mitbekommen. Es war ziemlich laut. Ich konnte kaum schlafen.“
Yela erwiderte nichts. Sie war sprachlos. Sie hatte wirklich die ganze Nacht durchgeschlafen, ohne einen einzigen Alptraum, ohne ein einziges Mal schreiend aufzuwachen.
„Yela? Was ist denn? Alles in Ordnung?“ Willys besorgte Stimme ließ sie aufhorchen und sich räuspern. Dann schaute sie ihn an und nickte langsam.
„Ja“, sagte sie bedächtig. „Ja, ich denke schon. Es ist nur … Ich habe noch nie so gut geschlafen wie in dieser Nacht.“
Nun lächelte Willy. „Das freut mich. Hast du Hunger?“
Yela schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Dann stieß sie sich vom Tresen ab und machte zwei Schritte vorwärts, bevor sie sich nochmals umdrehte und den verwirrten Blick von Willy mit einem kurzen Lächeln beantwortete. „Ich bin nur vorbeigekommen, weil ich mir nicht sicher war, wie spät es ist. Ich konnte nicht glauben, dass ich die ganze Nacht durchgeschlafen habe“, sagte sie leise. Nun wirkte sie wieder nachdenklich.
„Warum solltest du auch nicht die Nacht durchschlafen? Es wundert mich nur, dass du bei diesem Lärm wirklich schlafen konntest.“
Yela zuckte mit den Schultern und winkte ihm zum Abschied, bevor ihr etwas herausrutschte, was sie später vielleicht bereuen könnte. Willy wusste nichts von ihren Alpträumen. Niemand wusste davon, und das sollte auch so bleiben.
Erst als sie vor die Tür trat, tief einatmete und die Luft in einem langen Seufzer wieder ausstieß, bemerkte sie, dass Willy ihr gefolgt war. Nun standen sie beide schweigend nebeneinander unter dem Vordach der Gaststätte und blickten über den Dorfplatz. Ein alter Brunnen, der schon lange nicht mehr funktionierte, erhob sich in der Mitte. Niemand im Dorf kannte sich genug mit dem Bau aus und so konnte ihn niemand reparieren, was die Leute dazu zwang, sich ihr Wasser direkt vom Fluss zu holen, der außerhalb des Dorfes vorbeifloss.
Immer wieder überquerte jemand den Platz, doch niemand blieb lange hier. Beladene Esel wurden an der Gaststätte vorbeigeführt. Kinder spielten um den Brunnen und zeigten nun auf die Esel. Dann entdeckten sie Yela. So schnell ihre kleinen Füße sie trugen, kamen sie auf sie zu. Yela seufzte.
„Heute kannst du ihnen nicht entkommen, Yela“, murmelte Willy und verschränkte die Arme vor der Brust. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er die Lippen fest zusammenpresste, um sich ein Grinsen zu verkneifen. Yela seufzte erneut. „Sie lungern schon den ganzen Morgen hier herum und warten auf dich.“
Die Braunhaarige unterdrückte ein Stöhnen, denn nun waren die Kinder bei ihnen und sahen sie mit leuchtenden Augen an. Yela erkannte die vier Kinder von gestern und bei ihnen noch drei weitere.
„Guten Morgen, Kinder“, begrüßte Willy sie und nun grinste er wirklich.
„Erzählst du uns eine Geschichte?“, fragte eines der Kinder sogleich begierig. Es war ein Junge, vermutlich der Älteste, zwischen neun und zehn. Das jüngste Kind war ein blondes Mädchen, das sich halben hinter einem der anderen Kinder versteckte und sie begierig ansah. Heute würden sie Yela wirklich nicht davonkommen lassen. Sie sah es in ihren Augen.
Yela runzelte die Stirn und überlegte. Vielleicht, wenn sie eine kurze Geschichte erzählte, dann würden die Kleinen sie vielleicht in den nächsten Tagen in Ruhe lassen. Darauf durfte sie natürlich nicht hoffen, aber es war wahrscheinlich. Mittlerweile wussten die Kinder, dass, wenn sie zu gierig waren, Yela sich ein paar Tage nicht sehen ließ und sie noch viel länger auf eine weitere Geschichte warten mussten.
„Bitte?“, fragte das kleine Mädchen schüchtern.
„Sei nicht so, Yela“, ermunterte Willy sie leise.
Yela verdrehte die Augen. Das war klar, dass er ihr in den Rücken fiel. Warum konnten sie nicht einfach akzeptieren, dass sie keine Geschichten erzählen wollte? Was war daran so schwer? So besonders waren ihre Geschichten, die sie erzählen konnte, nun auch nicht. Ihre Eltern oder Großeltern konnten ihnen bestimmt genauso gut etwas erzählen. Aber nein, sie kamen immer zu ihr.
Sie knirschte mit den Zähnen und ergab sich schließlich in ihr Schicksal. Abrupt drehte sie sich um und setzte sich auf die Holzbank, die neben dem Eingang zur Schenke stand. Die Kleinen klatschten begeistert in die Hände und lächelten strahlend, während sie sich vor Yela auf die hölzerne Veranda setzten. Den einzigen trockenen Platz, den es hier gab. Willy nickte, als hätte er nichts anderes erwartet, und setzte sich neben Yela auf die Bank. Diese zog nun die Beine zu sich auf die Bank und wartete, bis es ruhig war. Das Gemurmel der Kinder erstarb nach und nach und es waren nur noch ab und an einzelne Wortfetzen aus dem Innern der Gaststätte zu hören. Dann begann Yela mit ihrer Geschichte.
„Es ist lange her, da lebte im Land ein kleines Volk. Es waren keine Menschen, auch wenn sie uns doch sehr ähnelten. Sie konnten sprechen wie wir; sie konnten singen, lachen und weinen. Sie sahen genauso aus wie wir, wenn sie es wollten, doch das war nicht ihre wahre Gestalt.“ Ihre Stimme war leise und nahm einen sehr beruhigenden und angenehmen Klang an. Begeistert sogen die Kleinen jedes Wort auf und betrachteten sie mit großen Augen, während Yelas Blick sich in weite Ferne richtete, als würde sie ein Bild betrachten, das nur sie sehen konnte, als würde sie die Geschichte vor ihrem geistigen Auge abspielen. „Es war ein friedliches Volk und Jahre lang lebten sie im Einklang mit der Natur und den wenigen Menschen, die damals das Land bevölkerten. Bald wussten die Menschen nicht mehr, dass dieses Volk unter ihnen weilte, denn dieses hielt es nicht für nötig, sich in ihre wahre Gestalt zu verwandeln. Sie fühlten sich wohl in ihrer menschlichen Gestalt und genossen das einfache Leben der Menschen.“
Yela machte eine kurze Pause und für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein schmerzvoller Ausdruck über ihr Gesicht. Bevor es jemand bemerken konnte, hatte sie sich wieder unter Kontrolle und starrte weiter auf einen Punkt über den Köpfen der Kinder. „Doch dann kamen Artgenossen dieses Volkes aus weit entfernten Teilen des Landes. Sie waren Nomaden und reisten durch das Land. Sie waren anders als ihre Brüder und Schwestern, die sich bei den Menschen niedergelassen hatten. Denn sie verwandelten sich gerne in ihre wahre Gestalt und demonstrierten ebenso gern ihre Macht. Es waren sieben, die kamen. In Menschengestalt mischten sie sich unter ihre Artgenossen und traten ihnen gegenüber. Sie waren neugierig auf sie, weil sie sich so ein Leben zwischen den Menschen nicht vorstellen konnten. Das Oberhaupt des kleinen Stammes – Mika der Friedvolle wurde er genannt – hieß die Nomaden herzlich willkommen und beantwortete mit großem Vergnügen ihre vielen Fragen. Er fand ihre Neugier angenehm und erzählte von ihren Erfahrungen, die sie mit den Menschen gemacht hatten. Und die Nomaden lauschten begierig. Doch dann änderte sich das fast idyllische Leben.“
Yelas Blick wurde traurig, als sie sich an diesen Teil der Geschichte erinnerte. Er war ihr so vertraut, als wäre sie selbst dabei gewesen, obwohl sie nicht einmal sagen konnte, ob es sich um eine wahre Geschichte handelte. Ein trauriger Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht und sie senkte leicht die Lider.
„Mika bat die Nomaden, sich ruhig zu verhalten, solange sie hier waren, und sich nicht in ihre wahre Gestalt zu verwandeln. Sie wollten das friedliche Leben nicht gefährden, welches sie führten, und ebenso wenig wollten sie, dass die Menschen von ihrer wahren Natur erfuhren. Aus irgendeinem Grund machte das die Nomaden sehr wütend. Ihr Anführer sprang empört auf und beschwerte sich lauthals darüber. ‚Wie könnt ihr so etwas von uns verlangen?’, rief er empört aus und nun mischten sich auch die wütenden und aufgebrachten Rufe seiner Gefährten in seinen Ausruf. Mit einer Handbewegung brachte er sie zum Schweigen.“
Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Reihe ihrer Zuhörer. Ein paar verschränkten vor Aufregung die Hände ineinander oder ballten ihre Hände zu Fäusten. Andere hatten den Atem angehalten und holten nun zischend Luft, während sie darauf warteten, dass Yela fortfuhr. „Mit hasserfüllten Blicken schien er den Anführer des Stammes zu durchbohren. Seine Stimme war eiskalt, als er sagte: ‚Ihr verlangt von uns, unsere Natur zu verleugnen, unser wahres Wesen, und das können wir nicht. Wir sind, was wir sind, und niemals wird sich daran etwas ändern.’ Es dauerte keine volle Minute, bis sich alle zehn Nomaden in ihre wahre Gestalt verwandelt hatten. Nun standen sie als riesige, kräftige Kreaturen vor ihren Artgenossen, die sich für ihre schwächere Menschengestalt entschieden hatten. Sie waren wirklich groß. Größer als ein Bär. Ihre Haut war dunkel geworden und die Muskeln stachen deutlich hervor. Ihre Haare verliefen in einem breiten Streifen über ihren Rücken bis hinab zur Hüfte und ihre Augen strahlten in einem bedrohlichen Gelb und Grün. An ihren Füßen und Händen hatten sie messerscharfe Krallen und aus ihrem Mund ragten lange Reißzähne. Mit ihren feinen Sinnen rochen sie das Blut, das durch die Adern ihrer Artgenossen und der Menschen pulsierte. Und es machte sie rasend.“ Yela stockte und machte eine weitere Pause. Die Kinder bemerkten ihr Zögern nicht, doch Willy musterte sie besorgt und als sie weiter erzählte, wusste er, dass sie hier etwas ausließ.
„Die Nomaden griffen an und löschten den Stamm ihrer Artgenossen mitsamt den Menschen aus. Durch das lange Leben als Menschen hatten sie keine Chance. Sie waren es nicht mehr gewohnt, zu kämpfen und konnten sich auch nicht verteidigen. Die zehn Nomaden überlebten und zogen weiter durch das Land und ließen eine Spur der Verwüstung hinter sich zurück. Wenige Monate später trafen sie auf eine weitere Gruppe ihrer Artgenossen, die sich für ein Leben in Menschengestalt entschieden hatten. Die Nomaden griffen auch sie ohne zu zögern an, doch sie hatten nicht mit Gegenwehr gerechnet. Die Gruppe verwandelte sich ebenfalls. Es kam zu einem Kampf.“ Erneut stoppte sie einen winzigen Moment und ließ hier etwas aus. „Die Nomaden waren zu siegessicher und wurden besiegt. Die Sieger schworen, sich niemals wieder in ihre wahre Gestalt zu verwandeln, um so etwas zu vermeiden. Für immer. Es sollte nie wieder geschehen. Diese Gruppe war die letzte ihrer Art, und als sie nach einem langen friedlichen Leben starben, erlosch ihre Art und es wurde nie wieder einer von ihnen gesehen.“
Als Yela ihre Geschichte beendete, schloss sie die Augen und lehnte sich zurück. Die Kinder schwiegen lange. Dann begann das Gemurmel, das sich langsam zu aufgeregtem Getratsche steigerte. Yela öffnete die Augen einen Spalt breit und beobachtete die Kleinen. Sie sprangen auf und strahlten über das ganze Gesicht. „Das war eine tolle Geschichte.“
„Jaah, toll.“ Sie winkten ihr zu und verschwanden, immer noch aufgeregt redend, in den Straßen. Yela schüttelte kaum merklich den Kopf, zog die Beine noch enger an ihren Körper und legte die Stirn an ihre Knie, während sie die Arme um ihre Beine schlang.
„Keine tolle Geschichte“, murmelte sie zu sich selbst. „Eine schreckliche Geschichte voller Blut und Tod.“
Ein Arm legte sich um ihre Schultern und im nächsten Moment strich warmer Atem über ihr Ohr, als Willy ihr zuflüsterte: „Es war

eine gute Geschichte. Du hast nichts von Blut und Tod erzählt. Die Kinder waren begeistert. Sie werden tagelang von nichts anderem mehr reden.“
Yela schüttelte ihn ab und stand auf. Willy seufzte hinter ihr, machte jedoch keine Anstalten, ebenfalls aufzustehen.
„Ich gehe“, sagte Yela nur, überquerte den Platz und ging Richtung Wald, zu ihrem Häuschen auf der Lichtung. Vielleicht sollte sie sich ein paar Tage vom Dorf und seinen Bewohnern fernhalten. Den Erwachsenen würde das gefallen. Und die Kinder hatte sie mit ihrer Geschichte für ein paar Tage beschäftigt. Niemand würde sie vermissen. Nur Willy würde sich Sorgen machen, aber das konnte ihr egal sein. Außerdem wusste er, dass sie manchmal ein paar Tage für sich brauchte und dann nicht ins Dorf kam. Also würde sie wirklich niemand vermissen, wenn sie sich eine Zeit lang vom Dorf fernhielt.
Yela lächelte und ging mit raschen Schritten durch den Wald. Das war eine gute Idee. Sie hatte sich wirklich etwas Ruhe verdient. Und vielleicht konnte sie in dieser Zeit auch die Löcher in der Decke ihres Häuschens reparieren. Der Sturm hatte diesem mehr zugesetzt, als sie gedacht hatte. Es wäre sinnvoll die Decke zu reparieren, bevor ein weiteres Unwetter aufzog.





Fremde




Yela stemmte die Hände in die Hüfte und starrte zornig zur Decke hinauf. Durch das Loch konnte sie den Himmel sehen. Zum Glück hatte es die letzten Tage nicht geregnet. Und es sah auch jetzt nicht nach Regen aus. Aber der Sturm hatte mehr Schaden angerichtet, als sie gedacht hatte. Erst hatte sie sich um die Risse in den Hauswänden gekümmert, dann hatte sie angefangen, das Dach zu reparieren. Nun war nur noch ein Loch übrig. Und daran war sie selbst schuld. Als sie auf das Dach geklettert war, um alle Ritzen und Löcher zu verschließen, war sie ausgerutscht und hatte mit ihrem Fuß an einer besonders morschen Stelle ein Loch hinterlassen. Auf den ersten Blick hatte es nicht schlimm ausgesehen, doch jetzt, da Yela in ihrem Wohnraum unter dem Loch stand, musste sie sich eingestehen, dass das Loch doch größer war, als vermutet. Zum Glück hatte sie noch ein paar Holzlatten und Nägel übrig, mit denen sie das Loch verriegeln konnte.
Also ging sie nach draußen und holte die letzten Bretter, die neben der Tür lehnten, sowie die restlichen Nägel und den Hammer. Sorgfältig legte sie alles auf den Boden und holte einen der Stühle, um ihn unter das Loch zu stellen. Dann stopfte sie sich die wenigen Nägel in ihre Hosentasche und griff nach Hammer und Holz. Vorsichtig stieg sie auf den Stuhl und testete seine Stabilität. Sie nickte zufrieden, als er nicht wackelte. Ihr Blick wanderte wieder zu dem Loch hinauf. Sie nahm das Brett unter ihrem Arm hervor und hielt es an die Decke. Yela legte ihren Kopf leicht schräg und überlegte. Sie würde mindestens zwei Bretter brauchen, um das Loch zu schließen. Seufzend machte sie sich an die Arbeit und schlug die ersten Nägel in das Holz. Mit einem Fuß stand sie auf der Sitzfläche des Stuhles, während ihr anderer auf der Lehne ruhte. Als das Holz zu ihrer Zufriedenheit an der Decke hing, stieg sie hinunter und holte sich das nächste Brett. Genauso vorsichtig wie beim ersten Mal stieg sie auf den Stuhl und hob das Brett neben das andere an die Decke. Leise summte sie vor sich hin.
Yela hatte sich gerade etwas weiter auf die Stuhllehne gestützt, um die Nägel besser in das Holz zu hämmern, als ein Klopfen sie erschreckte. Das Geräusch war völlig unerwartet. Vor lauter Schreck ließ sie den Hammer fallen und verlor das Gleichgewicht. Der Stuhl wankte und mit einem leisen Schrei fiel sie der Länge nach auf den Boden. Der Stuhl klapperte, als er umfiel. Yela rieb sich fluchend den Kopf, den sie sich angeschlagen hatte. Dann hörte sie die Stimme und blickte mit schreckgeweiteten Augen zur Tür.
„Yela? Was war das? Ich komme jetzt rein.“
Wie erstarrt saß Yela nun auf dem Boden und starrte auf die Tür, die sich öffnete und auf die zwei Jungen, die hintereinander eintraten. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Ihr Blick wanderte von einem zum anderen, bis er auf dem ersten Jungen verharrte. Und sie erschrak erneut, als sie ihn erkannte. Es war Willy. Wie kam er hierher? Und wer war der Junge hinter ihm? Yela schüttelte den Kopf, fassungslos, verwirrt, erschrocken. Wie kam er hierher?


„Yela, alles in Ordnung? Warum hast du geschrieen?“ Willy machte sich nicht die Mühe die Tür hinter sich zu schließen, sondern kam direkt auf sie zu und musterte sie besorgt. Dann sah er den umgekippten Stuhl und das Loch in der Decke und lächelte. „Du bist vom Stuhl gefallen? Hat dich mein Klopfen erschreckt?“
Yela konnte nur nicken. Sie saß immer noch wie erstarrt auf dem Boden und starrte die beiden mit großen Augen an. Wie kamen sie hierher, verdammt? Willy schien ihren erschrockenen Blick endlich zu registrieren, denn seine Miene wurde wieder besorgt und er machte einen Schritt auf sie zu. „Tut mir leid, Yela. Ich wollte dich nicht erschrecken.“
Diese schluckte geräuschvoll und räusperte sich. Zumindest versuchte sie es. Ohne die beiden aus den Augen zu lassen, stand sie auf und wich ein paar Schritte zurück. Willy zog die Augenbrauen hoch, kam jedoch keinen Schritt näher. Der andere Junge, er war etwas größer als Willy und hatte blonde Haare und blaugraue Augen, stand seitlich hinter Willy und musterte sie neugierig.
„Wie ... wie kommt ihr ... hierher?“, brachte Yela schließlich hervor. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie warf einen schnellen Blick auf den unbekannten Jungen und wich noch einen Schritt zurück. Willy runzelte die Stirn.
„Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist, Yela? Du bist ganz blass.“
„Ihr ... dürftet ... gar nicht hier sein“, stammelte Yela beinahe entsetzt und deutete mit zitternder Hand auf Willy. Rasch senkte sie ihren Arm jedoch wieder und schüttelte ungläubig den Kopf. Wie kamen sie hierher? Niemand konnte sich in dem Wald zu Recht finden. Das hier war ihr Zufluchtsort. Niemand kam hierher. Das war ihr

Ort, an dem sie für sich war, an dem sie allein sein konnte und ihre Ruhe hatte.
„Ich hätte auch nicht gedacht, dass wir hierher finden, Yela. Aber es gab nur den einen Weg“, sagte Willy mit ruhiger Stimme und kam nun doch einen Schritt auf sie zu. Hektisch schüttelte Yela den Kopf und wich zurück, bis sie die Wand im Rücken spürte. Langsam rutschte sie an der Wand hinunter. Als sie auf dem Boden saß, umschlang sie ihre Beine mit den Armen und legte die Stirn an die Knie. Das konnte nicht sein. Das war ihr Ort. Ihr geheimer Ort, an den nie jemand kam.
„Yela?“ Willys Stimme sprang vor Sorge eine halbe Oktave höher. Verwirrt tauschte er einen Blick mit dem anderen Jungen. Dieser blickte mitfühlend auf Yela hinunter, die sich noch weiter zusammengekauert hatte. Willy machte einen weiteren Schritt auf Yela zu und räusperte sich. „Weißt du, Yela, es war ein Versehen. Sam und seine Familie kamen gestern Abend in unser Dorf. Sie sind nur auf der Durchreise, aber sie brauchten Vorräte und wollten mal wieder in einem Bett schlafen. Und heute wollten wir - also Sam und ich - ein bisschen am Waldrand entlang gehen. Sam wollte sich die Umgebung ansehen. Wir sind also auch etwas tiefer in den Wald hinein und ich hab nicht aufgepasst, aber im nächsten Moment war Sam plötzlich nicht mehr da. Ich hab mir sofort gedacht, dass er die Grenze überschritten hat und ich konnte ihn ja nicht sehen, also bin ich ihm hinterher. Und da war nur dieser eine Weg. Daher sind wir sind ihm gefolgt und kamen auf diese Lichtung mit dem Häuschen. Du bist die Einzige, die im Wald lebt, deswegen konnte es nur deines sein und ich hab geklopft.“
Sam hieß der andere Junge also. Und es hatte wirklich nur einen Weg gegeben, als sie die Grenze überschritten hatten? Das war zwar denkbar, aber ungewöhnlich. Normalerweise gab es immer mindestens zwei. Aber das konnte ihr auch egal sein. Die beiden hatten ihr Häuschen, ihren Ort gefunden. Yela atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Zum Glück schwiegen die beiden und ließen sie einen Moment in Ruhe. Schließlich hatte sich ihr rasendes Herz von dem Schrecken wieder erholt. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Dann stand sie endlich auf und sah die beiden an. Sie standen immer noch vor der offenen Tür.
„Und es gab wirklich nur einen Weg?“, vergewisserte sich Yela.
Willy nickte und atmete erleichtert auf. „Sonst hätten wir uns doch jämmerlich verlaufen.“
Yela nickte zustimmend. Da hatte er recht. Hätte es mehr als einen Weg gegeben, wären die beiden ewig hier herumgeirrt, ohne hinaus zu finden. Yela atmete erleichtert auf. Das bedeutete, dass es reines Glück war, dass sie ihr Häuschen gefunden hatten. Noch einmal würden sie es nicht finden. Also hatte sie auch weiterhin ihre Ruhe. Das war gut.
Der Schrecken war aus ihrem Gesicht gewichen und ein gelassener Ausdruck trat an seine Stelle.
„Ihr habt großes Glück gehabt, dass es nur einen Weg gab. Und dass dieser auch noch genau hierher geführt hat“, sagte Yela schließlich. Sie schüttelte immer noch überrascht den Kopf und hob den Stuhl auf. Willy lächelte und sie konnte ihm ansehen, wie erleichtert er war, dass sie wieder so ruhig war. Yela hob auch noch den Hammer auf und stieg wieder auf den Stuhl. „Mach die Tür zu, Willy. Es zieht.“
Willy nickte und schloss rasch die Tür, dann sah er zu Yela auf und runzelte wieder die Stirn. „Sollen wir dir helfen, Yela?“
„Nein. Ich bin fast fertig.“
Sie schlug zwei weitere Nägel in die Decke und rüttelte prüfend an den Brettern. Sie hielten und das Loch war verschlossen. Sehr zufrieden mit sich sprang sie vom Stuhl und räumte alles beiseite. Die zwei Jungen standen immer noch wie angewurzelt da. Yela lehnte sich gegen den Tisch und musterte die beiden. Sams Blick war voller Neugier. Willy räusperte sich etwas verlegen und Yela wandte ihm ihren Blick zu.
„Ich hab euch noch gar nicht richtig bekannt gemacht. Also, das ist Sam. Sam, Yela.“
Sam lächelte und nickte ihr zu. „Es freut mich, dich kennen zu lernen.“
Yela nickte nur. Wenn Sam und seine Familie wirklich nur auf der Durchreise waren, würde er nicht lange hier bleiben. „Ich bringe euch zurück“, sagte sie und ging an ihnen vorbei zur Tür. Je eher sie zurück im Dorf waren, desto eher hatte sie wieder ihre Ruhe. Es war schon spät. Die Sonne würde bald untergehen und sie war müde. Außerdem machten sich die Dorfbewohner bestimmt schon Sorgen. Sie wusste ja nicht, wie lange die beiden schon im Wald umherirrten. Sie öffnete die Tür und sah die beiden auffordernd an.
„Willst du uns so schnell loswerden?“, fragte Willy grinsend, doch er bewegte sich nach draußen. Sam folgte ihm und schenkte Yela ein fröhliches Lächeln, als er an ihr vorbeiging.
„Ich habe keine Lust, dass die Dorfbewohner auf dumme Gedanken kommen und euch suchen gehen.“ Yela schnaubte und schloss die Tür.
„So verrückt sind die nicht. Sie wissen, dass das nichts bringt. Sie würden sich nur selbst verirren.“
„Warum das?“, fragte nun Sam. Sein fragender Blick huschte von Willy zu Yela. Yela ging über die Lichtung und in den Wald hinein. Sam und Willy folgten ihr. Wie immer fand sie ihren Weg ohne Schwierigkeiten.
„Der Wald ändert seine Wege. Nie führt ein Weg zweimal in dieselbe Richtung“, antwortete Willy schließlich, als er merkte, dass Yela nicht antworten würde.
„Wie sollen wir dann hier wieder herausfinden?“
„Yela wird uns sicher zum Waldrand bringen.“
Yela warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah Sams aufmerksamen Blick auf ihr ruhen. Ihre Augen verengten sich misstrauisch. Sie mochte es nicht, wie er sie ansah.
„Yela ist die Einzige, die sich hier zu Recht findet“, fügte Willy hinzu.
„Nicht schlecht“, murmelte Sam, dann fügte er lauter hinzu: „Wie kommt es, dass du dich hier zu Recht findest, wenn sich doch jeder andere verirrt?“
„Ich kann es eben“, gab Yela unwirsch zurück und ging schneller.
Den Rest des Weges schwiegen die drei, doch Yela fühlte sich immer unbehaglicher. Sie konnte die Blicke in ihrem Rücken förmlich spüren. Aber gleich hatte sie es geschafft. Die Grenze war nicht mehr weit. Ein letztes Mal bog sie auf dem Weg ab und die drei überschritten die Banngrenze. Um sicher zu gehen, dass sie nicht wieder zurückgingen, führte Yela sie auch noch bis an den Waldrand, sodass sie das Dorf vor sich sahen.
„Da wären wir“, sagte Yela leise und blieb im Schatten der Bäume.
„Vielen Dank, Yela. Wir hatten wohl ziemliches Glück heute“, meinte Willy grinsend und ging ein paar Schritte weiter, bevor er sich nochmals umdrehte.
„Geht nicht mehr so tief in den Wald hinein. Beim nächsten Mal habt ihr vielleicht nicht mehr so viel Glück.“ Yela verschränkte die Arme vor der Brust, während sie sprach. Willy nickte nur.
„Kommst du nicht mit?“, wollte Sam auf einmal wissen und hob fragend eine Augenbraue. Yela blinzelte überrascht, fasste sich jedoch schnell wieder und schüttelte den Kopf. Sie sah Sam an und nun war sie es, die die Augenbrauen hob. War Sam wirklich enttäuscht, dass sie nicht mitkam? Bevor Yela seinen Gesichtsausdruck deuten konnte, lächelte er wieder und winkte ihr zum Abschied zu. „Ich hoffe, wir sehen uns noch einmal, bevor meine Familie und ich weiterziehen.“
„Hm“, machte Yela unbestimmt. Sam lachte und zusammen mit Willy machte er sich auf den Weg ins Dorf.
Yela sah ihnen hinterher, bis sie die ersten Häuser erreicht hatten. Dann wandte sie sich um und ging in den Wald hinein.

Wieder wachte sie schreiend auf und sah automatisch zum Fenster. Es war nun schon das dritte Mal, dass sie heute Nacht aufgewacht war. Aber es dämmerte langsam. Also war der Tag nicht mehr fern.
Yela fuhr sich durch die Haare und stand auf. Es war sinnlos jetzt noch einmal einschlafen zu wollen. Und langsam hatte sie genug von ihren Alpträumen. Dreimal in einer Nacht; das reichte. Mehr würden ihre Nerven wahrscheinlich auch gar nicht aushalten.
Mit routinemäßigen Bewegungen trat sie an die Waschschüssel und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Langsamer als sonst zog sie sich an und aß ihr mageres Frühstück. Sie musste sparsam sein, wollte sie nicht schon wieder ins Dorf gehen müssen. Willy gab ihr immer nur Vorräte für eine Woche mit und zwang sie so, regelmäßig vorbeizuschauen. Natürlich konnte sie auch im Wald auf die Jagd gehen oder Beeren und andere Früchte suchen, aber Beeren machten auf Dauer nicht satt und mit der Jagd hatte sie es nicht so. Sie war nicht nur nicht besonders gut darin, sondern sie mochte es auch nicht, wenn sie gezwungen war ein anderes Lebewesen zu töten. Und sie würde Willy auch nicht um mehr Vorräte bitten. Nein, sie war viel zu froh darüber, dass sie dafür nichts bezahlen musste. Da nahm sie es widerspruchslos hin, dass sie jede Woche ins Dorf gehen musste. Lange würde sich ein Besuch jedoch nicht mehr aufschieben lassen. Sie hatte kein Brot mehr. Nur noch ein paar Äpfel und eine alte Möhre, die wahrscheinlich schon nicht mehr genießbar waren. Yela seufzte. Sie musste wohl oder übel ins Dorf gehen, gestand sie sich ein. Und das konnte sie genauso gut heute erledigen. Dann hätte sie es hinter sich. Heute oder morgen, was machte das schon für einen Unterschied. Vielleicht konnte sie sich sogar einen Vorteil daraus machen, dass sie heute viel früher als gewöhnlich kam. So früh würden die Kinder sicher noch nicht auf den Straßen spielen. Was schlicht und einfach bedeutete, dass Yela das Dorf wieder ohne Verzögerungen verlassen konnte.
Yela lächelte kurz über diese Aussicht und ging los. Sie schritt schneller durch den Wald, als sie es für gewöhnlich tat. Sie wollte keine Zeit verlieren.
Als sie aus dem Wald heraustrat und den kleinen Hang hinunter zum Dorf lief, stellte sie erfreut fest, dass die Sonne noch nicht vollständig am Horizont erschienen war.
Yela erreichte das Dorf und hielt wachsam Ausschau nach den Kindern, doch die Einzigen, die ihr begegneten waren Erwachsene. Schnell hatte sie den Dorfplatz erreicht und die Schenke betreten. Es war noch weniger los als das letzte Mal, als sie hier war. Sie war wirklich früh dran. Gerade mal zwei der Tische waren besetzt. Diese waren zusammengeschoben worden. Anscheinend gehörten die Leute alle zusammen, doch Yela machte sich nichts daraus. Das ging sie nichts an und es interessierte sie auch nicht.
Willys Vater, der ebenso rote Haare hatte wie sein Sohn, stand hinter der Theke und trocknete Gläser. Er warf Yela nur kurz einen undeutbaren Blick zu, dann wandte er sich ab und verschwand durch eine Seitentür.
Ungeduldig wartete Yela am Tresen und klopfte mit den Fingern einen ungleichen Takt auf dem alten Holz. Doch sie musste nicht lange warten. Schon kurze Zeit später kam Willy durch die Tür, durch die sein Vater zuvor verschwunden war. Als sie jedoch den Jungen sah, der Willy folgte, verdüsterte sich ihr Blick ein klein wenig.
Sam lächelte, als er Yela bemerkte und blieb neben ihr stehen, während Willy hinter den Tresen ging und vor beide ein Glas Wasser stellte.
„Guten Morgen, Yela“, grüßte Sam sie fröhlich. Yela, die ohnehin schon schlechte Laune wegen ihrer Alpträume hatte, sah ihn missmutig an. Sam lächelte noch immer und schien förmlich vor guter Laune überzulaufen. Yela wandte sich wortlos von ihm ab und sah Willy an.
„Das Übliche?“, wollte dieser wissen. Yela nickte. Willy lachte kurz und leise und verschwand, um ihre Vorräte zu holen.
„Was führt dich denn so früh hierher, Yela? Konntest es wohl nicht abwarten uns wiederzusehen?!“
Yela schenkte ihm einen bitterbösen Blick, unter dem Sams Lächeln ins Wanken kam und schließlich verschwand. Nun musterte er sie verwirrt und neugierig. „Hab ich was Falsches gesagt?“, erkundigte er sich besorgt und runzelte die Stirn, als er kurz darüber nachdachte. Yela verzog das Gesicht und schüttelte langsam den Kopf. Was konnte er schon dafür, dass sie schlechte Laune hatte? Traurig und abwesend blickte sie auf den Tresen, schwieg weiterhin. Sie konnte ein Gähnen nicht unterdrücken und hob hastig die Hand vor den Mund.
„Hm, Morgenmuffel, was?“, vermutete Sam, nun wieder fröhlicher. Yela sagte nichts. Sollte er doch denken, was er wollte. Hauptsache er ließ sie endlich in Ruhe. Sie begann wieder mit den Fingern auf den Tresen zu trommeln. Warum brauchte Willy nur so lange? Yela dachte kurz darüber nach und kam schließlich zu dem Schluss, dass er vermutlich nicht so früh mit ihr gerechnet hatte und deswegen erst alles zusammensuchen musste.
Auf einmal legte sich eine Hand auf ihre Finger und das Getrommel erstarb. Überrascht schaute Yela erst auf ihre Hand und dann in Sams Gesicht. Blitzartig entzog sie ihm ihre Hand, während sich ihr Gesicht in eine ausdruckslose Maske verwandelte.
„Hast du’s eilig?“, fragte Sam und biss sich auf die Lippe, um ein Grinsen zu unterdrücken.
„Was geht’s dich an?“, gab Yela heftiger als gewollt zurück.
„Hm, vermutlich nichts“, murmelte Sam und musterte sie leicht besorgt, doch noch immer stand ihm die Neugier ins Gesicht geschrieben. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ziemlich seltsam bist?“
„Stell dir vor, da bist du nicht der Erste“, entgegnete Yela bissig und verengte die Augen, bevor sie sich von ihm abwandte. Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen?
Fremde, dachte Yela und sprach es in Gedanken aus wie ein Schimpfwort, immer neugierig. Sie schüttelte den Kopf über ihre Gedanken und wartete schweigend auf Willy. Sie würde Sam einfach ignorieren.
„Warum lebst du im Wald und nicht hier im Dorf?“, ergriff Sam nach ein paar Sekunden wieder das Wort. Er klang ehrlich interessiert. Yela konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie er sie immer noch beobachtete und kein einziges Mal seinen Blick von ihr nahm. Als hätte er noch nie ein Mädchen gesehen. Yela blieb ihrem Vorsatz treu und ignorierte ihn. Doch so leicht würde sie nicht davonkommen. Sam hob schon zu einer neuen Frage an. „Hast du Familie?“
Yela schwieg weiter und bevor Sam weiter nachhaken konnte, kam Willy endlich zurück, mit einem vollen Korb. Erleichtert stieß Yela die Luft in einem kurzen Seufzer aus und nahm Willy sogleich den Korb ab.
„Behalte es, Yela“, ermahnte sie Willy, als er sah, wie ihre Hand zu dem kleinen Beutel an ihrer Hüfte zuckte. Yela nickte stumm und murmelte einen kurzen Abschiedsgruß. Dann ging sie auch schon mit langen Schritten wieder nach draußen.
Sie atmete die frische Luft tief ein. Endlich konnte sie von hier verschwinden. Mit schnellen Schritten lief sie über den Platz und die Straße zum Waldrand entlang. Sie achtete kaum auf ihre Umgebung und ignorierte die Blicke, die wie immer zu ihr flogen. Wahrscheinlich waren die Erwachsenen froh darüber, dass ihre Kinder noch nicht auf den Straßen unterwegs waren und so Yela verpassten.
Schließlich hatte sie das Ende des Dorfes erreicht und ging den Hügel hinauf. Ihre Schritte wurden langsamer, jetzt da der schützende Wald in der Nähe war.
„He, Yela! Warte doch mal!“
Yela erstarrte mitten im Schritt. Was war denn nun schon wieder? Konnte sie nicht einmal in Ruhe nach Hause gehen? Die Leute wussten doch, dass sie ihre Ruhe wollte. Aber im selben Augenblick wurde ihr klar, dass es niemand von den Dorfbewohnern sein konnte. Dann erschien Sam an ihrer Seite und lächelte. Yela erwiderte seinen Blick wütend. Was wollte er? Bekloppter, neugieriger Fremder.
„Lass mich in Ruhe!“, zischte sie und ging weiter. Sie hörte die Schritte hinter sich. Er folgte ihr. Ohne sich umzudrehen oder innezuhalten, sagte sie drohend: „Ich warne dich. Lass mich in Ruhe! Geh wieder zurück! Dieses mal bringe ich dich nicht zurück, wenn du die Grenze überschreitest.“
„Lass mich mitkommen, Yela“, bat Sam neben ihr.
„Nein. Lass mich in Ruhe!“
Sam seufzte und packte sie am Arm, um sie zum Stehen zu bringen. Yela wirbelte herum und riss sich aus seinem Griff los. Ihre Augen sprühten Funken vor Zorn.
„Warum tust du das?“, fragte Sam.
„Warum tue ich was

?“
„Warum verhältst du dich so abweisend?“
„Weil ich alleine sein will, kapiert? Ich will nur meine Ruhe.“
Sie drehte sich abrupt wieder um und marschierte in den Wald hinein. Und wieder wurde sie zurückgehalten, doch dieses Mal ließ Sam sie nicht los, so sehr sie sich auch in seinem Griff wand.
„Lass mich sofort los“, sagte Yela und ihre Stimme bebte vor unterdrückter Wut. Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Hatte er denn nicht kapiert, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte? Wie konnte er das bis jetzt noch nicht verstanden haben?
Yela zog wieder an ihrem Arm, doch Sam ließ nicht los. „Ich bitte dich, Yela. Ich bin neugierig, weißt du. Beantworte mir nur ein paar Fragen. Bitte!“ Er sah sie eindringlich an und lockerte seinen Griff.
„Warum? Ich will nicht.“
„Bitte, Yela.“ Ihren wütenden Blick schien er einfach zu ignorieren. Doch schließlich ließ er sie los und trat einen Schritt auf sie zu. Yela wich zurück. Ihre Wut verrauchte langsam. Er war genauso hartnäckig wie die Kinder, wenn sie eine Geschichte hören wollten. Höchstwahrscheinlich noch hartnäckiger. Yela seufzte. Ihre Wut war vollends verschwunden. Stattdessen blickte sie traurig auf den Waldboden.
„Ich möchte nicht mit dir reden“, sagte sie leise, ohne den Blick zu heben.
„Warum denn nicht? Du beantwortest mir ein paar Fragen und im Gegenzug kannst du mich auch etwas fragen. Alles was du willst.“
„Lässt du mich in Ruhe, wenn ich dir ein paar Fragen

beantworte?“ Als sie merkte wie Sam zögerte, blickte sie wieder nach oben und musterte misstrauisch sein Gesicht.
„Das kann ich dir nicht versprechen“, sagte er schließlich langsam. Yelas Augen wurden noch schmäler.
„Warum nicht?“
„Hm, ist ne längere Geschichte. Außerdem kann es ja sein, dass ich dich wirklich in Ruhe lasse. Kommt auf deine Antworten an“, murmelte er und vermied verlegen, ihr in die Augen zu sehen. Yela seufzte erneut. Sam würde nicht nachgeben und vermutlich würde er ihr sogar über die Grenze folgen, selbst wenn sie Nein sagen würde.
„Ich hoffe, du wirst nicht enttäuscht sein“, sagte sie spöttisch und drehte sich um. Sie blickte nicht zurück, um sich zu vergewissern, dass er ihr folgte. Sie wusste, dass er es tat.
Kaum hatten sie die Grenze überschritten, holte Sam sie ein und ging neben ihr her. Yela warf ihm einen kurzen Blick zu. Er lächelte und schien sich nicht die geringsten Sorgen zu machen. Sie schüttelte verwundert den Kopf. Sie könnte ihn einfach hier stehen lassen, ihm entkommen und ihn hier herumirren lassen. Aber auf diese Gedanken schien er gar nicht zu kommen. Yela umgriff den Korb fester und beschleunigte ihre Schritte. Sie würde das hier so schnell wie möglich hinter sich bringen, und dann würde sie ihn rausschmeißen. Er würde sie in Ruhe lassen. Dafür würde sie schon sorgen. Und wenn es bedeutete, dass sie den Wald nicht mehr verlassen konnte, bis die Fremden wieder abgereist waren. Sie wollte nur ihre Ruhe.

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Tag der Veröffentlichung: 03.08.2011

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