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6:15 Uhr. Der Wecker klingelte und riss mich rücksichtslos aus dem Traum in die Wirklichkeit. Noch eben war ich auf meinem Motorrad die Route 66 entlanggefahren, jetzt lag ich mit offenen Augen in meinem Bett und starrte an die Zimmerdecke. Es war einer dieser seltenen Momente nach dem Aufwachen, in dem man sich noch genau an das erinnern konnte, was man soeben geträumt hatte. Doch von Sekunde zu Sekunde verblasste auch diese Erinnerung immer mehr.
Noch einmal stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn ich nun tatsächlich auf einem Motorrad durch Amerika sausen würde. Ich konnte den Wind, der mir durch das halb offene Visier ins Gesicht blies, förmlich spüren. Ob es nicht der Wunsch eines jeden Motorradfahrers war, einmal eine solche Strecke zu fahren? Ich wusste es nicht. Aber dass ich es mir wünschte, wusste ich mit absoluter Sicherheit. Dazu würde es jedoch in allzu naher Zukunft nicht kommen. Erst einmal wollte ich mein Abitur machen. Danach konnte ich vielleicht ein Auslandsjahr machen und diese Gelegenheit nutzen, um mit dem Motorrad einen der langen Highways entlang zu düsen.
6:37 Uhr. Ich seufzte. Wenn ich noch länger hier liegen blieb, würde ich zu spät zur Schule kommen. Also erhob ich mich beinahe schwerfällig, schwang meine Füße über die Bettkante. Einen winzigen Moment blieb ich noch sitzen, dann stand ich auf und ging eilig den Flur hinunter ins Bad. Nur wenige Minuten später lockerte das warme Wasser meine Muskeln und ließ mich entspannen. Ich senkte meinen Kopf und ließ das Wasser einfach auf mich niederprasseln. Schwarze Haarsträhnen fielen mir ins Gesicht, doch ich strich sie nicht beiseite. Es tat gut, einfach nur einen Moment so dazustehen.
Irgendwann rang ich mich aber dann dazu durch, doch aus der Dusche zu steigen, mich abzutrocknen und rasch in meine bereitgelegte Kleidung zu schlüpfen. Als ich aus dem Badezimmer schlüpfte und einen Blick auf mein Handy warf, bestätigte sich mein Verdacht, dass ich mich jetzt wirklich beeilen sollte. Rasch packte ich meine Schulsachen und warf mir anschließend die Tasche über die Schulter, bevor ich aus dem Haus stürmte. Kurz bevor die Haustür hinter mir ins Schloss fiel, rief ich noch: „Bin weg!“, ungeachtet der Tatsache, dass ich dadurch vermutlich meine gesamte Familie geweckt hatte.
Ein Lachen stieg meine Kehle hoch und bahnte sich den Weg nach draußen, als die Sonnenstrahlen mein Gesicht trafen und ich das verschlafene, aber dennoch laute „Du Vollidiot! Halt beim nächsten Mal doch einfach die Klappe!“ hörte. Mein Grinsen wurde breiter. Ganz sicher würde ich dies nicht tun. Dazu machte es mir viel zu sehr Spaß, meine kleine Schwester zu ärgern. Selbst schuld, wenn man nicht mehr einschlafen konnte, sobald man wach war. Das war ja wohl kaum mein Problem. Ich drehte mich noch einmal um, winkte und schwang mich auf mein Fahrrad.

7:18 Uhr. Zufrieden nickte ich. Ich hatte noch etwas Zeit. Gerade war ich dabei mein Fahrrad abzuschließen, als jemand meinen Namen rief. Erst unternahm ich nichts, sondern kümmerte mich einfach weiterhin darum, dass mein Rad sicher verschlossen war. Anschließend richtete ich mich auf.
„Hey, Leo! Ignorierst du mich etwa?“, wurde dicht hinter mir gerufen. Mit einem breiten Grinsen drehte ich mich nun zu meinem besten Freund um, der mich beleidigt und schmollend ansah. Seine zuckenden Mundwinkel jedoch verrieten ihn.
„Definiere ignorieren“, forderte ich ihn auf und schlenderte mit ihm in das graue Schulgebäude.
„Das Nichtbeantworten eines Rufes von deinem besten Freund!“
Ich lachte und schüttelte den Kopf. „Das ist Schwachsinn. Außerdem habe ich mein Fahrrad gerade abgeschlossen.“
„Du hättest dich trotzdem umdrehen und antworten können“, maulte Marco und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Wieder schüttelte ich nur den Kopf. Egal was ich darauf antworten würde, Marco würde eine Möglichkeit finden, mir ein schlechtes Gewissen einzureden, weil ich nicht reagiert hatte. Also ließ ich es lieber gleich bleiben und beschleunigte meinen Schritt. So kamen wir gerade noch rechtzeitig in das Klassenzimmer, als auch schon unser Lehrer die Tür hinter sich schloss und – wie üblich – begann, uns zu der letzten Unterrichtsstunde zu befragen.
Auch wenn wir immer dazu neigten, gequält oder genervt zu stöhnen, war Herr Jahn doch völlig in Ordnung, und vermutlich hätten wir gar keinen besseren Klassenlehrer bekommen können. Er war eben jemand, der es mit einer lauten und hauptsächlich aus Jungen bestehenden Klasse aufnehmen konnte.
Doch kaum dass die erste Stunde vorbei war, wünschte ich mir das Ende des Tages herbei. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, in welchen Konflikt ich nach diesem Schultag geraten würde, hätte ich mir das Schulende wohl nicht so sehnlichst herbeigewünscht. Aber man konnte bekanntlich ja nicht in die Zukunft sehen.
Der Schultag glitt in mehreren Etappen an mir vorüber. Es gab Zeiten, in denen ich wirklich anwesend war und aufpasste (was überwiegend in den Pausen der Fall war) und diese Zeiten, in denen ich mich einfach nur weit weit weg wünschte und meine Gedanken immer wieder abschweiften. Trotzdem ging auch dieser Tag irgendwann einmal zu Ende.
An den Fahrradständern unterhielten Marco und ich uns noch ein wenig, bevor wir uns verabschiedeten und in verschiedene Richtungen davonfuhren.

15:48 Uhr. Es war ein beschissener Zeitpunkt, um auf die Uhr zu schauen. Während des Fahrens und dann auch noch kurz vor der Wegabzweigung, die ich nehmen musste. Ich fuhr schnell, und gerade als ich wieder nach vorne sah, kam jemand um die Ecke und lief mir in meinen Fahrweg.
Das Geräusch schlitternder Reifen war zu hören, als ich stark, aber vorsichtig die Bremshebel zurückzog. „Vorsicht!“, schrie ich laut. Es zeigte Wirkung. Der Junge, der mich noch gar nicht bemerkt hatte, sah auf. Anfängliche Panik überkam mich, als er keine Anstalten machte auszuweichen.
Was sich in wenigen Augenblicken abspielte, wurde für mich beinahe zu einer Ewigkeit. Ich war fest davon überzeugt, dass eine Konfrontation unausweichlich war und riss in einem letzten Versuch den Kurs zu ändern das Lenkrad herum. Böser Fehler!
Mein Rad machte das nicht mit, wollte nicht so wie ich. Es scherte nach links aus. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel halben über den Lenker vom Rad. Instinktiv versuchte ich, meinen Kopf mit den Armen zu schützen.
Ich rutschte noch etwas über den rauen Asphalt und spürte bereits Augenblicke später das Brennen an meinen Armen und Knien. Mein Herz raste so schnell, dass ich befürchten musste, es springe gleich aus meinem Brustkorb. Meine Atmung kam stoßweise. Ich hatte meine Augen zusammengekniffen. Zu tief saß der Schock noch. Und auch jetzt traute ich mich noch nicht, sie zu öffnen. Ich spürte nur dieses höllische Brennen und den Schmerz in meinem rechten Arm und der Schulter.
Ob mein Fahrrad den Sturz besser überlebt hatte? Eine unsinnige Frage, völlig absurd und unangebracht, dennoch war es die erste, die mir durch den Kopf schoss. Gleich gefolgt von der Erinnerung daran, dass da noch jemand war, dem etwas passiert sein könnte. Abrupt riss ich die Augen auf und setzte mich auf, was mich schmerzerfüllt keuchen ließ. Ich verzog das Gesicht.
„Alles in Ordnung?“, hörte ich plötzlich eine besorgte Stimme neben mir. Ich sah nicht hin, hielt nur meine rechte Schulter umklammert und versuchte, nicht an den Schmerz zu denken. Scheinbar erwartete der andere keine Antwort, denn nur wenig später fuhr er schon fort: „Okay, doofe Frage, sorry. Kannst du aufstehen? Scheiße, das sieht echt nicht gut aus. Tut bestimmt höllisch weh, oder?“
Machte der sich gerade lustig über mich? Natürlich tat es höllisch weh, verdammt. Ich war gerade vom Fahrrad gefallen, weil dieser Idiot wie aus dem Nichts erschienen war.
„Tut mir leid“, hörte ich ihn mit einem kaum hörbaren Seufzer sagen. Aber er entschuldigte sich? Hatte ich meinen letzten Gedanken etwa laut ausgesprochen?
Nun sah ich doch auf und blickte in zwei strahlend blaue Augen. Ich musste schlucken und konnte eine schier endlose Zeit – so kam es mir jedenfalls vor – nicht wegsehen. Doch dann erinnerte mich der Schmerz in meiner Schulter wieder daran, was soeben passiert war. Ich versuchte aufzustehen, langsam und vorsichtig, aber eine neue Schmerzwelle ließ mich wieder stöhnend zurücksinken und so blieb ich einfach ruhig sitzen. Erneut verzog ich mein Gesicht zu einer Grimasse des Schmerzes.
„Das beantwortet wohl auch die Frage, ob du aufstehen kannst“, murmelte der Fremde. „Lass mich dir helfen, ja?“ Er wartete gar keine Antwort ab, sondern packte meinen unversehrten Arm, legte seinen anderen Arm stützend um meine Hüfte und half mir hoch. Es war schmerzhaft, aber schließlich stand ich, auf meinen Helfer, den ich beinahe umgefahren hätte, gestützt. Immer noch atmete ich etwas schneller als gewöhnlich und auch mein Herzschlag beruhigte sich nur langsam von dem Schock.
Ich warf dem anderen einen Seitenblick zu, um ihn zu mustern. Seine Haare waren von einem dunklen Braunton, gingen ihm bis zu den Wangenknochen. Ein paar Strähnen hingen ihm ins Gesicht und verdeckten teilweise seine blauen Augen.
„Danke“, sagte ich leise, vermutlich auch ziemlich verspätet, so wie er mich ansah. Mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen. Scheinbar starrte ich ihn doch schon länger an, als ich gedacht hatte. Verlegen wandte ich meinen Blick ab, und spürte doch tatsächlich, wie ich rot wurde. Hitze stieg meine Wangen hinauf. Innerlich verfluchte ich mich dafür. Also versuchte ich im Gegenzug, diese Peinlichkeit dadurch zu kaschieren, dass ich etwas von ihm abrückte und gleichzeitig versuchte, mich von alleine aufrecht zu halten. Vergeblich.
Ich stolperte vorwärts, weil mein rechtes Knie nachgab, und wäre fast wieder hingeflogen, hätte mich mein Helfer nicht fester gepackt und wieder hochgezogen. Vorsichtig half er mir zu der kleinen Mauer, auf die ich mich anschließend setzte.
Ich seufzte und besah mir meine Verletzungen nun zum ersten Mal genauer. Meine Hose hatte an den Knien und an meinem rechten Bein nun fransige Löcher. Meine Knie bluteten, sowie meine Handflächen und meine Ellenbogen. Dabei hatte es die rechte Seite weitaus schlimmer getroffen. Selbst das Hinsehen schien wehzutun. Und dazu kam natürlich meine Schulter, die schrecklich schmerzte. Vielleicht war sie ausgerenkt, oder so? Bewegen tat ich sie am besten so wenig wie möglich. War wohl auch besser so.
Zum ersten Mal verfluchte ich den Sommer und den heutigen Sonnentag. Wer, wenn nicht die Sonne und die damit verbundene Wärme, war schuld daran, dass ich ohne Jacke oder langärmliges Oberteil das Haus verlassen hatte? Sicher wären diese üblen Schürfwunden nicht so tief und schmerzhaft ausgefallen, hätte ich lange Ärmel angehabt.
Völlig unnötige Gedanken, fand ich. Sollte ich mich nicht lieber fragen, was ich jetzt tun sollte? Heim oder direkt zum Arzt? Immerhin waren Dreck und kleine Steinchen in den Wunden. Ich weiß noch nicht einmal, wen ich beinahe über den Haufen gefahren habe, wer dieser Fremde ist, schoss es mir durch den Kopf. Vielleicht war er sogar verletzt?
Ich drehte meinen Kopf mit einer schnellen Bewegung zu dem Jungen und musterte ihn erneut. Erst jetzt fiel mir auf, dass seine blauen Augen auch auf mir ruhten und er mich eindeutig besorgt ansah.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte ich und versuchte gelassen zu klingen, doch ganz konnte ich die Schmerzen nicht ausblenden und das musste man wohl auch an meinem Gesichtsausdruck gesehen haben.
„Ich sollte dich zum Arzt fahren“, überging er meine Frage. „Das wird das Beste sein.“ Kurz schwieg er, dann fügte er noch lächelnd hinzu: „Ich heiße übrigens Christian.“
„Leo“, erwiderte ich automatisch.
Christian lächelte. Ich musste schlucken. Dieses Lächeln schien sein Gesicht zum Leuchten zu bringen; seine klaren, blauen Augen leuchteten. Dennoch wich die Sorge nie ganz aus seinem Blick. Nun stand er auf, bedeutete mir aber, sitzen zu bleiben. Rasch richtete er mein Fahrrad wieder auf, das ich wirklich total vergessen hatte, und lehnte es gegen die niedrige Mauer neben mich. Anschließend sagte er: „Ich werde kurz nach Hause laufen und mein Auto holen. Du wartest hier, hast du mich verstanden? Ich werde dich ins Krankenhaus fahren.“
Christian sah mich eindringlich an. Ich verlor mich in seinen Augen. Wieder musste ich schlucken. Ich versuchte zu antworten, aber es kam nur ein Krächzen über meine Lippen. Peinlich! Ich nickte hastig. Christian lächelte, schärfte mir noch einmal ein hierzubleiben und ging dann, um sein Auto zu holen. Ich sah ihm nach. Mein Blick glitt über seinen Rücken, die starken Arme, die mich sicher gehalten hatten, und blieb auf seinem Po hängen.
Meine Augen weiteten sich, als mir klar wurde, wo ich da gerade hinstarrte. Ich konnte spüren, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Hastig sah ich auf den Boden. Mein Herz raste erneut in meiner Brust. Scheiße, scheiße, scheiße, ging es mir durch den Kopf. Was tust du denn da?, fragte ich mich selbst. Ich lenkte meine Gedanken bewusst in eine andere Richtung. Auch, um mich von den brennenden Schmerzen abzulenken.

16:04 Uhr. Meine Uhr war unbeschadet aus der Sache gekommen. Vielleicht sollte ich zu Hause anrufen. Ich war schon überfällig und sicher würden sich zumindest meine Eltern fragen, wo ich denn blieb, denn normalerweise war ich immer pünktlich, wenn es mein Lieblingsessen gab. Also zückte ich vorsichtig mein Handy, versuchte, mich so wenig wie möglich dafür zu bewegen. Schließlich hatte ich es aus meiner Hosentasche gezogen und die Nummer gewählt. Das Freizeichen erklang. Die Sekunden verstrichen und immer noch überlegte ich mir beinahe krampfhaft, was ich denn sagen sollte. Eigentlich hatte ich keine Lust von meinem Unfall zu erzählen, da sie sich dann nur unnötig Sorgen machen würden. Womöglich würden sie sofort hierher kommen, um mich eigenhändig ins Krankenhaus zu fahren. Eigentlich gar keine schlechte Idee …
„Brecht“, meldete sich endlich jemand und riss mich damit aus meinen Überlegungen. Unhörbar atmete ich noch einmal durch.
„Hey“, war alles, was ich sagen konnte, denn schon erklang wieder die Stimme aus dem Telefon und meine Mutter begann, mich besorgt auszufragen wo ich denn bliebe. Übervorsorglich. Ich unterdrückte einen genervten Seufzer, konnte aber nicht verhindern, dass ich die Augen verdrehte.
„Ma, es geht mir … gut.“ Ich zögerte kurz bei dieser Aussage. Genau genommen ging es mir ja auch gut. Bis auf die schmerzhaften Verletzungen. „Ich komme nur etwas später heim. Ich wurde noch aufgehalten, ja?“ Ich würde ihnen von Angesicht zu Angesicht sagen, was passiert war, beschloss ich. Nicht hier am Telefon, nein.
„Ist wirklich alles in Ordnung, Schatz? Du klingst so seltsam.“
Hatten Mütter einen sechsten Sinn für so etwas? Aber ich würde ihr jetzt nichts von dem kleinen Unfall erzählen. Nicht jetzt. Daher antwortete ich nur: „Es ist wirklich alles in Ordnung. Allerdings weiß ich nicht genau, wann ich zu Hause bin. Könnte noch etwas dauern.“
Eine Weile herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Ich befürchtete schon, dass meine Mutter doch irgendwie dahinterkommen würde, doch dann meinte sie nur: „Na schön. Ich werde dir dein Essen warmhalten.“
„Danke, Ma.“
Ein Lachen am anderen Ende. „Schon in Ordnung. Ist doch kein Problem. Bis später, Leo.“
„Ja, bis später.“
Dann hatte sie aufgelegt. Ich atmete tief durch. Es war wahrscheinlich, dass ich mir später einen Vortrag darüber anhören musste, dass ich ihr bereits am Telefon hätte sagen sollen, was passiert war. Aber das nahm ich in Kauf, wenn ich jetzt noch einen Moment Ruhe hatte und sie keinen Aufstand machte, um hierher zu kommen.
Ich rutschte ein Stück nach hinten, um bequemer auf der Mauer zu sitzen und verzog wieder das Gesicht, da mir ein stechender Schmerz durch die Schulter fuhr. Das war übel. Da mir aber nichts anderes übrig blieb als hier zu warten, musterte ich von meinem Platz aus mein Fahrrad, um mögliche Schäden finden zu können. Es schien alles in Ordnung zu sein. Zumindest war der Lenker schon einmal nicht verbogen. Ich sah auf meine Uhr.
16:17 Uhr. Langsam könnte Christian ruhig zurückkommen. Nicht dass ich äußerst erpicht darauf war von ihm ins Krankenhaus gefahren zu werden, aber es war besser als die beiden Alternativen, die ich hatte. Entweder zu Fuß zu gehen oder meine Eltern anzurufen und ihnen jetzt schon das Ganze zu beichten.
Ich war schon kurz davor diese zweite Möglichkeit doch in Erwägung zu ziehen und mich unfreiwillig bemuttern zu lassen, als ein silberner VW um die Ecke in die leere Straße gebogen kam und vor mir hielt. Nur einen Moment später stieg Christian aus; den Motor ließ er laufen.
„Dein Chauffeur ins Krankenhaus ist wieder da. Bereit?“ Lächelnd kam er auf mich zu und legte bereits seinen Arm um meine Hüfte, um mir hoch zu helfen und mich zu stützen. Ich biss mir auf die Lippe und humpelte zu dem Wagen hinüber. Während ich mich gegen das Auto lehnte, öffnete Christian rasch die Tür und half mir auf den Beifahrersitz.
Als er sich reinbeugte und Anstalten machte mich anzuschnallen, meinte ich etwas bissig: „Das kann ich auch alleine!“ Fehlte grade noch, dass es so weit kam. Dann hätte ich auch gleich meine Mutter anrufen können.
„Wie du meinst.“
Aus den Augenwinkeln sah ich ihn schmunzeln. Die Tür schloss sich mit einem leisen Knall, dann stieg Christian ein und fuhr los.

17:38 Uhr. Ich kam gerade vom Röntgen und humpelte zurück in den Behandlungsraum. Das Brennen hatte etwas nachgelassen, dennoch tat es immer noch höllisch weh. Die Notaufnahme war zum Glück nicht allzu gut besucht gewesen, weswegen ich relativ schnell untersucht worden bin. Die Schürfwunden an Armen und Beinen waren bereits gesäubert und verbunden worden, mit riesigen Haftpflastern. Es hatte höllisch gebrannt, als mir die Schwester dieses bekloppte Desinfektionsmittel auf die Wunden gesprüht hatte.
Jetzt saß ich wieder auf dem schmalen Bett und wartete auf den Arzt. Es dauerte nicht allzu lange, bis dieser durch die Tür kam, die Röntgenbilder in der Hand, um sie noch einmal so zu mustern. Er legte sie weg und kam zu mir.
„Ich kann Sie beruhigen, es ist nichts gebrochen“, sagte der Arzt. Ich nickte nur, denn schon war er wieder dabei, meine Schulter noch einmal zu untersuchen. Seine Hände waren kalt und ich fröstelte, da ich mit bloßem Oberkörper auf dem Bett saß. Ich biss die Zähne zusammen. Es tat weh, verdammt!
Der Arzt nickte und trat zurück. Während er etwas aufschrieb und mir dann ein Rezept für Schmerzmittel und eine Salbe in die Hand drückte, sagte er: „Es ist eine starke Prellung. Sie sollten sich in den nächsten Tagen gut schonen. Kein Sport! Sollten Sie Probleme bekommen oder die Schmerzen nicht weniger werden, kommen Sie noch einmal her.“
Ich nickte. Mir wurde noch ein stützender Verband mit einer kühlen Salbe um die Schulter gebunden, dann konnte ich mir mein T-Shirt anziehen und aufstehen. Immerhin konnte ich wieder humpelnd laufen.
Draußen im Aufenthaltsbereich wartete immer noch Christian auf mich. Mann, er war echt geduldig, das musste ich zugeben. Er schien völlig gelassen, obwohl ich sicher über eine halbe Stunde hier verbracht hatte.
„Und, alles klar?“, fragte er sogleich, als ich auf ihn zu gehumpelt kam. Ich nickte und erzählte ihm in kurzen Worten, was der Arzt gesagt hatte. Das war ich ihm immerhin schuldig, wenn er mich schon fragte, oder? Er hatte mich schließlich hierher gebracht und auf mich gewartet, um mich jetzt auch noch nach Hause zu fahren. Was mich daran erinnerte, dass ich meine Verletzungen auch noch meinen Eltern erklären musste.
Ich unterdrückte einen Seufzer, den ich heute definitiv zu oft ausstoßen wollte, und ging neben Christian auf den Ausgang zu. Er hatte wieder meinen Arm ergriffen, um mich etwas zu stützen. Ich war froh, dass sein Arm nicht wieder um meine Hüfte lag. Es war ein seltsames Gefühl gewesen und hatte mir nicht so recht behagt.
Das Auto stand nicht allzu weit vom Eingang entfernt, also musste ich auch nicht zu weit gehen. Als ich mich auf den Beifahrersitz setzte, atmete ich erleichtert aus. Schonung war vielleicht doch ganz gut.
Die Rückfahrt war nicht so schweigsam wie die Hinfahrt. Wir unterhielten uns, aber auch nur über Triviales. Das Radio hatte Christian leiser gedreht, sodass es nur eine angenehme Hintergrundkulisse bildete.
Dann kamen wir an der „Unfallstelle“ an. Ab hier dirigierte ich ihn in die richtige Richtung. Mein Fahrrad hatte Christian mit etwas Mühe – und nachdem er die Lehne der Rückbank runtergeklappt hatte – in den Kofferraum verfrachtet, bevor wir ins Krankenhaus gefahren waren.
Nur wenige Minuten später parkte das Auto vor meinem Zuhause. Jetzt würde ich alles meinen Eltern erzählen und dutzende besorgte Fragen über mich ergehen lassen müssen. Wie es mir ginge. Ob ich etwas bräuchte. Ob ich mich müde fühlte und nicht schlafen gehen wolle.
Den nächsten Seufzer konnte ich nicht unterdrücken. Ich bemerkte, wie Christian mich besorgt ansah, ging aber nicht darauf ein und stieg einfach aus. Er sagte nichts, sondern lud einfach mein Fahrrad aus dem Kofferraum. Bis zur Tür ging er mit, lehnte das Rad gegen die Garage und kam wieder zu mir.
„Also dann“, meinte ich. „Ähm, danke für alles.“
„Keine Ursache. War ja auch irgendwie meine Schuld.“ Christian lächelte und wieder musste ich schlucken, als ich sah, wie es sein Gesicht erhellte. Es stand ihm gut, dieses Lächeln. Sollte er öfters tun. Hastig brach ich diese Überlegungen ab und senkte verlegen den Blick.
„Ich gehe dann mal. Tschüss!“
„Tschüss“, murmelte ich zurück. Ich hörte seine Schritte auf dem Steinweg und kramte nach dem Schlüssel. Ich würde nicht zurücksehen. Die Tür war auf. Nicht zurücksehen, Leo, ermahnte ich mich. Ich hatte die Haustür schon fast hinter mir geschlossen. Sieh ihm nicht … Mein Blick hob sich und ich sah gerade noch, wie sein silberner VW die Straße hinunter fuhr. Dann war er aus meinem Sichtfeld verschwunden. Ich schloss die Tür.

3:29 Uhr. Seit Stunden wälzte ich mich nun schon in meinem Bett und versuchte zu schlafen, doch ich war viel zu aufgewühlt. Meine Gedanken rasten und hielten mich wach.
Als ich nach Hause gekommen war, war alles genau so verlaufen, wie ich es vermutet hatte. Da nur meine Mutter da gewesen war, hatte sie sich wie eine Löwin auf mich gestürzt, mich mit Fragen gelöchert und mich umsorgt, ohne dass ich widersprechen konnte. Vier Stunden hatte ich auf dem Sofa sitzen müssen und wurde bedient und umsorgt. Ab und an ist das vielleicht ganz toll, wenn einem jeder Wunsch von den Augen abgelesen wird, aber meine Mutter übertrieb es gerne.
Dass ich es ihr nicht gleich am Telefon erzählt hatte, war für sie kein Thema gewesen. Mit einer Handbewegung hatte sie es weggewischt und gemeint, einfach nur froh zu sein, dass ich wieder da sei und nichts weiter passiert war. Erst mein Vater hatte mir vorgehalten, dass ich gleich bei ihnen hätte anrufen sollen. Aber immerhin war es mir mit seinem Erscheinen gelungen auf mein Zimmer zu flüchten. Und nun lag ich hier. Es war mitten in der Nacht, und auch wenn morgen Wochenende war und somit keine Schule, wollte ich einfach nur schlafen. Aber ich konnte es nicht.
Ich dachte nur über eine Sache nach. Oder besser gesagt, über eine Person: Christian. Anfangs hatte ich ihn erfolgreich aus meinen Gedanken verbannen können, da ich zu sehr damit beschäftigt war, mich von meiner Mutter umsorgen zu lassen. Doch seit ich hier in meinem Bett lag, kehrten meine Gedanken immer wieder unweigerlich zu ihm zurück. Egal wie sehr ich auch versuchte, nicht an ihn zu denken. Sein Gesicht sprang mir förmlich vor mein geistiges Auge. Die braunen Haare, die sein Gesicht umrahmten. Die Strähnen, die ihm in diese klaren blauen Augen fielen. Und dann war da natürlich noch sein strahlendes Lächeln, welches ich nicht vergessen konnte. Es war zum Verrücktwerden.
Vergiss es endlich, Leo, vergiss ihn! Wie ein Mantra wiederholte ich diese Worte in meinem Kopf. Ich ging sogar so weit, dass ich sie laut aussprach. Aber es brachte nichts. Ich drehte mich auf die Seite und starrte mit finsterem Blick die Wand an. Schlafen war also gestrichen.
„Toll, Leo. Ein Junge geht dir nicht mehr aus dem Kopf. Wie krank ist das denn?“, murrte ich leise. „Du hast ihn beinahe umgefahren. Er hat dir geholfen und dich zum Krankenhaus und nach Hause gefahren. Ganz normal also, wenn man bedenkt, dass du kaum alleine gehen konntest.“
Ich stöhnte und vergrub mein Gesicht im Kissen. Toll, dachte ich, jetzt führe ich auch noch Selbstgespräche. Was hatte er mit mir gemacht? Warum ging mir diese Begegnung nur nicht aus dem Kopf? Wenn ich die Augen schloss und mich konzentrierte, konnte ich sogar die Berührung seines Arms um meine Hüfte spüren.
„Hör auf, hör auf, hör auf!“ Keine Ahnung, wen ich damit ansprach. Den imaginären Christian, der in meiner Vorstellung vor mir stand und mich anlächelte? Oder doch mich selbst, um mich zu ermahnen nicht mehr an ihn zu denken? War ja sowieso egal. Es brachte nichts, und dieser Idiot kreiste immer noch in meinen Gedanken umher.

Irgendwann musste ich aber doch eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal die Augen öffnete, schien die Sonne durch das Fenster in mein Zimmer. Vorsichtig drehte ich mich auf den Rücken. Meine Schulter schmerzte, weswegen ich mich langsam aufrappelte und ins Bad trottete, um eine Schmerztablette zu nehmen. Und da duschen gerade nicht zur Auswahl stand, wusch ich mich einfach und humpelte wieder zurück in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Anschließend legte ich mich wieder auf mein Bett.
10:57 Uhr. Noch weit vor meiner Zeit, also würde vorerst niemand hier reinspaziert kommen und mich stören. Ich war allein. Und ich hatte nichts vor, da ich mit Marco erst für Sonntag etwas ausgemacht hatte. Ideale Voraussetzungen, um den eigenen Gedanken nachzuhängen. Nur dumm, dass ich eigentlich gerade das verhindern wollte, weil ich unweigerlich an Christian denken musste.
Ich schaltete meine Anlage an. Die Musik meiner Lieblingsband klang durch mein Zimmer. Ich konzentrierte mich auf den Text, summte die Melodie mit, sang. Ich wollte einfach nicht an ihn denken. Es klappte. Ich lehnte mich zurück und genoss die Musik. Dass diese meine Mutter darauf brachte hier vorbeizuschauen und nach mir zu sehen, daran hatte ich nicht gedacht. Und so überraschte es mich wirklich, als sie vor mir stand und sich erkundigte, ob ich etwas frühstücken wollte. Natürlich erst, nachdem sie mich mindestens zehnmal danach gefragt hatte, ob ich Schmerzen hätte. Aber durch ihren Kurzbesuch bei mir bekam ich nun Frühstück ans Bett. Klasse, oder? Ich sollte mich ja auch schonen, hatte der Arzt gesagt. Also wäre es kontraproduktiv gewesen, die Treppen runter ins Esszimmer zu laufen und dann wieder hoch, um zurück in mein Zimmer zu kommen. Ich musste grinsen. Gut, es war doch nicht so übel, dass mich meine Mutter so umsorgte, wie ich anfangs gedacht hatte.

Irgendwie zogen die Stunden an mir vorbei. Ich verbrachte den Tag in meinem Zimmer. Allein mit mir und meinen Gedanken. Mit der Musik das Denken abzuschalten klappte bereits nach einer halben Stunde nicht mehr und so kehrten meine Gedanken sofort zu einem braunhaarigen jungen Mann zurück, den ich eigentlich vergessen wollte. Okay, vielleicht nicht vergessen, denn das wäre etwas unhöflich, wenn man bedachte, dass er mir geholfen hatte. Aber zumindest wollte ich nicht ständig an ihn denken müssen. Wenn ich es mir wenigstens erklären könnte. Allerdings hatte ich nicht den blassesten Schimmer, warum ich immer an ihn denken musste.
16:34 Uhr. Es klopfte an meiner Zimmertür. Überrascht sah ich hin und schaltete die Musik aus. Wer klopfte bitteschön an meine Tür und kam nicht herein? Jeder aus meiner Familie tat das so. Klopfen und reinkommen. Gut, meine Schwester kam auch ohne Klopfen einfach rein, aber egal.
„Herein“, rief ich und wartete gespannt. Marco war es sicher auch nicht. Er hätte vorher angerufen oder mir zumindest eine SMS geschickt. Die Person, die dann aber mein Zimmer betrat und hinter sich die Tür schloss, war die letzte, mit der ich gerechnet hätte. Mein Unterkiefer klappte runter und ich starrte ihn einfach nur an.
„Hey!“, sagte er und lächelte etwas verlegen. Ich konnte nichts erwidern. Unschlüssig stand er da, sah mich an und wartete. In diesem Moment war ich froh, dass er meinen offenen Mund nicht kommentierte. Als ich mich jedoch daran erinnerte, klappte ich ihn hastig wieder zu und schluckte.
„Christian!“ Sein Name kam mehr als ein Krächzen heraus. Den ganzen Tag hatte ich immer an ihn denken müssen. Den ganzen Tag hatte ich versucht, ihn aus meinem Kopf zu verbannen. Hin und wieder war es mir sogar gelungen. Aber jetzt stand er hier vor mir, in meinem Zimmer, bei mir zu Hause und lächelte mich an. Dieser eine Augenblick machte meine ganze Arbeit mir einzureden ihn zu vergessen zunichte.
Christian lächelte und kam näher, während er sagte: „Ich dachte mir, ich schau mal vorbei und gucke, wie es dir so geht.“ Er deutete auf das Bett. „Darf ich?“
Unsicher nickte ich, unfähig etwas zu sagen. Er setzte sich und drehte sich zu mir. Schweigen herrschte. Mein Herz schlug schneller und pochte so laut, dass ich befürchtete, er würde es hören können. All die Gedanken, die ich mir über ihn gemacht hatte, kamen auf einen Schlag zurück. Mein Blick ruhte unentwegt auf ihm, auch wenn es vermutlich unhöflich war, ihn so anzustarren. Ich saugte seine ganze Erscheinung in mich auf. Dann lächelte er und mein Herz setzte einen Schlag lang aus. Ich schluckte. Mir wurde heiß. Was war mit mir los?
„Geht es dir nicht gut?“, fragte Christian plötzlich und musterte mich besorgt. Ich konnte nicht antworten. Ich traute meiner eigenen Stimme nicht, und außerdem hätte ich erst diesen fetten Kloß in meinem Hals herunterschlucken müssen, der sich plötzlich dort eingenistet hatte.
Christian rückte etwas näher. War mir schon die ganze Zeit so warm gewesen? Sicher konnte er auch spätestens jetzt meinen wilden Herzschlag hören. Er war so nah. Seine blauen Augen sahen mich unentwegt an. Keine Sekunde lang nahm er den Blick von mir. Und ich erwiderte ihn wie hypnotisiert. Er hatte wunderschöne Augen. Stopp! Ich unterbrach diesen Gedanken. Was sollte das? Was tat ich hier?
Wieder schluckte ich hörbar und versuchte etwas zu sagen, doch mehr als ein unbestimmtes Geräusch kam nicht heraus. Peinlicher konnte es kaum noch werden, oder? Und statt endlich wegzugehen, kam Christian nur noch näher. Seine Lippen waren etwas geöffnet. Erst als ich dies feststellte, wurde mir klar, dass ich wie gebannt auf seinen Mund starrte. Hastig sah ich wieder in seine Augen und wurde rot. Das war doch nicht normal, verdammt. Reiß dich zusammen, Leo!
Christian saß nun dicht vor mir. Ich konnte mich nicht rühren. Mein Körper war angespannt, mein Herz raste, mein Atem ging schneller. Was tat ich hier? Sein Gesicht kam meinem immer näher und ich unternahm nichts. Ich wartete einfach nur ab. Ängstlich, gespannt, aufgeregt?
16:41 Uhr. Die wohl bedeutendste Uhrzeit meines Lebens. Mehr als ein kurzer Blick aus den Augenwinkeln war jedoch nicht möglich, denn im nächsten Moment hatte Christian die letzte Distanz zwischen uns überwunden und seine Lippen auf meine gepresst. Seine Augen waren geschlossen, meine weit aufgerissen. Er küsst mich, schoss es mir durch den Kopf. Immer und immer wieder. Und ich unternahm nichts dagegen, saß einfach nur steif da.
Seine Lippen waren weich und sanft. Nur ganz leicht lagen sie auf meinen. Es war seltsam. Das war doch falsch. Völlig falsch. Ich küsste einen Jungen! Aber meine Augen schlossen sich plötzlich, als hätten sie ein Eigenleben entwickelt. In meinem Bauch kribbelte es und ich spürte auch, wie sich noch weiter unten etwas regte. Verdammte Scheiße!
Ich riss die Augen wieder auf und lehnte meinen Kopf zurück. Sofort brach Christian den Kontakt unserer Lippen ab und lehnte sich nun ebenfalls zurück. Er lächelte leicht.
Mein Blick glitt nach unten, zwischen meine Beine. Und ja, verdammt, ich hatte auf den Kuss reagiert wie noch nie zuvor in meinem Leben. In meinem Bauch kribbelte es immer noch, als wären dort abertausende Schmetterlinge unterwegs. Ich konnte Christian nur mit weit aufgerissenen Augen anstarren. Mein Mund war geöffnet, um etwas zu sagen, aber ich schwieg.
Noch nie war mir etwas so fremd gewesen, denn ich spürte, dass es tief aus meinem Inneren kam. Irgendetwas hatte dieser Kuss ausgelöst. Und ich wusste nicht, ob es mir gefiel. Ja, der Kuss … nun … er war … gut gewesen. Ja, ich hatte ihn genossen. Es war ungewohnt, aber dennoch auf eine seltsame Art und Weise schön gewesen. Ich fluchte innerlich. Was war nur mit mir los? Was hatte das zu bedeuten? War ich etwa … war ich … Ich konnte es noch nicht einmal denken. Aber eine andere Erklärung gab es doch nicht, oder?
Christian sagte nichts, schwieg nur und sah mich an. Ob er wusste, was in mir vorging? Bevor ich es verhindern konnte, waren mir die nächsten Worte schon über die Lippen gekommen. Flüsternd sagte ich: „Du bist schwul?“ Es klang selbst in meinen Ohren eher wie eine Frage. Christian nickte. Bedeutete das, ich war auch … schwul? Ich meine, ich hatte den Kuss doch erwidert. Ich hatte ihn schön gefunden. Aber es war alles so neu, so fremd, so ungewohnt.
„Es tut mir leid“, sagte er nun leise. „Ich wollte … Ich … Eigentlich wollte ich wirklich nur vorbeikommen, um nach dir zu sehen. Aber …“ Er zögerte, stockte und fuhr sich seufzend durch sein Haar. Dann flüsterte er: „Ich konnte nicht widerstehen.“
Was sollte ich darauf erwidern? Ich war so durcheinander. Ich konnte keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen. Verdammt, das war mein erster Kuss mit einem anderen Mann gewesen. Und es hatte mir gefallen. Die Beule in meiner Hose war doch Beweis genug.
Ich war schwul. Mehrmals sprach ich es in Gedanken aus. Immer und immer wieder. Ich betonte es sogar immer wieder anders. Aber das Ergebnis blieb dasselbe. Ich hatte einen anderen Jungen geküsst und wusste nicht, was ich tun sollte.
„Vielleicht sollte ich gehen“, murmelte Christian schließlich und erhob sich. Was? Gehen? Einfach so? Das konnte er doch nicht ernst meinen. Er hatte mich immerhin geküsst!
Er war schon beinahe an der Tür, als sein Name nur gehaucht meine Lippen verließ. „Christian …“ Was war es? Eine Bitte? Eine Frage? Ich wusste es selbst nicht. Aber Christian drehte sich um, lächelte schief und kam wieder zurück. Er setzte sich neben mich, hielt aber Abstand, wofür ich dankbar war. Er war einfach nur da, saß still und schweigend neben mir und ließ mich nachdenken.
Zeit spielte keine Rolle mehr. So wusste ich auch nicht, wie lange wir so nebeneinander saßen. Vielleicht waren es Stunden gewesen. Vielleicht auch nur wenige Minuten. Wer konnte das schon sagen? Und ganz ehrlich, es war mir egal.
Sicher würde es noch eine Weile brauchen, bis ich mich mit diesem Gedanken ernsthaft anfreunden konnte, aber aus irgendeinem kranken Grund wollte ich nicht, dass Christian ging.
Christian war schwul. Er hatte mich geküsst. Ich hatte den Kuss erwidert und auf ihn reagiert. Um 16:41 Uhr. Diese Uhrzeit würde ich wohl nie vergessen, war sie wohl immerhin eine der bedeutendsten meines Lebens. Der Zeitpunkt, in dem sich in mir etwas geregt hatte. Etwas Fremdes und doch auch etwas Angenehmes.
Ich lehnte mich gegen Christian und schloss die Augen. Es fühlte sich gut an. Vielleicht war ich wirklich schwul …

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Tag der Veröffentlichung: 02.08.2011

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