3. Teil: Mandakir
11. Kapitel: Das Bauernopfer
Nachdem sie Kulmina verlassen hatten, wandten sie sich nach Nordwesten. Sie wollten so schnell wie möglich Abstand zwischen sich und den grossen Stein bringen.
Die Strasse, die von Kulmina direkt nach Mandakir führte, war gut ausgebaut; sie kamen gut voran.
Als sie den Rand der Ebene erreichten, schaute Siliah noch mal zurück. „So habe ich mir das nicht vorgestellt“, murmelte sie, „vielleicht lebe ich doch schon zu lange unter Menschen, um mich in der Elfenkultur noch ganz heimisch zu fühlen.“ Bezarze im Flammentor verbrennen zu sehen, war Siliah ungeheuer nahe gegangen.
„Jede Art und jede Kultur hat ihre Abgründe – das kannst du mir glauben“, versuchte Malgoth Siliah zu trösten.
„Vielleicht hat das Ritual mit dem Flammentor früher einen wirklichen Sinn besessen“, mutmasste Kagor, „und nun läuft die ganze Sache einfach weiter, ohne dass es Irgendjemand stoppen könnte.“
„Ja, dass mit Bezarze war wirklich schlimm“, stimmte Gartret zu, „ich bedaure es ja auch. Aber wir sollten uns jetzt auf die kommenden Aufgaben konzentrieren. Mandakir wird kein Spaziergang werden – fürchte ich.“
Sie verliessen die Ebene und die Strasse wand sich in grosszügigen Schlaufen durch Ketten sanft gewellter Hügel. Hier war fast alles von saftig grünem Gras bedeckt. Nur selten stand Da und Dort ein Baum. Einige Büsche mit Beeren wuchsen direkt am Strassenrand. Die vier Diebe liessen die Gelegenheit nicht aus und schlugen sich die Bäuche voll.
„Wir müssen unsere Vorräte aufstocken“, bemerkte Malgoth, während er sich roten Beerensaft aus seinem Bart zu streichen versuchte.
„Geld haben wir ja jetzt“, entgegnete Gartret, „wir könnten ja zur Abwechslung ein paar Dinge ehrlich erwerben.“
„Das ist eine gute Idee“, meinte Kagor, „ich würde nur höchst ungern arme Bauern bestehlen.“
Bald sahen sie die ersten Kühe und Schafe sich an dem Gras der Hügelflanken gütlich tun. Es dauerte auch nicht lange, da kam das erste Dorf in Sicht, welches sich fast verschämt in der Einbuchtung eines Hügels versteckte. An einem Bauernhof - etwas ausserhalb des Dorfes – hielten sie an und kauften Vorräte. Dort sagte man ihnen auch, dass es bis Mandakir nicht mehr weit sei; nur noch etwa zwei Tagesreisen.
Nicht weit von dem Dorf schlugen sie auch ihr Nachtlager auf.
Am nächsten Tag hielt sich hartnäckig Nebel in den Hügeltälern. Es fühlte sich deutlich kälter an, als es wohl in Wirklichkeit war. Als sie an eine Wegbiegung kamen, wo der Nebel besonders hartnäckig lag, geschah es: Fünf grobschlächtige Gestalten in abgerissener Kleidung traten ihnen entgegen. „Geld, Waffen, alle Wertsachen – sofort her damit!“, raunzte der Vorderste von ihnen.
Gartret schüttelte den Kopf: „Dass darf doch nicht wahr sein! Wir sollen ausgeraubt werden.“
„Wenn ihr kein Theater macht, dann dürft ihr eure Kleidung behalten“, versuchte ihnen ein anderer Wegelagerer die Sache schmackhafter zu machen.
Malgoth kniff die Augen zusammen: „Ihr seid nur zu Fünft, wie ich sehe. Glaubt ihr, das reicht, um gegen uns anzutreten?“
„Wollt ihr es etwa ausprobieren?“, blaffte sie der Vorderste an.
Malgoth überlegte, dann meinte er: „Ich denke – ja.“
Bevor der Wegelagerer antworten konnte, wurde er von einem Pfeil an seiner Schulter durchbohrt. Er taumelte und fiel hin. Kagor schlug einen weiteren Strassenräuber so hart mit der Faust ins Gesicht, dass dieser an Ort und Stelle in sich zusammensackte, dann zog er seinen Säbel. Auch Gartret war mit seinem Rapier zur Stelle und verwirrte den vor ihm stehenden Wegelagerer mit seinem seltsam fuchtelnden Fechtstil. Siliah schoss einen weiteren Pfeil ab, der einem der Räuber ein Teil des Ohrs abriss. Damit war der Kampf auch schon entschieden, die Wegelager flohen, ihren bewusstlosen Kameraden mit sich schleifend.
„Ihr anfängerhaften Stümper!“, schrie Gartret ihnen hinterher, „alles mit der Brechstange! Habt ihr denn kein Hirn im Kopf?“
Als ob der Nebel einsah, dass es keinen Sinn mehr machte, weiteren Wegelagerern ein Versteck zu bieten, löste er sich langsam auf. Es war nun recht sonnig, aber richtig warm wurde es trotzdem nicht. Der schon weit fortgeschrittene Herbst hielt die Kraft der Sonne im Zaum.
In der nächsten Nacht stellten sie Wachen auf. Sie konnten ja nicht sicher sein, ob die Wegelager nicht vielleicht Gartrets Rat beherzigen würden und mit einer geschickteren Taktik einen weiteren Angriff wagen würden. Doch die Nacht verstrich und nichts geschah.
Der darauf folgende Tag sollte sie bis zu den Toren Mandakirs führen. Die Hügel wurden immer kleiner und bald gelangten sie zum Ufer eines grossen Flusses, der sich im Laufe der Zeit ein weites Tal geschaffen hatte. Der Fluss floss nur sehr langsam und besass viele Ausläufer. Doch glücklicherweise trug sie die Strassen mit unzähligen Holzbrücken trockenen Fusses über diese Seitenarme hinweg. Die Landschaft verwandelte sich immer mehr in ein Sumpfgebiet, welches mit unzähligen kleinen Tümpeln gesprenkelt war.
„Hier soll sich eine grosse Stadt befinden?“, fragte Siliah zweifelnd.
Gartret und Kagor nickten, sie beide kannten sich in Mandakir gut aus.
„Ich sehe hier nur Wasser und Sumpf – und selbst der Fluss scheint sich langsam darin aufzulösen“, beschwerte sich die Elfe, „wie kann hier eine grosse Menschenstadt existieren?“
„Ein Teil der Sumpfes wurde einst trockengelegt und darauf die Stadt erbaut“, erklärte Gartret, „ich habe einst in einem Stück mitgespielt, welches ‚Der Untergang Mandakirs’ hiess – es ist sehr bekannt und seltsamerweise auch sehr beliebt. Besonders die betuchten Bürger lieben das Gruseln. Und der Gedanke an das eigene Ende mit Schrecken garantiert eben jenes Gruseln für die Gelangweilten.“
„Und um was ging es bei diesem Stück?“, fragte Malgoth.
„Irgendwelche Sumpfdämonen ziehen die Stadt wieder zurück in den morastigen Schlund – ziemlich hanebüchen, aber doch auch ganz reizvoll.“
Die Elfe betrachtete neugierig das eng verzahnte Zusammenspiel zwischen Wasser und Land, welches sich vor ihren Augen ausbreitete. „Und was passiert mit dem Fluss, wenn er zur Stadt gelangt?“, wollte Siliah wissen.
„Er verläuft in einem unterirdischen Kanal bis zum Meer“, erklärte Kagor, „junge Paladine im ersten Jahr müssen häufig in diesem Tunnel patrouillieren, um ihren Mut zu stählen.“
„So viel ich weiss, war dies alles einst ein riesiges, sumpfiges Flussdelta“, ergänzte Gartret.
„Und das ist es offenbar noch“, warf Siliah ein.
„Nun eben nicht mehr ganz“, gab der ehemalige Schauspieler zurück, „an der äussersten Spitze – gleich zum Meer hin – liegt Mandakir.“
„Die Stadt hat zwei Häfen – nicht war?“, fügte Malgoth einige Bruchstücke seines spärliches Wissen über Mandakir zusammen.
Kagor nickte: „der West- und der Südhafen. Am Westhafen kommen die Luxusgüter und die Seereisenden an. Am Südhafen werden die normalen Güter abgefertigt; es geht da oft auch etwas derber zu. Aber keine Angst, Mandakir ist die sicherste Stadt der Insel. Die Paladine behalten stets alles im Auge.“
„Das ist es ja gerade, was mir Angst macht“, knurrte Gartret.
Da ihnen – des flachen Landes wegen – die Sicht nicht versperrt wurde, sahen sie die Stadt Mandakir schon von weitem. Hinter einer hohen Stadtmauer aus grauen Steinblöcken, mit vielen eckigen Wehranlagen, stachen unzählige Türme, Kuppeln und hohe Satteldächer in den Himmel. Die Stadt Mandakir war riesig und dehnte sich über einige Meilen in jede Richtung aus. Man konnte selbst von dieser Distanz sehen, dass es sich hier um eine stolze Metropole handelte, welche auf der Insel nur noch von der Hauptstadt Sindra Mall übertroffen wurde.
Siliah blieb staunend stehen: „Das muss man euch Menschen wirklich lassen: ihr könnte ungeheuer hartnäckig sein. So etwas über die Jahrhunderte hier in den Sumpf zu stellen, ist entweder eine Meisterleistung, oder einfach nur verrückt; wahrscheinlich etwas von beidem.“
Als sie näher kamen, hörten sie Glockengeläut, welches durch den leicht aufkommenden Wind etwas verzerrt zu ihnen herüberkam.
„Die Tempel läuten zum Abendvesper“, verkündete Kagor, „viele Bürger der Stadt sind sehr fromm und lauschen nicht nur am Morgen der Predigten und Unterweisungen ihrer Priester.“
„Gibt es eine vorherrschende Religion in Mandakir?“, wollte Malgoth wissen.
„Nein“, erwiderte Kagor, „es gibt unzählige Gottheiten, die hier verehrt werden. Aber nur rechtschaffene Religionen sind erlaubt. Alle anderen werden vom Rat – in dem auch viele Paladine vertreten sind – verbannt.“
„Würde mich wundernehmen, ob die Anhänger Vindros hier willkommen wären“, murmelte Gartret.
„Das wäre vermutlich ein Grenzfall, den es zu untersuchen gälte“, erwiderte der ehemalige Paladin.
„Diese Rat, den du erwähnt hast, wie funktioniert der?“, wollte Malgoth wissen.
„Er wird Seekonzil genannt“, erwiderte Gartret an Kagors stelle, „früher hatten nur Kapitäne das Recht, dort vertreten zu sein – aber das ist lange her.“
Kagor nickte: „Die Versammlungshalle sieht heute noch aus, als ob ein riesiges Schiff umgedreht worden sei. Alle wichtigen Bünde der Stadt, die Orden, die Handwerksgilden, die Vertreter der Religionen und natürlich die Paladine senden ihre Vertreter in das Seekonzil. Alle Mitglieder des Rates müssen allerdings vom Volk bestätigt werden.“
„Also da ist die Sache in Sindra Mall viel weniger eindeutig“, meinte Malgoth darauf, „dort gibt es zwar die Volksversammlung, welche für die ganze Insel zuständig ist, aber die Geschicke der Stadt lässt man einfach laufen. Es gibt keine wirkliche Stadtregierung – jeder tut mehr oder weniger, was ihm gefällt.“
„Mandakir ist da deutlich strenger“, gab Kagor zu, „du kommst von der Hauptstadt – nicht wahr?“
„Ich bin dort geboren und teilweise auch aufgewachsen“, bestätigte Malgoth.
„Ist das die Kathedrale der Mörder?“, wechselte Siliah das Thema. Die Elfe deute auf eine ganze Anzahl spitzer, verschlungener Türme, die ganz dicht beieinander lagen.
„Das ist sie“, erwidert Gartret, „vom Gebäude selbst sieht man von hier aus nicht viel; nur die Türme sind natürlich unübersehbar.“
Als sie näher kamen, verstummten die Glocken allmählich. Nun konnten sie auch andere Geräusche wahrnehmen, die sie aber schlecht einzelnen Quellen zuordnen konnten; es war mehr der gedämpfte Lärm einer brodelnden Mischung von geballtem Leben. Bald trug der Wind auch eine ganze Anzahl von Gerüchen zu ihnen herüber; darunter durchaus wohlriechende, aber auch weniger angenehme.
Seltsamerweise war auf der Strasse hier direkt vor der Metropole kaum ein Mensch zu sehen. Gartret erklärte ihnen, das Mandakir ganz auf die See konzertiert sei und dass fast sämtlicher Handel über das Meer abgewickelt werde.
„Dort vorne brennt es“, gab Siliah bekannt.
„Ja“, bestätigte Gartret, „da steigt tatsächlich weisser Rauch auf. Es kommt auch ein beissender Geruch auf. Es sieht so aus als wäre es noch vor der Stadtmauer. Es scheint eben angefangen zu haben. Dass kann doch nicht…“
„Doch!“, bestätigte Kagor aufgeregt, bevor Gartret seinen Verdacht ganz hatte aussprechen können.
„Was ist denn?“, fragte Malgoth unwirsch, der es gar nicht mochte, dass er keine Ahnung hatte, worüber sich Kagor und Gartret unterhielten.
„Es ist beim Tempel des Marmorides! Rasch – vielleicht ist unsere Hilfe vonnöten!“, Kagor rannte los.
„Ein Tempel?“, fragte Malgoth.
„Ja“, bestätigte Gartret, „dort vorne liegt der Tempel des Meeresgottes Marmorides. Er befindet sich etwas ausserhalb der Stadtmauern. Wir sollten ihn gleich sehen können – sofern er noch steht.“
Jetzt begannen auch Siliah, Malgoth und Gartret zu laufen. Kagor konnten sie nicht mehr einholen, aber es dauerte nicht lange, da sahen sie den Tempel. Das Gotteshaus war klein und bestand nur aus einer geduckten Kuppel, die eher breit als hoch war. Das Gebäude war ganz weiss, und als sie noch etwas näher herangelangt waren, zeigte es sich, dass der Tempel nur aus aufeinander geschichteten Muscheln zu bestehen schien. Aus engen, länglichen Fenstern drang weisser Rauch aus dem Gebäude.
Die Bürger der Stadt hatten schon mehrere Eimerketten gebildet. Noch zeigten die Bemühungen, den Brand zu löschen, keinen Erfolg. Da und Dort eilten nervöse Krieger umher, die polierte Ganzkörperrüstungen trugen.
Gartret zeigte auf sie: „Seid vorsichtig mit diesem Eisenkriegern – das sind die Paladine; mit ihnen ist nicht zu spassen.“
„So sehen sie auch aus“, erwiderte Malgoth, dann hielt er einen Mann an, der an ihnen vorbeirennen wollte: „Was ist hier passiert?“
„Ein Kampf – ein furchtbarer Kampf!“, entgegnete dieser nur atemlos und eilte weiter.
„Ich sehe niemanden, der kämpft“, meinte Siliah ruhig.
„Ich auch nicht – vielleicht ist der Kampf ja auch schon vorbei“, hoffte Malgoth, „es ist besser wir suchen jetzt Kagor.“
Der ehemalige Paladin stand schon ganz dicht bei der Eingangspforte des Tempels, über welcher ein prächtiger Portalfries aus sich windenden Meerestieren stand.
Gartret legte dem ehemaligen Paladin die Hand auf die Schulter: „Komm – mein Grosser; hier gibt es schon genügend Leute, die helfen. Vielleicht ist ja niemand zu schaden gekommen.“
Doch Sekunden später wurde seine Vermutung widerlegt: Eine ganz Anzahl Knechte schritt aus dem Portal, die Bahren trugen. Und auf diesen Bahren lagen in weisse Tücher eingehüllte Körper. Was immer im Tempel des Marmorides geschehen war, es hatte offenbar eine Menge Opfer gekostet.
Malgoth schaute auf den leblosen Körper der auf der letzten Bahre lag. Erkennen konnte man nicht viel, doch am Fussende schauten zwei elegante Stiefel aus den weissen Tüchern hervor. Der Zwerg deutete auf sie und wollte etwas sagen, doch er liess es bleiben und versank stattdessen in Gedanken.
„Was hast du – Malgoth?“, fragte Siliah.
„Ich weiss nicht… Diese Stiefel habe ich bereits schon gesehen. Aber wo? Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. Ist es möglich dass…“
Mehrer Paladine bahnten sich ihren Weg in Richtung Portal: „Geht aus dem Weg! Besonders ihr da, die nur gafft und niemanden von nutzen seid!“
Die Diebe fühlten sich angesprochen und gaben den Weg frei. Die Paladine in ihren schweren Rüstungen betraten mit gezückten Waffen den Tempel. Alle ausserhalb des Gotteshauses erwarteten das Schlimmste. Doch es kamen keine Geräusche eines Kampfes auf. Nach nur kurzer Zeit kamen die Paladine wieder zum Vorschein. Sie gaben einem Offizier Meldung: „Es ist keiner mehr drin. Neben den Leichen, die noch dort sind, liegen ein paar silberne Armschienen, sonst ist da nichts.“
Die Augen der vier Diebe weiteten sich. Dann warfen sie sich bedeutsame Blicke zu. Konnte es wirklich sein? Dann fasst Siliah ein Herz. So schnell, dass man sie kaum wahrnehmen konnte, schlüpfte sie durch die Porte des Tempels. Weil mittlerweile so viele Leute hierhin und dorthin hasteten, schien niemanden aufgefallen zu sein, dass sich die Elfe Zutritt verschafft hatte. Endlose Sekunden vergingen – die übrigen Diebe versuchten so unauffällig wie möglich in der Nähe der Porte zu warten. Dann endlich tauchte die Elfe auf. Sie gab den Anderen einen Wink und sie entfernten sich langsam vom Tempel. Dann lächelte die Elfe und nahm aus ihrem Umhang ein paar silberne Armschienen.
*****
Atamirenses hatte in seiner Zelle viel Zeit um Nachzudenken. Seine Gedanken kreisten um das Verhör, welches er eben durchgestanden hatte. Erst hatten ihn die drei Zauberwirker in die Zange genommen, mit magischen und zugleich ziemlich brachialen Methoden. Die Lügenuhr hatte ihm keine Chance gelassen, sich herauszureden oder irgendetwas zu verschweigen. Und allein der Gedanke an diesen Stuhl, der ihn fest umklammert hatte, verursachte ihm einen leichten Anflug von Panik.
Dann war der grosse Auftritt des Schwertmeisters Malatein gekommen. Er war Atamirenses wie ein Retter in höchster Not vorgekommen. Die Lügenuhr war abgeschaltet und die Umklammerung des Stuhls gelöst worden. Dann hatte man Atamirenses Schritt zum Schritt in die Pläne der Paladine bezüglich der Silbertränen eingeweiht; worin er einen gefährlichen Part zu spielen hatte.
Weich gekocht durch die Folter und vor Erleichterung und Dankbarkeit gegenüber Malatein beinahe zerfliessend, hatte er schliesslich nachgegeben. Er hatte dem Schwertmeister und den Zauberwirkern alles erzählt. Besonders, dass die Silbertränen die silbernen Beinschienen in Vindara habhaft werden wollten, war auf grosses Interesse gestossen. Die Zauberwirker waren rasch zum Schluss gekommen, dass die Silbertränen wohl bald ein ganz ähnliches Artefakt in Mandakir stehlen wollten. Mit diesem Wissen und mit Atamirenses, den die Silbertränen sowieso aus der Welt der Lebenden entfernen wollten, schien insbesondere Rokar etwas anfangen zu wollen.
Atamirenses hätte sich am liebsten geohrfeigt; wie ein Anfänger hatte er sich einwickeln lassen. Er war sich jetzt sicher, dass die ganze Sache ein abgekartetes Spiel gewesen war. Er – der mit allen Wassern gewaschene Hehler – war auf eine besonders raffinierte Variante eines altbekannten Verhörtricks hereingefallen. Je mehr Atamirenses darüber nachdachte, desto sicher war er sich: dieser Malatein war weit zwielichtiger, als es den Anschein hatte. Hinter dessen Fassade des gestrengen und zugleich väterlich wirkenden Schwertmeisters war da noch etwas Anderes, das man bei einem Paladin seiner Stellung gewiss nicht vermutete. Erst jetzt – wo es zu spät war – sandte ihm seine Menschenkenntnis schrille Warnsignale. Aber das Hadern hatte keinen Sinn: er war eingeseift worden und daran führte kein Weg mehr vorbei.
Aber ein Argument des Schwertmeisters blieb uneingeschränkt stichhaltig: In Freiheit würde Atamirenses nicht lange durchhalten. Entweder vollendete der geheimnisvolle Fremde sein übles Werk, oder aber – was er für wesentlich wahrscheinlicher hielt – machten die Silbertränen ihre Drohung wahr. Seine Lage war hoffnungslos. Er war in eine Sackgasse geraten. So wenig wie es ihm gefiel, er musste zugeben, dass es momentan durchaus Vorteile hatte, hier in der Zelle unter dem Hauptquartier der Paladine zu sitzen. So verrückt es klang: er konnte in der jetzigen Situation nur hoffen, dass die Paladine den Silbertränen das Handwerk legen konnten. Falls nicht, dann war er verloren. Hereingelegt oder nicht – besser er half jetzt den frommen Kriegern so gut er konnte. Und dass gleich drei Zauberwirker an ihrer Seite standen, beruhigte Atamirenses einigermassen. Sie würden sie noch brauchen - davon war überzeugt. Gegen die Silbertränen war keine Verstärkung zuviel. Aber wieso hatten ihn die geheimnisvollen Maskenträger nicht schon längst umgebracht? Wieso diese unnötige Warnung mit der silbernen Münze in Vindara?
Ein ungutes Gefühl ballte sich in Atamirenses Magengegend zusammen; irgendetwas stimmte da nicht. Aber so sehr er sich auch anstrengte, er konnte nicht herausfinden, was es war.
Die Sonne war schon zweimal aufgegangen; Atamirenses hatte sie durch sein hohes und sehr kleines Zellenfenster jeweils kurz aufblitzen sehen können. Der Hehler hatte in den vergangen zwei Tagen nie wirklich schlafen können; zugleich war er selten richtig wach gewesen. Das graue Dämmerlicht in der Zelle entsprach seinem Gemütszustand. Er hörte langsam auf zu leben und begann bloss zu vegetieren.
Dann endlich, nachdem der Vormittag des zweiten Tages sich dem Ende zuneigte, waren draussen Schritte zu hören.
Atamirenses versuchte seine Benommenheit abzuschütteln, die sich aber nur zögerlich verflüchtigte.
Mit einem durchdringenden Knarren schwenkte die Zellentür auf. Selkur erschien, begleitet von einem Paladin in Vollrüstung. Der alte Zauberwirker schien bester Laune zu sein. Er rieb sich tatenlustig die Hände und grinste breit. „Es ist alles vorbereitet – die Falle ist gestellt. Und wir sind wirklich abgefeimt gewesen!“ Er gab ein glucksendes Lachen von sich. Und als Atamirenses nicht reagierte, fuhr er fort: „Es ist ein gut ausgearbeiteter Plan – wir haben es schliesslich nicht mit gewöhnlichen Verbrechern zu tun.“
„Und wie geht dieser… Plan?“, fragt Atamirenses zaghaft.
„Schwertmeister Malatein und Rokar haben ihn erarbeitet – und ich muss gestehen: ich bin durchaus etwas neidisch!“
„Aber was beinhaltet der Plan denn nun?“, insistierte der Hehler.
Selkur breitete gestikulierend die Arme aus: „Also es geht so: Die Silbertränen wissen, dass wir wissen, dass sie wieder ihr Unwesen treiben. Und uns ist dank dir bekannt, dass sie die Artefakte des Grossen Herrschers sammeln, was wahrscheinlich ihnen wiederum bekannt ist, dass es uns bekannt ist; schliesslich werden sie ihre Feinde – also auch dich – im Auge behalten. Hast du das soweit verstanden?“
„Ich denke ja.“
„Du hast erzählt, dass sie in Vindara die Beinschienen stehlen lassen wollten. Die Silbertränen werden also alles tun, um an solche Artefakte zu gelangen – insbesondere wahrscheinlich an die silbernen Rüstungsteile des Grossen Herrschers. Und wir werden alles tun, um das zu verhindern versuchen – was sie natürlich wissen.“
Atamirenses stöhnte: „Jede Seite weiss wohl, was die andere zu wissen und zu tun hat.“
„Ganz genau!“, bestätigte Selkur. „Nun werden wir versuchen ihren Erwartungen zu entsprechen, ihnen aber eine kleine Überraschung obendrauf packen.“
„Sag mir doch endlich, was ich tun muss und wie hoch das Risiko dabei ist!“, bat Atamirenses inständig.
Der alte Zauberwirker wehrte ab: „Später – erst müssen wir aus dir wieder so etwas wie einen repräsentablen Menschen machen. Komm mit!“
Atamirenses folgte Selkur und dem Paladin; er wurde aus dem Zellentrakt und dann in das Erdgeschoss geleitet.
Unweit der prächtigen Eingangshalle öffnete der alte Zauberwirker eine niedrige, unscheinbare Tür: „Los, hinein mit dir! Morgen ist der grosse Tag. Es kann nicht Schaden, dich bereits heute fein zu machen.“
Der Hehler trat in eine enge Kammer; sie war nur etwas grösser als seine Zelle zuvor. Das Fenster war zwar vergittert, aber hier gab es ein richtiges Bett; auch ein kleiner Schrank und ein wackliger Stuhl sandten verhaltene Signale der Wohnlichkeit aus.
„Noch etwas“, wandte sich Selkur an ihn, bevor er die Tür schloss, „Im Schrank sind neue Kleider. Und auf dem Stuhl findest du eine magische Waschbüchse, die dir Tharia zur Verfügung stellt. Benutze sie zu unser aller Vorteil – du riechst doch ziemlich übel.“
Damit schlug der Zauberwirker die Tür zu und verriegelte sie.
Atamirenses öffnete den Schrank und stellte angenehm überrascht und erleichtert fest, dass die Kleider seinem erlesenen Geschmack genügten. Mit ihnen würde er sich wieder wie ein ganzer Mensch fühlen. Rasch zog er sich um; nur seine fein gearbeiteten Stiefel behielt er. Er fuhr befriedigt mit den Händen über den edlen Stoff; nun war er wieder Atamirenses, der stets elegant gekleidete Mittelsmann für alle nur denkbare Geschäfte.
Dann wandte er sich der so genannten ‚Waschbüchse’ zu; einer kleinen Dose, welche mit ziseliertem Email beschichtet war. Neugierig hob Atamirenses den Deckel. Sofort wurde die umgebende Luft von einem Sog erfasst; und im selben Moment ergriffen unzählige winzige Windböen den Körper des Hehlers. Erschreckt schloss Atamirenses die Büchse wieder, und es dauerte einige Zeit, bevor er sie wieder zu öffnen getraute. Wieder trat die Sogwirkung auf und feine Fäden aus Luft zogen an seinem Körper und an seiner Kleidung. Mit zusammengebissenen Zähnen ertrug Atamirenses die Prozedur, dann schloss er die Waschbüchse wieder. Er fühlte sie sauber und erfrischt.
Atamirenses wog die Büchse in der Hand; er musste zugeben, dass dieser magische Gegenstand tatsächlich eine sinnvolle Erfindung war.
Vielleicht lag es an dem Bett oder an dem frischen Luft, die durch das zwar vergitterte, aber grosse Fenster hereinströmte, auf alle Fälle schlief Atamirenses in der folgenden Nacht wie ein Toter. Er wachte erst auf, als jemand gegen die Tür pochte und sie gleich anschliessend aufstiess.
Rokar, Selkur und Tharia erschienen, um ihren Lockvogel abzuholen.
Rokar hob mit einer ausladenden Geste die Hände, grinste und meinte dann: „Der grosse Tag ist angebrochen!“
Selkur nickte: „Es ist alles vorbereitet. Die Silbertränen werden heute eine schwere Niederlagen erfahren.“
„Aber genug der Worte“, meinte Tharia, „es ist Zeit, aufzubrechen.“
Atamirenses wurde in die prächtige Empfangshalle des Palastes geführt, die gleich nebenan lag. Hier herrschte emsiges Treiben; Knechte und Mägde liefen Hierhin und Dorthin und ein ganzer Trupp bis an die Zähne bewaffneter Paladine stand bereit. Sie trugen die typischen Ganzkörperrüstungen aus poliertem Metall. Auf ihrem Helmen befand sich ein Emblem aus Bronze: Ein nackter Knabe, der zwei lange, spitze Nadeln gekreuzt über seinem Kopf hielt. Und an der Spitze dieser etwa zwanzig Mann stand niemand geringeres als Schwertmeister Malatein. Er beendete eben eine kleine Ansprache, die er zur allgemeinen Hebung der Moral gehalten hatte: „… und auch wenn der Vorteil der Überraschung auf unserer Seite ist, werden wir einen harten Kampf zu fechten haben. Bisher hat niemand auch nur eine dieser Silbertränen zur Strecke bringen können. Aber es gibt kaum eine Kreatur, die nicht durch den Schwertstreich eines Paladins verletzbar ist. Wartet auf mein Zeichen und zeigt euch auf keinen Fall vorher! Nun geht und erzählt keiner Menschenseele von unserem Plan.“
Die Paladine zogen ihre Schwerter, salutierten ihrem Meister und verliessen dann im Marschschritt die Empfangshalle.
„Sie werden jetzt den unterirdischen Zugang nehmen und bereits versteckt sein, wenn wir eintreffen“, erklärte Rokar an Selkurs Adresse.
„Ich weiss“, erwiderte dieser etwas gereizt, „der Plan ist wirklich gut. Es gibt keine Schwachstelle.“
Ein neuer Trupp schwer gerüsteter Paladine kam herbei, diesmal waren es aber nur ein halbes Dutzend.
„Es würde auffallen, wenn wir uns ohne anständige Bewachung bewegen würden“, meinte Rokar.
Schwertmeister kam zu ihnen herüber und legte Atamirenses die Hand auf die Schulter: „Heute wirst du uns helfen, deine Feinde zu besiegen. Erst dann wirst du ein freier Mann sein.“
Dem Hehler mochte es nicht, dass der grosse Mann seine grosse Pranke anscheinend nicht von ihm nehmen wollte. Doch er liess sich nichts anmerken und fragte stattdessen: „Was macht euch so sicher, dass die Silbertränen ausgerechnet jetzt hier Versteck verlassen und vor unserer Nase aufkreuzen werden?“
Malatein nahm endlich seine Hand von Atamirneses Schulter und lachte ein tiefes, dröhnendes Lachen: „Glaub mir! Sie werden da sein – an genau dem Ort, den wir dafür vorausbestimmt haben. Sie haben gar keine andere Wahl. Aber was stehen wir hier herum; es ist Zeit, aufzubrechen.“
Sie verliessen die Eingangshalle und auch den Palast der Paladine. Malatein ging an der Spitze des Zuges, dahinter folgten drei seiner Krieger. Weitere Drei bewegten sich immer in der Nähe von Atamirenses; man traute ihm offenbar nicht.
Tharia begleitete den Tross so, als würde sie nicht wirklich dazu gehören.
Rokar ging etwas gebückt und mit langen, schwankenden Schritten. Er befand sich immer ummittelbar im Rücken von Atamirenses; der Hehler konnte seinen hechelnden Atem spüren. Mehrmals beugte sich der Zauberwirker ganz nah ein sein Ohr; offenbar wollte er flüsternd etwas verraten. Aber immer konnte er sein Bedürfnis zu sprechen jedes Mal gerade noch unterdrücken und liess Atamirenses damit im Dunkeln.
Selkur ging ganz hinten – schon nach wenigen Metern drohte er den Anschluss zu verpassen.
Als sie das Exerzierfeld überquert hatten, kam ihnen ein Schmied entgegen. Dieser trug ein Paar silberne Armschienen mit sich und wollte diese Malatein überreichen. Doch dieser schüttelte den Kopf und verwies den Mann an die Zauberwirker.
Rokar nahm die Armschienen an sich, bedankte und verabschiedete sich artig bei dem Schmied, und überreichte die silbernen Rüstungsteile gleich an Atamirenses weiter. „Diese wirst du tragen – unser neu gewonnener Verbündeter.“
„Was ist das?“, fragte der Hehler, „sind das etwa weitere Teile der Rüstung des Grossen Herrschers? Wollt ihr die Silbertränen damit aus ihrem Versteck hervorlocken?“
“Das wirst du noch früh genug erfahren“, meinte Selkur, der keuchend von hinten zu ihnen aufgeschlossen hatte.
Doch Rokar hielt es nicht mehr aus. Mehr noch seiner eigenen Ungeduld als derjenigen von Atamirenses wegen, brach er sein Schweigen: „Also gut, ich werde dir unseren Plan erklären. Sie her!“ Der Zauberwirker zog ein grosses Stück Papier hervor, welches er zu einem Plakat entfaltete. Atamirenses las im Gehen: Bürger von Mandakir! Wo immer die Feinde unserer Stadt sich regen, schlagen die Paladine zu. Und ein neuer Gegner wider der Rechtschaffenheit hat sich erhoben! Sie nennen sich die Silbertränen. Sie sammeln Artefakte des verhassten Tyrannen, der einst unsere Insel in Blut getränkt hatte. Seinetwegen haben sie ihr wirkliches Leben abgelegt und stattdessen ein falsches angenommen. Um sie vor aller Augen zu strafen, werden wir das wertvollste dieser Artefakte in Mandakir – die silbernen Armschienen des Grossen Herrschers – im Tempel des Marmorides vor den Toren der Stadt vernichten! Dies wird am dritten Tag des sechsten Ädalons geschehen; genau zur Stunde des Mittags. Und nicht irgendwer wir es tun, sondern ein ehemaliger Unterstützer der Silbertränen. Dieser hat - dank der Gnade und der Geduld der Paladine – seine Irrtümer und Verbrechen reumütig bekannt. Er – der einst Raubzüge für diese Dämonenanbeter organisiert hat - wird den Hammer heben und die Armschienen vernichten. Der Reumütige wird dadurch diesem schlimmen Feind nicht nur Schaden zufügen, sondern deren hässlichen Ideen auch ein für alle Mal eine Absage erteilen!
Bürger von Mandakir: nehmt das Wissen um diese Dinge, doch bleibt den Ereignissen fern! Lasst die Paladine der Gefahr trotzen und lebt euer Leben dank ihrem Schutz unbekümmert!
„ihr riskiert mein Leben nur um eines theatralischen Effektes willen?“, fragte Atamirenses mit aufkeimendem Entsetzen.
Rokar liess ein gackerndes Lachen hören: „Ja, ja – ein theatralischer Effekt, in der Tat! Fein erkannt!“ Und als er Atamirenses tiefdunklen Blick bemerkte, fügte er an: „Natürlich ist deine Mitarbeit auch unbedingt notwendig. Du bist sozusagen so etwas wie ein zusätzlicher Lockstoff.“
„Zu den Armschienen?“
„Ja, ja – die Armschienen sind das Entscheidende.“
„Und wenn sich die Silbertränen gar nicht dafür interessieren?“, wollte der Hehler wissen.
„Du verstehst das Ganze nicht“, antwortete Rokar, „die Silbertränen brauchen dieses Artefakt. Das ist auch der Grund, wieso sie ganz sicher kommen werden.“
Atamirenses überlegte und betrachtete die silbernen Armschienen in seinen Händen: „Wenn diese Stücke so ungeheuer wichtig ist, dann riskiert ihr heute ganz schön viel.“
Rokar hob den Zeigefinger und grinste: „Ganz so gross ist das Wagnis nicht, wie du jetzt vielleicht denkst. Du weisst noch nicht alles. Aber genug geplaudert.“ Damit beschleunigte der Zauberwirker seine Schritte und gelangte zu Malatein an die Spitze der kleinen Truppe. Atamirenses wollte ihm folgen, doch ein gepanzerter Handschuh legte sich auf seine Schulter und hielt ihn zurück.
Sie nahmen nur Nebenstrassen und betraten so gut wie nie die grossen, baumgesäumten Boulevards, für die Mandakir so berühmt war. Es schien Malatein ratsamer, sich eher unauffällig fortzubewegen und die Konfrontation erst im Tempel des Marmorides zu suchen. Mandakir war eine reiche Stadt, die auch dafür sorgte, dass die Meisten etwas von diesem Reichtum hatten. So war selbst die unbedeutendste Strasse und die kleinste Gasse mit Kopfsteinpflaster, oder noch öfter, von grauen Steinquadern bedeckt. Selbst die Füsse der Bettler, Huren und Tagediebe – Leute, von denen es in Mandakir sowieso nur wenige gab – sollten nicht im Schmutz stehen müssen. Auch sonst war unverkennbar: alles war von einem gewissen Ordnungssinn durchdrungen. Es lag nur wenig Abfall herum und es gab kaum streunende Katzen oder Hunde. Die Leute entleerten ihre Nachttöpfe nicht auf die Strasse. Es gab hier eine Kanalisation, die selbst in den ärmeren Vierteln ganz gut funktionierte. Generell war die recht unbedeutende Ungleichheit zwischen den verschiedenen Stadtteilen ein deutlicher Unterschied zur Hauptstadt Sindra Mall. Einzig vielleicht die Gegend um den Südhafen fiel von dieser Regel etwas ab.
Man war streng hier in Mandakir und schätzte Werte wie Tradition und Gehorsamkeit. Es war üblich, dass man die Götter achtete und verehrte – auch wenn einem die Wahl der Religion einigermassen offen stand; solange es sich um einen anerkannt rechtschaffenen Gott handelte.
Nach etwa zwanzig Minuten Fussmarsch über die Nebenstrassen erreichten sie die Stadtmauer. Eine Weile gingen sie dieser mächtigen Befestigungsmauer entlang, welche in den letzten Jahrhunderten kein Feind überwunden hatte. Dann kamen sie zum westlichen Haupttor, durch welches sie die Stadt verliessen. Nun waren sie schon fast am Ziel: Vor ihnen lag – eher niedrig und geduckt – der Tempel des Meeresgottes Marmorides.
Malatein liess anhalten. „Unser Stosstrupp wird durch den unterirdischen Zugang den Tempel betreten haben. Bestimmt haben sie schon Stellung bezogen. Zeig die Armschienen – Atamirenses – aber nicht zu auffällig. Unsere Feinde werden ganz in der Nähe lauern. Das Spiel kann beginnen.“
Sie setzten sich wieder in Bewegung.
Der Tempel des Meeresgottes war sehr schön gearbeitet, fand Atamirenses. Ihm gefiel das gedämpfte Weiss der Muscheln, aus welchen das Bauwerk gefertigt schien. Natürlich war dies nur die oberste Schicht. Die tragenden Elemente, des nur aus einer niedrigen Kuppel bestehenden Tempels, bestanden aus Stein. Der reich geschmückte Türrahmen und der Türfirst, ebenso wie die Simse der schlitzartigen Fenster waren ebenfalls aus dem hellgrauen Stein gefertigt.
„Wir sind schon etwas spät dran; es wird Zeit, einzutreten“, drängte Malatein.
Als sie den Tempel des Meeresgottes betraten, durchlief ein ungutes Gefühl Atamirenses; so etwas wie eine stille Ahnung streift ihn kurz. Doch der Hehler schüttelte diesen dunklen Schatten tapfer ab; er war inmitten schwer bewaffneter Paladine – mit ihnen hatte er die besten Chancen, seine Verfolger zu stellen und hoffentlich auch zu vernichten.
Im Inneren des Tempels war es düster. Das Licht schien nur spärlich durch die engen, länglichen Fenster hinein. Staub lag in der Luft und wirbelte tanzend in den wenigen Lichtbahnen. Innen waren die Wände grau. Der hintere Teil war durch einen grossen schweren Vorhang vom übrigen Innenraum abgetrennt. Wenn man genauer hinsah, bemerkte man, dass sich hinter diesem Vorhang eine ganze Anzahl Personen bewegten.
„Der Hinterhalt ist gelegt“, flüsterte Malatein befriedigt.
Rokar nickte stolz: „Die Falle wird zuschnappen.“
Atamirenses wurde zum Altar des Tempels begleitet, der aus einem grossen, weissen und vollkommen unbehauenen Stück Fels bestand. Ein Hammer lag auf dem Alter; Atamirenses griff zögernd nach ihm. „Was soll ich jetzt tun?“, fragte er, „soll ich wirklich die Armschienen des grossen Herrschers zerstören?“
„Abwarten“, meinte Malatein, „die Mittagsstunde bricht gleich an.“
Nichts geschah und die Spannung und die Ungeduld der Anwesenden stiegen ständig. Die sechs Paladine hatten sich schützend um den Altar verteilt. Sie hatten ihre Waffen gezogen und schienen einen Angriff jederzeit zu erwarten. Dass sie jederzeit mit der Hilfe ihrer Kameraden von der anderen Seite des Vorhangs rechnen konnten, beruhigte sie etwas.
Rokar, Selkur, Tharia und Malatein standen unmittelbar neben Atamirenses. Ihre Ungeduld war am Grössten. Und langsam keimte in ihnen die Befürchtung auf, dass ihr feiner Plan nicht funktionieren würde. Vielleicht war die ganz Sache doch zu durchsichtig gewesen.
Als weiterhin nichts geschah, rammte Rokar wütend seinen Fuss in die Seite des Altars: „Das kann nicht sein! Nach allem was wir von den Silbertränen wissen, würden sie nie riskieren, dass wir ein Artefakt des Grossen Herrschers zerstören.“
“Vielleicht ist ihnen da eine kleine Ungereimtheit aufgefallen“, meinte Tharia, „vielleicht können sie die Nähe eines Artefaktes fühlen.“
Rokar warf ihr einen bösen Blick zu: „soviel können wir unmöglich riskieren. Du weisst, was passieren könnte, sollten sie es schaffen…
Weiter kam der Zauberwirker nicht mehr: Der Vorhang wurde heruntergerissen.
Von dort, wo eben noch der Vorhand gehangen hatte, kamen ein halbes Dutzend Gestalten heran.
„Es beginnt!“, meinte Selkur hoffnungsfroh, „sie haben die Silbertränen gesehen und greifen nun in das Geschehen ein.“
Die Paladine rund um den Altar wandten sich dem Eingang des Tempels zu. Ihre Feinde würden wohl jeden Moment versuchen, das Haus des Meeresgottes zu stürmen. Sie waren nun eine ganze Hand voll Paladine. Es würde für jeden Gegner beinahe unmöglich sein, eine solche Anzahl kampfstarker Krieger zu überwinden.
Die Verstärkung in ihrem Rücken war beinahe herangerückt.
Doch dann machte sich Entsetzen unter den Zauberwirkern, Malatein und Atamirenses breit: Aus dem staubigen Dämmerlicht traten keine Paladine in Vollrüstung. Mit Entsetzen wurde ihnen klar: Hinter dem Vorhang waren keine Ordenskrieger versteckt gewesen.
„Wo sind meine Männer?“, entfuhr es Malatein.
Dunkle Kutten aus schwerem Samt, silberne Masken – sich seltsam bewegende Wesen, die so etwas wie eine klamme Kälte ausstrahlten, standen vor ihnen.
Atamirenses stockte der Atem. Er wusste, dass nun alles verloren war. „Ich hätte mich nie… darauf einlassen dürfen“, stammelte er verzweifelt.
Die Silbertränen zogen keine Waffen, sie machten nicht einmal Anstalten, sich auf einen Nahkampf einzulassen. Stattdessen liessen Sie ein leises Summen hören. Sie streckten die Arme aus und ihre schwarz behandschuhten Hände zeigten mit der Handfläche gegen aussen.
Selkur wollte einen Zauber wirken, doch bevor dieser seine Wirkung tun konnte, ging ein Sirren durch die Luft; ein Schwarm dunkler Nadeln trat aus den Handflächen der Silbertränen, der sich zu einer undurchdringlichen Wolke verdichtete. Diese Wolke blieb kurz in der Luft stehen und schoss dann mit einer raschen Bewegung auf Selkur zu. Der alte Zauberwirker versuchte sich noch mit den Armen zu schützen; sein Zauber brach zusammen. Dann fiel er nach hinten. Sein Kopf und sein Oberkörper waren von unzähligen Geschossen durchlöchert worden. Selkur war sofort tot.
Die Paladine stürzten sich todesmutig auf die Silbertränen. Doch es waren einfach zu Wenige. Immer kurz bevor einer der Krieger auf Schwertstreichnähe heran gelangt war, wurde er von der schwarzen Wolke erfasst. Die Nadeln drangen durch die Ritzen und Spalten der Rüstungen ein und traten ihre grausiges Werk am ungeschützten Körper der Paladine. Einer nach dem Anderen der tapferen Krieger fiel zu Boden, wand sich dort unter fürchterlichen Schmerzen und erlag bald den unzähligen Verletzungen. Atamirenses blieb wie angewurzelt stehen. Malatein wich entsetzt zurück.
Rokar und Tharia nutzen die Zeit besser und flohen Richtung Ausgang. Sie erreichten ihn, bevor sich die Silbetränen ihrer annehmen konnten. Nun floh auch der Schwertmeister. Aber weil er ungünstig stand, war ihm der Weg zum Ausgang versperrt. Malatein wusste, dass er nur noch eine Chance hatte: er rannte in den hinteren Bereich des Tempels.
Der letzte Paladin hauchte soeben unter grausamen Schmerzen sein Leben aus. Das Summen der Silbertränen wurde lauter.
Die Wolke der kleinen Nadeln bewegte sich wieder aus der Rüstung des Paladins heraus und schwebte nun als tödliche Bedrohung direkt vor Atamirenses.
Eine Silbeträne senkte die Handfläche, trat vor und verbeugte sich leicht. Dann fing sie mit einer Stimme an zu sprechen, die klang, als flüsterten viele Leute zugleich dieselben Worte: „Wir haben dir eine Münze gesandt und sie hat ihre Wirkung getan. Gerade als du uns zu verraten begannst, hast du uns endlich gedient. Du hast uns zu unseren Feinden geführt – und dank Seiner Macht konnten wir sie besiegen.“
Die schwarze Wolke löste sich auf; die Nadeln wurden von den Handflächen der Silbertränen aufgesogen. Atamirenses atmete erleichtert auf.
Doch da trat die Silberträne, die eben zu ihm gesprochen hatte, ganz nahe an ihn heran.
Sie standen sich lange gegenüber. Atamirenses Knie zitterten und er wäre am Liebsten im Erdboden verschwunden; die Nähe der Silberträne war eine Qual. Alles wäre ihm lieber gewesen, als sich weiterhin diesem Wesen aussetzen zu müssen. Dabei konnte er seinen Blick nicht von der Silberträne nehmen. Die silberne Maske mit den schwarzen Augenhöhlen zog ihn geradezu magisch an.
Dann endete es: Die schwarz behandschuhte Hand der Silberträne schoss nach vorne und begann Atamirenses Hals mit eisernem Griff zu umklammern. Der Hehler versuchte sich zu befreien, doch seine Kräfte schwanden rasch. Er fühlte, wie das Leben aus ihm entwich. Atamirenses Lungen atmeten nicht mehr; sein Herz drohte das Schlagen einzustellen. Eine ungeheure Last legte sich auf ihn. Und diese bleierne Schwere zog ihn nach unten. Er fiel auf den steinernen Boden und schaute noch ein letztes Mal auf: eine silberne Maske beugte sich über ihn; die schwarzen Augenhöhlen drohend auf ihn gerichtet. Dieses Bild brannte sich in ihm ein, und er nahm es mit aus der Welt der Lebenden, und behielt es, wo immer es ihn jetzt auch hintrieb.
Malatein hatte den geheimen Zugang erreicht. Mit zitternden Händen entriegelte er ihn. Der Schwertmeister warf noch einen letzten Blick zurück – seine Paladine waren alle gefallen. Einer der Silbertränen beugte sich so eben über den Verräter, mit dessen Hilfe er die Silbertränen hatte besiegen wollen. Gleichzeitig züngelten überall im Tempel Flammen auf; die Maskenträger hatten einen weiteren, üblen Zauber gewirkt.
Es war alles schief gegangen und Malatein wusste nicht einmal, ob Rokar und Tharia sicher entkommen waren.
Der Schwertmeister stieg rasch die eisernen Sprossen herab, die aus dem Stein der Schachtwand ragten. Rasch war er im Tunnel des unterirdischen Zugangs angekommen. Er hatte keine Lichtquelle und musste sich blind vorwärts tasten. Dann stolperte er über etwas: Ein lebloser Körper in einer schweren Rüstung. Noch viele Male traten seine Hände und Füsse auf tote Krieger. Malatein war sich sicher: es waren die Paladine, die ihn als Verstärkung hätten unterstützten sollen. Sie waren alle tot.
Schwertmeister Malatein musste husten – ein stechender Geruch stieg ihm in die Nase und brannte bereits in seinen Lungen. Spuren von Gift lagen in der Luft!
Der Schwertmeister beeilte sich; um aus dem Wirkungskreis des sich bereits verflüchtigenden Giftes zu kommen. Im Dunkeln hastend, immer wieder mit dem Kopf und dem Körper gegen Vorsprünge des unbehauenen Steins schlagend, gelang ihm die Flucht aus dem gefährlichen Bereich. Der Schwertmeister blieb kurz stehen: Kein Zweifel, die Paladine im Tunnel waren mithilfe eines giftigen Gases ermordet worden. Die tapferen Krieger, welche nie einen Kampf scheuten, hatte man sich auf diese feige Weise entledigt! Nach allem, was Malatein über die Silbertränen wusste, schien ihm diese Art des Kampfes für sie ungewöhnlich.
Doch der Schwertmeister war alles andere als in der Stimmung, jetzt darüber nachzudenken. Er musste so schnell wie möglich von hier fort. Er hatte heute eine Schlacht verloren, aber der Krieg war noch nicht verloren. Es galt neue Wege zu finden, um den Silbertränen zumindest Schaden zuzufügen. Dazu musste er am Leben bleiben. Nur er konnte für die Paladine dieses Spiel spielen. Die ersten Züge waren getan und die ersten Spielfiguren gefallen. Er würde die Linien neu ordnen und die Bestände an Verbündeten frisch auffüllen müssen.
Die jetzige Lage war nicht gut. Aber aufgeben? So etwas kam für Malatein nicht in Frage.
12. Kapitel: Ein unerfreuliches Wiedersehen
„Was soll das?“, fragte Gartret, „was wird hier gespielt? Wir kommen hier an, haben noch nicht einmal die Stadt betreten, und schon fallen uns diese Armschienen in die Hände?“
„Das ist wirklich seltsam…“, murmelte Malgoth sinnierend.
„Vielleicht haben wir einfach Glück gehabt“, hoffte Siliah.
Kagor wollte die Armschienen an sich nehmen, die Siliah ihm entgegenhielt. Doch kaum hatte er sie berührt, verzog er das Gesicht. „Es wäre auch zu einfach gewesen – Freunde.“
„Was meinst du damit – Kagor?“, fragte Malgoth misstrauisch geworden.
„Da“, meinte der Hüne, „fühlt es selbst.“
Sie alle berührten die silbernen Armschienen. Keine Wärme, keine Energie und auch keine Vibration gingen davon aus.
„Wenn das Rüstungsteile des Grossen Herrschers sind, fress’ ich einen Besen“, knurrte Gartret.
„Kagor hat leider recht“, gab auch Siliah zu, „das habe ich in der Eile gar nicht bemerkt.
„Was war sonst noch in dem Tempel?“, wollte Malgoth wissen.
„Die Knechte waren gerade dabei, die letzten Leichen wegzubringen. Die Toten waren Paladine – glaube ich“, berichtete Siliah, „es muss wohl einen ziemlich wüsten Kampf gegeben haben.“
„Wer fordert die Paladine vor den Toren Mandakirs heraus?“, wollte Kagor wissen, „Jeder, der ein solches Wagnis eingehen würde, müsste normalerweise mit seinem sicheren Tod rechnen.“
„Vielleicht sind sie in einen Hinterhalt geraten?“, spekulierte Gartret
„Und was hat es mit diesen gefälschten Armschienen auf sich?“, fragte Siliah.
Malgoth schüttelte den Kopf: „Wir wissen es nicht; und wir werden es kaum herausfinden können. Im Moment können wir uns keinen Reim darauf machen. Lasst uns lieber in die Stadt gehen. Im Gewimmel der Menschen werden wir sicherer sein.“
Sie liessen den noch immer rauchenden Tempel des Meeresgottes Marmorides hinter sich.
Schon nach wenigen Schritten kamen sie zum östlichen Stadttor. Zwei hohe, viereckige Türme, die eng beieinander standen, liessen nur einen recht schmalen Durchlass übrig.
Das Tor war geöffnet, doch es standen mehrere Paladine davor und musterten jeden genau, der die Stadt betreten wollte.
Malgoth blieb stehen und stiess einen Fluch aus.
„Da kommen wir nie durch“, meinte Siliah.
Einer der Paladine wendete seinen behelmten Kopf und schien sie zu beobachten. Seine Hand wanderte langsam zu dem Knauf seines Schwertes, welches er an seinem Gürtel trug.
„Das verheisst nichts Gutes“, kommentierte Malgoth überflüssigerweise.
„Wir sehen wohl wie Leute aus, die Ärger machen“, schloss Siliah aus der Reaktion des Paladins.
„Kennst du nicht noch einen anderen Weg?“, fragte Kagor Gartret, „ich weiss nur von den offiziellen Stadttoren, aber es soll auch noch einen anderen Einlass geben.“
Gartret nickte: „Ja, den gibt es. Es gibt einen versteckten Weg in die Stadt, genannt das Schattentürchen; ist nicht weit von hier.“
„Schattentürchen?“, fragte Siliah, „klingt nicht sehr einladend.“
„Einladend oder nicht“, erwiderte Malgoth, „wir müssen es versuchen.“
Gartret führte sie ein Stück der Stadtmauer entlang, die sich hoch vor ihnen erhob. Die grauen Steinblöcke der Mauer waren fest ineinander gefügt und es gab kaum Ritzen und Vorsprünge und bot keine Möglichkeit, daran hochzuklettern. Es dauerte nicht lange und sie waren aus der Sichtweite der Strasse gelangt.
Gartret drehte sich mit dem Gesicht zur Mauer: „Hier ist es, wenn ich mich nicht irre, wenn die Paladine dem Kerl mittlerweile nicht das Handwerk gelegt haben.“
„Welchem Kerl?“, fragte Malgoth.
„Ihr werdet hoffentlich bald selbst sehen, was der Mann angestellt hat. Kagor, gib mir doch bitte zehnt Goldtaler.“
Der Paladin wollte etwas fragen, besann sich aber anders und übergab stattdessen Gartret das Geld.
Der ehemalige Schauspieler trat einen Schritt von der grauen Stadtmauer zurück: „So, jetzt geht es los.“ Er ergriff eine Münze und warf sie gegen die Mauer. Und mit grossem Staunen sahen die anderen drei Diebe, dass das Geldstück nicht etwa von der Mauer wieder abprallte; vielmehr wurde der Taler einfach geräuschlos verschluckt.
„Und das jetzt zehn Mal“, murmelte Gartret und warf eine weitere Münze; diese und die folgenden wurden ebenfalls verschluckt.
„Hoffentlich bekommen wir auch etwas dafür“, bangte Siliah.
„Das wurde von einem Zauberwirker eingerichtet – nicht wahr?“, wollte Malgoth wissen.
„Ja“, erwiderte Gartret, während er weiter Münzen warf, „er hat das Schattentürchen gebaut; und einmal die Woche kommt er vorbei und melkt die Münzen aus dem Mauerwerk – ich habe es selbst gesehen.“
Gerade als Gartret den letzten Goldtaler in die Mauer geworfen hatte, ging ein Geräusch durch die grauen Steinblöcke. Dann ging – ähnlich als ob ein Vorhang zurückgezogen wurde – das Mauerwerk an einer Stelle auseinander.
„Schnell jetzt!“, spornte sie Gartret an, „das wird nicht lange halten!“
Sie schlüpften so schnell sie konnten durch den engen Spalt. Und kaum waren sie hindurch, ging ein schwaches Beben durch den Stein und das Schattentürchen schloss sich wieder. Die Mauer stand da, robust und undurchdringlich, als hätte sie nie einen Menschen in die Stadt eingelassen.
„Ich bin ein grosser Bewunderer von solchen Kunststücken – und von der Zauberwirkerei im Allgemeinen“, gab Malgoth zu, „ihr wisst ja, ich hätte auch gerne diesen Weg beschritten.“
„Ja“, meinte Gartret, „das Leben ist bedeutend einfacher, wenn man für etwas wirklich Talent hat. Dieser Zauberwirker hat seine Einnahmequelle gefunden; und überarbeiten muss er sich dafür nicht gerade.“
„Ein Wunder, dass die Paladine noch nichts davon erfahren haben“, sagte Kagor, dem es nicht gefiel, wie leicht sie in Stadt gelangt waren, und damit den Paladinen ein Schnippchen geschlagen hatten.
Siliah lächelte Kagor an: „Es sind in Mandakir also doch noch Verbrechen möglich, trotz der Wachsamkeit der Paladine.“
„Ja“, antwortete Gartret anstelle Kagors, „allerdings müssen hier die Verbrecher besonders raffiniert sein, um nicht erwischt zu werden.“
Malgoth schaute zurück auf die Stadtmauer und seufzte: „Und dieses Schattentürchen zeugt in der Tat von Raffinesse. Ich kann euch gar nicht sagen, wie gerne ich auch solche Zauber wirken würde.“
„Wir verschwinden jetzt besser“, meinte Gartret, „es ist nicht gut für den Zauberwirker, wenn an derselben Stelle ständig zweifelhafte Gestalten verweilen. Irgendwann fliegt die Sache sonst auf.“
„Zweifelhafte Gestalten…“, murmelte Kagor, dem der Gedanke nicht gefiel, dass er ebenfalls in diese Kategorie fiel.
Die Häuser schlossen sich gleich an die Stadtmauer an; sie waren flächenmässig eher klein, dafür aber vier bis fünf Stockwerke hoch. Sie befanden sich in einem Hinterhof einer dieser Häuser. Die Diebe brauchten nur ein paar Schritte zu gehen, und sie gelangten in eine enge Gasse. Hier drang kaum Tageslicht zu ihnen. Es schien sich niemand hier zu sein und selbst aus den geöffneten Fenstern drang kein Lärm zu ihnen.
Siliah reckte ihren Hals, um die hohen Häuser bis oben hin zu betrachten. Sie bestaunte die vielen kleine Balkone und Wintergärten. Aber etwas befremdete die Elfe: „Wie still es hier ist – für eine Menschenstadt meine ich.“
„Die erwachsenen Mandakirer gehen Tagsüber fast alle ihrem Broterwerb nach – und die Kleineren befinden sich entweder in den Schulen oder in den Kinderkrippen; so ist diese Stadt nun mal eben“, knurrte Gartret.
„Trotzdem leben hier wohl viele Menschen“, vermutete Malgoth, „das kann man allein schon an den vielen Kleidern abschätzen, die hier hängen.“
Tatsächlich waren etwas weiter vorne in der Gasse eine grosse Anzahl Wäscheleinen auf mehreren Ebenen zwischen den Häusern aufgespannt. Viele Kleidungsstücke hingen da und trockneten über der Gasse.
„Man sieht den Himmel kaum noch“, beschwerte sich Siliah, als sie unter den Wäscheleinen angelangt waren.
„Wir werden bald auf einer der grossen Strassen sein“, meinte Kagor, „und für diese ist Mandakir eigentlich bekannt.“
Plötzlich erklang ein heiseres Lachen über ihren Köpfen, welches zu einer Stimme gehörte, aber seltsamerweise aus verschiedenen Richtungen kam.
Malgoth hielt sofort an: „Das gefällt mir nicht – das riecht eindeutig nach Ärger.“
Siliah drehte sich wie wild um die eigene Achse: „Ich sehe niemanden! Diese verdammte Wäsche versperrt mir die Sicht!“
Das Gelächter erklang wieder und dann hörten sie die Stimme sagen: „Hallo – meine lieben Schüler! Das Schattentürchen – ich wusste es!“
Die Stimme kam ihnen seltsam vertraut vor.
Siliah machte ihren Bogen sofort schussbereit.
„Das kann doch nicht sein…“, murmelte Gartret beunruhigt und nahm seine Armbrust aus seinem Rucksack.
Malgoth reckte den Kopf und rief: „Alisan – bist du das?“
„Richtig bemerkt – Malgoth!“, antwortete die Stimme, deren Ausgangspunkt weiterhin aus verschiedenen Richtungen zu kommen schien. „Euer alter Meister befindet sich irgendwo über euren Köpfen. Wo ich bin? Das wüsstet ihr jetzt wohl nur zu gerne! Aber da ich nicht mit einem Elfenpfeil in der Brust enden möchte, halte ich mich lieber verborgen.“
Gartret versuchte zu lächeln: „Schön, wieder etwas von dir zu hören…“
„Red’ keinen Unsinn!“, unterbrach ihn der unsichtbare Alisan schroff, „du warst schon immer ein mittelmässiger Schauspieler, also spare dir lieber deine Energie! Wir haben uns haben uns als Feinde getrennt und treffen uns jetzt als Feinde wieder! Ach übrigens“, fuhr die Stimme in beiläufigem Tonfall fort, „besitzt nicht nur Gartret eine Armbrust, sondern auch ich; ihr wisst sicher, was passiert, wenn ihr zu fliehen versucht, oder meine Fragen nicht beantwortet.“
„Alisan - lass uns doch wie vernünftige Leute reden“, versuchte Malgoth beschwichtigend auf den alten Dieb einzuwirken, „wir könnten doch…“ Doch er kam nicht mehr weiter: Ein Bolzen sirrte und streifte den Zwerg an der Schulter. Malgoth fiel zu Boden; mehr dem Schrecken wegen und weniger aufgrund seiner Verletzung.
„Der nächste Bolzen trifft – also keine hohles Gerede mehr!“, klang Alisans Stimme drohend.
„Ich habe etwas bemerkt“, flüsterte Siliah mit vor gespannter Aufmerksamkeit zittriger Stimme, „ich glaube, er hat gleich nach dem Schuss seinen Standort gewechselt.“
Malgoth rappelte sich wieder auf und massierte seine verletzte Schulter: „Also gut – Alisan – dann kommen wir gleich zur Sache. Wieso lauerst du uns auf?“
Alisans Gelächter überschlug sich beinahe: „Weshalb ich euch auflaure? Diese Frage fasse ich als eine Beleidigung auf; nochmals so eine Heuchelei und ihr seid nur noch drei kleine Diebe! Wir haben eine Abmachung getroffen; ich habe euch ausgebildet, und ihr musstet dafür lediglich den Sekretär von Vindara töten. Und während ich meinen Teil Voll und Ganz erfüllt habe, habt ihr mich hintergangen!“
Malgoth, Gartret, Siliah und Kagor fürchteten sich zu sehr davor, einem Bolzen aus dem Nichts abzubekommen und antworteten lieber nicht.
„Euer Schweigen spricht Bände! Habt ihr euren Teil der Abmachung erfüllt? Sprecht schon: Habt ihr oder habt ihr nicht?“
„Haben wir wohl nicht“, murmelte Gartret verzagt.
„Ja – das ist doch ein Wort! Ihr habt also nicht! Aber lassen wir die Vergangenheit einstweilen ruhen und blicken stattdessen in die Zukunft: Wo ist Emalus, der Sekretär von Vindara jetzt?“
Gartret wollte antworten, aber Kagor packte ihn am Arm und wollte ihn davon abbringen.
„Vorsicht – grosser Krieger!“, drang Alisans Stimme drohend zu ihnen herab, „lasst Gartret besser antworten, dann ist euer Leben vielleicht noch nicht verwirkt.“
„Er müsste im Hospital der Paladine sein“, antwortete Gartret kurz und knapp. Er war offenbar nicht im Mindesten bereit, für den Sekretär von Vindara sein Leben aufs Spiel zu setzen.
„Das genügt mir“, meinte Alisan befriedigt, „doch nun zu meiner zweiten und letzten Frage: Wie viel bieten euch die Silbertränen für die Armschienen des grossen Herrschers?“
Die vier Diebe waren einen Moment zu verblüfft um zu antworten. Woher wusste Alisan von den Silbertränen und von ihrem Auftrag?
„Du kennst… die Silbertränen?“, fragte Malgoth zögernd.
„Oh ja - eine seltsame Geschichte; und mit einer gewissen Ironie obendrein!“, antworte Alisans Stimme, „während ich euch suchte, stiess ich da auf einen Kerl, welcher der Verbindungsmann zwischen euch und den Silbertränen gewesen ist.“
„Atamirenses!“, entfuhr es Kagor.
„Macht euch um ihn keine Sorge“, meinte Alisan voll beissendem Zynismus, „er ist heute Morgen in eine bessere Welt übergegangen; und das erst noch in einem Gotteshaus. Aber weiter: dieser Atamirenses fiel leider in die Hände der Paladine – und mir blieb nichts anderes übrig, als deren Hauptquartier zu überwachen und zu hoffen, dass er eines Tages daraus wieder hervorkommt. Aber während ich da auf der Lauer lag, bemerkte ich, dass da noch Andere sind, die sich ebenfalls im Verborgenen halten und beobachten was geschieht. Es sind wirklich unheimliche Wesen; anders kann ich sie nicht beschreiben. Noch nie habe ich eines ihrer Gesichter gesehen – sie tragen immer diese silbernen Masken; aber das wisst ihr ja alles selbst.
Und dann ist da noch dieser Verräter, der regelmassig aus dem Hauptquartier herausspazierte, zu den Silbertränen hinging und sie über alles aufklärte. Tage später tauchte dann dieses Plakat überall in der Stadt auf. Die Paladine erklärten darauf den Silbertränen kurz gesagt den Krieg. Aber sie starteten unter schlechten Voraussetzungen – wie kann man Krieg führen, mit einem Verräter in den eigenen Reihen, der alles ausplaudert? Ich beschloss also, mich auf die Seite der vermutlichen Sieger zu stellen und ging eines Nachts zu den Silbertränen hin…“
„Du hast mit den Silbertränen gesprochen?“, fragte Siliah erstaunt.
„Sei still – Elfenmädchen – und lass mich die Geschichte zu Ende erzählen! Also… zuerst hat es so ausgesehen, als würden sich mich auf der Stelle töten. Doch als ich sagte, ich sei ein Meisterdieb, änderten sie plötzlich ihre Meinung und stellten mir stattdessen viel Geld in Aussicht. Eine seltsame Wendung der Ereignisse – nicht wahr? Für ihren ersten Auftrag liessen sich mich eine Giftgasfalle installieren – in einem Tunnel. Ich glaube, die Falle wurde heute Morgen ausgelöst und ich habe damit einen ganzen Trupp Paladine auf dem Gewissen.“
Kagor ballte die Faust, Zornesröte stieg ihm ins Gesicht, aber biss sich auf die Lippen uns sagte nichts.
„Du sollst ihnen also auch die silbernen Armschienen besorgen?“, fragte Malgoth, obwohl er die Antwort bereits kannte.
„Ja – Konkurrenz belebt eben das Geschäft! Und den Silbertränen ist es egal, wer ihnen die Armschienen besorgt; Hauptsache, sie bekommen die Sachen ihres geliebten Grossen Herrschers. Aber nach dieser langen Rede zurück zum Wesentlichen: Was haben die Silbertränen euch für die silbernen Armschienen geboten?“
„Du willst mit ihnen handeln?“, fragte Kagor ungläubig, „du kennst diese Silbertränen nicht; in ihrer Gegenwart bist du stets mehr tot als lebendig.“
„Was geht dich das an?“, fragte Alisan giftig zurück.
Kagor liess nicht locker: „Du bist ein Dummkopf, wenn du glaubst, du hättest die Lage im Griff. Die Silbertränen benutzen dich nur; genau wie uns wahrscheinlich auch. Aber im Gegensatz zu uns, lässt du dich zu kaltblütigem Mord verleiten. Du magst ein Meister deines Fachs sein, aber du bist auch ein zutiefst ehrloser Geselle – Alisan.“
Das war zuviel. „Sag das nie wieder zu mir!“, drang des Meisterdiebs Stimme zu ihnen herab Ein Bolzen kam geflogen und bohrt sich in Kagors Seite, Der Hüne krümmte sich vor Schmerz.
„Da! Ich sehe ihn! Er will wieder seinen Standort wechseln!“, rief die Elfe, hob ihren Bogen und feuerte einen Pfeil ab. Von oben ertönte ein unterdrückter Schmerzensschrei. Dann konnte sie ein Keuchen hören, welches sich immer weiter entfernte.
Siliah senkte den Bogen: „Er flieht! Wir müssen ihm folgen!“
„Wie denn?“, fragte Malgoth, „und vor allem müssen wir uns zuerst um Kagor kümmern.“
Der ehemalige Paladin stöhnte mit schmerzverzerrtem Gesicht und liess sich auf den Boden fallen. Dann regte er sich nicht mehr.
Gartret tätschelte ihm auf die Wangen: „Mein Grosser – mach mir jetzt bitte nicht schlapp!“
Doch Kagor antwortete nicht.
„Das sieht nicht gut aus“, meinte Malgoth nervös und besorgt.
„Wir müssen doch irgendetwas tun!“, forderte Siliah.
Kagor öffnete die Augen, fasste sich an die Seite und riss sich mit einem plötzlichen Ruck den Bolzen aus dem Leib.
„Bist du verrückt?“, schrie Gartret ihn an, „daran könntest du krepieren!“
„Ist er… weg?“, fragte Kagor mit schwacher Stimme.
„Ja“, antwortete die Elfe, „aber es wird Alisan wahrscheinlich nicht viel besser ergehen als dir.“
„Wie hat er das mit seiner Stimme gemacht. Ich meine… sie scheint aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig gekommen zu sein.“
„Du solltest jetzt nicht soviel sprechen – Kagor“, meinte Malgoth, „das mit der Stimme ist ein alter Hut. Es ist einfache Zauberwirkerei. Er hat sicher einen Trank oder eine Schriftrolle bei sich gehabt, um den Zauber auszulösen.“
„Was können wir für dich tun?“, fragte Siliah.
„Bringt mich zum Amaronalda-Garten.“
„Den Seepark?“, fragte Gartret.
Kagor nickte.
Gartret wunderte sich: „Wieso willst du dorthin?“
„Bringt mich einfach… dorthin. Nur in diesem Garten kann ich mit dieser Verwundung fertig werden.“
Zu Dritt schafften sie es, Kagor auf die Füsse zu bekommen. Gartret und Siliah stützen ihn, so gut sie konnten.
„Es ist ein ganzes Stück bis zum Garten – hoffentlich treffen wir auf keine Paladine, die dumme Fragen stellen“, meinte Gartret.
Sie gelangten bald auf eine der grossen Boulevards, welche mit hohen Bäumen gesäumt war. Für diese Art von Strassen war Mandakir berühmt. Hier flanierte das stolze Bürgertum der Stadt; oder ging seinen Geschäften nach. Die Erdgeschosse der grossen Steinhäuser – welche den Boulevard säumten – beherbergten fast allesamt Geschäfte. Durch grosse Glasscheiben konnte man die Auslagen der Läden sehen. Meist handelte es sich dabei um Luxusgüter; nur wenige Utensilien des täglichen Bedarfs waren dabei. Es gab hier viele Schmuck-, Wein- und Kleidergeschäfte. In Letzteren konnte man besonders Hüte, Schals, Regenschirme und feine Schuhe kaufen. Viele Leute bewunderten die ausgestellten Angebote durch die Schaufenster. Und noch viel mehr Menschen gingen einfach gemächlichen Schrittes an den Geschäften vorbei. Die breite Strasse selbst wurde von unzähligen Gespannen befahren. Es bewegten sich dort elegante Kutschen, Droschken und Wagen, die aussahen, als hätten sie noch nie etwas vom Staub und dem Schmutz einer gewöhnlichen Strasse gesehen.
Die Menschen selbst waren fast ausnahmslos sehr geschmacksvoll gekleidet. Da stimmte von Form und Farbe alles überein und war den neusten Moden unterworfen. So gut wie Nichts war gewöhnlich, aber auch Weniges fiel derart auf, dass es einem ins Auge stach. Frauen trugen Hüte, die mit kleinen Blumen oder sonstigen Pflanzen geschmückt waren.
Wie die Frauen waren auch viele Männer geschminkt und an den Wangen leicht gepudert. Die Luft war mit Wohlgerüchen geschwängert; aber die Parfüme verströmten ihre Düfte auf dezente Weise, ohne je aufdringlich oder gar vulgär zu wirken.
Einige der Bürger und Bürgerinnen führten an dünnen Leinen Hunde mit sich, die meist auf Niedlichkeit gezüchtet waren.
In diese Welt der kultivierten Prachtendfaltung stolperten die vier Diebe aus einer Seitengasse. Köpfe drehten sich; leise Bemerkungen wurden getuschelt. Sie fielen auf – allein durch ihr Aussehen und erst recht mit dem verletzten Kagor in ihrer Mitte.
„Gibt es keinen anderen Weg?“, fragte Siliah Gartret. Sie fühlte sich hier etwa gleich unwohl, wie im tiefsten Inneren des Steins in der Ebene.
„Wie können gleich wieder in eine Nebengasse einbiegen“, sagte Gartret zwischen zwei tiefen Atemzügen. Den Hünen auf den Beinen zu halten kostete ihn viel Kraft.
Tatsächlich hatten sie nicht weit zu gehen; und bevor sie noch irgendjemand anhielt, waren sie dem Boulevard schon wieder entflohen.
Die meiste Zeit über konnten sie sich jetzt auf Gassen und Nebenstrassen fortbewegen. Nur einmal noch mussten sie rasch einer der Boulevards überkreuzen. Aber dieser war längst nicht so gross und so prächtig wie derjenige, den sie zuvor betreten hatten.
„Ich kann das Meer riechen“, war sich Siliah sicher.
„Wir sind ja auch bald da“, meinte Gartret.
Tatsächlich öffneten sich die Reihen der Häuser und gaben die Sicht auf einen Kaimauer frei.
„Dort vorne ist der Zugang zum Seepark.“
„Amaronalda… bringt mich dorthin…“, stöhnte Kagor.
Malgoth blickte besorgt. „Geht es nicht ein bisschen schneller?“
Gartret und Siliah warfen dem Zwerg böse Blicke zu. „Wir tun was wir können – Malgoth“, bemerkte die Elfe.
Von der Kaimauer zweigte im rechten Winkel ein steinverkleideter Damm ab. In der Ferne konnten sie sehen, dass dieser Damm in einer Art kleinen Insel mündete, die vollständig von einem Park eingenommen wurde.
Kagor hob den Kopf: „Das ist er – schnell, bringt mich hin!“
„Halte durch – Kagor! Wir haben bald geschafft“, sprach Siliah aufmunternde Worte, während sie selbst unter der Last des Hünen wankte.
Sie betraten den Damm und wollten Kagor so rasch wie möglich ans Ziel bringen.
Doch ein ganzer Trupp bewaffneter Männer trat ihnen entgegen und versperrte den Weg.
13. Kapitel: Der Weg der Mörder
Die Expetition hatte fünf Tage gebraucht, um bis ganz ins Innere des Steins vorzustossen. Dies war einerseits der Vorsicht der Kuratoren zuzuschreiben, andererseits aber auch ihrer Neugierde. Was sie hier an Kunstwerken aus den verschiedenen Epochen zu sehen bekamen, überstieg ihre kühnsten Erwartungen. Zwar hatten sie vieles schon geahnt, und waren in der Lage gewesen, das Meiste sofort zu deuten. Aber die Kunst nach den Zeitaltern geordnet wirklich zu sehen, war eine Sache, welche die Gefühle in starker Weise mit einbezog.
Die Goldgeschlechter von einst hatten wirklich alles getan, um sich gegenseitig zu übertrumpfen. Nun waren die einstmals reichen Familien längst verarmt. Aber die Pracht der von ihnen in Auftrag gegebenen Kunstwerke hatte die Zeiten überdauert.
Mit dem Eindruck des inneren Berührtseins blieben die Kuratoren vor manchen Gemälden und Statuen stehen. Es war ein Jammer, dass sie nirgends lange verweilen konnten. Die Furcht vor den geisterhaften Häschern, von denen schon früher berichtet worden war und die Malgoth in seinem Bericht ausführlich geschildert hatte, trieb sie vorwärts. Jeder Schatten, der sich im Licht ihrer wandernden Laternen um seine eigene Achse drehte, flösste ihnen Furcht ein. Und die Kuratoren spürten deutlich: je tiefer sie in den Stein eindrangen, desto weiter entfernten sie sich von der Welt der Menschen. Die wenigen Geräusche, die sie von sich gaben, wurden immer gedämpfter und unwirklicher auf sie zurückgeworfen. Der ganze Stein schien ihnen ohne Worte sagen zu wollen: ihr seid unerwünschte Eindringlinge.
Die Oberste Kuratorin Talmara führte die Gruppe an, die aus ihr selbst, ihrem Stellvertreter Quandor und vier weiteren Kuratorinnen bestand. Quandor war von allen am Ängstlichsten – jede noch so kleine Ungewöhnlichkeit schreckte ihn auf und liess ihn beinahe panisch werden. Doch er riss sich so gut wie möglich zusammen und beklagte sich nur selten. Und wenn immer sie ein besonders schönes Kunstwerk ausgemacht hatten, blieb auch er kurz tänzelnd davor stehen und vergass seine Angst für einen kurzen Augenblick.
Talmara wurde nie von dieser nur schwer kontrollierbaren Angst erfasst, aber sie war sich ihrer Verantwortung bewusst. Sie riskierte hier sechs Menschenleben, um vielleicht nur eine verkohlte Leiche zu bergen. Aber es musste getan werden. Vielleicht war die Expetition auch als eine Art Sühne anzusehen. Schliesslich hatten sie sich täuschen lassen und Bezarze auf diese Reise ohne Wiederkehr geschickt.
Und etwas anderes beschäftigte die Oberste Kuratorin; und dies je mehr, je tiefer sie in den Stein eindrangen: Warum waren sie nie hier gewesen?
Natürlich, es gab da diese Gefahr, von diesen geisterhaften Häschern verschleppt und getötet zu werden. Ausserdem hatten sie in den äussersten Schichten des Steins noch genug zu tun. Aber diese Gründe waren bloss Ausflüchte. Sie hassten es ganz einfach, aus ihrem gewohnten Trott ausbrechen zu müssen. Hier, im Innersten Teil des Steins, war Tamara überzeugt: Sie waren Forscher und sie gehörten hierher. Wer sonst sollte Akkurat von den Wundern in der Tiefe berichten? Bis vor kurzem waren sie allein auf die Darstellung – niedergelegt in einem wichtigtuerischen Brief – eines betrügerischen Diebes angewiesen gewesen. Durfte es sein, dass die Gier eines Diebes mehr Wagemut in sich barg als der Drang eines Forschers? Dieser böse Verdacht musste widerlegt werden! Sie würden von jetzt an öfters Expetitionen in das Innere des Steins unternehmen – das war für die oberste Kuratorin beschlossene Sache. Dies war ihr Revier; sie, die Forscher hatten die Dinge zu entdecken und von ihnen zu berichten und niemand sonst.
Quandor spähte vorsichtige um eine Ecke: „Ich glaube, wir sind da“
„Was siehst du?“, fragte Talmara, „und was ist das für ein Licht?“
„Ihr werdet es nicht glauben!“, verkündete Quandor, „das Licht kommt von Bäumen her. Da ist eine riesige Höhle – und die ist regelrecht bewaldet.“
„Ist jemand dort?“
„Ich sehe niemanden.“
Sie bogen um die letzte Ecke und traten in die Höhle, in der es von Pflanzen aller Art nur so wimmelte. Tatsächlich kam gedämpftes Licht von den Bäumen; genauer gesagt, von Samenkapseln, die an den Bäumen hingen.
Die Kuratoren blieben stehen; neugierig und verwundert musterten sie die Höhle.
„Es ist wirklich wahr…“, murmelte Talmara.
Quandor nickte: „Der Dieb hat also nicht gelogen.“
„Aber wo ist diese geisterhafte Elfenschar?“, fragte Talmara.
Quandor schauderte es: „Ich will es lieber nicht wissen.“
„Durchsucht die Höhle!“, befahl die Oberste Kuratorin, „aber ruft sofort die Anderen herbei, falls ihr auf etwas Ungewöhnliches stosst.“
Sie verteilten sich in der grossen Höhle und begannen jeden Winkel abzusuchen. Sie durchstöberten auch das Unterholz der Büsche, zerzausten die Farne und Halme. Einzelne Vögel flogen über ihren Köpfen und zwitscherten aufgeregt; sie waren Eindringlinge nicht gewohnt.
„Hier!“, meldete sich Quandor, „ich habe etwas gefunden!“
Alle eilten zu dem stellvertretendem obersten Kurator. Dieser stand vor einem sehr grossen Kokon, der auf dem Boden lag. Talmara näherte sich und berührte vorsichtig den weissen, eiförmigen Gegenstand, der aus unzähligen weissen Fäden gesponnen schien.
Quandor trat sicherheitshalber zwei Schritte zurück: „Wie gross dieser Kokon ist – wenn sich da drin ein Insekt verbirgt, dann möchte ich nicht in unserer Haut stecken.“
„Wir schneiden es auf“, beschloss die Oberste Kuratorin, „ich will wissen, was da drin ist.“
Quandor reichte Talmara ein Messer und trat dann gleich wieder zurück.
Die Oberste Kuratorin zögerte. Dann fasste sie sich ein Herz und setzte das Messer vorsichtig auf die Oberfläche des Kokons. Doch kaum hatte die Klinge die oberste Schicht geritzt, geschah plötzlich etwas Merkwürdiges: Ein Rascheln und ein Flüstern ging durch die Blätter der Bäume; ein Wind schien in der Höhle aufzukommen.
„Was ist da los?“, fragte Quandor erschrocken. Auch die Kuratorinnen schauten ängstlich um sich.
Der Wind wurde stärker und er tat seine Wirkung: Sie sahen alle zu den Bäumen auf und verfolgten wie sich die Samenkapseln von den Zweigen lösten und von ihnen abfielen.
„Alle gleichzeitig…“, wunderte sich Talmara noch.
Dann, kaum hatten die Samenkapseln den Boden berührt, platzten sie mit einem lauten Knall. Ein helles, goldgelbes Licht schwoll an; sie mussten die Augen bedecken. Ein Funkenregen begleitete das Goldlicht und deckte sie mit einem Bombardement unzähliger kleiner Funken ein.
Das Spektakel dauerte nur wenige Sekunden, dann war alles wieder ruhig.
Talmaras Augen mussten sich nach diesem Ausbruch an Helligkeit wieder an die dunkleren Lichtverhältnisse gewöhnen. „Ist jemand verletzt?“
Alle verneinten.
Als die Oberste Kuratorin wieder sehen konnte, bemerkte sie, dass der Kokon aufgeplatzt war. Eine nackte Elfenfrau lag darin. Sie regte sich nicht und hatte die Augen geschlossen.
„Wer… ist das?“, fragte Quandor erstaunt.
„Ich habe keine Ahnung“, erwiderte Talmara, streifte ihren Mantel ab und legte ihn auf den schutzlosen Körper der Elfe. „Aber wir werden sie mitnehmen – ich will wissen, was sie mit dieser Geschichte zu tun hat.“
*****
„Unser Freund wird sterben, wenn ihr nicht aus dem Weg geht!“, schrie Siliah die bewaffneten Männer an.
Es waren mindestens ein Dutzend, und sie alle trugen die gleichen Langschwerter und Kettenhemden.
Gartret packte eine Handvoll Goldtaler aus: „Hier, nehmt – aber nun verschwindet!“
Doch die Bewaffneten machten keinerlei Anstalten, das Geld zu nehmen und sich entfernen zu wollen.
„Bitte - sprecht wenigstens mit uns!“, bat Malgoth inständig.
Da teilten sich die Reihen der wortlosen Krieger und ein glatzköpfiger alter Mann, welcher von einem kleinen Jungen an der Hand geführt wurde, trat langsam in die entstandene Lücke. Als der Mann näher kam, sahen sie, dass die Pupillen seiner Augen trübe waren und sich kaum mehr von dem umgebenden Weiss unterschieden. Sowohl der Junge wie auch der Mann selbst trugen prächtige, blau-weisse Gewänder, reich verziert mit Stickereien und angenähten Perlen.
Der Mann sprach, ohne sie direkt anzusehen: „Ich bin Mulgan, der Hohepriester des Meeresgottes Marmorides. Ihr dürft nicht passieren.“
„Was gibt dir das Recht, uns den Zugang zu einem öffentlichen Park zu verweigern?“, fragte Gartret wütend.
Der Hohepriester drehte sich in die Richtung, aus welcher er Gartrets Stimme vernommen hatte. „Der Seepark Amaronalda unterliegt allein unserer Zuständigkeit. Er gehört zum Meer, weil er von diesem umschlossen ist. Nur wir gewähren Zutritt – oder verweigern ihn.“
„Unsinn!“, schnaubte Gartret, „ich habe noch nie gehört, dass man Leute am Betreten des Parks gehindert hat.“
Der alte Mann nickte leicht, dann meinte er: „Es kommt zugegebenermassen selten vor: doch hier zwingen uns die Umstände, den Park für euch zu schliessen.“
Gartret wollte eben wieder etwas Wütendes oder Verächtliches entgegen, doch Malgoth fuhr ihm dazwischen: „Wie wollen eure Herrschaft über den Park nicht in Frage stellen, aber wieso verwehrt ihr uns den Zutritt? Und das in einer Notlage?“
„Ist euer verletzter Freund ein Paladin?“, fragte der Hohepriester Mulgan.
„So etwas in der Art…“, erwidert Malgoth vorsichtig.
„Dann ist es wirklich ein Jammer – er würde vermutlich bei der Gründungstafel Rettung finden – welch eine Tragödie…“
„Eine Tragödie, die jetzt noch verhindert werden kann!“, warf Siliah laut ein.
Doch Mulgan schüttelt traurig den Kopf. Der Junge an seiner Seite tätschelte tröstend die verknöcherte Hand des Hohepriesters.
„Was – bei allen Dämonen Namen – haben wir bloss verbrochen?“, zischte Gartret zwischen zusammengebissenen Zähnen.
„Es geht um unseren Tempel vor der Stadt.“
„Der, der gebrannt hat?“, fragte Malgoth.
Der Hohepriester nickte: „Wir wissen, dass ihr darin verwickelt seid.“
Malgoth schaute den Hohepriester ungläubig an: „Das kann nicht sein – wir sind erst in Mandakir angekommen, als der Tempel schon gebrannt hat. Wie sollen wir da etwas damit zu tun haben?“
Mulgan schwieg eine Weile. Es schien, als würde der Hohepriester des Meeresgottes einer inneren Stimme lauschen, dann meinte er: „Ich erkenne, dass ihr nicht lügt. Dennoch habt ihr etwas mit dem Vorfall zu tun – dabei bleibe ich.“
„Ihr lasst unseren Freund sterben, weil ihr glaubt, wir hätten etwas getan, was wir nicht getan haben können?“, fragte Siliah mit vor Wut zitternder Stimme.
„Vielleicht habt ihr ja etwas mit denen zu tun, die für den Angriff auf den Tempel verantwortlich sind? Möglicherweise ist das die Antwort“, mutmasste der Hohepriester.
Kagor stöhnte, hob den Kopf und schaute verwirrt um sich. „Er hat Recht“, murmelte der ehemalige Paladin dann und liess sein Haupt wieder sinken.
„Hört nicht auf ihn“, meinte Malgoth rasch, „er ist dem Tod nahe. Schaut ihn an: er kann sich nicht mehr allein auf den Beinen halten. Wenn in euch auch nur ein Funken Menschlichkeit steckt, dann lasst uns augenblicklich passieren!“
Der Hohepriester überlegte, dann lächelte er: „Ich mache euch ein Angebot: Wir lassen euch auf die Insel, und euer Freund kann bei der Gründungstafel in den Heilschlaf fallen.“
„Und was müssen wir dafür tun?“, fragte Gartret misstrauisch.
Mulgan wandte ihnen den Kopf zu, und einen Augenblick schien es tatsächlich so, als würde er sie mit seinen leeren Augen anschauen: „Falls ihr herausfindet, wer für den Angriff auf den Muscheltempel verantwortlich ist, dann müsst ihr in unserem Namen Rache nehmen.“
„Wir versprechen es – und nun lasst uns passieren“, erwiderte Siliah rasch und wollte weiter.
„Nehmt dies nicht auf die leichte Schulter!“, mahnte der Hohepriester mit erhobener Stimme, „wenn ihr dem zuwiderhandelt, dann wird der Zorn unseres Gottes auf euch niederfahren!“
„Wir haben verstanden“, versuchte Malgoth zu beruhigen, „aber es ist herzlich unwahrscheinlich, dass wir etwas über diesen bedauernswerten Angriff erfahren werden.“
„Kann ich mir auch nicht vorstellen“, bekräftigte Gartret, „die ganze Sache geht uns im Grunde nichts an.“
„Vielleicht wird sie euch bald etwas angehen – und mehr als euch lieb ist“, erwiderte Mulgan, dann trat er zur Seite; und seine Krieger traten es ihm gleich.
Gartret und Siliah mussten Kagor mit ihrer ganzen Kraft stützen; der Hüne kam nur noch mühsam und mit torkelnden Schritten voran. Es dauerte Minuten, bis sie den Damm überquert hatten und auf die Insel gelangt waren.
Hier bot sich ihnen ein farbenprächtiges Bild: Wasser plätscherte in kleinen, künstlichen Wasserfällen von behauenen Felsformationen. Unzählige Teiche, umrahmt und bedeckt von verschiedenen Wasserpflanzen, lagen auf dem Parkareal verstreut. Ein kleines Mangrovenwäldchen schuf an der Südseite einen kaum noch sichtbaren Übergang zwischen dem Meer und dem Park. Die Uferlinie zog sich mit vielen Aus- und Einbuchtungen dahin; so entstand eine enge Verzahnung zwischen dem Seepark und dem umliegenden Wasser des Meeres.
Malgoth steuerte auf die Mitte des Parks zu. „Das wird es wohl sein“, murmelte er.
„Nicht so schnell Malgoth!“, rief die Elfe, welche zusammen mit Gartret den immer schwächer werdenden Kagor mit sich schleppte.
Der Zwerg hörte nicht auf sie und eilte rasch weiter. Schliesslich blieb der Zwerg stehen und winkte die Anderen zu sich: „Hierher! Bringt ihn her zu mir!“ Er stand am Fusse eines grossen Felsens, von dem sich gleich zwei kleine Wasserfälle in einen Teich ergossen; dazwischen war eine grosse Kupferplatte in den Fels eingelassen.
Wir, die einstigen Seefahrer der Meere gingen hier an Land und verpflichteten uns den Idealen unseres neuen Ordens. Möge kein Unrecht sich je über dieser Stadt erheben und sie zwischen ihren Klauen ersticken. Möge nie der faulige Atem des Bösen diese Stadt verpesten - denn dies ist Mandakir, die Stadt der Paladine.
„Typisch – die Paladine“, bemerkte Gartret.
„Legt ihn hierhin, an den Fuss dieser Tafel“, wies Malgoth Gartret und Siliah an.
Sie legten den Hünen auf den Boden, gleich auf die dünne Grasfläche zwischen der Gründungstafel und dem Teich.
Malgoth legte ihm die Hand auf die Stirn: „Schlaf jetzt – du bist jetzt am richtigen Ort.“
Kagor stöhnte und schloss dann die Augen.
Siliah verschränkte die Arme: „Jetzt können wir nur abwarten.“
*****
Emalus fasste sich an die Stirn; er musste sich noch immer konzentrieren, aber seine Vergangenheit und seine Persönlichkeit kehrten allmählich zurück. Er war der Sekretär von Vindara, und dort hätte er jetzt eigentlich sein sollen. Stattdessen befand er sich nun hier, inmitten von Idioten, die mit wippenden Oberkörpern die immer gleichen Sätze brabbelten. Andere gaben nur tierische Laute von sich, oder schwiegen und starrten starr in eine Ecke.
Emalus war noch nicht vollständig genesen, aber unter diesen dahin Vegetierenden war er wie der Einäugige unter den Blinden.
Es war schwierig in diesem Hospital zu schlafen. Der Schlafraum war ungemein gross und viele der Patienten schienen erst bei Dunkelheit so richtig aktiv zu werden.
Wie er es hasste, hier zu sein. Doch nun war Geduld gefragt, dass wusste Emalus. Er war der Sekretär der Weinstadt Vindara; dies hatte er bereits gegenüber den Heilern erklärt. Diese waren sogar geneigt gewesen, ihm zu glauben. Wenn er in der Lage wäre, mit klarer Stimme und Worten zu sprechen, dann würde er sie vollends überzeugen können. Doch da war ein Haken bei der Sache: die Heiler hatten ihn gefragt, wie er hierher nach Mandakir gekommen sei, wenn er doch nach Vindara gehöre. Und so sehr er sein Gehirn nach Erinnerungen durchforstete: darauf hatte Emalus keine Antwort. Er war überfallen worden – dies wusste er. Eine kopfüber hängende Gestalt – vor seinem Fenster - hatte einen Pfeil auf ihn abgeschossen. Aber wieso war er daran nicht gestorben, sondern hier in Mandakir wieder erwacht? Er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Manchmal verstieg er sich in den Gedanken, er wäre in jener Nacht gestorben und nun sei sein Geist auf die Erde zurückgekehrt, aber gefangen in dem Körper eines Irren. Aber vor zwei Tagen hatte er in einer Wasserschale sein eigenes Spiegelbild erblickt und erleichtert festgestellt: er war er – der Sekretär von Vindara lebte.
Gerade als er sich wieder in einen neuen Gedankengang verirren wollte, der wohl noch abwegiger verlaufen wäre, setzte sich ein Mann neben ihn auf sein Bett. Dieser trug – wie er – die typische weisse Kleidung der Patienten hier. Der Mann war schon alt und seine Züge wettergegerbt, doch seine Augen funkelten noch immer sehr lebendig und voller Tatendrang.
„Sei gegrüsst“, sprach ihn Emalus an; ohne viel Hoffnung allerdings, denn die Meisten waren hier nicht fähig, einen einfachen Gruss zu verstehen, geschweige denn ihn zu erwidern.
Doch der Fremde lächelte, öffnete seinen Mund uns sagte „Ich grüsse dich auch.“
„Du… verstehst mich?“, fragte Emalus überrascht.
„Ich bin aus einem anderen Stockwerk – dort werden die körperlich Versehrten gepflegt; nicht wie hier die geistig Lädierten.“
Emalus nickte: „Das erklärt Einiges… Was ist denn dir widerfahren? Ich meine…“, Emalus Strom der Gedanken drohte abzureissen und er selbst fühlte, wie er in das vernunftlose Nichts zurückzufallen begann, dem er erst in den letzten Tagen langsam entstiegen war. Doch der Moment zog vorüber und er fing sich wieder: „Ich meine – welche Verletzung hast du erlitten?“
„Meine Schulter…“, der Mann wies auf seine rechte Seite, welcher er in einer Schlinge trug. Dies fiel Emalus erst jetzt auf; er hatte noch viel an der Schärfe seiner Sinne zu arbeiten. „Meine Schulter wurde von einem Pfeil durchbohrt – vor zwei Tagen. Aber die Heiler verstehen ihr Handwerk wirklich.“ Mit diesen Worten nahm der Mann seinen Arm aus der Schlinge und bewegte ihn vorsichtig. „Ich kann heute noch gehen.“
„Einen Pfeil sagst du?“, fragte Emalus mit sinnierender Stimme. „Wie seltsam… Auch in meinem Fall hat mich ein Pfeil hierher gebracht.“
Der Fremde lachte – es war ein ungemein spöttisches Lachen, welches auf Emalus unangenehm wirkte: „Ja – die Welt ist klein! Ich habe gewusst, dass es gefährlich werden würde – trotz aller Vorsichtsmassnahmen. Diese verdammte Elfe!“
Neue Erinnerungsfetzen stiegen unvermittelt in Emalus Gedächtnis: „Eine Elfe? Ja – eine Solche war auch für mein Unglück verantwortlich. Was für ein Zufall!“
Der Fremde schüttelte den Kopf: „Kein Zufall. Es war ein und dieselbe Elfe – aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Irgendwie war es sogar gut so. Ich habe dank meiner Verletzung hier Einlass gefunden – was durchaus nicht zu verachten ist, bei einem Gebäude, welches von den Paladinen bewacht wird. Ich wurde geheilt und finde nun meine Rache – zwei Fliegen mit einer Klappe. Nun kann ich das Ding endlich aus dem Versteck nehmen.“ Und während der alte Mann seelenruhig sprach, nahm er mit seiner linken Hand eine lange Glasscherbe aus der nun lose daliegenden Armschlinge.
Emalus Augen weiteten sich – eine plötzliche Erinnerung blitzte auf. „Ich kenne dich!“, sagte er laut, „ich habe dir einst gegen Bezahlung nahe Vindara ein Versteck geboten! Du bist doch dieser…“ Weiter kam er nicht mehr. Er röchelte und fasste sich mit beiden Händen an die blutige Kehle. Dann fiel er vornüber auf den Boden, krümmte sich noch einmal und hauchte dann sein Leben aus.
*****
Kagor stand auf und blickte sich um, als sehe er die Welt zum ersten Mal. Es waren ganze zwei Tage vergangen, seit er sich niedergelegt hatte.
Manchmal hatten die Diebe Vorräte beschafft, ansonsten waren sie die ganze Zeit nicht von Kagors Seite gewichen.
Siliah war rasch bei ihm: „Wie geht es dir?“
„Es… es ist in Ordnung“, meinte Kagor etwas zerstreut. Dann schaute er sich um und bemerkte die Gründungstafel. „Ihr habt mich an den richtigen Ort gebracht – danke.“
Gartret lachte: „War mir eine Ehre – mein Grosser!“
„Sind deine Verletzungen geheilt?“, fragte Malgoth und betrachtete die Stelle an Kagors Körper, wo Alisans Armbrustbolzen eingedrungen war.
Der Hüne blinzelte im Sonnenlicht, dann lächelte er: „Ja, es geht mir gut. Der Heilschlaf, welcher alle Paladine lernen, ist hier besonders stark. Und das war auch nötig; der Bolzen hat mich fast umgebracht.“
„Dann ist ja alles noch einmal gut gegangen“, atmete Malgoth auf, „aber da wäre noch eine Sache.“
„Und die wäre?“, fragte Kagor.
„Ich sage es dir nur ungern… Wir haben versprochen, dir zu helfen etwas zu stehlen; etwas, dass dir sehr wichtig scheint.“
Kagor nickte: „Ja – nur deshalb bin ich ein Dieb geworden.“
„Ich fürchte, dass müssen wir verschieben – tut mir wirklich leid“, meinte Malgoth mit ehrlichem Bedauern.
„Weshalb denn!“, ereiferte sich Siliah, „wir haben es versprochen!“
„Denk doch mal nach“, gab Malgoth zurück, „wir sind davon ausgegangen, dass wir alle Zeit der Welt hätten, um die Armschienen des Grossen Herrschers zu stehlen. Aber nun ist Alisan im Spiel; einen Gegner, den wir schwerlich überschätzen könnten.“
„Tut mir leid – aber Malgoth hat völlig Recht“, stimmte Gartret zu, „Alisan wird alles daran setzen, um zuerst an die Armschienen zu gelangen. Wenn wir eine Chance haben wollen, dann müssen wir die Beine in die Hand nehmen.“
Kagor machte einen geknickten Eindruck: „Das wäre sehr… schade.“
„Es ist eine Art Wettbewerb…“, versuchte Malgoth zu erklären.
„…und der Preis sind zwanzigtausend Goldtaler“, beendete Gartret den Satz.
„Schon nur der Fairness halber, sollten wir darüber abstimmen. Es gefällt mir nicht, dass wir einfach unser Versprechen brechen“, forderte Siliah.
Doch der ehemalige Paladin schüttelte den Kopf: „Das ist nicht nötig – ich verstehe Malgoth und Gartret. Und ich stimme ihnen zu: wenn wir Armschienen stehlen wollen, dann müssen wir Alisan zuvorkommen.“
Malgoth war erleichtert: „Und ich verspreche dir bei unserer Ehre: gleich danach kümmern wir uns um deinen Diebeszug. Nichts soll uns dann aufhalten können!“
Doch Kagor machte ein nachdenkliches Gesicht: „Nur eines macht mir Sorgen: diese Silbertränen haben Alisan offensichtlich aufgetragen, einen ganzen Trupp Paladine auf äusserst feige Art zu töten. Es fällt mir ungeheuer schwer, ausgerechnet für diese Leute zu arbeiten.“
„Wir wissen nicht, ob Alisan die Wahrheit gesagt hat“, fiel Gartret dazwischen, bevor Kagor seinen Gedanken weiterführen konnte, „vielleicht hat er ja nur geprahlt. Und wenn er es wirklich getan hat, dann ist das nur ein Grund mehr, ihm die Beute vor der Nase wegzuschnappen. Aufgeben wäre jetzt das Falscheste, was wir tun könnten. Wir wollen doch diesem gemeinen Schwein nicht in die Hände arbeiten! Vergiss nicht: wir haben alle eine Rechnung mit dem Kerl offen.“
Kagor überlegte, dann nickte er: „Was immer auch gespielt wird, Alisan darf auf keinen Fall gewinnen! Wir sollten es diesem Schuft wirklich zeigen! Und am Schlimmsten treffen wir ihn, wenn wir ihn auf seinem eigenen Gebiet schlagen. Wir müssen die Armschienen in die Finger kriegen!“
Gartret ballte die Faust und war mehr als nur erfreut: „Das ist ein Wort! Wir sollten keine Zeit verlieren.“
„Es wir eine Weile dauern“, beruhigte Malgoth Gartrets Eifer, „wir wissen ja nicht einmal, wo die Armschienen verborgen sind. Offensichtlich irgendwo in Mandakir, aber wo?“
„Was schlägst du vor?“, fragte Siliah.
„Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als Nachforschungen anzustellen. Gibt es in der Stadt eine grosse Bibliothek oder ein Archiv?“
„Die Paladine haben ein Archiv, aber da würden wir nur mit grössten Schwierigkeiten reinkommen“, meinte Kagor.
„Es gibt die Hafenbibliothek, da kommt jeder rein“, wusste Gartret zu berichten.
„Und gibt es da auch Fachliteratur? Bücher über die Geschichte der Stadt zum Beispiel?“
„Ich denke schon – die Bibliothek ist wirklich gross; da gibt es alle möglichen Bücher.“
„Dann nichts wie los!“, forderte der Zwerg voller Tatendrang.
„Ja – lasst uns zurück in die Stadt gehen“, meinte auch Siliah, „bevor dieser verrückte Hohepriester mit seiner Bande wieder auftaucht.“
Am Südhafen, ganz nahe bei den Piers, wo die grossen Segelschiffe beladen und entladen wurden, lag die Hafenbibliothek. Es war ein sehr grosses Backsteingebäude - fast wie ein Tempel anzuschauen. Die Dachkonstruktion bestand aus gewölbten Eisenträgern, welche durch Seitenstreben miteinander verbunden waren.
Als sie die Bibliothek betraten, war es ihnen, als seien sie in eine Markhalle eingetreten, so viele Leute befanden sich hier. Die Stimmen der unzähligen Menschen verbanden sich zu einem einzigen Summen, welches fremdartig verzerrt von dem eisernen Dach zurückgeworfen wurde. Bücher schienen hier jedoch Nebensache zu sein. Die meisten Leute redeten einfach miteinander, schlossen Geschäfte ab, heuerten Leute an, kauften oder verkauften und frönten an einzelnen Tischen sogar dem Glückspiel. Da und Dort glaubten sie Frauen zu erblicken, die sich in dem Getümmel als Huren anboten. Da dies aber nur sehr verstohlen geschah, waren sie sich nicht ganz sicher.
„Die Gegend um den Südhafen ist die verruchteste der ganzen Stadt“, meinte Kagor beinahe entschuldigend, „und die Bibliothek hier diente schon immer als ein Treffpunkt für alle möglichen Leute.“
Gartret atmete tief ein: „Ja, ja – viele Erinnerungen verbinden sich mit diesem Ort. Was habe ich hier nicht alles schon erlebt! Und hier sind die Leute noch frei – die Paladine schreiten nicht gleich wegen jeder Bagatelle ein. Wäre es doch überall in der Stadt so...“
Kagor runzelte die Stirn: „Das kannst du nicht im Ernst meinen. Dieser Ort ist ein Schandfleck – und er wird nur nicht geschlossen, weil es sich um eine Bibliothek handelt.“
„Ihr Paladine… Ich meine, die Paladine ersticken doch alles fröhliche Leben im Keim“, grollte Gartret hingegen, „eine Stadt sollte niemals nur für die reichen und langweiligen Bürger da sein.“
Kagor wollte etwas darauf hin entgegen, doch Malgoth fuhr ihm dazwischen: „Wir müssen hier jemand finden, der für die Bücher zuständig ist – gar nicht so einfach; fürchte ich.“
Siliah schaute sich um: „In der Tat, es gibt hier kaum Bücher. Das ist die seltsamste Bibliothek, die ich je gesehen habe!“
„Es gibt sehr wohl Bücher“, entgegnete Gartret, „da, der alte Zwerg wird uns weiterhelfen können.“ Der ehemalige Schauspieler steuerte auf ein niedriges, klappriges Tischchen zu, an welchem ein uralter Zwerg sass.
„Einen schönen Tag – mein lieber Mitzwerg; wir suchen bestimmte Bücher“, begrüsste Malgoth den Alten. Doch dieser rührte sich nicht.
„Ich glaube, du musst lauter sprechen“, meinte Siliah.
Malgoth richtete erneut das Wort an den alten Zwergen, diesmal deutlich lauter: „Wir sind von weit her, und suchen bestimmte Bücher!“
Mit einer unendlich langsamen Bewegung wandte sich der alte Zwerg Malgoth zu: „Ihr sucht Bücher? Ja? Und was für welche denn?“
„Über Geschichte und andere Fachrichtungen!“, schrie Malgoth dem Alten fast ins Ohr.
„Ihr sucht Fachbücher – da seid ihr hier falsch. Solche Bücher haben wir nur im Nebengebäude. Ich könnte euch den Schlüssel geben.“
„Und wieso tust du es nicht einfach?“
Der alte Zwerg lächelte, was auf seiner ungemein runzligen Haut reichlich komisch aussah:
„Der Eintritt ist nicht frei – die Anwesenheit kostet ein Buch pro Tag.“
Gartret nahm Goldtaler hervor: „Wir bezahlen dir zwanzig Münzen – damit kannst du eine Menge Bücher kaufen.“
Der alte Zwerg schüttelt den Kopf: „Geld funktioniert nicht – es kostet ein Buch aus eurem persönlichem Bestand. Ihr könnt euch auch keins kaufen und mir dann bringen. Es muss ein Buch von euch selbst sein; eines, dass ihr ohne Absicht auf Wiederverkauf besessen habt.“
„Der geht mir langsam auf die Nerven!“, knurrte Gartret.
„Du hast doch ein Buch – Gartret“, erinnerte sich Siliah.
„Du meinst das Buch Vindros? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich das hergebe!“
„Gartret“, flüsterte Malgoth leise, damit ihn der alte Zwerg nicht verstand, „du würdest uns eine Menge Ärger ersparen. Ansonsten müssten wir in die Bibliothek einbrechen. Das wäre vielleicht nicht schwierig, aber wir müssten vielleicht stundenlang dort bleiben, um die Recherchen abzuschliessen; kein sehr günstiger Umstand. Und du selbst weist am Besten, wie gefährlich Verbrechen in dieser Stadt sind.“
Gartret verschränkte trotzig die Arme: „Ihr verlangt von mir, dass ich das Einzige hergebe, das mir etwas bedeutet? Ich habe erst vor kurzem zu diesem Glauben gefunden. Ohne das Buch würde ich rasch wieder vom rechten Weg abkommen.“
„Ob du auf dem rechten Weg bleibst oder nicht, hängt gewiss nicht von einem Buch ab“, versuchte nun auch Kagor auf Gartret einzuwirken. „wenn du wirklich wahrhaft an diesen Vindros glaubst, dann lasse sein Buch jetzt hier; klebe nicht am Besitz, sondern behalte die Worte in Erinnerung. Du kannst damit ein Verbrechen gegen unbeholfene Leute verhindern; sie zu bestehlen wäre keine Herausforderung für uns.“
Kagors Worte schienen Gartret durchaus Eindruck machen; schliesslich nahm er sogar das Buch Vindros hervor und wog es unschlüssig in der Hand. „Aber ich werde mir wieder ein solches Buch holen“, murmelte er schliesslich, „entweder dieses Exemplar oder ein anderes – das schwöre ich bei dem Weingott!“ Damit übergab er das Buch Vindros dem alten Zwergen.
Dieser besah das Buch kurz und nickte dann: „Das reicht für einen Tag. Bitte folgt mir.“ Der Zwerg nahm einen Schlüssel, der auf dem Tischchen gelegen hatte, dann führte er sie gemächlich quer durch die Bibliothek. Sie mussten sich stellenweise beinahe durch die Menge kämpfen – an vielen Orten herrschte eine ausgelassene Stimmung. Jetzt entdeckten sie auch ein paar Bücherregale, die sich unauffällig an den Wänden der Bibliothek befanden. Dort befanden sich am wenigsten Leute.
Sie hatten die hintere Backsteinmauer der länglichen Halle erreicht – in deren Mitte war eine kleine Eisentür eingelassen. Der alte Zwerg schloss auf; Kagor musste helfen, die schon etwas eingerostete Tür aufzustemmen.
Sie gelangten gleich wieder in eine Halle. Hier befand sich niemand und es war fast vollständig dunkel. Die vier Diebe nahmen die Leuchtkugeln auf ihren Taschen, welche sie in Kulmina mitgenommen hatten.
„Oh – eine wirklich gute Sache!“, bemerkte der alte Zwerg, als die Halle von den Kugeln hell beleuchtet wurde, „ich habe mich gefragt, wie ihr hier Bücher lesen wollt. Es gibt hier nämlich keine Lampen.“
An den Wänden der Halle aus braunen Stein sahen sie mehrere grosse Tafeln; darauf waren mit Kreide viele Zahlenkolonnen und Nummern aufgetragen.
„Was ist das für ein Ort?“, fragte Siliah laut.
„Ach das hier? Das ist die alte Börse. Du brauchst hier nicht mehr so zu schreien. Hier ist es viel ruhiger und ich kann euch besser hören.“
„Hier wurden also die Preise für die ankommenden Güter festgelegt“, mutmasste Malgoth, während er die Tafeln an den Wänden betrachtete.
„Nicht ganz“, erwiderte der alte Zwerg, „ihr kennt euch nicht besonders gut aus, in der Geschichte Mandakirs – nicht wahr?“
„Ich kenne nur die Geschichte des Paladinordens“, entgegnete Kagor.
„Und ich weiss nur über jene Epochen bescheid, über die berühmte Theaterstücke geschrieben wurden“, gab Gartret zu.
Der alte Zwerg lächelte befriedigt; er schien ungemein froh, endlich Leute gefunden zu haben, welchen er sein Wissen zeigen konnte: „Dann werde ich es euch erklären: Das Wort ‚Mandakir’ war die ursprüngliche Bezeichnung für eine Frucht, welche auf sehr seltenen Sträuchern wuchs, die nur in den Sümpfen vor der Stadt zu finden waren. Die Frucht selbst wäre nicht der Rede wert – laut den Aufzeichnungen schmeckte sie eher bitter und roch zudem eher streng.“
„Ihr Menschen habt eine eurer grössten Städte nach einer übel riechenden Frucht benannt?“, wunderte sich Siliah.
„Ja – so ist es halt eben“, bestätigte der alte Zwerg, der regelrecht auflebte, „doch die Frucht war ziemlich selten. Und alles was rar ist, dem wird oft ein Wert zugemessen, der in den seltensten Fällen dem Nutzen entspricht. Aber die Menschen sind nun mal so; nicht das wir Zwerge besser wären… Aber egal – auf alle Fälle kam bald ein regelrechter Handel mit den Mandakir-Früchten in Gang, der schliesslich immer ausgefeilter wurde. Dann hat man diese Börse gebaut, die sich nur mit dem Handel der Früchte beschäftigte. Leider zog die Sache immer weitere Kreise und geriet schliesslich völlig aus dem Ruder. Die Preise für die Mandakir-Früchte schossen himmelwärts und auf dem Höhepunkt der Spekulation kostete eine Frucht so viel wie ein ganzes Haus. Die Leute hörten auf zu arbeiten und widmeten sich nur noch dem Kauf und dem Verkauf von Papieren, die die verschiedensten Rechte und Pflichten in Bezug auf die Mandakir-Früchte beinhalteten. Schliessen starben die Früchte aus. Man sagt, die Paladine hätten sie ausgerottet, um dem Wahnsinn endlich ein Ende zu bereiten.“
„Ich erinnere mich an die Früchte“, sagte Kagor, „aber laut dem Geschichtsbuch des Ordens hat man sie vernichtet, weil Kinder bei deren Verzehr schwere Bauchkrämpfe erlitten.“
Gartret schnaubte: „Das ist typisch für die Paladine! Sie gängeln die Menschen wo sie nur können; angeblich nur zu ihrem Nutzen!“
„Es gibt verschiedene Versionen“, gab der alte Zwerg zu, „aber das wirklich Verrückte war, dass der Handel mit den verschiedenen Papieren nicht eingestellt wurde.“
„Aber es gab doch keine Mandakir-Früchte mehr“, wandte Siliah ein.
„Trotzdem wurde weiter gehandelt. Wer zum Beispiel ein Papier vorweisen konnte, welches zum Bezug der Früchte berechtigte, der konnte eine Busse einfordern. Oder – was meist der Fall war – er erhielt ein anderes Papier, welches zum Bezug von noch mehr Früchten zu einem späteren Zeitpunkt berechtigte. Und so ging es weiter und weiter… Doch schliesslich wurde es den Paladinen zu bunt und sie schlossen die Börse kurzerhand. Zuerst gab es einen Aufstand, dann legte sich die Sache allmählich; die Leute gingen wieder ihrer früheren Arbeit nach und es kehrte wieder Ruhe und Ordnung ein.“
„Dies ist eine aufschlussreich Geschichte“, meinte Malgoth, „doch wir würden nun wirklich gerne die Bücher sehen. Schliesslich haben wir dafür bezahlt.“
Der alte Zwerg strich sich seinen Bart glatt: „Natürlich – was interessiert euch denn? Ich werde euch helfen; ich bin nämlich im Preis mit inbegriffen.“
„Die Geschichte der Stadt – eine sehr frühe Periode.“
Der alte Zwerg zeigte sich erfreut: „Geschichte also! Wie ihr bereits gehört habt, bin ich da ein Experte – ihr habt genau den richtigen erwischt! Welche Epoche denn?“
„Die Zeit des Grossen Herrschers“, entgegnete Malgoth.
Der alte Zwerg schaute sich erschreckt um: „Also, ich muss schon sagen… dies ist ein Kapitel, dass die Meisten lieber meiden.“
„Kannst du uns helfen oder nicht?“, mischte sich Gartret ein, „wir haben es nämlich etwas eilig.“
„Schon gut, schon gut! Ich weiss auch so einiges über jene dunkle Zeit. Was wollt ihr also wissen?“
„Was weisst du über die Helden des Volkes – ich meine diejenigen, die den Grossen Herrscher…“
„Ilian von Vindara!“, unterbrach der alte Zwerg Malgoth, „D’Sanos von Kulmina! Helaringtor von Undramar! Vandra Nott von Sindra Mall! Und schliesslich – zuletzt erwähnt aber deswegen nicht an unbedeutendster Stelle: Damir von Mandakir! Zusammen haben sie in der dunklen Festungsstadt Uma Selor den Grossen Herrscher besiegt.“
„Du kennst dich wirklich gut aus“, lobte Malgoth, „und da wir in Mandakir sind, interessieren wir uns natürlich für Damir.“
Der alte Zwerg genoss es sichtlich, dass seine Fachkenntnis gefragt war: „Ihr wollt alles wissen, was ich euch darüber sagen kann?“
„Wir bitten darum“, bat Kagor höflich.
„Also… Zum Ersten überrascht es wohl alle, welche sich zum ersten Mal mit der Materie befassen, dass ausgerechnet der Held von Mandakir der zwielichtigste Held des Volkes war.“
„Er war ein Spieler – nicht wahr?“, warf Gartret ein.
Der Zwerg lachte lauthals – und als er endlich damit aufhörte, meinte er: „Dies ist ihm bloss angedichtet worden, um seine weit furchtbareren Taten vergessen zu machen. Die Wahrheit ist viel unangenehmer.“
„Dann hat er also schlimmere Verbrechen begangen?“, fragte Siliah.
„Alte Quellen sagen – jedenfalls diejenigen, die nicht im Nachhinein gefälscht worden waren – das er eine Zeitlang als Auftragsmörder gearbeitet hat.“
„Dann soll einer der Helden des Volkes also ein Mörder sein?“, fragte Kagor ungläubig.
„Höchstwahrscheinlich; nicht nur die alten Quellen deuten darauf hin – auch der weitere Gang der Ereignisse lässt darauf schliessen. Kennt ihr die Kathedrale der Mörder?“
„Jeder hat schon davon gehört - auch diejenigen, die Mandakir nie betreten haben. Unzählige Geschichte und Legenden ranken sich um diese Kathedrale. Sie ist genauso berühmt wie der Weltlin-Turm des Weltenbauers in Sindra Mall“, gab Malgoth zurück.
„Dann ist ja gut. In dieser monumentalen Kathedrale werden seit langer Zeit alle Mörder von Mandakir feierlich und in allen Ehren beigesetzt. Ganz erstaunlich, für eine Stadt, die soviel auf Ruhe und Ordnung gibt. Doch die Ursprünge dieser seltsamen Kathedrale liegen im Dunkeln. Aber ich habe da so meine Theorie…“
„Und die wäre?“, fragte Gartret lauernd.
„Denkt doch mal nach: in einigen Städten der grossen Volkshelden gibt es irgendein Ort oder ein Kunstwerk, um sich an den bedeutenden Sohn aus den eigenen Lenden zu erinnern. In Mandakir gibt es so etwas angeblich nicht.“
„Dann wurde deiner Meinung nach die Kathedrale der Mörder zum Andenken an Damir erbaut? Das wäre sogar möglich“, meinte Malgoth.
„Ich bin sicher, er wurde als erster Mörder in der Kathedrale bestattet. Und später entstand daraus eine Tradition, an deren Ursprünge sich heute niemand mehr erinnern kann.“
„Das klingt durchaus einleuchtend“, befand Malgoth erneut, „aber nun zu einem etwas anderen Thema: Alle Volkshelden haben eine Trophäe mitgebracht - ein Teil einer Rüstung offenbar...“
„Davon ist mir nichts bekannt“, meinte der alte Zwerg nach längerem Überlegen.
Kagor nahm die gefälschten silbernen Armschienen hervor, die Siliah im Tempel des Meeresgottes vor der Stadt gefunden hatten: „So etwas in der Art müsste Damir seinerzeit mitgebracht haben, als er nach dem Sieg über den Grossen Herrscher in der Stadt zurückkehrte.“
Der kleinwüchsige Bibliothekar kniff die Augen zusammen: „Ich habe so etwas schon einmal gesehen, aber ich wüsste nicht wo…“ Dann schüttelte der den Kopf: „Tut mir leid, ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Es muss ein Bild, eine Relief oder etwas Ähnliches gewesen davon sein. Aber ich habe es nicht bewusst wahrgenommen – wie sonst könnte es mir entfallen sein? So etwas passiert mir normalerweise nie!“
„Vielleicht sind diese Armschienen zusammen mit Damir irgendwo in der Kathedrale der Mörder begraben?“, mutmasste Malgoth.
„Schon möglich, aber ich muss euch warnen, die Kathedrale ist riesig; und ihr Aufbau enorm kompliziert. Es heisst, sie sei die Stein gewordene Entsprechung einer in Elend und Wirrnis geratenen Seele. Aber welche Seele sieht schon klar und schreitet auf sicheren Boden?“
Malgoth ignorierte die Frage des alten Zwergen. „Wir müssen mehr über die Kathedrale in Erfahrung bringen. Hast du Bücher zu diesem Thema?“
„Willst du mich beleidigen?“, mokierte sich der alte Zwerg, „wir sind vielleicht keine Bibliothek, wie man sie sich so vorstellt, aber gut ausgestattet sind wir trotzdem.“
Der Zwerg verschwand durch einen niedrigen Zugang in einen Nebenraum; dort hörten sie ihn eine Weile rumoren und leise Fluchen. Schliesslich kam er mit zwei dicken Wälzern zurück: „Geschichte der Kathedrale – soweit bekannt und offiziell jedenfalls; und hier ein Band über die Architektur des Gebäudes.“
„Gib mal her“, forderte Malgoth begierig. Er setzte sich auf den Boden und begann in den beiden grossen Büchern zu blättern.
„Braucht ihr noch Etwas?“, fragte der alte Zwerg.
„Ich denke nicht“, entgegnete Malgoth, „dürfen wir die Bücher auch ausleihen?“
„Nur Eines – ihr habt ja auch nur mit einem Buch bezahlt.“
„Dann muss ich mir gut überlegen, welches von Beiden ich nehme“, murmelte Malgoth.
Der alte Zwerg verabschiedete sich nur mit einem Nicken: „Wenn ihr fertig seid, dann schliesst ab und bringt mir den Schlüssel zurück – und vergesst nicht: nur ein Buch ausleihen!“
Malgoth versank in seine Studien der beiden Bände.
Da die Sache längere Zeit in Anspruch zu nehmen drohte, setzten sich auch Siliah, Gartret und Kagor auf den Boden.
„Wenigstens en paar Tische und Stühle wären hier bitter notwendig“, knurrte Gartret, „schliesslich soll das hier ja ein Teil einer Bibliothek sein – oder nicht?“
„Es war ursprünglich eine Börse“, erwiderte Kagor.
Gartret gähnte: „Ich weiss ja – der Zwerg hat ja lange genug darüber geschwafelt; ist nicht gegen dich gerichtet – Malgoth.“
Malgoth nickte nur geistesabwesend.
Nach einer Weile setzte sich Siliah näher zu Malgoth und den aufgeschlagenen Büchern: „Irgendwelche neuen Erkenntnisse?“
Malgoth schaute etwas verwirrt auf: „Ach, was soll ich sagen? Das Buch über die Geschichte der Kathedrale hilft uns nicht weiter. Die geschichtlichen Aufzeichnungen scheinen nicht bis in jene Zeit zurückzureichen, die für uns interessant ist. Es steht allerdings viel über Gerüchte, ein Orden dunkler Zauberwirker habe den Ort für seine Zwecke missbraucht. Die Paladine haben ihnen offenbar das Handwerk legen können.“
Kagor nickte: „Ich selbst habe noch geholfen, die Letzen dieser üblen Totenbeschwörer zu vernichten.“
„Aber es steht nichts über den Grossen Herrscher oder Damir, den Held der Stadt Mandakir“, schloss Malgoth seinen Bericht über dieses Buch ab.
„Und konntest du etwas mit dem anderen Buch anfangen?“, fragte die Elfe, während sie sich auf den Bauch legte und ihre Unterschenkel in die Luft streckte.
„Äh – da geben sich vielleicht ein paar interessante Ansätze.“
Nun gesellte sich auch Gartret zu ihnen. „Und die wären?“
Malgoth entfaltete eine Karte, die fest mit einem der Bücher verbunden war. „Dies ist eine schön angefertigte Zeichnung der Kathedrale von oben; ohne das Dach allerdings – ein Grundriss. Nun habe ich mich einige Zeit mit Architektur beschäftigt – und eine Zeitlang auch mit Statik.“
„Das sagt mir nichts“, gab Siliah ehrlich zu.
„Statiker berechnen, ob ein Gebäude in sich zusammenfällt oder nicht“, wusste Gartret, „es gibt da ein Theaterstück über einen Baumeister, der die letzten Geheim… Na, ja – nicht so wichtig.“
„Gartret hat die Sache gut zusammengefasst“, lobte Malgoth. „Also… Die Kathedrale der Mörder ist sehr gross und darum sehr schwer. Doch dieses Problem ist von den Baumeistern elegant gelöst worden. Durch seitliche Streben wird die Last der Mauern und des Daches in den Boden geleitet. Alles steht unter Spannung und stützt sich gegenseitig. Dadurch braucht es nur wenig echte Stützmauern und es bleibt so viel Platz für grosse Fenster und allerlei Spielereien.“
„Und was ist der Haken an der Sache?“, fragte Kagor.
Malgoth schürzte die Lippen, dann meinte er: „An einigen wenigen Orten sind die Baumeister von ihrem eigenen Prinzip abgerückt. Da gibt es dicke Mauern, die gar nicht notwendig wären. Versteht doch – alles scheint perfekt, bis auf diese wenigen Details! Es ist, als würde den Kundigen der Baukunst ein heimlicher Wink gegeben.“
„Du meinst, da versteckt sich vielleicht etwas – in den Mauern, die nicht sein müssten?“, fragte Siliah.
Der Zwerg nickte befriedigt: „Ja – das glaube ich in der Tat!“
Kagor stand auf: „Dann müssen wir der Sache auf den Grund gehen – nur mit dem Lesen Büchern werden wir wenig erreichen.“
Malgoth schlug den Band über die Architektur der Kathedrale zu: „Dennoch sind solche Recherchen notwendig; andernfalls wüssten wir gar nicht, wo wir mit der Suche anfangen sollten.“
Sie verliessen das Gebäude der alten Börse und kehrten wieder in die eigentliche Bibliothek zurück. Dort gaben sie dem alten Zwergen den Schlüssel zurück. Der Bibliothekar las die Aufschrift auf dem Rücken des Buches, welches Malgoth bei sich trug. „Den Band über die Architektur der Kathedrale also… Die Leihfrist beträgt zwei Wochen.“
Als sie die Bibliothek verliessen, stand am Eingang ein Junge, der einen ganzen Stapel Blätter von billiger Qualität bei sich trug und lauthals schrie: „Die Neuigkeiten des Tages! Nur einen Viertel Goldtaler! Lasst die Tage nicht blind an euch vorüberziehen! Nehmt Teil am Leben der Stadt und der Insel! Die Neuigkeiten des Tages!“
„Was schreit der da rum?“, fragte Gartret.
„Ich kenne das“, meinte Malgoth, „in der Hauptstadt Sindra Mall gibt es das schon seit längerem. Es gibt Leute, die schreiben jeden Tag die Neuigkeiten auf ein solches Blatt. Kopisten vervielfältigen das Geschriebene danach tausendfach. Das verkauft sich enorm gut.“
Gartret seufzte: „Ich bin wohl schon zu lange nicht mehr hier gewesen; es tut gut, endlich wieder die Stadtluft zu schnuppern.“
Kagor war neugierig; er holte eine Münze hervor und kaufte dem Jungen ein solches Neuigkeitenblatt ab.
Die vier Diebe steckten die Köpfe zusammen und begannen zu lesen.
„Seht mal!“, meinte Siliah zeigte mit ihrem Finger auf einen Absatz, „sie schreiben etwas über den Brand des Muscheltempel vor der Stadt – es ist schon seltsam, nachzulesen, was man erst vor kurzem selbst erlebt hat.“
Kagor schien zu frösteln: „Ich war zwar nicht ganz bei Sinnen, aber ihr habt doch diesem Hohepriester Mulgan versprochen, dass wir die Brandstifter zur Rechenschaft ziehen werden – nicht wahr?“
„Aber nur wenn wir sie finden“, wandte Malgoth ein, „und wir werden nicht nach ihnen suchen; damit hat sich die Sache wohl erledigt.“
„Seht - da steht noch etwas, was mit uns zu tun hat!“, lenkte Siliah die Aufmerksamkeit der Anderen auf einen weiteren Abschnitt.
„Sekretär aus Vindara stirbt zweimal – Hoher Beamter im Hospital der Paladine auf grausame Weise ermordet – Angeblich in der Weinstadt Gestorbener in Mandakir wirklich zu Tode gekommen – Porträtzeichnung und verschwundener ‚Leichnam’ in Vindara bestätigen Geschichte“, las Malgoth die ersten, fettgedruckten Zeilen des betreffenden Abschnitts vor.
Ein Schatten huschte über Kagors Gesicht: „Das ist unsere Schuld. Wir hätten standhaft bleiben sollen, als uns Alisan bedroht hatte. Stattdessen haben wir Emalus ans Messer geliefert. Alisan hat wohl noch einen weiteren Mord auf seine dunkle Seele geladen.“
Malgoth nickte: „Es ist leider wahrscheinlich, dass unser ehemaliger Lehrmeister für diesen Mord verantwortlich ist.“
Als alle auf Gartret schauten, trat dieser einen Schritt zurück und hob abwehrend die Arme: „Was habt ihr denn? Natürlich habe ich den Aufenthaltsort des Sekretärs ausgeplaudert, aber was hätte ich denn bitte tun sollen? Kagor hat Alisan Widerstand geleistet, und ihr wisst ja, was Alisan mit ihm gemacht hat. Unser Grosser hat knapp überlebt, doch ein Armbrustbolzen in meine Seite wäre ganz sicher mein Ende gewesen. Ich war ja ursprünglich bereit gewesen, den Meisterdieb zu betrügen – aber für diesen Sekretär mein Leben zu verwirken? Das kann niemand von mir verlangen!“
„Dafür wäre er vielleicht auch kein würdiger Kandidat gewesen“, erwiderte Siliah überraschend, „seht nur, was da über Emalus steht: Dem Mandakir-Neuigkeitenblatt wurde aus verlässlicher Quelle zugesteckt, der Sekretär sei an der Folterung und Ermordung von zahlreichen Anhängern eines in Vindara nicht genehmen Volksglaubens massgeblich beteiligt gewesen. Bei diesem Glauben handelt es sich um den so genannten Vindros-Kult. Wilde Orgien und exstatische Riten sollen untrennbar mit dieser sich rasch verbreitenden Religion verbunden sein. Erst kürzlich ist es zu erheblichen Unruhen in Vindara gekommen, als sich die Jünger Vindros zum ersten Mal offen in der Stadt gezeigt haben. Mit ihrem Kampfruf: „Sieg den Menaden“, besetzten sie Strassen und Plätze. Die öffentliche Ordnung konnte bislang nicht wieder hergestellt werden. Inwiefern Anhänger des Vindros-Kultes mit der Ermordung des Sekretärs in Verbindung stehen, bleibt im Dunkeln…“
Gartret schnaubte verächtlich: „Die Anhänger Vindros würden niemals ein Mordkomplott durchführen! Unsere Religion wird hier als dunkler Kult verunglimpft! Diese Leute wissen nicht, was sie da schreiben!“
Auch Kagor war nicht einverstanden: „Für mich steht fest, dass Alisan der Mörder war.“
„Das spielt nun keine Rolle mehr“, meinte Malgoth, „was geschehen ist, ist geschehen. Ich schlage vor, wir machen weiter wie geplant. Ansonsten schnappt uns Alisan die Armschienen weg. Ich möchte keinesfalls, dass der Besuch unseres einstigen Lehrmeisters hier zu einem Triumphzug ausartet.“
Sie verliessen die Gegend um den Südhafen. Nun, da sie keinen halbtoten Kagor mit sich zu schleifen brauchten, konnten sie sich wie normale Bürger über die grossen Strassen bewegen. War die Gegend – jedenfalls für Mandakirische Verhältnisse – ziemlich ärmlich, so änderte sich das Nach und Nach, je weiter sie sich vom Südhafen entfernten.
Von weitem sahen sie bereits, wie die Strasse in einen prächtigen Boulevard einmündete. Bald würden sie gutbürgerliches Terrain betreten. Doch bevor sie bis dahin gelangten, kam ihnen ein blonder Mann in mittleren Jahren entgegen. Er hielt den Kopf gesenkt und den Blick aufs Pflaster der Strasse geheftet. Der Zufall wollte es, dass der Mann gerade dann seinen Blick hob, als er die vier Diebe passierte. Seine Augen weiteten sich und er öffnete erstaunt seinen Mund: „Gartret… Gartret! Bist du das? Kann das sein?“
Gartret schaute den Mann an, plötzlich schien er ihn zu erkennen. Aber er schien alles andere als erfreut zu sein: „Hallo Tibor, lange nicht gesehen. Ich würde gerne etwas mit dir Plaudern, aber wir sind leider sehr in Eile. Du verstehst also, wenn wir…“
Die bis vor Sekunden noch starr blickenden Augen des Mannes sprühten nun vor Zorn: „Bei allen Höllen! Dass du dich in Mandakir wieder blicken lässt, hätte ich nicht gedacht! Sag mir: ist es Mut oder Dummheit? Es muss sehr wichtig sein, sonst hättest du es bestimmt nicht gewagt!“
„Wie gesagt, ein sehr schlechter Zeitpunkt…“
„Ein schlechter Zeitpunkt?“, ereiferte sich der blonde Mann laut. Die ersten Leute wandten schon die Köpfe nach ihnen um. „Ein schlechter Zeitpunkt also! Genau dieser Gedanke ist mir auch durch den Kopf geschossen, als ich unsere Kasse geplündert sah! Und versuch ja Nichts zu leugnen – ich weiss genau, dass du es gewesen bist!“
„Da war nicht gerade mehr viel drin, wie du sicher weisst“, wehrte sich Gartret schwach, „ich habe bloss die letzten Reste losgeeist, bevor das Schiff unterging.“
„Ja, das hast du“, bestätigte der Mann, „und zwar gründlich! Und wir Anderen, die mit dir das Bürgertheater aufgebaut haben, waren dir dabei völlig egal! Du bist ein fieser kleiner Betrüger – Gartret – und dafür sollst du bezahlen!“ Der Mann zog einen Dolch aus seiner ausgebeulten Jacke.
Doch Kagor stellte sich vor Gartret: „Du gehst jetzt besser; wenn du meinen Freund angreifst, dann werde ich meine ganze Kraft einsetzen, um ihn zu verteidigen.“
Der blonde Mann schaute zu dem Hünen empor, dann steckte er den Dolch weg: „Hoffe, dass wir uns nie wieder über den Weg laufen – Gartret!“, drohte er, dann machte er sich eiligst davon.
„Kein sehr angenehmer Zeitgenosse“, meinte Malgoth, während er dem Davonrennenden hinterher schaute.
„Ist das wahr, was er gesagt hat?“, fragte Siliah misstrauisch.
„Das hat nichts mit uns zu tun“, wehrte Gartret ab.
„Du solltest uns besser sagen, was geschehen ist“, meinte Kagor, „ich glaube, wir haben ein Recht darauf – schliesslich müssen wir dir blind vertrauen können.“
Gartret schwenkte unwillig den Kopf Hin und Her: „Was gibt es da schon gross zu erzählen; das Drama eines schlecht funktionierenden Theaters. Ich habe die letzten Reste abgegriffen, bevor diese auch noch den Bach runter gegangen wären.“
„Eine Frage Gartret“, meinte Siliah, während sie die Augen zusammenkniff und jede Regung des ehemaligen Schauspielers genau verfolgte, „was würdest du tun, wenn auch unsere Sache einmal schlecht steht? Würdest du auch ‚die letzten Reste abgreifen’?“
„Natürlich nicht! Habe ich euch schon jemals im Stich gelassen? Das mit Emalus war etwas anderes – ich habe damit schliesslich uns geholfen und nur einem Anderen geschadet.“
„Dann würdest du also loyal zu uns stehen, wenn es mal wirklich hart auf hart kommt?“, hakte Siliah nach.
„Schon die Frage empfinde ich als beleidigend.“
„Antworte doch bitte – Gartret“, forderte Malgoth.
„Also gut, also gut – ich schwöre, ich werde keinen von euch verraten.“
Die Elfe liess nicht locker: „was ist mit Übervorteilen?“
Gartret stöhnte: „Ja, ja – ich werde auch keinen von euch übervorteilen.“
„Mehr können wir nicht verlangen“, schloss Malgoth die Sache ab, „frühere Geschichten haben uns nicht zu interessieren. Wir müssen uns auf die kommenden Aufgaben konzentrieren – diese werden schwer genug.“
Von weitem sah die Kathedrale der Mörder aus wie ein Gewirr von ineinander geschlungenen Türmen. Es sah aus, als seien die Körper riesiger Schlangen zu Stein erstarrt. Das obere Ende der Türme endete jeweils in einer lang gezogenen Spitze. Ganz am Ende standen hohe Fahnenstangen, auf denen viele Flaggen gehisst waren, welche in der enormen Höhe einem starkem Wind ausgesetzt waren.
„Der Architekt – der das gebaut hat – muss wahnsinnig gewesen sein“, murmelte Kagor, „das denke ich jedes Mal, wenn ich die Kathedrale sehe.“
Malgoth lachte leise: „Da bin ich anderer Meinung.“
Als sie näher kamen, sahen sie, dass die gewunden Steinleiber der Türme von einer Vielzahl von länglichen Fenstern durchbrochen waren. Und bei jedem Schritt, den sie auf die zu Kathedrale zu machten, desto mehr schien es ihnen, dass das Gebäude weniger aus Stein sondern vielmehr aus diesen vielen Fenstern bestand. An einzelnen Stellen konnten sie sogar richtiggehend durch die Kathedrale hindurch sehen. Was aus der Ferne wie eine massive Anhäufung von Stein ausgesehen hatte, entpuppte sich jetzt als eine äusserst filigrane und lichtdurchlässige Struktur. Dies traf besonders für die oberen Teile der Türme zu, die fast nur aus Lücken und aus Aussparungen bestanden. Die Baumeister hatten bei der Errichtung der Kathedrale einen Baustoff besonders geschickt und häufig eingesetzt – das Nichts.
Sie überquerten den windigen Vorplatz, der sie zum Haupteingang der Kathedrale führte.
„Da sind Paladine – eine ganze Menge; und nicht nur vor dem Eingang“, gab Siliah bekannt.
Kagor nickte: „Ja – die Kathedrale wird von einer speziellen Einheit überwacht.“
„Wieso hast du uns das nicht gleich gesagt?“, fragte Malgoth leicht verärgert.
„Vielleicht hätte ich das tun sollen…“, erwiderte Kagor kleinlaut.
Ein Hauptmann der Paladine trat ihnen entgegen, ein ganzes Stück bevor sie den Haupteingang erreicht hatten: „Der Eintritt in die Kathedrale ist für die Meisten verboten.“
„Für die Meisten verboten?“, fragte Malgoth, „was soll das denn bedeuten?“
„Es gibt da Richtlinien“, antwortete der Hauptmann erstaunlich freundlich, „welche von der Stadt festgelegt sind; ich habe sie jedenfalls nicht erfunden.“
„Und wir passen nicht in diese Richtlinien?“, fragte Gartret.
Der Hauptmann betrachtete sie: „Ehrlich gesagt, bin ich mir da nicht so ganz sicher. Es ist etwas kompliziert, und vor allem für uns Paladine etwas schwierig…“
Siliah wurde ungeduldig: „Wer darf nun in die Kathedrale und wer nicht?“
„Ihr werdet es nicht glauben – nur Mörder dürfen sie betreten; oder Solche, die Mörder zu Grabe tragen.“
Die vier Diebe schwiegen eine Weile verblüfft. Dann kam Kagor nicht umhin zu fragen: „Davon habe ich noch nie gehört. Ihr wollt nur Mörder passieren lassen? Keine sehr typische Aufgabe für Paladine!“
Der Hauptmann war sichtlich peinlich berührt; er schaute sich um, ob seine Untergebenen das Gespräch mitverfolgten, dann meinte er beinahe flüsternd: „Wir posaunen diese Regelung sonst auch nicht aus; aber auf eure Frage musste ich doch ehrlich antworten; ich kann ja schliesslich nicht lügen. Abgesehen von der Kathedrale und dessen Vorplatz, jagen wir Mörder selbstverständlich ohne Gnade.“
„Ihr Paladine seid doch so etwas wie die Herrscher der Stadt – wieso könnt ihr denn nicht passieren lassen, wen ihr wollt?“, fragte Siliah.
„Wir sind keinesfalls die Herrscher der Stadt“, erwiderte der Hauptmann etwas ungehalten, „jedenfalls nicht so direkt - und in diesem Fall sind wir strikte angewiesen, die traditionellen Regeln der Stadt einzuhalten – was immer wir darüber denken mögen.“
„Zu welcher Einheit gehört ihr?“, fragte Kagor.
Der Hauptmann deutete auf das Symbol eines roten Auges, welches an seiner Schulter befestigt war: „Wir gehören zur Wächtereinheit; allerdings sind wir eine ganz spezielle Untergruppe.“
„Eine Gruppe, die Mörder in ein Gebäude hineinlässt, aber andere nicht“, fasste Kagor ungnädig zusammen.
Die bislang freundliche Miene des Hauptmanns war wie weggewischt und Zornesröte stieg ihm ins Gesicht: „Ich habe doch gesagt, dass ich nicht für diese Regelung verantwortlich bin! Weder ich noch der Paladinorden! Wir führen hier lediglich die kruden Bestimmungen der Stadt aus! Und überhaupt: ich wüsste nicht, wieso ich ausgerechnet euch Rechenschaft schuldig sein sollte!“
„Ist ja schon gut“, wandte Malgoth beruhigend ein, „wir wollten nur die Kathedrale besichtigen. Da dass nicht möglich ist, werden wir einfach wieder von hier verschwinden.“
„Was ich persönlich für eine gute Idee halte“, knurrte der Hauptmann.
Sie überquerten den Vorplatz wieder in umgekehrter Richtung.
„Du hättest den Mann nicht so angehen sollen“, tadelte Malgoth Kagor.
„Der Hauptmann macht etwas, was einem Paladin unwürdig ist“, beharrte Kagor trotzig, „ich konnte nicht schweigen.“
Gartret stöhnte: „Mein Grosser… Ach, ist ja jetzt auch egal – wir werden wohl oder übel in die Kathedrale einbrechen müssen. Jemanden umzubringen, um zum Mörder zu werden, ist mit unserem Motto wohl nicht vereinbar.“
Siliah nickte: „Alles ausser Mord – so haben wir es festgelegt. Aber das Gebäude ist gross; wie werden sicher einen Weg hinein finden.“
Doch Kagor schüttelte den Kopf: „Das glaube ich nicht.“
„Du zweifest an unseren Fähigkeiten?“, fragte Gartret mit einem leicht beleidigten Unterton.
„Du verstehst nicht: das sind nicht irgendwelche Paladine. Sie gehören zur Wächtereinheit.“
„Und was haben wir daraus zu folgern?“, wollte Malgoth wissen.
„Sie sind sehr gut ausgebildet und spezialisiert, etwas zu bewachen. Ausserdem verfügen sie über einen Art von sechstem Sinn. Sie könnten unseren Einbruch bemerken, ohne dass wir ihnen auch den geringsten Anlass dazu geben.“
„Ich hasse diese Stadt!“, zischte Gartret zwischen den Zähnen hervor, „überall sind diese Paladine! Die Einen sind schier unbesiegbar, die Anderen ahnen jedes Verbrechen im Voraus, und so weiter und so fort….“
„Wir müssen in diese Kathedrale“, unterbrach Malgoth Gartrets jammernden Vortrag, „wenn wir hier nicht die Spur aufnehmen können, dann nirgends.“
Eine Weile dachten sie alle nach und blickten dabei mürrisch zu Boden. Plötzlich hellte sich Siliahs Blick auf. Sie zog das Neuigkeitenblatt hervor, welches Kagor gekauft und sie in ihre Tasche gesteckt hatte. „Ich glaube, ich habe eine Idee.“
Malgoth lächelte und nickte dann: „Ich glaube, ich weiss, was du vorhast. Nicht übel – ich hätte selbst darauf kommen sollen. Es wird schwierig, aber ich denke, es wäre zu bewerkstelligen.“
„Nun sagt schon, was das für ein Plan ist“, forderte Gartret ungeduldig. „wie kommen wir in die Kathedrale der Mörder?“
*****
Man gab ihr zu essen, kleidete sie jeden zweiten Tag neu und behandelte sie auch sonst gut.
Doch wer waren diese Leute, die für sie sorgten? Es waren meist Frauen, die alle über gute Bildung verfügten. Oft sprachen zu untereinander gelehrt über die Forschung an uralten Kunstwerken. Immer wieder geschah es, dass sie eine von ihnen zu kennen glaubte. Manchmal hätte sie beinahe den Namen der betreffenden Person zu sagen gewusst, aber jedes Mal entglitt ihr das Wissen sofort wieder. Doch nicht nur die sie Umgebenden blieben namenlos, auch sie selbst war es. Manchmal glaubte sie, sie wäre uralt, dann wieder schien es ihr, als sei sie erst vor wenigen Tagen geboren worden.
Die Tage vergingen und sie begann bereits zu fürchten, dass sie niemals einen wirklich klaren Blick über sich selbst gewinnen würde.
Wenn sie schlief, dann sah sie mehr. Aber es war seltsam: wenn die Bilder ihrer Träume aus ihren früheren Leben stammten, dann gab es da einen Widerspruch: Es schienen zwei Quellen zu sein, welche das Gaukelspiel ihrer Träume spiessen. Zwei völlig verschiedene Welten wurden ihr da gezeigt, die nicht das Geringste miteinander zu tun hatten. Manchmal kamen Bilder, welche der Welt sehr glichen, in der sie sich jetzt befand. Von da stammte auch diese seltsame Vertrautheit mit denjenigen, die für sie sorgten. Aber es gab auch die Traumfetzen von düsteren Wäldern, von schrecklichen Kämpfen und von grosser Macht, welche in ihren Händen lag. Diese Welt schien nichts mit derjenigen zu tun zu haben, in der sie sich jetzt befand.
Musste sie sich entscheiden? Vielleicht würde nur eine ihrer Vergangenheiten überleben können. Wo befand sich der Faden ihrer Lebenslinie, der sich zurückverfolgen liess?
Die Tür zu ihrer Kammer ging auf und eine schon etwas ältere Frau kam herein. Sie hatte sich schon mehrmals als Talmara, die Oberste Kuratorin, vorgestellt. Sie nahm sich einen Stuhl und setzte sich direkt vor ihr Bett. „Und, hast du darüber nachgedacht, was ich dir letztes Mal erzählt habe?“
Die Elfe ohne Namen nickte: „Diese Bezarze, die zu euch gehört hat; du glaubst, sie hätte irgendetwas mit mir zu tun?“
Die Oberste Kuratorin seufzte: „Vielleicht ist es auch nur der Wunsch, dass etwas von ihr überlebt hat, der Ursprung für meine Vermutung. Aber es gibt doch Dinge, die mich stutzig werden lassen.“ Als die Elfe ohne Namen keine Antwort gab, fuhr Talmara fort: „Du sagst, diese Welt komme dir bekannt vor; ebenso wir, die dich hier aufgenommen haben. Ausserdem sprichst du perfekt unsere Sprache. Wie kann das sein?“
Die Elfe senkte scheu den Blick: „Du weisst, ich erinnere mich nicht.“
Die Oberste Kuratorin legte fürsorglich die Hand auf die Schulter der Elfe: „Ich glaube dir. Trotzdem: du bist an genau jener Stelle aufgetaucht, an der Bezarze verschwunden ist. Alles nur Zufall?“
Die Elfe schüttelte verlegen den Kopf.
Talmara lächelte: „Vielleicht wird die Zeit die Antworten geben.“ Die Oberste Kuratorin stand auf: „Wir müssen geduldig sein; ich werde dich nicht weiter bedrängen. Forsche nach, doch zermartere dich nicht.“ Damit verliess Talmara die Kammer.
Obwohl die Elfe ohne Namen bereits nach diesem Gespräch erschöpft war, lag sie noch lange wach. Sie musste das Rätsel lösen, um sich selbst willen, aber auch der Menschen wegen, die sie in so liebevoller Weise aufgenommen hatten. Sie schloss die Augen; bald würden die Träume beginnen. Wenn es einen Schlüssel zu ihrem Selbst gab, dann lag er in den verwirrenden Bildern, welche sie jede Nacht heimsuchten.
*****
Im Hospital der Paladine brannte Licht - wie immer. Einige der Heilerpaladine wachten die Nacht durch und versorgten die Patienten.
Das grosse, drei Stockwerk hohe Gebäude war eine Einrichtung, die auf der ganzen Insel bekannt war. Hier konnte man jede Krankheit und jede Verletzung kostenlos behandeln lassen. Für die Paladine war das Hospital auch eine Gelegenheit, sich bei auch diesen Leuten beliebt zu machen, welchen die ständige Kontrolle und Überwachung der Stadt ein Dorn im Auge war.
„Wird das funktionieren?“, fragte Gartret.
„Jedenfalls haben wir gegen die Heiler eine wesentlich bessere Chance als gegen die Wächter“, war Kagor überzeugt.
„Wo müssen wir hin?“, fragte Siliah.
Malgoth dachte kurz nach. „In den Keller, schätze ich.“
Sie schlichen sich näher an den Eingang heran. Siliah öffnete langsam die Tür einen winzigen Spaltbreit und spähte hinein. „Ein älterer Paladin sitzt da an einem Empfangstisch – er scheint schon ziemlich schläfrig zu sein.“
„Sehr gut“, meinte Malgoth befriedigt, „mit dem werden wir irgendwie fertig.“
„Ich weigere mich, den Paladin anzugreifen“, gab Kagor bekannt.
Gartret stöhnte: „So was habe ich kommen sehen…“
Siliah schaute sich um: „Es gibt sicher noch andere Wege.“
„Wir könnten durch eines der Fenster einsteigen oder… Oder wir locken den Kerl von da weg“, überlegte Malgoth laut.
„Was für ein Ablenkungsmanöver schlägst du vor?“, fragte Gartret, dem der Gedanke zu gefallen schien.
„Gegen das blosse Ablenken habe ich nichts“, billigte Kagor die Idee.
Malgoth spähte ebenfalls durch den Spalt. „Der sieht nicht aus, als sei er besonders schwer im nehmen“, meinte er dann. „Vielleicht könnte ihn Siliah mit einem stumpfen Pfeil betäuben.“
„Bleiben wir doch bei der Sache mit dem Ablenken“, bat Kagor.
Wieder wagte der Zwerg einen Blick in das Empfangszimmer des Hospitals. „Da hängt eine Glocke, die an einer Art Mechanik angeschlossen ist – was könnte das bloss sein?“
„Ich weiss es“, flüsterte Kagor, „das ist der Feueralarm. In beinahe jedem Raum des Hospitals hängt so eine Glocke – sie sind alle miteinander verbunden. Zauberwirker haben sie installiert – allerdings weiss ich nicht, ob wirklich Magie dabei im Spiel ist.“
„Wie löst man die den Alarm aus?“, fragte Malgoth.
Kagor zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung – ich bin nur sehr selten im Hospital gewesen. Ich gehörte zu der Einheit der Krieger-Paladine.“
„Da ist ein Hebel – gleich neben der Glocke; ich wette, damit schlägt man Alarm“, gab Gartret bekannt, nachdem auch er die Lage erkundet hatte.
Siliah kniff die Augen zusammen und versuchte die Lage abzuschätzen: „Das Ding befindet sich gleich neben dem Paladin; er müsste mindestens ein paar Sekunden von da weg, damit ich den Hebel betätigen könnte.“
„Ich werde es versuchen“, meinte Malgoth, postierte sich direkt vor dem Spalt und streckte die Hände aus.
„Was hast du bloss vor?“, wunderte sich Gartret.
„Abwarten – bitte seid jetzt einen Augenblick still.“ Der Zwerg verharrte in dieser Position; er schien sich zu konzentrieren. Einige endlos erscheinende Minuten geschah nichts, dann plötzlich, ertönte ein zaghaftes Klopfen an der Tür, die auf der anderen Seite des Empfangszimmers in das eigentliche Hospital hineinführte.
Der alte Paladin öffnete die halb geschlossenen Augen und legte den Kopf auf die Seite; er schien zu horchen. Wieder ertönte das Klopfen.
„Wie machst du das bloss – Malgoth?“, wunderte sich Siliah.
Der Zwerg machte nicht die geringste Bewegung – er hielt noch immer die Hände ausgestreckt. „Bitte seid still!“, bat er erneut.
Als es das dritte Mal an der gegenüberliegenden Tür klopfte, raffte sich der Paladin endlich auf: Er erhob sich von seinem Stuhl und setzte sich mit schweren Schritten in Bewegung.
„Jetzt Siliah!“, flüsterte Gartret eindringlich.
Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit sauste die Elfe in das Empfangszimmer, gelangte zu der mechanischen Alarmeinrichtung, zog den Hebel hinunter und drückte ihn gleich wieder hoch. Ein schrilles Gebimmel ertönte. Bevor sich der schwerfällige Paladin herumgedreht hatte und verblüfft in die Richtung des zappelnden Glöckchens blicken konnte, war Siliah schon wieder durch den Spalt der Aussentür geschlüpft.
„Mal schauen, was er nun tut…“, murmelte Kagor.
Der alte Paladin ging zurück zu seinem Empfangstisch – er bewegte sich diesmal schneller; offenbar trieb ihn ein gewisses Pflichtbewusstsein ein wenig an. Er fasste nach unten und holte einen Schlüsselbund hervor, den er wohl an einem Nagel hinter dem Tisch befestigt gehabt hatte.
„Er wird den Grund für den Alarm suchen gehen“, meinte Gartret hoffnungsfroh, „das gibt uns freie Bahn.“
Tatsächlich ging er auf die Tür zu, an welcher Malgoth das Klopfen erzeugt hatte. Doch im letzten Moment besann er sich anders und machte kehrt.
„Er kommt genau auf uns zu!“, zischte Siliah, „was haben wir falsch gemacht?“
„Weg von dem Spalt, sonst entdeckt er uns!“, raunte Malgoth den Anderen zu. Sie zogen sich ein Stück weit zurück und drückten sich an die Aussenmauer.
Die Tür zum Hospital wurde zugeschlagen und dann ein Schlüssel umgedreht.
„Er schliesst bloss ab, bevor er sich auf die Suche nach dem Alarm begibt“, atmete Kagor auf.
Siliah schüttelte den Kopf: „Wir sind keinen Schritt weiter gekommen, der Zugang zum Hospital ist uns noch immer versperrt.“
„Nicht mehr lange“, meinte Gartret und holte ein paar Dietriche hervor, „das Schloss hat auf den ersten Blick keinen sehr komplizierten Eindruck gemacht.“ Er ging wieder zur Tür und machte sich daran zu schaffen: „Und bei dem Gebimmel muss ich mir nicht einmal Mühe geben, besonders leise zu arbeiten.“ Gartret führte zwei Dietriche in das Schloss ein und begann die Bolzen im Inneren zu fixieren. Tatsächlich konnte das Schloss Gartret nicht lange standhalten. Ein letztes Knacken und der ehemalige Schauspieler verstaute die Diebeswerkzeuge wieder in seiner Tasche. „Der Weg ist frei.“
Malgoth öffnete – das Empfangzimmer war leer. Er ging hinein und Siliah folgte ihm. Als Kagor an Gartret vorbeiging, grinste dieser ihm zu: „Und mein Grosser – ist die Sache zu deiner Befriedigung gelöst worden?“
„Ich danke dir – natürlich wäre es einfacher gewesen, den Alten einfach niederzuschlagen. Aber dir dürfte es doch lieber sein, wenn du deine Kunstfertigkeit beweisen kannst.“
Gartret grinste noch breiter: „Da muss ich dir allerdings Recht geben. Eine Prise Rechtschaffenheit ist nicht immer schlecht – aber zuviel davon ist auch nicht gut.“
Malgoth erreichte die Tür, die ganz in das Hospital hinein führte; sie war nicht verschlossen. Der Zwerg drehte sich zu Kagor um: „Weisst du, wo es zum Keller geht?“
„Das Treppenhaus ist gleich da drüben; ich schätze, da gelangt man in den Keller.“
Überall im Gebäude schrillten die Alarmglöckchen – es herrschte grosser Lärm. Und noch andere Geräusche mischten sich in das Läuten, welche kaum angenehmer waren: Ein Schreien, Kreischen und Johlen drang aus dem oberen Stockwerk.
„Da oben sind die Patienten, deren Krankheit im Kopf wohnt!“, erklärte Kagor mit lauter Stimme, um den Lärm zu übertönen, „der Lärm hat sie wohl aufgeweckt!“
Tatsächlich fanden sie den Treppenabgang, welcher sie in das Kellergeschoss führte. Es war jetzt bedeutend leiser, da hier keine Alarmvorrichtungen installiert waren. Doch dort stiessen sie gleich auf eine verschlossene Tür, die sehr massiv aussah und aus Eisen bestand.
„Das sieht ernst aus…“, murmelte Gartret, während er seine Diebeswerkzeuge hervorkramte.
„Was hast du?“, fragte Siliah.
„Mit dieser Tür stimmt etwas nicht – und ich kann nicht genau sagen, was es ist.“
Gartret arbeitete emsig – bange Minuten vergingen.
„Wir sollten…“, hob Malgoth an.
„ich weiss, ich weiss!“, erwiderte Gartret gereizt, „wir sollten uns beeilen, bevor der Alarm wieder abgestellt wird.“
Weitere Minuten verstrichen, dann meinte Gartret plötzlich: „Diese Schufte! Nicht nur, dass das Schloss nach rechts hin geöffnet wird und doppelt so viele Bolzen besitzt, wie ein normales; es ist auch noch mit einer Art Falle versehen. Aber gleich haben wir es…“ Gartret zog den inneren Teil des Schlosses, welches aus einem Zylinder bestand, langsam aus der Tür heraus.
„Ich sehe die Wirkung eines Zaubers auf diesem Teil liegen“, gab Malgoth bekannt.
„Das glaube ich gern“, erwiderte Gartret, „da ist etwas mit der Mechanik verbunden, dass ich nicht verstehe.“
„Es scheint sich um feurige Energie zu handeln“, glaubte Malgoth, „wahrscheinlich wird sie ausgelöst, wenn man sich unsachgemäss an dem Schloss zu schaffen macht.“
„Die Paladine legen Fallen?“, fragte Siliah erstaunt, „sie lassem jeden eine Art Feuerball um die Ohren fliegen, der in ihren Hospitalkeller eindringt?“
„Ich kann mir denken wieso“, meinte Kagor dazu, „es gibt da ein einige Dinge… die Mandakir ein paar Probleme bereitet hatten.“
„Und die wären?“, fragte Malgoth.
„Es gab einst eine Gruppe von Totenbeschwörer – ich habe selbst gegen sie und ihre Kreaturen gekämpft; wie ich schon in der Bibliothek erwähnt habe.“
„Das erklärt deinen unbändigen Hass gegen Untote“, erriet Siliah.
„Und erklärt auch, wieso die Paladine die Räume derart geschickt versperren, in denen sie die Toten aufbewahren“, schloss Malgoth.
„Es waren allerdings keine gewöhnlichen Totenbeschwörer, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr…“, meinte Kagor noch.
Gartret sprang auf: „Geschafft! Wir können die Türe jetzt öffnen.“
Siliah trat lieber ein Stück zurück: „Und wieso tust du es nicht einfach?“
Gartret legte den Kopf zur Seite – er betrachtete die Tür: „Eigentlich sollte es gut gehen…“
„Geht etwas zurück - ich werde es wagen“, bot sich Malgoth an.
Siliah, Kagor und Gartret gingen in Deckung und Malgoth trat vor die Tür. Er holte tief Luft und drückte die Falle hinunter. Ein Knacken ging durch die Tür – Malgoth hätte vor Schreck beinahe einen Satz nach hinten gemacht. Doch die Tür schwang auf, ohne dass magisches Feuer auf den Zwergen niederfuhr.
Es war kalt hier und dunkel – Gartret nahm eine der Leuchtkugeln hervor, die sie noch Kulmina her hatten. Sie befanden sich in einem mit weissen Platten ausgelegten Raum. Vier Tische standen nebeneinander - drei davon waren von je einem Körper in Beschlag genommen, welche in weisses Leinen gewickelt waren.
„Einer der Drei muss es sein“, murmelte Gartret, und lauter: „wer geht nachschauen?“
„Das mache ich schon“, erwiderte Malgoth, ging zu dem ersten Körper, und schnitt ein kleines Loch in das Laken; gerade an jener Stelle, an dem er das Gesicht vermutete.
Beim zweiten Leichnam wurde er fündig: „Das ist er – etwas abgemagert allerdings; aber eine Verwechslung ist ausgeschlossen.
Alle blickten Kagor an; dieser zögerte kurz, ging zu dem leblosen Körper hin, packte diesen und warf sich ihn über die Schulter.
„Der Feueralarm ist immer noch an“, gab Siliah bekannt, „wenn wir rasch verschwinden, dann können wir vielleicht unbehelligt das Gebäude verlassen.“
„Ja – lasst uns rasch gehen“, meinte auch Malgoth, „und morgen werden wir die besseren Karten haben; die Paladine müssen uns einfach in die Kathedrale lassen.“
*****
Rokar ordnete mit quirligen Handbewegungen die Gegenstände auf seinem Pult neu; dabei grinste er unentwegt. Schliesslich nickte er: ja, jetzt war auch alles perfekt! Er wischte sich seine feuchten Handflächen an seiner Robe ab.
Rokar hatte die letzten Tage damit zugebracht, sich beinahe permanent zu freuen. Und dabei konnte er seine Freude niemanden zeigen, was gar für ihn gar nicht so einfach war. Er fühlte sich wie ein Kochtopf, der unter Druck stand. Er wollte doch so gerne jedem erzählen, wie sein Plan aufgegangen war, den er bis ins kleinste Detail ausgetüftelt hatte. Natürlich, es hatte unbeabsichtigte Schäden gegeben. Das Atamirenses sterben sollte, war von Anfang an klar gewesen – die Silbertränen hatten es auch verlangt. Aber das der alte Selkur übers Messer springen würde, war irgendwie bedauerlich. Allerdings konnte man das Ganze von einer anderen Warte aus betrachten: man hätte davon ausgehen können, dass besser alle das Zeitliche gesegnet hätten. In diesem Fall bestünde der winzige Makel darin, dass die Zauberwirkerin Tharia überlebt hatte. Der Schwertmeister Malatein irgendwie überleben würde, war Rokar auf eine unerklärliche Weise klar gewesen. Dieser Paladinführer hielt hinter seiner Maske der perfekten Rechtschaffenheit eine gut versteckte Verschlagenheit verborgen – das war dem verräterischen Zauberwirker nicht entgangen. Aber so durchtrieben wie er selbst war niemand, da war sich Rokar sicher. Er hatte die Paladine und die Silbertränen gegeneinander ausgespielt. Sein erster Gewinn war jetzt, dass ihn die Paladine nach Selkurs Tod zum obersten zauberwirkenden Berater ernannt hatten. Es war wirklich zu komisch, dass ausgerechnet er nun einer der führenden Köpfe im Kampf gegen die Silbertränen sein würde.
Aber auch er war überrascht und eines Besseren belehrt worden: Lange hatte er die Silbertränen und ihren Aufstieg studiert; am Anfang hatte er schlichtweg nicht begreifen können, was diese wollten. Und als er es dann herausfand, hielt er ihr Unterfangen für unmöglich. Er langsam war zu der Erkenntnis gelangt, dass sie in Kürze weit mächtiger als die Paladine werden würden. Es schien ihm deshalb klug, sich heimlich auf ihre Seite zu stellen. Und er hatte während der Ereignisse der letzten Tage weiteres Wissen sammeln können. Was Atamirenses erzählt hatte, war für ihn höchst aufschlussreich gewesen. Die Maskenträger suchten offenbar die Teile der Rüstung des Grossen Herrschers von einst. Rokar glaubte ziemlich sicher zu wissen, weshalb sie das taten. Die Konturen eines grandiosen Plans begannen sich aus der Dunkelheit zu schälen. Und diese Ahnung erfüllte Rokar mit einer freudigen Aufregung. Wenn seine Vermutung zutraf, dann wurden längst unerreichbare geglaubte Ziele plötzlich in greifbare Nähe gerückt. Die Ziele der Silbertränen waren im höchsten Grade anmassend – und genau dies gefiel Rokar. Er seufzte: Und wie hätte seinem Vater dieser Plan gefallen! Voll Ehrfurcht erinnerte sich Rokar seines alten Herrn; er war also doch nicht nur ein verrückter Totenbeschwörer gewesen, der bloss unerfüllbaren Träumen nachgehangen hatte.
Eine Erschütterung im Gewebe der Magie, welche der sichtbaren Welt zugrunde lag, schreckte Rokar aus seinen Überlegungen auf. Eine zweite Person befand sich im Raum. Rokar richtete seinen inneren Fokus aus – und wie immer: das Gewebe der Magie zeigte ihm mehr.
Er drehte sich langsam um: „Du hast für die Silbertränen diese Falle gebaut, welche einem ganzen Trupp Paladine zum Verhängnis geworden ist – nicht wahr?“
Der hinter ihm Stehende nickte: „Das war ich. Mein Name ist Alisan; und ich bin hier, weil ich von deinem Verrat weiss.“
Rokar lächelte: „Versuchst du mich auf irgendeine Weise zu Erpressen? Wenn ja, dann hättest du dein Leben auf sehr törichte Weise verwirkt. Einem ausgebildeten Zauberwirker droht man nicht.“
Alisan erwiderte das Lächeln: „Es war eine Feststellung – keine Drohung.“
„Was für einen Nutzen versuchst du dann aus dem Wissen zu ziehen, dass ich deiner Meinung nach ein Verräter bin?“
Alisan liess etwas Zeit verstreichen; vielleicht um zu zeigen, dass er sich vor dem Zauberwirker nicht zu sehr fürchtete. „Da du ebenfalls für die Silbertränen arbeitest, weiss du sicher von ihren grosszügigen Belohnungen.“ Da Rokar nichts darauf antwortete, fuhr Alisan fort: „Es gibt etwas, dass die Silbertränen in Mandakir unbedingt wollen.“
„Du sprichst von den Armschienen des grossen Herrschers?“
Alisan nickte befriedigt: „Du weisst Bescheid - ich mag Leute, die nicht wie Blinde durch die Welt stolpern. Diese Armschienen sind den Silbertränen zwanzigtausend Goldtaler wert.“
„Du bist doch ein Dieb – hat man dich nicht früher ‚die goldene Hand’ genannt? Wieso holst du dir nicht einfach die Armschienen?“, fragte Rokar in geradezu leutseligem Tonfall.
„Weil es nicht ganz einfach so ist. Ich bin ein Meisterdieb – doch um etwas zu stehlen, muss ich wissen, wo sich das begehrte Stück befindet.“
Alisan und Rokar schauten sich gegenseitig in die Augen. Eine Anspannung machte sich im Raum breit. Der Meisterdieb und der Zauberwirker schienen sich auf ein geistiges Ringen einzulassen. „Ist das das einzige Problem?“, wollte Rokar schliesslich wissen.
„Leider nein“, gab Alisan zu, „es gibt Konkurrenz – die leider nicht zu unterschätzen ist. Ich selbst habe sie ausgebildet. Das muss wohl ein Anfall von beginnendem Altersschwachsinn gewesen sein.“
Rokar lachte: „Dann haben sich die eigenen Schützlinge wohl gegen dich gewandt! Wirklich ärgerlich!“
„Bist du nun an den Zwanzigtausend interessiert oder nicht?“, fragte Alisan etwas ungehalten.
Rokar überlegte: „Nein – eigentlich nicht; Geld interessiert mich nicht besonders.“
„Dann wird es wohl zu keiner Übereinkunft zwischen uns kommen“, stellte der Meisterdieb fest.
„Vielleicht doch“, erwiderte Rokar überraschend, „das Geld interessiert mich zwar nicht, aber ich will, dass die Silbertränen ihre Ziele erreichen.“
„Und weshalb wünscht du dir das?“
„Die Gründe möchte ich dir nicht verraten; jedenfalls noch nicht. Aber ich will kein Risiko eingehen. Da ich deine Schüler nicht kenne – und darum auch nichts über ihre Ziele weiss, bin ich bereit dir zu helfen. Wenn wir Erfolg haben, dann gehört dir das ganze Geld. Ich will nur, dass die Silbertränen die Armschienen bekommen.“
Alisan betrachtete die hohe Gestalt des Zauberwirkers – was führte dieser im Schilde? Weshalb bot er seine Hilfe an, nur um des Erfolgs der Silbertränen willen? Es gefiel ihm nicht, dass Rokar seine Beweggründe verschwieg, doch er brauchte Hilfe. „Ich nehme dein Angebot gerne an. Wo sollen wir mit der Suche beginnen?“
Rokar rieb sich die Hände: „Gleich zur Sache – sehr gut! Ich habe in der Tat schon eine gewisse Vorarbeit geleistet: Die silbernen Armschienen befinden sich in einem Grab in den Katakomben der Kathedrale der Mörder. Und wie es der Zufall will, kenne ich mich da ein wenig aus. Mein Vater hat mich als Kind ein oder zwei Mal mitgenommen. Dort haben er und seine Kumpane ihre Zauber gewirkt. Er ist ein sehr spezieller Zauberwirker gewesen; verrückt, aber doch nicht ganz so verrückt, wie ich bis vor kurzem dachte…“
„Kommen wir ohne Schwierigkeiten in die Kathedrale hinein?“, fragte Alisan.
Rokar lachte wieder: „Darum mach dir keine Sorgen! Unsereins spaziert da einfach rein. Ausserdem kenne ich einen Zugang, der nicht bewacht wird; auf diese Weise gelangen wir sogar unentdeckt in die Kathedrale. Du siehst: du hast dir den richtigen Verbündeten ausgesucht.“
*****
„Wir verlangen Einlass in die Kathedrale!“
Der Hauptmann der wachhabenden Paladine betrachtete mit äusserstem Widerwillen den Zwergen. „Ich habe dir und den Anderen doch erst gestern erklärt“, antwortete er in bemüht ruhigem Tonfall, „dass ich nur ganz bestimmten Leuten Zugang in die Kathedrale gewähren kann.“
Malgoth nickte, dann trat er einen Schritt zur Seite. Hinter ihm kam Kagor, der einen vierrädrigen Handwagen vor sich her schob. Und darauf befand sich ein einfacher Holzsarg.
Der Hauptmann seufzte: „Und – was soll das nun wieder?“
„Ganz einfach“, meinte Malgoth, „du hast gesagt, die Kathedrale darf nur von Mördern betreten werden – oder von Jenen, die Mörder bestatten. Wir gehören zu Letzteren.“
„Dann befindet sich demnach in dem Sarg ein Mörder, den ausgerechnet ihr zu bestatten habt – und das soll ich euch glauben?“
„Das ist Emalus, der Sekretär von Vindara“, klärte Gartret den Hauptmann auf, „er ist ein Mörder und ist vor einigen Tagen selbst einem Mordanschlag zum Opfer gefallen.“
Der Hauptmann strich sich das Kinn: „Selbst wenn das tatsächlich die verstorbenen Überreste von diesem Sekretär aus Vindara sind – was beweist mir, dass er ein Mörder war?“
„Ganz einfach!“, meinte Siliah und zog das Neuigkeitenblatt von gestern hervor, „hier steht es geschrieben.“ Die Elfe deutete auf eine bestimmte Stelle im Blatt: Dem Mandakir-Neuigkeitenblatt wurde aus verlässlicher Quelle zugesteckt, der Sekretär sei an der Folterung und Ermordung von zahlreichen Anhängern eines in Vindara nicht genehmen Volksglaubens massgeblich beteiligt gewesen.
Doch der Hauptmann war noch immer nicht überzeugt: „Selbst wenn das hier ein Mörder ist – wieso seid ausgerechnet ihr berechtigt, ihn zu beerdigen?“
„Es ist doch allgemein Sitte, dass man von seinen Verwandten und Bekannten beerdigt wird. Und wir sind wahrscheinlich die Einzigen in Mandakir, die Emalus schon in seiner Heimatstadt… begegnet sind“, wandte Malgoth ein. „Ausser uns dürfte er hier nur noch seinen Mörder kennen. Und du kannst doch nicht verlangen, dass der Mann ausgerechnet von demjenigen bestattet wird, der ihm sein Leben ausgehaucht hat.“
Der Hauptmann legte die Stirn in Falten und überlegte, dann schaute er den vier Dieben Einem nach dem Anderen in die Augen. Schliesslich stöhnte der Hauptmann laut auf: „Und wisst ihr was das Schlimme dabei ist? Ich bemerke, wenn mir jemand ins Gesicht lügt. Aber ihr lügt nicht – und das ist das geradezu peinliche daran! Zweifellos sagt ihr mir nur einen Teil der Wahrheit.“ Der Hauptmann besann sich erneut, dann meinte er einer plötzlichen Regung folgend; „Also schön – ihr habt gewonnen.“ Er wandte sich an die übrigen Paladine: „Männer – tretet beiseite und lasst sie ein!“
Sie wollten eben auf das Hauptportal der Kathedrale zueilen. Da pfiff sie der Hauptmann zurück: „Wartet einen Moment! Ich bin kein Dummkopf. Ich weiss zwar nicht, was ihr vorhabt, aber es ist sicher nicht euer eigentliches Ziel, diesen Mann zu bestatten. Wagt nicht, etwas in der Kathedrale zu beschädigen! Tut ihr es doch, dann werde ich euch eigenhändig den Kopf abreissen! Geht jetzt!“
14. Kapitel: Konkurrenz der Diebe
Mit vereinten Kräften öffneten sie das grosse, zweiflüglige Tor. Ein kalter Lufthauch empfing sie aus dem Inneren der Kathedrale. Sie taten ein paar Schritte auf den mit Steinplatten ausgelegten Boden, bevor sie sich umsahen.
Zuerst fielen ihnen die ungeheure Anzahl der farbigen Fenster auf, die überall das Mauerwerk durchbrachen. Die Wände der Kathedrale schienen mehr aus Glas gemacht zu sein denn aus Stein. Und jedes Fenster besass eine andere Form; manche waren beinahe quadratisch oder rund; die meisten besassen aber Umrisse, die sich nicht so leicht beschreiben liessen. Und immer dann, als sie die vielen Fenster betrachteten und endlich eine Art von Muster in deren Andordung zu entdecken glaubten, entglitt ihnen dieser Eindruck sofort wieder und nur ein Gefühl der Verwirrung blieb übrig.
Auf verschiedenen Höhen durchzogen Galerien die vielen Haupt- und Nebenschiffe der Kathedrale. Diese waren aus verzierten Eisenteilen geschmiedet und schienen direkt am Stein und seltsamerweise auch an den Glasfenstern befestigt zu sein. Nicht wenige der Galerien, führten nirgendwohin, sondern endeten plötzlich – ohne zu einem bestimmten Ziel zu führen. Auf viele Treppen und Aufgänge an den Seiten der Kathedrale schienen keinen Zweck zu haben und endeten im Nichts.
Malgoth betrachtete den riesigen Innenraum der Kathedrale, welcher aus unübersichtlich vielen Abschnitten zusammengesetzt war. „Ich weiss ehrlich gesagt nicht recht, wo mir der Kopf steht“, gestand er.
„Wir sollten vielleicht auf eine dieser Galerien steigen und uns einen Überblick verschaffen“, schlug Siliah vor und zeigte auf eine eiserne Wendelstrebe, die sich gleich neben dem Hauptportal um eine Säule wand.
„Dann lasst uns die Sache von oben in Augenschein nehmen“, befand auch Gartret.
Sie liessen den Handwagen mit Emalus Leichnam einfach stehen und machten sich an den Aufstieg.
Obwohl die Treppe sehr leicht gebaut war, schien sie das Gewicht der vier Diebe ohne Probleme tragen zu können. Bald hatten sie eine Galerie erreicht, welche auf etwa mittlerer Höhe dem Hauptschiff entlang lief.
„Was für ein Irrgarten!“, rief Gartret aus, als er hinunterblickte und das Gewirr von schlanken Säulen, nach innen ragenden Strebenpfeilern, Quer- und Längsschiffen und den verschiedenen Emporen auf unterschiedlichen Höhen betrachtete.
„Ich glaube, wir müssen weiter in den hinteren Teil der Kathedrale“, meinte Malgoth.
Kagor liess seinen Blick über den nur schwer zu fassenden Innenraum streifen: „Der alte Zwerg in der Bibliothek hat wohl recht gehabt: Diese Kathedrale ist wirklich einer Seele nachempfunden, die in Elend und Wirrnis geraten ist.“
„Interessant ist es allemal – ich bezweifele, dass es einen zweiten Ort wie diesen gibt“, befand Malgoth.
Siliah wandte sich an Gartret und Kagor: „Ich wundere mich, dass ihr noch nie hier gewesen seid. Ihr beide kommt doch aus Mandakir?“
„Du hast doch selbst gesehen, dass man hier nicht einfach so rein kommt“, erwiderte Gartret.
„Ich hätte es dennoch versucht – wenn ich ein Mensch aus dieser Stadt wäre“, beharrte Siliah.
Sie gingen weiter die Galerie entlang, die an der gewundenen Mauer und an den Glasfenstern vorbeilief. Die gelochten Metallplatten unter ihren Füssen schepperten leicht.
Siliah hob die Hand: „Bleibt stehen! Ich höre Stimmen.“
„Also – ich höre gar nichts“, meinte Gartret hingegen.
Malgoths und Siliahs zornige Blicke brachten ihn zum Schweigen.
„Dort, ganz hinten in der Kathedrale, ist jemand“, gab die Elfe raunend bekannt.
„Vielleicht können wir uns anschleichen“, meinte Kagor, „am Besten, wir ziehen die Schuhe aus. Diese Metallplatten machen sonst zuviel Krach.“
„Gute Idee“, befand Malgoth und zog seine Stiefel aus. Die Anderen taten es ihm gleich.
Vorsichtig, schlichen sie näher – immer darum bemüht, nicht unbeabsichtigt an das eiserne Geländer anzuecken.
„Jetzt sehe ich sie“, flüsterte Malgoth, „es sind Zwei – sie befinden sich am Rande des Hauptschiffes und scheinen etwas zu bereden.“
Siliah nickte: „Der Eine ist zweifellos Alisan.“
Gartret stiess einen leisen Fluch aus. „Der hat uns gerade noch gefehlt!“
„Den Anderen erkenne ich nicht; der Kleidung nach scheint er ein Zauberwirker zu sein.“
Malgoth strich sich mit tieffinsterem Gesicht den Bart: „Alisan und ein Zauberwirker – das sieht nicht gut aus…“
„Was die hier wohl tun?“, fragte Kagor.
„Wahrscheinlich sind sie auf der Suche nach den Armschienen – genau wie wir“, vermutete Gartret.
„Wir sollten näher schleichen – dann können wir sie vielleicht verstehen.“ Aus dieser Distanz konnte selbst die Elfe nur einen undefinierbaren Wortbrei hören – verzerrt durch die vielen Echos des riesigen Innenraums.
Kriechend schlichen sie näher – Alisan und der Zauberwirker schienen ganz in ihr Gespräch vertieft zu sein und bemerkten die Neuankömmlinge nicht.
„…auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole“, meinte Alisan soeben zu dem Zauberwirker, „bevor wir nach unten in dieses Gewölbe steigen, möchte ich gerne mehr über deine Beweggründe erfahren.“
„Du warst es doch, der mich um Hilfe gebeten hat“, meinte der Andere, „ich habe dir den Eingang zu dem Gewölbe gezeigt. Irgendwo hier unten müssen die Armschienen des Grossen Herrschers sein. Weshalb misstraust du mir jetzt?“
„Weil du dies alles nicht für Geld tust“, erwiderte Alisan, „ich habe nie zuvor mit jemandem zusammengearbeitet, der sich nicht für die Reichtümer dieser Welt interessiert hat. Du bist mir unheimlich – Rokar.“
Der Zauberwirker lachte: „Du willst wissen, weshalb die Silbertränen die Armschienen kriegen sollen? Also gut – ich gebe dir einen Teil der Antwort: Mein Vater hat da unten gearbeitet – er und seine Kollegen. Gemeinsam hatten sie etwas erreichen wollen, was sich mit ihren Methoden als nicht machbar erwies. All die Opfer, all Experimente – alles für nichts!“
„Was waren das für Experimente?“, fragte Alisan misstrauisch.
„Sie haben Versuche mit den Leichen gemacht, die hier begraben sind.“
„Mit den verstorbenen Mördern also“, schloss der Meisterdieb.
Rokar nickte: „Sie waren Totenbeschwörer – aber keine Gewöhnlichen; sie hatten stets eine höheres Ziel vor Augen.“
„Ich habe euch von diesen Totenbeschwörer erzählt“, flüsterte oben auf der Galerie Kagor zu den Anderen, „wir haben sie mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Und glaubt mir: das war das Beste, was ich in meinem Leben je gemacht habe.“
„Versteh mich nicht falsch“, meinte unten Alisan, „Experimente mit toten Mördern für ein höheres Ziel? Ich möchte genauer wissen, in was für eine Welt ich da unten hineingerate.“
Rokar lächelte und wollte soeben antworten, da veränderte sich sein Gesichtsausdruck plötzlich: „Da stimmt etwas nicht – ich kann es fühlen. Wir sind nicht allein.“
„Wie hat der das gemerkt?“, wunderte sich Gartret.
„Verdammt!“, fluchte Malgoth, „sie werden uns gleich entdecken.“
Tatsächlich blickte Alisan genau in diesem Moment auf die Galerie: „Ich sehe sie! Pass auf die Elfe auf!“ Der Meisterdieb nahm seine Armbrust hervor, doch Siliah war schneller – ein genau gezielter Pfeil schoss auf Alisan zu. Doch Rokar hob die Hände, und bevor der Pfeil den Meisterdieb erreicht hatte, blieb er plötzlich in der Luft stehen. Dann ging ein Zittern durch das Geschoss und gleich darauf zersplitterte es in tausend Stücke.
Nun schoss auch Alisan. Der Bolzen flog in Malgoths Richtung, doch verfehlte ihn um ein paar Handbreit.
„Wir müssen hier weg!“ fordert Gartret, „hier sind wir ein leichtes Ziel!“
Nun machte der Zauberwirker eine Handbewegung – neben ihm entstand eine feurige Kugel. Rokar flüsterte dem Ball aus Flammen etwas zu und dieser schoss in Richtung Galerie.
Gartret stand auf und lief los: „Rennt was ihr könnt!“ Malgoth und Siliah folgten ihm. Direkt hinter ihnen schlug der Feuerball ein – die Elfe wurde über das Geländer geschleudert; Malgoth konnte gerade noch ihre Hand fassen, bevor sie in die Tiefe stürzte.
Da erhob sich Kagor, der sich bisher nicht gerührt hatte. Seine Nasenflügel bebten vor Wut: „Freunde der Totenbeschwörer – begegnet eurem Schicksal!“ Er zog seinen Säbel und rannte auf die nächsten Wendeltreppe zu.
Rokar und Alisan blickten beunruhigt dem heranstürmenden Hünen entgegen. Der Zauberwirker stöhnte: „Diese Paladine! Aber in ihrem heiligen Zorn sind sie nur schwer zu besiegen. Ich schlage vor, wir betreten jetzt das Gewölbe und versperren den Zugang von innen – wenn du nichts dagegen hast.“
„Ja – lass uns diesem unnötigen Kampf ausweichen“, stimmte Alisan zu.
Rokar ging ein paar Schritte zu einer Säule, die an ihrem Fuss sehr breit war und sich nach oben hin verjüngte. Er wirkte einen Zauber und ein Teil des Gesteins wich zurück und gab einen engen Durchgang frei. Dann wandte er sich dem Meisterdieb zu: „Rasch jetzt!“
Sie schlüpften hinein, und die Säule schloss sich gerade wieder, bevor Kagor sie erreicht hatte. Wütend schlug der Hüne auf das feste Gestein, doch nichts rührte sich.
„Beruhige dich mein Grosser“, meinte Gartret, nachdem er sich mit den Anderen zu Kagor gesellt hatte.
„Auf alle Fälle hast du sie von hier vertrieben“, sagte Malgoth, „das ist nach diesem Feuerball doch schon einiges Wert.“
Siliah betrachtete die Säule: „Weiss jemand, wie man dieses Ding öffnet?“
Gartret schüttelte den Kopf: „Da ist kein Schloss und auch keine mechanische Vorrichtung. Offenbar wird der Zugang mittels Magie geöffnet, und damit kenne ich mich nicht aus.“
Malgoth presste die Lippen zusammen, dann meinte er: „Ich fühle zwar den Zauber; aber mir fehlen die Kenntnisse, um ihn zu bannen.“
Kagor war höchst unzufrieden – er presste mit beiden Händen auf die Stelle, wo sich durch Rokars Zauber der Durchgang geöffnet hatte: „Wir müssen ihnen folgen!“
Malgoth nickte: „Wenn wir nicht schleunigst einen Lösung finden, dann können wir die Armschienen vergessen.“
Gartret sträubte sich gegen die sich abzeichnende Niederlage: „Zwanzigtausend Goldtaler! Ich bin nicht bereit, auf eine solch üppige Beute zu verzichten!“
*****
Sie verliess nun öfters ihr Bett und ging in der halb verlassenen Stadt spazieren. Sie sah, wie sich die Menschen von Kulmina nach ihr umdrehten und ihre schlanke Gestalt, ihre feingliedrigen Züge und ihre spitzen Ohren bestaunten. Besondere Aufmerksamkeit riefen ihre leuchtend grünen Augen hervor; selbst für eine Elfe war sie sehr ungewöhnlich.
Niemand beschimpfte oder geschweige denn attackierte sie; aber auch so wurde ihr eindeutig klar gemacht: Sie war eine Elfe und gehörte nicht hierher. Die Kuratoren und besonders Talmara kümmerten sich weiterhin um sie. Auch konnte sie immer besser die Erinnerung Bezarzes anzapfen, zu welcher sie eine geheimnisvolle Verbindung zu besitzen schien. Aber all das konnte sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Zeit hier abzulaufen begann. Etwas trieb sie fort.
Eines Nachts hatte sie eine Vision in klaren Bildern. Sie war eine Menschenfrau – diese Kuratorin Bezarze. Sie sah, wie sie unzählige geisterhafte Hände umklammert hielten. Vier Gefährten – zwei Menschen, ein Zwerg und eine Elfe – versuchten ihr zu helfen, doch vergebens. Sie wurde in eine Fläche aus Feuer geworfen. Unter Qualen fühlte sie, wie die Flammen ihren Körper verzehrten. Ihre menschliche Natur wurde von Feuer verbrannt. Aber sie starb nicht vollständig. Ein Teil von ihr – der sich bislang verborgen gehalten hatte – begann sich nun zu entfalten. Im Kern des Steins schuf sie sich selbst einen neuen Körper, der langsam im Inneren einer Pflanzenkapsel reifte. Dann, als das Werk soeben vollendet war, öffnete sich die Samenkapsel und das besorgte Gesicht Talmaras blickte ihr entgegen.
Die Kuratoren nahmen das hilflose Wesen mit sich, welches sie in jenen Tagen gewesen war.
Die Bilder verschwanden vor ihren Augen – keuchend erhob sie sich von ihrem Bett. Eine wichtige Wegstrecke ihrer Vergangenheit hatte sich ihr endlich offenbart. Sie selbst war in gewisser Weise Bezarze gewesen. Die Hoffnungen und Ahnungen der obersten Kuratorin fanden sich damit bestätigt. Aber sie hatte dieses Leben abgestreift. Das Menschsein war für sie nichts anderes als ein schlecht sitzendes Kleid gewesen, welches sie sich nun entledigt hatte. Doch weshalb hatte sie sich solange versteckt gehalten – sich in einem Menschenleben nach dem anderen einnistend? Und es musste einen Grund geben, wieso sie vor kurzem die Maskerade beendet hatte.
Angestrengt dachte sie nach. Aber an ihr Leben vor dem Versteckspiel in der Welt der Menschen konnte sie sich nur in Bruchstücken erinnern. Nur den inneren Drang spürte sie, sich auf den Weg zu machen.
Noch in dieser Nacht verliess sie Kulmina. Sie warf einen letzten Blick zurück und sah dank ihrer Dunkelsicht den Stein in der Ebene im Sternenlicht glänzen. Es war ihr, als verliesse sie ihre Kinderstube. Doch die Zeit drängte – sie musste rasch erwachsen werden.
*****
„Also mit solchen Dingen hat sich dein Vater beschäftigt?“ Alisan betrachtete befremdet aber auch mit einer gewissen morbiden Neugierde das verwüstete Labor, welches sich im tanzenden Licht seiner Fackel zeigte. Auf mehreren Tischen lagen Skelette und mumifizierte Leichen. Um sie herum befanden sich viele halb zerstörte Apparate, über deren Verwendung der Meisterdieb nur Vermutungen anstellen konnte.
Rokar grinste: „Ein solcher Anblick ist wohl gewöhnungsbedürftig – nicht wahr? Ich habe oft solche Laboratorium in meiner Kindheit gesehen.“ Der Zauberwirker drehte sich im Kreise und breitete die Arme aus. Alisan befürchtete schon, er würde mit einem Zauber die Toten aus ihrer Erstarrung erwecken.
Rokar bemerkte Alisans besorgten Blick: „Keine Angst – mein neuer Freund – ich bin nicht mein Vater. Wäre ich ebenfalls ein Totenbeschwörer, dann hätten mich Paladine längst zur Strecke gebracht; sie mögen diese Art der Magie nicht besonders.“
„Hier wurden die Toten aufgeweckt und dem Willen von Zauberwirkern unterworfen?“
Rokar nickte: „Das war aber bestenfalls eine Fingerübung. Das wahre Ziel war stets die so genannte Transferierung.“
„Ich glaube nicht, dass mir eine solche Technik geläufig ist“, gab Alisan zu verstehen.
„Natürlich nicht! Bei der Transferierung werden der Geist und die Seele eines Wesens auf den Körper eines anderen Wesens aufgetragen. Die Totenbeschwörer benutzen dafür tote Körper. Bei Lebenden ist die Sache heikler, weil sie bereits besetzt sind. Man ist in einem bewohnten Körper einem ständigen Ringen ausgesetzt.“
„Und wofür soll das gut sein?“
„Ganz einfach!“, entgegnete Alisan, „was will jemand, der über den Tellerrand seines kurzen Lebens zu blicken vermag?“
Alisan überlegte kurz: „Noch mehr Leben – schätze ich.“
„Gut geraten! Viele glauben, sie besässen eine unsterbliche Seele – aber wer weiss, vielleicht muss man sich eine solche erst verdienen? Und wenn dem so ist, dann braucht man einen langen Weg dafür zu gehen. Aber das Leben ist kurz – siehst du den Widerspruch?“
Alisan nickte: „Die Totenbeschwörer benutzten die Körper von Leichen, um ihre natürliche Lebensspanne zu überdauern. Damit wollten sie offenbar Zeit gewinnen, um die wahre Unsterblichkeit zu entdecken.“
Rokar zeigte sich beeindruckt: „Du lernst schnell – und du bist in gewisser Weise ein Beweis für diese Theorie. Du bist schon alt – mein lieber Meisterdieb. Was glaubst du, wie lange hast du gebraucht, um die Motive der Menschen so gut zu erkennen wie heute? Und was würde sein, wenn dein Geist überleben und sich immer weiterentwickeln könnte?“
Alisan blieb nur eine Sekunde unschlüssig, dann wischte er den Gedanken mit einer Handbewegung weg: „Ich sehe nur dieses Leben; mag danach kommen, was will – ich werde mich dann darum kümmern.“
Rokar lachte: „Siehst du – das ist der Unterschied zwischen uns! Darum willst du nur das Geld der Silbertränen, während ich mich für andere Dinge interessiere.“
„Du irrst dich“, erwiderte Alisan, „Geld habe ich bereits genug; es ist die Jagd, die mich mit Leben erfüllt.“
„Das stimmt wohl. Deine Motive sind also doch komplizierter. Ich nehme den Vorwurf mit dem Geld zurück. Du willst es auf deine alten Tagen nochmals allen zeigen. Und die Freude am Spiel treibt dich an. Du hast dir deine Widersacher selbst erschaffen – diese vier Diebe da oben in der Kathedrale. Und nun spielst du mit ihnen, bis du ihrer überdrüssig geworden bist.“
„Nicht ganz“, erwiderte Alisan, „sie sind eine echte Herausforderung. Sie haben es sogar geschafft, mich kurz hinters Licht zu führen. Einerseits war ich durchaus stolz, als ich es herausfand. Andererseits beginnen nun sie wirklich Ärger zu machen. Es wird es langsam Zeit für sie, aus der Welt Lebenden abzutreten. Aber genug geplaudert: lass uns endlich die Armschienen suchen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir meine Schüler wirklich für lange Zeit abhängen konnten.“
Rokar war einverstanden: „Also gut – dieses Gewölbe unter der Kathedrale ist weitläufig. Es gibt viele alte Gräber hier. Ich schätze, wir müssen den Volkshelden von Mandakir finden. In seinem Grab müssten sich die Armschienen befinden.“
*****
„Wir müssen einen anderen Weg suchen“, befand Malgoth, nachdem er die Säule – durch welche Alisan und Rokar verschwunden waren – in Augenschein genommen hatte. Dann nahm der Zwerg das Buch über die Architektur der Kathedrale hervor. Er brütete eine Weile über einige Pläne und meinte dann: „Lasst uns diese Stützmauern da drüben absuchen“, er zeigte auf eine Stelle unweit ihres jetzigen Standortes.
„Sind das diejenigen, von denen du in der Bibliothek gesagt hast, sie seien nicht notwendig?“, fragte Gartret.
„Notwendig sind sie schon, aber sie sind zu gross geraten: grösser als sie jedenfalls sein müssten.“
Die vier Diebe begannen die Stützmauer abzutasten und abzuklopfen. Zuerst fanden sie keinerlei Hinweis, auf einen geheimen Zugang. Doch dann wurde Siliah fündig: „Da ist etwas! Ein kleines Loch – nicht mal mein kleiner Finger passt da durch.“
„Vielleicht bloss ein Zufall“, mutmasste Gartret.
Malgoth war anderer Meinung; „Ich glaube kaum – schaut mal auf den Boden.“
Auf der Steinplatte, die den Boden vor dem kleinen Loch bedeckte, war kunstvoll etwas eingemeisselt: Es schien sich um eine Art Schlüssel zu handeln, dessen Griff äusserst ausladend gestaltet war.
„Das sieht seltsam aus“, meinte Gartret, „dieser Schlüssel besitzt keinen Bart.“
„Was meinst du damit?“, fragte Siliah.
„Na einen Bart eben – so nennt man die Zähne oder Zacken, welche einem Schlüssel seine Einzigartigkeit verleihen. Dieser hier gleicht mehr einem übergrossen Griff mit einem Stäbchen daran.“
„Darum passt er vielleicht auch in dieses kleine Loch“, erwiderte die Elfe.
Kagor machte eine finstere Miene: „Ich habe diesen Schlüssel schon einmal gesehen. Er müsste sich hier in dieser Kathedrale befinden.“
Gartret war erstaunt: „Und wo soll der bitteschön sein?“
Kagor schüttelte den Kopf: „Das gefällt mir nicht…“
„Komm schon – Kagor“, drängte Malgoth, „der Schlüssel ist vielleicht unsere letzte Chance, Rokar und Alisan zu folgen.“
„Dieser Schlüssel gehörte einst einem der Totenbeschwörer. Und da er ein Mörder war, konnten ihn seine Gesinnungsgenossen hier in allen Ehren beerdigen.“ Kagor schaute sich mit verächtlichem Blick in der Kathedrale um: „was ist das bloss für ein Ort, wo die Ehrlosen zu den höchsten Ehren kommen?“
„Dann befindet sich das Grab dieses Totenbeschwörers also hier? Und damit vielleicht auch der Schlüssel?“, fragte Gartret hoffnungsfroh.
„Er wurde wie gesagt in allen Ehren bestattet, nachdem wir ihn zur Strecke gebracht hatten. Damals hat er diesen Schlüssel um den Hals getragen. Er schien äusserst wertvoll zu sein. Es würde mich nicht wundern, wenn er ebenfalls in dem Grab zu finden sein würde.“
„Wo befindet sich dieses Grab denn genau?“, fragte Siliah, „die Kathedrale ist riesig.“
„Ich bin – wie gesagt – noch nie hier gewesen“, erwiderte Kagor, „also habe ich keine Ahnung.“
„Wann ist das gewesen“, fragte Malgoth.
„Vielleicht vor vier Jahren.“
„Dann muss es eines der neuen Gräber sein. In meinem Buch steht etwas darüber...“
Sie gingen in ein Nebenschiff im östlichen Teil der Kathedrale. Dort untersuchte Malgoth die Gräber, die jeweils aus einem einzigen Steinquader zu bestanden und die meist mit diversen Verzierungen und Inschriften geschmückt waren. Der Zwerg lief eiligst die Reihe der Gräber auf und ab. „Wir müssen näher zum Eingang“, meinte er dann. „Im hinteren Teil scheinen die Gräber älter zu sein. Die Jahrzahlen sind tiefer, ausserdem entsprechen die Verzierungen dem Stil früherer Zeiten.“
Als sie dem Eingangsportal der Kathedrale schon ziemlich nahe waren, blieb Kagor plötzlich stehen: „Es ist dieses Grab.“
„Ich dachte, du seihst noch nie hier gewesen. Woher willst du das wissen?“
„Es ist das Grab – glaubt mir.“
„Es ist viel kleiner als die Anderen“, fiel Gartret auf, „kaum möglich, dass sie der Leichnam eines ganzen Mannes darin befindet – jedenfalls nicht in einem Stück. Ihr Paladine habt wohl eurem Hass gegen die Totenbeschwörer freien Lauf gelassen.“
„Über dem Grab befindet sich eine Art steinerne Platte“, meinte Malgoth und machte sich gleich mit aller Kraft daran zu schaffen.
„Ich weiss nicht, ob wir das Grab öffnen sollten“, meinte Kagor hingegen.
„Willst du es etwa bei der Besichtigung der Kathedrale belassen?“, fragte Siliah, „wenn wir jetzt nichts tun, dann gewinnt Alisan – so einfach ist das. Das kannst du nicht ernsthaft wollen.“
Kagor blieb eine Weile unschlüssig, dann meinte er: „Also schön – aber es wird euch kaum gefallen, was ihr gleich sehen werdet.“ Er packte mit seinen grossen Händen die Grabplatte und versuchte sie zu verrücken. Aber erst, als ihm die Anderen tatkräftig halfen, rutschte die Platte ein Stück zur Seite.
„Jetzt alle noch mal - zugleich!“, trieb sie Malgoth an.
Die steinerne Grabplatte rutschte vom eigentlichen Grab und fiel krachend zu Boden; sie hatten zur Seite springen müssen, andernfalls wären ihre Füsse zermalmt worden.
„Der Hauptmann vor dem Portal würde wohl sehr böse sein, wenn er wüsste, was wir soeben getan haben“, murmelte Malgoth schmunzelnd.
Im Inneren des kleinen Grabes war Staub aufgewirbelt worden, der sich nur allmählich legte. Als sie endlich hineinsehen konnten, schüttelte Siliah verständnislos den Kopf und blickte dann Kagor an: „Ihr habt ein Kind getötet – wieso habt ihr das bloss getan?“ Tatsächlich lag der vertrocknete Leichnam eines Kindes in dem Grab.
„Ihr versteht nicht“, verteidigte sich Kagor, „das ist kein Kind.“
„Aber es sieht ganz wie eines aus“, bemerkte Malgoth, der den kleinen Körper anblickte, welcher Teilweise nur noch aus einem Skelett bestand. „Ein Zwerg ist es jedenfalls nicht; dazu sind seine Gliedmassen zuwenig stämmig und der Schädel zu filigran.“
„Das ist kein Kind“, beharrte Kagor.
„Kind oder nicht“, meinte Gartret und griff in das Grab, „auf alle Fälle trägt es diesen seltsamen Schlüssel um den Hals. Die kleine Grabschändung hat sich also gelohnt…“
Siliah verschränkte ihre Arme: „Kagor - ich verlange eine Erklärung; und bis ich die nicht bekommen habe, werde ich überhaupt nichts mehr tun.“
Kagor fasste sich an die Stirn und machte ein äusserst betrübtes Gesicht: „Ich wusste, dass würde für mich unangenehm werden.“
„Du sagst, dies sei kein Kind, was ist es dann?“, fragte Malgoth.
„Natürlich ist dies der Körper eines Kindes“, erwiderte Kagor, „aber ihr versteht nicht, was diese Totenbeschwörer für Leute waren; ihr habt nie mit ihnen zutun gehabt. Das hier“, der ehemalige Paladin zeigte auf den Kinderleichnam, „ist ein mehr als hundertjähriger, boshafter Zauberwirker. Und den Körper dieses Kindes, welches schon vorher sein Leben ausgehaucht hatte, ist von diesem Totenbeschwörer gestohlen worden.“
„Du meinst, es gibt Zauberwirker, die die Macht haben, in die Körper der Toten zu schlüpfen und in diesen zu leben?“, fragte Siliah ebenso entsetzt wie ungläubig.
Kagor nickte: „Glaubt mir - diese Totenbeschwörer waren der Abschaum der Menschheit. Sie griffen mit ihren gierigen Fingern nach allem, was ihnen die Aussicht bescherte, ihr erbärmliches Leben zu verlängern. Kinderleichen sind bei ihnen stets sehr beliebt gewesen.“
Gartret blickte den kleinen Körper an; selbst ihm schauderte. „Nicht gerade ein Leben nach den Geboten Vindros – und der ist ja wirklich massvoll in seinen Einschränkungen…“, murmelte er.
„Eine traurige Geschichte – ich denke, wir sollten es dabei belassen“, befand Malgoth, „ausserdem sollten wir nicht zuviel Zeit verlieren. Lass uns lieber versuchen, diesen Schlüssel zu benutzen.“
Sie gingen zurück zur der Stützmauer. Malgoth nahm den Schlüssel an sich: „Hoffentlich funktioniert das – andernfalls können wir die Armschienen abschreiben.“
*****
Rokar und Alisan eilten durch weitere verfallene Laboratorien. Als des Meisterdiebs Fackel zu erlöschen drohte, belegte Rokar diese mit einem Zauber. Fortan sandte diese statt eines flackernden Lichts ein gleichmässiges, bleiches Leuchten aus, welches aber mindestens ebenso so hell war.
Dann hörte die Abfolge der Laboratorien plötzlich auf und sie gelangten in einen abschüssigen Gang.
„Hier bin ich noch nie gewesen“, gab Rokar bekannt, „die Totenbeschwörer haben die tieferen Gegenden des Gewölbes stets gemieden.“
„Aus gutem Grund, nehme ich an – oder nicht?“, fragte Alisan.
Der Zauberwirker zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung, aber Damirs Grab kann sich nur weiter unten befinden.“
Sie gingen weiter. Der abschüssige Gang mündete bald in einer grossen, kreisrunden Halle. Und während die Laboratorien und der Gang zuvor nur mit gewöhnlichen Steinblöcken ausgelegt waren, waren hier Decken, Wände und der Boden mit verschiedenfarbigen Marmor und Einlagen aus Alabaster geschmückt. In der Mitte des Raumes stand so etwas wie ein Altar. Von der Decke hingen acht grosse Kristalle an Ketten. Vier davon leuchteten in ähnlicher Farbe, wie jetzt Alisans Fackel. Die anderen Vier aber, schienen ihr unmittelbare Umgebung zu verdunkeln; sie verschluckten das Licht und warfen Schatten gegen alle Richtungen.
„Wir müssen ganz nah sein“, meinte Rokar, „so einen Aufwand treibt man nicht einfach so.“
Alisan zeigte auf die Kristalle: „Was sind das für Dinger?“
Der Zauberwirker betrachtete sie genauer, aber auch er schien nicht vollständig schlau zu werden: „Also vier davon sind mit einem einfachen Leuchtzauber belegt – nichts besonders. Aber was mit denen ist, die Dunkelheit ausstrahlen, weiss ich nicht. So etwas habe ich noch nie gesehen. Lasst uns lieber diesen Altar in Augenschein nehmen.“
Sie gingen in die Mitte der Halle. Der Altar bestand aus einem einfachen Steinklotz, der sich in dieser prächtig ausgestatteten Umgebung geradezu ärmlich ausnahm. In der Mitte der Oberseite war eine Art fünfzackiger Stern angebracht; ansonsten war die Oberfläche des Steins vollkommen glatt.
„Da scheint eine Art von Mechanik dahinter verborgen zu sein.“ Alisan wollte nach dem Stern greifen, doch Rokar stiess seine Hand beiseite: „Warte! Ich fühle, dass sich eine mächtige Magie dahinter verbirgt.“
„Eine magische Falle meinst du?“
Rokar nickte: „In der Tat. Ich weiss nicht, was dadurch ausgelöst wird, aber es dürfte zu unserem Schaden sein.“
Der Meisterdieb nahm den Stern genauer in Augenschein: „Der Stern lässt sich vermutlich drehen.“ Er legte sein Ohr auf den Stein und bewegte den Stern ganz vorsichtig ein Wenig nach links und nach rechts. „Wie ich vermutet habe“, meinte er dann, „eine Mechanik verbirgt sich dahinter. Ich höre die Zahnräder ineinander greifen. Wahrscheinlich muss man den Stern in der richtigen Reihenfolge um verschiedene Grade drehen.“
„Kannst du das tun?“, fragte Rokar.
„Ja – aber was diese magischen Falle betrifft, so bin ich machtlos. Ich weiss nicht, unter welchen Bedingungen sie ausgelöst wird.“
„Wir haben wohl keine andere Wahl, wir müssen es versuchen. Es wird Zeit, dass die silbernen Armschienen aus ihrem dunklen Gefängnis befreit werden.“
Alisan nickte: „also gut – ich werde den mechanischen Teil des Rätsels lösen.“ Er legte wieder sein Ohr auf den Stein. Ganz vorsichtig begann er denn Stern zu drehen. Manchmal schien er ein Einrasten zu hören, dann lächelte der Meisterdieb befriedigt. Manchmal schien er ein solches zu erwarten, hörte aber nichts; in diesem Fall machte er ein eher säuerliches Gesicht.
„Und, wie geht es voran?“, fragte der Zauberwirker ungeduldig.
Alisan gab ihm ein Zeichen, dass er schweigen sollte. Nachdem er seine Arbeit einige Minuten weitergeführt hatte, stand er auf und reckte die Arme. „Ich glaube, das Schloss, oder was immer es war, ist ausgeschaltet. Man kann den Stern jetzt nicht mehr drehen, und es scheint, als müsse er jetzt hochgezogen werden, damit die Mechanik endgültig ihren Dienst tut.“
„Aber du fürchtest dich vor dieser magischen Falle?“
Alisan zuckte mit den Schultern: „Vielleicht solltest du den Stern aus dem Altar ziehen. Schliesslich verstehst du mehr von Magie als ich.“
Rokar kniff die Augen zusammen, dann schüttelte er den Kopf: „Ich kann diese uralte Magie nicht bannen. Gut möglich, dass sie jeden vernichtet, der sich weiter an diesem Stern zu schaffen macht.“
„Es gäbe da noch eine andere Möglichkeit…“
„Und die wäre?“
Alisan zeigte nach oben: „Da sind noch immer meine vier ehemaligen Schüler. Es würde mich wundern, wenn sie sich nicht bald Zugang zu dem Gewölbe verschaffen. Vielleicht sollten wir sie den gefährlichen Teil der Arbeit machen lassen. Und wenn nach dem Auslösen der Falle noch etwas von ihnen übrig ist, dann werden wir die Reste beseitigen.“
Rokar nickte: „Dann sollten wir uns verstecken und ihnen auflauern.“
„Das dürfte hier ganz einfach sein.“ Alisan ging zu einem der Kristalle hin, die Dunkelheit verbreiteten. Er stellte sich in dessen Nähe und wurde vom Schatten verschluckt. Rokar folgte ihm.
„Wir müssen uns wirklich sehr ruhig verhalten“, schärfte Alisan dem Zauberwirker ein, „eine der Vier ist eine Elfe, und die sind naturgemäss sehr schwer zu täuschen.“
„Keine Angst“, erwiderte Rokar, „an mir soll es nicht scheitern. Wenn du Glück hast, dann wirst du heute zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Du kannst endlich deine lästigen Schüler loswerden; und dann wirst du die Belohnung der Silbertränen einstreichen.“
*****
Die Wand erzitterte, kaum hatte Malgoth den Schlüssel in das Loch gesteckt. Einige Steinblöcke wurden regelrecht nach innen gesogen, dann senkten sich diese ab und bildeten eine Treppe, die direkt vor ihren Füssen in die Tiefe führte.
„Der erste Teil wäre geschafft“, meinte Malgoth.
Gartret nahm eine Leuchtkugel hervor und testete dann die erste Treppenstufe auf ihre Belastbarkeit. „Das scheint stabil zu sein.“
„Wir müssen vorsichtig sein“, empfahl Kagor, „Alisan und dieser Zauberwirker wissen, das wir kommen.“
„Wir sind zu viert und sie nur zu zweit“, machte Gartret ihnen mut.
„Aber einer ist ein Zauberwirker und der Andere ein legendärer Meisterdieb“, erwiderte Siliah, während sie ihren Bogen vom Rücken nahm, „das fällt vielleicht noch stärker ins Gewicht.“
Die Treppe mündete in einem verwüsteten Laboratorium. Die vier Diebe betrachteten die halb zerstörten Utensilien; zerbrochene Zangen, zersplitterte Glaskolben, verbogene Destillieraufsätze, demolierte mechanische Waagen und eine Vielzahl sonstiger Geräte, die meist völlig unbrauchbar waren. Dazwischen sahen sie immer wieder Knochen und unidentifizierbare Überreste.
Kagor wies sie auf das unappetitliche Gewirr von Geräten und Überresten menschlicher Körper: „Glaubt ihr mir jetzt?“
„Diese Totenbeschwörer scheinen keine Hemmungen gekannt zu haben“, bestätigte Malgoth.
„Aber das ist nicht unsere Sache“, meinte Gartret, „ausserdem sind diese Beschwörer alle tot – Kagor hat es selbst gesagt. Hier sind bloss Dinge, die uns nicht angehen – darum weiter. Ich kann geradezu fühlen, wie uns die zwanzigtausend Goldtaler langsam durch die Lappen gehen.“
Sie gelangten in weitere Laboratorien, die nicht viel besser aussahen. Manchmal mussten sie umkehren und einen anderen Weg nehmen, weil sie in eine Sackgasse geraten waren. Aber schliesslich fanden sie aus der Anordnung der Experimentierräume heraus und gelangten zu einem Gang, der sie weiter nach unten führte.
„Da unten brennt Licht“, gab Siliah bekannt, „aber etwas stimmt nicht. Es wird nicht auf normale Weise von den Wänden reflektiert.“
Neugierig und doch vorsichtig gingen die Diebe weiter. Sie gelangten in die hohe Halle mit den acht Kristallen; vier, die ein bleiches Licht aussandten, vier die jegliches Licht verschluckten und in der Umgebung einen Schatten erzeugten.
„Was ist das bloss für ein Ort?“, fragte sich Siliah und liess ihren Blick über die Halle schweifen. „Die Abfolge von Licht und Schatten verwirrt mich; ich habe nie so zuvor etwas gesehen.“
„Mit diesen dunklen Kristallen stimmt etwas nicht“, war Kagor überzeugt, „ich fühle mich, als würde ich einer untoten Kreatur gegenüberstehen.“
Malgoth und Gartret beachteten die Kristalle nicht; sie eilten sofort zu dem Altar, der in der Mitte der Halle stand.
„Wenn wir hier weiterkommen, dann nur über diesen Altar“, war Malgoth überzeugt.
Gartret war derselben Meinung: „Da steckt mehr in diesem Stein – da ist bestimmt etwas darin verborgen.“ Er begann den Altar abzuklopfen; jedes Mal, wenn er eine Hohle Stelle zu finden glaubt, lächelte er und nickte.
„Glaubst du nicht, man könnte etwas mit diesem Stern bewirken?“, fragte Malgoth, „er sieht so aus, als ob man ihn drehen könnte.“
Gartret stand auf: „Bestimmt, aber ich wollte mir das Beste für bis zuletzt aufheben.“ Er untersuchte den Stern. „Er lässt sich seltsamerweise nicht drehen, obwohl darunter im Stein Spuren sichtbar sind, dass er schon öfters gedreht worden ist.“
„Was soll das bedeuten?“, fragte Malgoth.
Gartret zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung – aber ich glaube, man kann diesen Stern anheben. Soll ich?“
Malgoth war sich unschlüssig: „Ich weiss nicht… Ich verstehe es nicht; ich fühle mächtige Magie, aber sie scheint nicht nur aus dem Altar zu kommen. Ich werde nicht recht schlau daraus.“
„Eine Falle meinst du?“
„Kann ich nicht sagen – das zu beurteilen übersteigt meine Fähigkeiten leider. Aber hier ist starke Zauberwirkerei am Werk.“
Gartret liess den Stern los. Eine Weile überlegte er – abwechselnd blickte er auf Malgoth und den Altar. Dann griff er beherzt nach dem Stern: „Ich will diese Armschienen! Und ich bin bereit, dass Risiko einzugehen.“
„Warte – Gartret!“, wollte Malgoth dazwischenfahren, doch es war zu spät. Der ehemalige Schauspieler zog den Stern nach oben; unter diesem war ein steinerner Zylinder befestigt, der dadurch aus dem Altar gehoben wurde.
Ein donnerndes Grollen ging durch die Halle; der Boden schwankte unter ihren Füssen. Erschrocken liess Gartret den Stern los. Eine Art von Mühlstein rollte sich vor den Eingang der Halle; sie waren gefangen. Die Luft wurde von einem Knistern erfüllt – ihre Haare luden sich mit elektrischer Energie auf und begannen sich von selbst zu heben. Dann drang ein summendes Vibrieren zu ihnen.
„Es sind die vier dunklen Kristalle!“, rief Kagor den Anderen zu, „etwas geht mit ihnen vor!“ Kaum hatte er ausgesprochen, da zerbarsten die schattenspendenden Kristalle mit einem lauten Knall. Die Splitter fielen zu Boden, doch die Dunkelheit blieb vorerst an Ort und Stelle. Dann bewegten sich die vier lichtverschluckenden Schatten auf die Mitte der Halle zu.
Dadurch wurden Alisan und Rokar sichtbar, die die ganze Zeit im Schutze der Dunkelheit gelauert hatten. Die Überraschung war auf beiden Seiten so gross, das vorerst niemand etwas unternahm.
Währendessen bewegten sich die vier dunklen Stellen immer schneller aufeinander zu. Malgoth und Gartret, die sich in der Mitte der Halle beim Altar aufgehalten hatten, wichen zurück.
Schliesslich gab es einen dumpfen Knall und aus vier Schatten war ein grosser geworden. Die Dunkelheit verdichtete sich noch und schien schon fast die Konsistenz einer pechschwarzen Flüssigkeit erreicht zu haben. Ein Wabern ging durch das Gebilde, dann wuchsen diesem Ding Beine, dann zwei Arme und ein Kopf. Höher und höher wuchs das Wesen. Und zu guter Letzt, als ob dies alles noch nicht genug wäre, wuchs ein dritter Arm der neu entstandenen Kreatur mitten aus der Brust.
Kagor stockte der Atem: „Es ist ein Mörderschatten… Der mächtigste der Untoten…“
„Ihr Narren!“, schrie Rokar zu den Dieben hinüber.
„Wer hat uns wohl in diese Falle laufen lassen?“, rief Malgoth zurück.
„Wenn wir auch nur die leiseste Chance haben wollen“, rief Alisan laut, „dann sollten wir unsere Differenzen für einen Moment beiseite legen!“
„Einverstanden!“, rief Gartret, der mit gezogenem Rapier noch immer vor dieser Schattenkreatur zurückwich.
Der Mörderschatten bereitete die drei Arme aus und befühlte seinen neu entstandenen Körper. Dann stiess er einen Art Schrei aus; man hörte nichts davon, fühlte diesen aber sehr wohl: Augenblicklich breitete sich eine knisternde Energie in der Halle aus; für einige Sekunden zuckten die Muskeln der Diebe und von Rokar wie wild und ihr Herz begann unkontrolliert zu rasen.
Der mittlere Arm des Mörderschattens schnellte plötzlich hervor und wurde länger und länger. Malgoth hechtete zur Seite, aber er konnte der übernatürlichen Macht der untoten Kreatur nicht entkommen: Finger aus geronnener Dunkelheit schlangen sich um seine Beine und zogen dem Zwergen umbarmherzig gegen die Mitte der Halle hin.
Kagor leitete den Gegenangriff ein. Mit gezücktem Säbel und glühenden Augen rannte er dem Mörderschatten entgegen. Ein Pfeil und Bolzen ein schwirrten auf den Körper des Mörderschattens zu; Siliah und Alisan hatten ihre Geschosse abgefeuert. Ein Strahl aus blauen Flammen schoss aus Rokars Fingerspitzen und eilte in Richtung des Kopfes der Schattenkreatur.
Doch der Mörderschatten hatte nicht so viele Jahrhunderte in Gefangenschaft verbracht, um schon nach Sekunden sein untotes Leben auszuhauchen. Sein Körper verbog und wand sich auf eine bizarre Weise. Der Bolzen und der Pfeil verfehlten sein Ziel, ebenso Rokars blaue Flammen. Auch Kagors erste Streiche mit dem Säbel gingen ins Leere.
Dann sog das Schattenwesen Luft ein, beugte sich nieder und stiess sie Kagor mitten ins Gesicht. Er wurde von einer Welle elektrischer Energie erfasst und nach hinten geschleudert. Erst die Wand der Halle stoppte seinen Flug abrupt.
Nun öffnete der Mörderschatten seinen grossen Mund und legte den Weg in das tiefdunkle Innere der Kreatur frei. Gedämpfte Schreie drangen daraus. Die Opfer frührer Zeiten nutzten eine ihren raren Möglichkeiten, der Welt des Lichts ihre Not kundzutun.
Der mittlere Schattenarm hob Malgoth empor und brachte ihn unaufhaltsam immer Näher an den dunklen Schlund. Der Zwerg schrie vor Angst und Verzweiflung. Er befand sich nun ganz nah an dem Mund des Mörderschattens. Jeden Augenblick würde er verschlungen werden. Mit einem letzten Aufbäumen krümmte sich Malgoth kopfüber hängend und umfasste die Finger des Mörderschattens, welche noch immer seine Beine umklammert hielten. Eine kleine, hellgelbe Stichflame entstand plötzlich auf den Handflächen des Zwerges. Diese schossen auf die Finger des Mörderschattens und umhüllten sie für einen kurzen Moment; doch dies genügte: Überrascht liess der mächtige Schatten Malgoth los; und dieser fiel am grossen Mund vorbei auf den Boden der Halle. Dort krabbelte er durch die Beine des Mörderschattens hindurch und floh so schnell er konnte.
Nun trat Gartret in Aktion. Schlau und durchtrieben hatte er die erste Angriffswelle der Anderen ausgenutzt, um unbemerkt an die Seite des Mörderschattens zu schleichen. Nun führte er zwei wenig elegante, dafür kräftig geführte Streiche mit seinem Rapier. Gleichzeitig wurde der mächtige Untote von einem wahren Hagel von Siliahs Pfeilen eingedeckt. Auch Alisans Armbrust verschoss ganze Bolzenserien. Malgoths Erfahrung mit der gelben Stichflame registrierend, wechselte Rokar seinen Zauber und warf eine hell lodernde Kugel aus heissem Feuer. Diese zerbarst auf dem Kopf des Mörderschattens und schien grossen Schaden anzurichten.
Nun erhob sich Kagor wieder und startete einen erneuten Angriff. Wie eine unaufhaltbare Walze raste er heran. Sein Säbel stach in die Dunkelheit hinein und vollführte tiefe Schnitte. Der Mörderschatten taumelte, raffte sich noch ein letztes Mal auf und schlug wild um sich. Kagor und Gartret konnten den schlecht gezielten Schlägen ausweichen. Eine weitere von Rokars Feuerkugeln zerbarst auf dem Kopf des Mörderschattens. Dann erfolgte ein mächtiger Säbelhieb auf Brusthöhe der dunklen Kreatur, in den Kagor seine ganze Kraft legte.
Der Mörderschatten fiel auf die Knie. Mit seinen drei Armen versuchte er sich abzustützen. Aber das kurze Leben in der Freiheit war bereits verloren. Die Konsistenz der dichten Dunkelheit fing an sich aufzulösen. Schwarze Nebelfetzen begannen vom Körper des Mörderschattens abzufallen und verflüchtigten sich. Ein letzter Hieb von Kagor auf den vermuteten Hals der dunklen Kreatur beendete den Kampf endgültig. Mit einem Schlag zerstob die Dunkelheit und nichts mehr war übrig vom Mächtigsten aller Untoten.
Erschöpft hielten die vier Diebe, Rokar und Alisan inne. Dann ging ein weiteres Rumpeln durch die Halle.
„Was ist das wieder für eine neue Teufelei?“, fragte Kagor und hob bereits wieder den Säbel.
Aber es erschien keine weitere Schattenkreatur. Stattdessen rollte der Mühlstein vor dem Eingang weg. Doch das war noch nicht alles: an zwei gegenüberliegenden Stellen der Halle senkte sich der Boden ab. Zwei Treppenabgänge waren entstanden.
„Das ist wohl die Belohnung für den gewonnen Kampf“; meinte Alisan und lachte heiser.
Malgoth kam wieder auf die Füsse, stand unsicher und rieb sich seine Glieder. „Und wie geht es jetzt weiter?“, fragte der Zwerg an die Adresse Rokars und des Meisterdiebs.
„Vielleicht sollten wir auf einem weiteren Kampf mit ungewissen Ausgang verzichten“, meinte Rokar, „da du eben beinahe von einem Mörderschatten gefressen worden bist, wirst du mir vermutlich zustimmen.“
„Das… siehst du richtig.“ Malgoth war noch immer aschfahl im Gesicht. Der Blick in den dunklen Schlund des Untoten würde ihn wohl sein Leben lang begleiten.
„Es gibt offenbar zwei Treppen, die sich geöffnet haben“, bemerkte Alisan, „vielleicht führt eine zu dem Armschienen, der andere jedoch nicht. Ich bin bereit für ein kleines Glückspiel. Na – meine ehemaligen Schüler - geht ihr das Risiko ein?“
„Wir wählen die Treppe – ihr müsst die andere nehmen“, forderte Gartret.
„Von mir aus – es steht fünfzig zu fünfzig. Aber vielleicht stossen wir nach wenigen Klaftern wieder aufeinander. Dann muss doch der Kampf entscheiden.“
„Wir ziehen das Glücksspiel fürs Erste vor“, meinte Malgoth.
„Dann solltet ihr jetzt wählen – bevor wir es uns anders überlegen.“
*****
Schwertmeister Malatein stand vor dem Tisch, auf dem die höheren Paladine für gewöhnlich ihre Schlachten gegen die Mächte des Bösen planten. Reiter aus geschnitztem Holz wechselten sich mit aus Ton geformten Monstern ab. Sie alle standen auf einem Raster aus weisser Kreide.
Der Schwertmeister schlug voller Wucht auf den Tisch; sowohl Monster wie auch die Reiter tanzten wild auf der Tischplatte; einige fielen um.
Es war die nackte Hilflosigkeit, die den Schwertmeister einer zu solchen Geste trieb. Wie konnte er bloss die Silbertränen bekämpfen? Sie waren wie Phantome aufgetaucht, hatten ihn und seine Männer in eine Falle gelockt, und blieben seither wie vom Erdboden verschluckt.
Der Schwertmeister hatte immer wieder die Stellen in den Chroniken der Paladine nachgelesen, in denen vor diesem furchtbaren Feind aus uralter Zeit gewarnt wurde. Die Silbertränen waren ein fruchtbares Übel. Sie stammend aus dem Dunklen Zeitalter, in der der Grosse Herrscher die Insel verwüstet hatte. Der Brand – so wurde bei den Paladine jene Zeit auch genannt; und Malatein war sich sicher, dass dieser Name nicht zu unrecht gewählt worden war.
Dem Schwertmeister war ganz unvermutet eine Zeit der grossen Prüfungen auferlegt worden. Würde er versagen, so drohte die Welt erneut in ein tiefes Unheil zu stürze, davon war Malatein überzeugt. Aber der Schwertmeister wusste beim besten Willen nicht, wie er gegen dieses Böse hätte angehen sollen. Er fühlte sich wie in einem Nebel gefangen. Was konnte er bloss tun, um dem Feind auch nur Schaden zuzufügen? Er befehligte vielleicht die besten Krieger dieser Welt; und dennoch drohte er zu verlieren.
Dabei war Malatein nicht dumm gewesen. Er hatte von Anfang an geahnt, dass dieser Kampf nicht mit der Schärfe des Schwertes allein zu gewinnen war. Er hatte von Beginn an akzeptiert, dass hier verschlagene List und gar die Mithilfe von Zauberwirkern vonnöten war. Der Schwertmeister hatte jeglichen Dünkel, jede Arroganz abgestreift und hatte sich bereit gezeigt, neue Wege zu gehen. Und auf was für eine furchtbare Weise war er für seine Offenheit bestraft worden!
Aber für Selbstmitleid würde nur wenig Zeit bleiben. Von den drei Zauberwirkern, deren Mitarbeit er erbeten hatte, konnte er nur noch Rokar einsetzen. Selkur war im Tempel des Meeresgotten Marmorides von den Silbertränen ermordet worden; und Tharia war seit ihrem knappen Entrinnen kaum mehr fähig zu sprechen.
Aber eine gute Sache hatte der ganze Vorfall doch gebracht: durch diesen Verräter Atamirenses hatten sie herausgefunden, dass die Silbertränen wahrscheinlich die silberne Rüstung des Grossen Herrschers Stück für Stück an sich bringen wollten. Was sie auch immer damit zu erreichen versuchten – es musste verhindert werden. Offensichtlich befanden sich die Armschienen in Mandakir. Schwertmeister Malatein hatte Rokar mit der dringenden Aufgabe betraut, dieses silberne Artefakt zu finden. Dafür hatte er dem Zauberwirker die Archive des Ordens geöffnet. Diese Armschienen waren der letzte Ansatzpunkt, den er noch besass. Sollten sie in die Hände der Silbertränen fallen, dann wäre für die Paladine der Kampf so gut wie verloren.
*****
„Wie hast du das gemacht?“, fragte Gartret an Malgoths Adresse.
„Was meinst du?“
„Diese Stichflamme, die aus deinen Händen gekommen ist? Damit hast du diesen Mörderschatten ganz schön ausser Tritt gebracht und dir das Leben gerettet.“
Der Zwerg schüttelte den Kopf, dann formte sich auf seinem Gesicht ein stolzes Lächeln: „Vielleicht bin ich den Zauberwirkern doch näher als ich gedacht habe.“
Siliahs Gedanken gingen in eine andere Richtung: „Ich frage mich, wieso zwei Treppen frei geworden sind, nachdem wir den Kampf gewonnen haben.“
„Lasst uns vorsichtig sein“, meinte Kagor, „vielleicht führen die Abgänge an den gleichen Ort. Ihr habt die Beiden ja gehört: Bei einem neuerlichen Treffen würde es keinen Grund geben, sich gegenseitig zu verschonen.“ Er zog seinen Säbel und hielt ihn prüfend vors Gesicht. Befriedigt registrierte der ehemalige Paladin, dass seine Waffe nach dem letzten Kampf keinen Schaden genommen hatte.
Die Treppe endete bald in einer länglichen Kammer, deren Wände wieder nur aus roh behauenen Steinen bestanden. Die Kammer war durch ein Gitter aus dicken Eisenstäben in zwei Hälften unterteilt. Ein Durchkommen zur anderen Seite schien unmöglich.
Das Auffälligste in der Kammer war aber zweifellos eine silberne Kugel – im Durchmesser etwa sechs- bis sieben Handbreit - welche einfach so etwa mannshoch im Raum schwebte.
„Du brauchst uns nicht zu erklären, dass du hier Magie fühlst“, meinte Gartret zu Malgoth.
Der Zwerg betrachtete die Kugel eingehend: „Dies ist wahrscheinlich nicht das Grab des Volkshelden – dennoch glaube ich, dass wir am Ziel sind.“
„Du meinst, da drin müssen die Armschienen verborgen sein?“, fragte Siliah.
Plötzlich hörten sie Rokars Stimme: „Ihr Narren! Fühlt ihr es nicht? Ihr befindet euch bereits in der Grabkammer – die Kugel beherbergt die Asche des Volkshelden von Mandakir – und im Inneren werden sich auch die Armschienen des Grossen Herrschers befinden.“ Die Vier Diebe drehten sich erschrocken um. Sie waren vom Anblick der schwebenden Kugel derart gebannt gewesen, dass sie nicht bemerkt hatten, wie Alisan und Rokar die andere Hälfte der Kammer betreten hatten. Der Meisterdieb machte sich sofort daran, ein Schloss oder eine mechanische Vorrichtung zu finden, um das trennende Gitter zu überwinden.
„Man fühlt es einfach, wenn man ein Grab eines Volkshelden nahe kommt“, fuhr Rokar fort, „niemand weiss, wieso dem so ist. Die Meisten empfinden es als ein Erschaudern der angenehmen Art. Aber ihr habt euch wohl von der schwebenden Kugel ablenken lassen. Wie schnell die Menschen doch ihre Sinne übergehen…“
„Schnell!“, rief Malgoth, „wir müssen die Kugel öffnen!“ Er versuchte selbst nach der silbrigen Kugel zu greifen, doch sie schwebte zu hoch für ihn.
Gartret versucht das glänzende Ding mit beiden Händen zu fassen; ein summendes Geräusch entstand und wurde rasch lauter. Gartret prallte zurück und schrie laut vor Schmerz.
Rokar lachte: „Ich glaube, man nennt es elektrische Energie. Diese wird zweifellos von einem Zauber erzeugt.“
Kagor hob kurz entschlossen seinen Säbel und hieb zu. Doch die Waffe wurde ihm aus den Händen geschleudert, noch bevor sie die Kugel treffen konnte. Mit einem unterdrückten Schmerzenslaut rieb er sich seine Hände. „Es fühlt sich an, als ob tausend Nadeln in den Körper eindringen und die Muskeln einem nicht mehr gehorchen wollen“, gab er bekannt.
„Kommt mir bekannt vor…“, stimmte Gartret zu, der sich eben erst wieder zu erholen begann.
Alisan war noch immer fieberhaft damit beschäftigt, einen Durchgang durch die Gitterstäbe zu öffnen.
Siliah hob ihren Bogen und zielte auf den Meisterdieb.
„Warte! Wenn du auf ihn schiesst, dann wird mein Zauber dich verbrennen“, drohte Rokar.
Siliah gab ihrem Bogen eine leicht andere Richtung: „Und wenn ich zuerst auf dich schiesse? Wenn du auch nur daran denken solltest, einen Zauber zu wirken, dann wird dich mein Pfeil zwischen die Augen treffen.“
Alisan stand auf – er sah sich genötigt seine Arbeit zu unterbrechen. Er nahm rasch seine Armbrust an sich. Doch bevor er damit auf die Elfe zielen konnte, war Gartret ihm schon zuvor gekommen. „Auch ich habe eine Armbrust – Alisan. Zwar schiesse ich nicht besonders, aber auf diese Entfernung werde ich dich kaum verfehlen. Also halte deine Waffe gesenkt.“
„Dann haben wir offensichtlich ein Problem“, meinte der Meisterdieb steif lächelnd und hielt seine Armbrust gegen den Boden gerichtet.
Eine ganze Weile standen sie da – niemand wagte sich zur rühren; alle standen da wie eingefroren. Sie alle wussten: eine falsche Bewegung konnte üble Konsequenzen haben. Die Minuten verstrichen, und jede kam ihnen vor wie eine Ewigkeit.
„Man müsste sich doch irgendwie einigen können…“, meinte Malgoth schliesslich ganz vorsichtig, „schliesslich können wir nicht ewig so dastehen.“
„Ihr wollt den Ruhm und die Zwanzigtausend – und ich ebenfalls. Ich wüsste nicht, wie wir uns da einigen könnten“, erwiderte Alisan dagegen.
„Ihr wollt die Armschienen den Silbertränen übergeben?“, fragte Rokar.
„Natürlich – was sollten wir sonst damit anfangen?“, fragte Gartret.
„Um diese silberne Kugel knacken zu können, müsst ihr zuerst den Schutz- und Elektrizitätszauber bannen, welcher auf ihr liegt. Nichts gegen euren Zwerg – er hat mit seinen Flammenhänden den Mörderschatten wirklich kurzzeitig eingeheizt, aber einen derartigen Zauber zu bannen, ist etwas anderes.“
„Könntest du es denn?“, fragte Siliah Rokar, ohne aber dabei aufzuhören, auf den Zauberwirker zu zielen.
Dieser nickte vorsichtig: „Ja – und vielleicht würde ich es sogar für euch tun.“
Alisan warf ihm einen ebenso wütenden wie erschrockenen Blick zu.
„Du würdest die Kugel für uns öffnen? Wieso?“, fragte Malgoth misstrauisch.
„Weil damit meine Ziele erreicht werden können. Ich will nur, dass die Silbertränen die Armschienen bekommen. Dürfte ich meinen Zauber wirken, ohne dass die Elfe mich gleich erschiesst?“
Malgoth überlegte. „Was meint ihr?“, fragte er die Anderen
„Ich bin dafür – er soll uns helfen“, meinte Gartret sofort.
„Ich kann noch lange so stehen – mir ist es egal“, befand Siliah.
„Einem Zauberwirker kann man nicht trauen – ich bin dagegen“, befand Kagor.
Malgoth verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere: „Ich hingegen, kann nicht mehr lange so stehen. Ich stimmte dafür.“
„Hat euer kleines Parlament also auf ‚Ja’ entschieden?“, fragte Rokar spöttisch.
„Wir nehmen dein Angebot an.“
„Dann werde ich jetzt ganz vorsichtig meinen Zauber wirken.“
Alisan ballte die Fäuste, doch Siliahs Bogen und Gartrets Armbrust verdammten ihn zum Nichtstun. „Elender Verräter!“, zischte er in Rokars Richtung, „ich hätte es wissen müssen! Du hast schon die Paladine hintergangen; mich auch noch zu betrügen wird dir da leicht fallen.“
„Still – ich muss mich konzentrieren!“, befahl Rokar. Der Zauberwirker schloss die Augen; ganz langsam schob er seine Hände nach vorne. Eine Art Lufthauch ging durch die das Gitter auf die andere Seite der Kammer.
„Eine Falle!“, rief Kagor, „er versucht in Wirklichkeit uns zu betrügen!“
Rokar öffnete die Augen: „Beruhige dich – grosser Krieger! Es ist alles in Ordnung; lass dem Zauber nur etwas Zeit.“
Plötzlich und ohne Vorwarnung fiel die silberne Kugel zu Boden. Kagor betrachtete sie kurz und verpasst ihr dann einen Säbelhieb. Sie zersprang in zwei Teile. Asche und Staub wirbelte auf. Der ehemalige Paladin bückte sich und nahm zwei Gegenstände aus der zerborstenen Kugel hervor.
„Die Armschienen!“, hauchte Gartret ehrfürchtig.
„Behalte lieber Alisan im Auge – unsere Beute kannst du später noch in Augenschein nehmen!“, empfahl Malgoth dringend.
„Sie fühlen sich richtig an“, gab Kagor bekannt, „nicht so wie die Fälschungen, welche wir im Tempel des Meeresgottes gefunden haben.“
„Sehr gut“, befand Malgoth, dann wandte er sich an Rokar, „und was jetzt.“
„Ganz einfach!“, meinte der Zauberwirker und hob beinahe vergnügt die Augenbrauen, „geht und kassiert die Belohnung! Die Silbertränen halten Ausschau nach mir in der Nähe des zerstörten Tempels gleich ausserhalb der Stadt. Wenn ihr statt ich oder Alisan mit den Armschienen anrücken werdet, dann wird die Belohnung eben euch gehören. Geht jetzt – mit Alisan werde ich schon irgendwie fertig.“
Die vier Diebe konnten ihr Glück kaum fassen. Vorsichtig zogen sie sich zurück. Der Meisterdieb und der Zauberwirker blieben hinter dem Gitter zurück; sie würden wohl einiges unter sich auszumachen haben.
In der Kathedrale der Mörder angelangt, nahm Malgoth den Schlüssel wieder hervor, der ihnen den Eintritt in das Gewölbe erlaubt hatte. Damit ging er zurück zu dem Grab, mit der Kinderleiche. Sorgfältig nahm er das Kettchen, welches fest mit dem Schlüssel verbunden war, und legte es wieder sorgfältig um den Hals des kleinen Leichnams. „So – jetzt müssen wir nur noch wieder diese Grabplatte darüber legen.“
Kagor und Siliah legten sofort Hand an – Gartret zögerte einen Moment, murmelte etwas wie: „wenn es denn sein muss…“ und half dann ebenfalls. Mit vereinten Kräften hievten sie die Platte wieder auf das Grab.
„So, nun können wir gehen“, meinte Malgoth.
Siliah zeigte auf den Handwagen, welcher vor dem Hauptportal stand: „Was machen wir mit Emalus?“
Malgoth zuckte nur mit den Schultern und ging an dem toten Sekretär von Vindara vorbei, ohne ihn auch nur mit einem Blick zu würdigen.
Draussen war es schon fast vollständig dunkel.
Der Paladinhauptmann vor der Kathedrale gab sich erst gar keine Mühe, seinen Spott zu verbergen. „Da seit ihr ja wieder! Muss eine lange Abdankungsfeier gewesen sein! Der Mann kann von Glück reden, so fromme Freunde in der Welt der Lebenden zurück gelassen zu haben.“
„Er ruht jetzt in der Kathedrale; dies ist das Mindeste, was wir für ihn tun konnten“, meinte Malgoth salbungsvoll.
Der Paladinhauptmann nahm sie genauer in Augenschein. Sein Blick schien die vier Diebe regelrecht zu durchdringen: „Ihr habt doch nichts in der Kathedrale beschädigt? Und aus einem der Gräber habt ihr auch nichts mitlaufen lassen – wie?“
„In der Kathedrale fehlt nichts und wir haben auch nichts zerstört“, antwortete Kagor mit fester Stimme.
Der Offizier der Paladine fixierte sie noch eine Weile mit seinen stechenden Augen, dann wandte er sich ab und meinte: „Sei’s drum; für heute reicht euer Geschick aus, um davon zu kommen. Obwohl ihr zweifellos Halunken seid, habt ihr schon wieder nicht gelogen. Aber wie wir alle wissen, ist dies nur eurem Scharfsinn und nicht eurer Ehrlichkeit zu verdanken. Als verschwindet und lasst euch von der Nacht verschlucken!“
Mit raschen Schritten machten sie sich davon.
„Zum Glück hat er uns nicht über die Gewölbe ausgefragt“, meinte Siliah, als sie sich ausser Hörweite befanden.
Gartret lachte: „Da haben wir sehr wohl etwas mitgehen lassen. Aber daran hat der gute Paladin eben nicht gedacht.“
„Wir sollten unverzüglich das Schattentürchen aufsuchen und uns vor die Tore der Stadt begeben“, empfahl Malgoth, „Es funktioniert doch in beide Richtungen – oder?“
„Beim letzten Mal hat es das jedenfalls“, antwortete Gartret.
Kagor machte ein missmutiges Gesicht: „Vielleicht sollten wir uns noch einmal beraten. Mir gefällt es nicht, dass die Silbertränen einmal mehr das bekommen, was sie wollen. Das sind tiefböse Wesen; wir wissen, dass sie Alisan aufgetragen haben, einen ganzen Trupp Paladine zu vergiften.“
„Hat jedenfalls Alisan gesagt“, schränkte Gartret ein. „Also ich jedenfalls finde, wir sollten jetzt nicht kopfscheu werden. Wir haben die zwanzigtausend Goldtaler so gut wie sicher! Dies ist nicht der Zeitpunkt, irgendetwas Verrücktes zu tun. Wir haben das grosse Los gezogen und müssen jetzt nur noch den Gewinn abholen!“
„Ist es verrückt, diesen Dämonenwesen zu misstrauen?“, fragte Kagor.
„Wir wissen ja gar nicht, was sie sind“, widersprach Gartret.
Nun lachte Siliah: „Also wie die netten Nachbarn von nebenan sehen sie nicht gerade aus!“
„Ich denke, wir haben unsere Entscheidung bereits getroffen“, meldete sich Malgoth zu Wort, „es bringt nichts, dieselbe Diskussion immer wieder zu führen.“
Gartret nickte: „Du hast es gehört – mein Grosser; wir haben eingewilligt, deinen kleinen Diebstahl auszuführen, der dir offenbar sehr am Herzen liegt. Im Gegenzug führen wir diesen Auftrag für die Silbertränen zu Ende – wie besprochen.“
Es war kein Problem, das Schattentürchen auch von der anderen Seite her zu aktivieren.
Gartret warf zehn Goldtaler gegen die Wand, die verschluckt wurden; dann war der Weg frei. Danach hatten sie nicht mehr weit zu gehen und sie standen vor den Trümmern des Muscheltempels vor der Stadt.
Es war bereits die Nacht hereingebrochen. Ausser ihnen war kein Mensch zu sehen. Sie begannen zu warten.
„Und was jetzt?“, fragte Siliah, „es ist niemand hier.“
Kagor nahm die silbernen Armschienen aus seinem Gepäck. Gartret ging zu ihm hin und strich über das blank polierte Material. „Sie senden diese Vibration und Wärme aus; ganz wie der Helm in Kulmina und die Beinschienen in Vindara; es scheint also alles richtig zu sein.“
„Dort vorne bewegt sich etwas“, liess Siliah die Anderen wissen und deutete auf den Rand eines kleinen Wäldchens, welches zwischen der Stadtmauer und dem umliegenden Sumpf lag.
„Ich sehe überhaupt nichts – es ist zu dunkel“, meinte Gartret dagegen.
„Lasst uns hingehen und nachschauen“, meinte Malgoth, „hier weiter herumzustehen bringt nichts.“
Sie gingen zu dem Wäldchen hin; der Boden war wegen des nahen Sumpfes schon recht feucht und morastig. Mehrere Male sank besonders der schwere Kagor bis zu den Knöcheln ein.
„Wir haben es gleich geschafft“, meinte Siliah, die sich zwar selber leichtfüssig über den schlammigen Untergrund bewegen konnte, aber mit etwas Sorge die Schwierigkeiten ihrer Kumpane mitverfolgte.
„Jetzt sehe ich es auch“, verkündete Gartret, „da, hinter den ersten Baumreihen bewegt sich etwas Grosses.“
„Etwas Grosses?“, fragte Malgoth irritiert, „möglicherweise sind es gar nicht die Silbertränen.“
„Vielleicht doch“, meinte Siliah, ohne weiter darauf einzugehen.
Der Boden in der Nähe des Wäldchens war wieder etwas fester. Sie konnten den letzten Teil der Strecke deutlich schneller zurücklegen.
„Ein grosses, silbrig glänzendes Ding – was ist das?“, fragte Malgoth erstaunt.
Kagor zog seinen Säbel: „Es sieht auf alle Fälle sehr gefährlich aus.“
Als sie die erste Baumreihe hinter sich gelassen hatten, sahen sie drei Gestalten. Sie trugen allesamt schwarze, samtene Umhänge mit Kapuzen. Und sie alle verbargen ihre Gesichter – sofern sie denn welche besassen – hinter silbernen Masken. Doch hinter den Silbertränen erhob sich noch etwas Anderes; etwas, dass sie noch nie zuvor gesehen hatten: Es schien eine Art von sehr grossem Tier zu sein; es stand halb aufrecht, halb auf allen vieren. Der Kopf trug teilweise menschliche Züge; der Gesichtsausdruck wirkte aber wie eingefroren und war zudem von einer seltsamen Unfertigkeit geprägt. Es war, als sei dieses Ding eine bizarre Nachäffung eines Menschen in Tiergestalt; uns es war gross – fast doppelt so hoch wie ein Mann. Das Auffälligste war aber, dass der Körper dieses Dings ganz aus Silber gefertigt schien. Dennoch bewegte es sich und sie glaubten, einen rasselnden Atem zu hören, der aus den grossen Nüstern drang.
„Seid vorsichtig!“, mahnte Malgoth die Anderen, „ich glaube, ich weiss, womit wir es zu tun haben: Dieses Monstrum ist ein belebtes Objekt; es gehorcht seinen Meistern aufs Wort. Das ist eigentlich eine Magie, die es schon lange nicht mehr gibt.“
Gartret sprach die Silbertränen mit lauten Worten an: „Wir haben die Armschienen – wie ihr es gewollt habt!“, Dann wandte er sich um uns sagte bedeutend leiser: „Kagor – zeig sie ihnen doch.“
Kagor nahm widerwillig die silbernen Artefakte hervor und präsentierte sie den Silbertränen.
„Damit haben wir unseren Teil der Abmachung erfüllt“, bekräftigte Malgoth, „nun bitten wir um euren Teil.“
Eine ganze Weile geschah nichts und Malgoth wollte sich schon mit den Anderen beratschlagen, was jetzt zu tun sei. Da traten die drei schwarzgewandeten Gestalten plötzlich lautlos beiseite. Das silberne Monstrum – welches sich bis dahin nur leicht Hin und Her bewegt hatte – erwachte plötzlich zum Leben. Es richtete sich auf und zeigte seine ganze bedrohliche Grösse. Dann nahm es etwas in die grosse, vierfingrige Hand, welches hinter ihm gelegen hatte.
„Das gefällt mir nicht – das gefällt mir ganz und gar nicht…“, flüsterte Malgoth und wich einen Schritt zurück.
Siliah legte ihre Hand an den Bogen, welche auf ihrem Rücken festgeschnallt war, doch sie zögerte noch, ihn nach vorne zu nehmen.
Das silberne Ding machte rasch zwei etwas unbeholfene Schritte; jedes Mal, wenn es mit einem seiner Füsse auftrat, ging eine Erschütterung durch den Waldboden. Dann schoss die Hand des silbernen Monstrums nach vorne; Etwas fiel vor den vier Dieben zu Boden. Es war ein grosser Sack.
Gartret ging sofort hin, obwohl er dafür ganz nahe an das silberne Ding heran musste, welches jetzt still verharrte.
„Es ist das Geld!“, verkündete er mit leuchtenden Augen, „wir sind endlich am Ziel unserer Träume!“ Er hob den Sack auf, was ihn grosse Mühe kostete und trug ihn zurück zu den drei Anderen. Jetzt nahm Malgoth die silbernen Armschienen von Kagor entgegen, trat vor das belebte Objekt und legte sie diesem vor die Füsse. Rasch zog er sich wieder zurück. Das silberne Ding beugte sich nieder und nahm die Armschienen an sich.
„Damit wäre alles erledigt“, meinte Malgoth erleichtert, „lasst uns gehen.“
„Vielleicht haben sie noch mehr Aufträge für uns“, meinte Gartret.
Siliah schüttelte den Kopf: „Wir haben unser Glück schon lange genug herausgefordert. Wir sollten uns mit dem zufrieden geben, was wir erreicht haben. Es gibt es bestimmt sympathischere Auftragsgeber…“
„Siliah hat recht“, meinte auch Malgoth, „es ist für uns wider Erwarten gut ausgegangen. Lassen wir es dabei bewenden.“ Er drehte sich um und wollte sich bereits entfernen, da richtete Kagor das Wort an die Silbertränen: „Sagt mir eines: Wieso habt ihr die Paladine umbringen lassen?“
„Kagor – hör’ sofort auf! Das kann unmöglich gut gehen!“, zischte Malgoth zwischen geschlossenen Zähnen hervor.
Doch der ehemalige Paladin dachte gar nicht daran: „Ich muss es wissen – wieso mussten all diese tapferen Krieger sterben?“
Eine der Silbertränen hob die Hand und begann mit seiner seltsamen Stimme zu sprechen, die aus den Stimmen vieler gleichzeitig sprechender Menschen zusammengesetzt schien: „Unsere Feinde müssen fallen! Wer sich gegen uns erhebt, der wird unweigerlich zugrunde gehen!“
Kagor liess nicht locker: „Aber das ist kein Kampf gewesen, sondern feiger Mord! Wir wissen, dass ihr Alisan dazu angestiftet habt, die Paladine durch Gift zu töten!
„Nicht alle starben durch Gift – einige wurden auch von uns selbst vernichtet. Die Trümmer des Tempels unweit von hier zeigen die Wut, mit der wir Seinen Feinden nach dem Leben trachten.“
„Dann habt ihr also den Tempel des Meeresgottes zerstört?“, fragte Siliah überrascht.
„Und den Verräter Atamirenses, der sich in ihm befand. Jene, die uns in eine Falle locken wollten, starben selbst in ihr.“
Die vier Diebe waren einen Moment zu überrascht, um zu antworten. Dass sich ihr alter Auftragsgeber Atamirenses in dem Muscheltempel befunden hatte, als dieser zerstört worden war, erstaunte sie sehr. Auch wussten sie jetzt, dass die Silbertränen den Tempel des Marmorides zerstört hatten; ein Wissen, auf das sie gerne verzichtete hätten. Mulgan, der Hohepriester des Meeresgottes und seine deutlichen Drohungen kamen ihnen wieder in den Sinn.
Kagor hob drohend seinen Säbel: „Ihr habt die Paladine getötet, einen Tempel zerstört und unseren alten Freund getötet? Ich kann euch gar nicht sagen, wie gross meine Verachtung für euch sinistre Gestalten ist! Wieso versteckt ihr euch hinter diesem Masken? Zeigt euch! Ich will in eure verderbten Augen schauen und die Bosheit darin sehen!“
Malgoth versuchte den Hünen wegzudrängen: „Bist du verrückt! Wegen dir werden wir alle den Tod finden!“ Doch Kagor blieb einfach stehen.
Das belebte Objekt aus Silber erwachte wieder aus seiner Erstarrung, es machte ein Schritt auf sie zu.
Gartret stöhnte: „Es war ja auch zu schön um wahr zu sein… Na, jedenfalls werde ich als reicher Mann sterben.“
Doch das monströse Ding kam nicht näher heran. Stattdessen begann die eine Silberträne wieder zu sprechen: „So beglückt wir über eure Arbeit sind, so enttäuscht sind wir von eurer Rede. Solche Worte rufen nach harter Strafe! Doch vorerst empfangt dies hier.“ Die Silberträne griff in eine Tasche ihres Umhangs und zog eine Münze hervor. Diese warf sie zu den vier Dieben hinüber. Dann hob sie und die anderen beiden Maskenträger ihre Arme. Augenblicklich schoss Nebel aus dem Waldboden und umhüllte die Silbertränen und schliesslich auch das belebte Objekt. Gartret, Malgoth, Siliah und Kagor wichen vor der Nebelwand zurück, die immer höher in den Nachthimmel wuchs.
„Weg hier – sonst werden wir verschlungen!“, rief Gartret und wollte sich eben davonmachen. Doch dann gab es einen lauten Knall und eine Druckwelle traf sie; sie wurden zu Boden geschleudert. Und als sie wieder aufsahen, waren die Silbertränen und das silberne Monstrum verschwunden.
Gartret rappelte sich auf und schaute sich um. Bald entdeckte er die Münze, die die Silberträne zu ihnen hinübergeworfen hatte. Er hob sie auf und betrachtete sie: Ein kleiner, kläglicher Körper war darauf abgebildet, durchbohrt von sieben Dolchen. Was immer dieses Symbol bedeutete – es war bestimmt nichts Gutes.
15. Kapitel: Kagors Diebstahl
Sie hatte den Stein verlassen – welcher sozusagen die Stätte ihrer Geburt war – und wanderte jetzt durch die Ebene.
Sie war gegangen, ohne den Kuratoren – und auch nicht Talmara – Worte des Abschieds zu hinterlassen; jetzt empfand sie dies als Mangel – schliesslich hatte sie unter ihrer fürsorglichen Obhut eine schwierige Zeit durchlaufen. Doch es war nun nicht mehr zu ändern.
Die Dunkelheit bereitete ihr keine Probleme; als Elfe sah sie auch jetzt noch genügend.
Etwas war seltsam, und sie bemerkte es erst nach einiger Zeit: Obwohl die Ebene völlig frei begehbar war, ging sie nicht auf einer geraden Strecke. Vielmehr machte sie unwillkürlich Umwege und ging oft einen Bogen ohne erkennbaren Grund. Es fühlte sich richtig an, ohne dass sie sagen konnte weshalb. Schliesslich blieb sie stehen und besann sich; sie wollte dem Rätsel auf den Grund gehen. Als sie auf den Boden vor ihren Füssen blickte, schien sie für einen Sekundenbruchteil so etwas wie einen Weg vor sich zu erblicken. Und dann, als sie wieder aufschaute, sah sie die schemenhaften Umrisse von Bäumen, welche die ganz Ebene bedeckten. Sie kannte diese Gegend, auch wenn es hier früher ganz anders ausgesehen hatte. Diese war das Land der Elfen gewesen. Gleich mehrere Clans hatten in der Nähe des Steins gelebt. Der Stein, an dessen Oberfläche sich jetzt die Menschenstadt Kulmina befand, war ihr Heiligtum gewesen; gut beschützt von den mächtigsten Kriegern ihres Volkes. Der Wald hatte ihnen alles gegeben, was sie zum Leben brauchten. Das Land war von kleinen Bächen durchzogen gewesen, die kühles Wasser gespendet hatten. Beeren und Nüsse hatten für die genügsamen Elfen meist ausgereicht. Nur in Zeiten der Not hatten die Elfen ein wenig Wild des Waldes erlegt, welches sonst den Schutz des Elfenvolkes genoss.
Ihr Blick in die Vergangenheit schwand und bald sah sie nur noch eine karge Ebene, welche heute das einstige Land der Elfen bedeckte. Was war geschehen? Wo waren die Gesänge der Clans, wo der Wald und die kleinen Bäche?
Das Land war in ihren Augen verheert und geschändet. Doch wer hatte dies getan?
Plötzlich war sie sich sicher: Dies war der Grund, weshalb sie im Innersten des Steins wiedergeboren worden war: Ihr ausgerottetes Volk musste gerächt werden! Ein lodernder Hass erfüllte sie. Sie würde nicht eher ruhen, bis alle, die für diesen Mord verantwortlich waren, zur Strecke gebracht waren!
Am Liebsten hätte sie gleich mit den wenigen Bauern und Viehzüchtern angefangen, die diese Ebene bewohnten. Aber eine innere Stimme hielt sie zurück. Sie musste die Sache anders angehen. Erst musste sie mehr über den Zustand der Welt in Erfahrung bringen, die sie kaum kannte. Sie war in eine unbekannte Zukunft geschleudert worden. Es galt die Schritte einstweilen mit Bedacht zu wählen.
Bald hatte sie die Ebene verlassen. Nun folgten einige eng aneinander liegende Hügel, welche von engen Tälern unterteilt wurden. Nebel lag hier.
Obwohl es noch immer Nacht war und sie wegen des Nebels jetzt kaum mehr sehen konnte, lenkten sie ihre Schritte sehr sicher. Dies war einst ihre Heimat gewesen; hier, bei den Hügeln nahe dem Wald hatte sie einst gelebt. Sie erinnerte sich, wie manchmal Elfen das Clanland verlassen und ihre Wohnstatt aufgesucht hatten, welches einst im inneren eines riesigen toten Baumes lag.
Man hatte dies nur getan, wenn es sich nicht vermeiden liess, denn sie galt als eine gefährliche Aussenseiterin.
Ein Geräusch riss sie aus ihrer Erinnerung. Dort vorne, hinter der nächsten Biegung des Weges, versteckten sich Wesen. Sie zögerte nicht und ging näher.
Mehrere Gestalten kamen aus ihren Verstecken gesprungen. Viele trugen Messer und Knüppel. Einige waren verletzt; sie schienen kürzlich in einem Kampf den Kürzeren gezogen zu haben.
„Gib sofort alles, was du besitzt – sofort!“, brüllte ein Mann in der Menschensprache.
„Ihr verlasst sofort meine Heimat und kehrt nie wieder zurück“, erwiderte die Elfe ruhig.
Und als sie die Räuber nur starr vor Staunen anblickten, fuhr sie fort: „Hier, gleich auf diesem Hügel, hat mein Haus gestanden; an diesem Ort habe ich den Elfen Beistand gespendet, die den Mut gehabt hatten, zu mir zu kommen. Noch heute sehe ich das Haus, welches ein grosser Urbaum war, der noch vor meiner Geburt sein Leben ausgehaucht hatte. Ich sehe, wie sich seine leblosen Zweige weit in den Himmel recken und sein morscher Leib die Wände für mein Heim bilden.“
„Was beim Dämon redest du da? Hier lebt niemand! Keiner ist hier um dir zu helfen!“
„Ich brauche keine Hilfe. Ich kann meine Heimat alleine verteidigen.“
Der vorderste der Banditen hob drohend seinen Knüppel: „Ich werde dir deinen kranken Kopf abschlagen!“
Doch bevor die Waffe sie traf, zersplitterte sie in tausend Teile, als bestünde sie aus fragilem Glas. Dann ging ein Donnergrollen durch den Boden. Die Erde begann zu beben. Die Banditen versuchten sich auf den Beinen zu halten, doch vergeblich. Die Waffen fielen ihnen aus den Händen. Auf allen Vieren kriechend versuchten sie verzweifelt, sich an Grasbüscheln und grösseren Steinen festzuhalten. Plötzlich ging ein Krachen durch den Grund; Spalten öffneten sich; und diese gingen direkt unter den hilflosen Wegelagerern auf. Schreiend versuchten sich diese an den Rändern der Klüfte festzuhalten. Aber der noch immer stark schwankende Boden machte es ihnen unmöglich. Hilflos um sich greifend und vergeblich schreiend fielen sie in die Tiefe. Augenblicklich verschlossen sich die Spalten wieder und die Erde kam zur Ruhe. Alles schien wie zuvor; nur die Banditen waren verschwunden – es war, als hätte es sie nie gegeben.
Anra - dies war in ihrem früheren Leben ihr Name gewesen; wie ein schwarzes Tuch, welches über ihrem Kopf weggezogen wurde, hatte sie diese Erkenntnis ereilt. Sie war eine der sieben Schwestern gewesen – unberechenbare Hexerinnen welche einst am Rande des Elfenlandes lebten. Ihre sechs Schwestern waren alle im Kampf gefallen, nur sie hatte sich durch die Zeit in die Zukunft retten können. Nun war sie wieder da und von einem neuem Leben beseelt.
Anra fühlte die Kraft der Natur und der Erde durch ihre Adern fliessen. Noch immer konnte sie sich nicht genau erinnern, wer oder was das Elfenland auf diese Weise verheert hatte. Aber sie würde es herausfinden. Das Wissen ihrer früherer Menschenhülle – dieser Kuratorin Bezarze – würde ihr dabei von Nutzem sein.
Die Hexerin hatte ihre ersten Gegner bereits besiegt. Aber ihr Rachefeldzug hatte eben erst begonnen.
*****
Tief unten, noch unter den gewöhnlichen Gewölben der Kathedrale der Mörder, war bis vor kurzem über Jahrhunderte keine Menschenseele anzutreffen gewesen. Doch nun blieben gleich Zwei eine ganze Weile dort: Rokar und Alisan standen sich schon lange gegenüber. Jede Möglichkeit der Einigung zwischen ihnen war verbaut – das wussten sie. In Wirklichkeit hatten sie nie zusammengearbeitet; jeder hatte nur seine eigenen Interessen verfolgt. Nun war die ohnehin brüchige Allianz einer offenen Feindschaft gewichen.
Rokar sandte dem Meisterdieb ein spöttisches Lächeln zu: „Na, wie fühlt es sich an, gleich gegen einen Zauberwirker antreten zu müssen? Du weisst, dass du nicht gewinnen kannst.“
Alisan entspannte ganz langsam seine Armbrust und schnallte sie auf seinen Rücken: „Ich kann zwar keine mächtigen Zauber wirken, aber dennoch bin ich nicht zu unterschätzen. Und eines kann ich dir sagen: Ich hasse Verräter, und ich werde gewiss nicht von der Hand eines solchen fallen.“
„Ich bin gespannt wie du das vermeiden willst. Leichtmachen werde ich es dir jedenfalls nicht.“
Alisan lachte plötzlich heiser auf – ob aus Spott oder aus Verzweiflung, blieb ungewiss: „Die Überheblichkeit war stets die Schwäche von euch Zauberwirkern! Ich bin zwar alt, aber ich habe noch Einiges vor. Mit Emalus, meinem früheren Peiniger aus Vindara, habe ich bereits abgerechnet. Und wenn du mir nicht dazwischengefunkt hättest, dann wären heute meine ehemaligen Schüler an der Reihe gewesen. Ich schätze, damit hast du dich auf die Liste meiner Feinde gesetzt. Früher oder später werde ich auch dich kriegen.“
„Du bist ein tapferer Mann – Alisan. Auch wenn ich nicht weiss, ob deine Worte vielleicht nicht ehrgeiziger sind als es dein Taten sein werden. Es hätte nicht viel gefehlt, und dies hätte einen anderen Ausgang genommen. Dann hättest du die zwanzigtausend Goldtaler kassiert und dich vielleicht an deinen Schülern rächen können. Mir war aber nur wichtig, dass die Silbertränen die Armschienen unbeschädigt bekommen. Ein Kampf gegen deine Schüler schien mir daher zu riskant. Nun habe ich meine Ziele erreicht und du bist leer ausgegangen. Mit diesem bitteren Gedanken wirst du ins Jenseits übergehen müssen.“ Rokar hob die Hände und begann seinen Zauber zu sprechen. Doch Alisan war schneller; blitzschnell griff er in seine Jackentasche und zog eine kleine, papierumhüllte Kugel hervor. Diese warf er auf den Boden. Ein gleissend helles Licht brandete in der Kammer auf. Rokar musste seinen Zauber abbrechen und seinen Blick für einen Moment abwenden. Als er wieder hinschaute, war Alisan verschwunden.
Eine Verfolgung des Meisterdiebs war zwecklos, dies wusste der Zauberwirker.
Als sich seine Wut abgeschwächt hatte, musste Rokar lächeln; Alisan hatte recht gehabt: Überheblichkeit war manchmal ein Problem der Zauberwirker. Aber es spielte keine Rolle, was der Meisterdieb jetzt tun würde. Und seinen Rachedurst musste er an seinen Schülern auslassen. Bald würde es den Rokar, so wie er bislang existierte, in dieser Form nicht mehr geben. Der Zauberwirker hatte seine Entscheidung getroffen: Es wurde Zeit, den letzten Schritt zu tun und sich den Silbertränen anzuschliessen.
*****
Jemand schüttelte Malgoth an den Schultern. Langsam öffnete der Zwerg seine Augen und richtete sich schlaftrunken halb auf. „Was ist denn?“
„Gartret ist verschwunden – mit dem Geld“, gab Siliah bekannt.
Sofort war Malgoth auf den Beinen: „Dieser Schuft!“
Kagor sass in einer Ecke: „Es ist meine Schuld – ich habe nicht richtig aufgepasst. Ihr habt mir das Geld zur Verwahrung überlassen – ich habe versagt.“
Siliah schüttelte den Kopf: „Wenn, dann war es meine Schuld. Ich war zulange draussen vor der Gaststätte. Ihr wisst, ich bin nicht so gerne im Inneren von Gebäuden. Gartret hat meine Abwesenheit ausgenutzt. Ich hätte den Diebstahl gewiss bemerkt; dies wusste er.“
Malgoth zog eiligst seine Stiefel an: „Er kann nicht weit gekommen sein – der Sack mit dem Geld war ungeheuer schwer. Selbst Kagor hatte Mühe, ihn über eine längere Strecke zu tragen.“
„Ich glaube, du irrst dich“, erwiderte Siliah, „ich habe unten im Stall das Wiehern eines Pferdes gehört; ich glaube, jemand hat sich dem Tier unbefugt genähert. Ich habe dem keine Beachtung geschenkt, weil ich dachte, dass es uns nichts angehe. Ein Fehler.“
Malgoth liess seine Stiefel halb angezogen an den Füssen stecken und warf sich stöhnend nach hinten aufs Bett: „Dann ist er über alle Berge; und dies erst noch in einer Stadt, wo er sich auskennt wie in seiner Westenstasche.“
„Gartret hat schon immer andere Wege beschritten als ich“, meinte Kagor, während er betrübt zu Boden blickte, „aber das hätte ich nie von ihm gedacht.“
„Ein grosser Haufen Geld holt nicht gerade das Beste aus euch Menschen heraus“, sinnierte Siliah, dann schaute die Elfe auf den Boden des Zimmers: „Er war sehr gründlich und hat nur diese silberne Münze zurückgelassen, welche diesen zerstochenen Körper zeigt – der Rest ist weg.“
„Mitten in der Nacht werden wir bestimmt nichts erreichen können“, meinte Malgoth trübselig, „wir müssen wenigstens bis morgen warten; und auch dann stehen unsere Chancen nicht sehr gut.“
Schweigend sassen sie nebeneinander da und warteten auf den nächsten Tag. Endlich, nach quälend langen Stunden, zeigte fahles Licht im Osten den Anbruch des neuen Tages an.
„Und was jetzt?“, fragte Siliah.
Malgoth dachte nach: „Vielleicht finden wir den Mann vom Theater; denjenigen, der von Gartret bestohlen worden ist.“
Siliah war skeptisch: „Du meinst diesen blonden Kerl, der uns in der Nähe des Südhafens auf offener Strasse angehalten hat? Er hiess Tibor – soviel ich noch weiss. Aber er ist schon von Jahren ausgeraubt worden; wenn er Gartret hätte finden können, dann hätte er es gewiss getan.“
„Das stimmt leider“, warf Kagor ein, „aber dennoch sollten wir nicht aufgeben. Vielleicht könnten wir die Paladine um Hilfe bitten.“
Siliah stand auf und machte ein entnervtes Gesicht: „Die Paladine? Hallo – Kagor! Wir sind Diebe – schon vergessen?“
Der Hüne schüttelte den Kopf: „Nein – wie könnte ich das vergessen? Aber es stimmt: in der unserer Situation können wir nicht auf die Paladine zählen; sie sind nicht dazu da, Leuten wie uns zu helfen.“
„Wir sollten erstmal die Gaststätte verlassen“, meinte Malgoth, der sich endlich etwas aus seiner Trübseligkeit aufgerafft hatte. „Wahrscheinlich hat Gartret gestern hier noch ein Pferd gestohlen. Wenn wir hier bleiben, dann werden wahrscheinlich die Paladine auftauchen. Dann werden sie die Gäste befragen; also auch uns. Dies sollten wir unbedingt vermeiden.“
Sie packten ihre Sachen zusammen und wollten eben ihr Gemeinschaftszimmer verlassen, da machte ihnen Siliah plötzlich ein Zeichen, dass sie sich ruhig verhalten sollten. „Da kommt jemand, er hat das Treppenhaus bei unserem Stockwerk verlassen“, flüsterte die Elfe.
„Vielleicht nur ein Zufall – es gibt schliesslich noch andere Gäste hier“, flüsterte Malgoth zurück.
Siliah verneinte: „Das glaube ich kaum; es ist ein Mann und er geht sehr schwer. Ich höre auch Metallstücke gegeneinander reiben. Vermutlich trägt er so etwas wie eine Rüstung.“
*****
Gartet ritt durch die nächtlichen Strassen von Mandakir. Er kannte hier jede Strasse und jeden Winkel.
Die Gebäude waren wie fast überall solide und wuchtig gebaut – aber sie wirkten in jetzt in der Nacht hart, grau und abweisend; beinahe wie steinerne Kolosse, dich sich drohend über ihn gebeugt hatten
Kein Mensch war zu dieser Stunde unterwegs - nur da und dort brannte noch Licht hinter einem Fenster und warf kleine Abschnitte der Helligkeit auf das Kopfsteinpflaster, welches ansonsten ganz ins nächtliche Dunkel gehüllt war.
Trotz seiner Grösse war Mandakir nach Sonnenuntergang in weiten Gebieten ein trostloser Ort.
Unwahrscheinlich das die Anderen ihn würden verfolgen, geschweige den finden würden. Es war also alles gut gegangen und er war endlich ein begüterter Mann geworden. Aber er war auch alleine hier in seiner Heimatstadt, die ihm mit einem Male fremd und feindselig vorkam.
Gartret hatte das ungute Gefühl, sich falsch entschieden zu haben.
Er hatte seinen eigenen Vorteil gesucht und dabei nur wenig Skrupel gezeigt - so wie er es immer tat.
Wie viele Male hatte er auch schon Leute betrogen und bestohlen, denen er eigentlich nahe stand? Das Leben war ein Kampf und wer sich der Gefühlsduselei hingab, der war selber schuld. Die Diebesbande hatte alles in allen ganz gut funktioniert - nun hatten sie den ganz grossen Fisch an Land gezogen; Zeit also, sich vom Acker zu machen.
Mit diesen und ähnlichen Gedanken versuchte Gartret sich zu überzeugen.
Aber es fühlte sich nicht richtig an - etwas hatte sich verändert.
Er hielt sein Pferd an - er presste die Lippen aufeinander und drückte die Zügel in seinen Fäusten zusammen, bis ihm die ledernen Riemen fast ins Fleisch schnitten.
Was war bloss los mit ihm?
Er focht einen Kampf mit sich selbst aus. Bilder kamen ihn ihm hoch: seine Freunde, die er bestohlen und verlassen hatte, das Theater, welches er ebenfalls beraubt hatte, Vindros, der ihm trotzdem tröstende Worte zusprach.
War er wirklich mit niemanden verbunden und niemandem verpflichtet? War es gesund und möglich, das Leben ganz alleine zu leben?
Endlich begann er sich wieder zu entspannen. 'Jetzt nur nicht die Nerven verlieren', vor allem durfte er nicht einfach hier stehen bleiben - er wollte ja nicht am Ende noch von einem Trupp Paladine aufgegriffen werden.
Gartret nahm seinen Ritt wieder auf - doch er wählte eine andere Richtung als die, welche er ursprünglich geplant hatte.
*****
Kagor zog langsam und vorsichtig seinen Säbel aus der Scheide. Gerade als er dies getan hatte, wurde die Türfalle nach unten gedrückt und die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Als sich weiter nichts tat, ging Kagor zwei schleichende Schritt an die Tür heran. Dann fasste er mit einer plötzlichen Bewegung durch den Spalt; auf der anderen Seite ertönte ein unterdrückter Schmerzensschrei. Als Kagor seine Hand wieder zurückzog, hielt er einen Mann am Kragen gepackt. Und dieser Mann war Gartret. Er hatte den schweren Geldsack auf seinen Rücken geschnürt.
„Gartret – du verdammter Schuft!“, entfuhr es Malgoth, „wo zum Dämon hast du gesteckt?“
Der ehemalige Schauspieler versuchte Kagors Griff abzuschütteln – vergeblich: „Würdest du mich netterweise freigeben? Was du mit mir tust, ist nicht gerade freundlich.“
Kagor schüttelte den Kopf: „Vorerst halte ich dich lieber fest.“
„Was habt ihr denn alle? Ich bin wieder hier; und das Geld ebenso – jedenfalls euer Anteil.“
„Was hat das nun zu bedeuten?“, fragte Siliah streng.
„Fünzehntausend sind in dem Sack da drin“, er deutete auf seinen Rücken, „Ich würde ihn auch losschnallen, wenn es unser tapferer Krieger erlauben würde…“
Kagor liess ihn los und Gartret hatte den schweren Geldsack bald abgeschnallt. Mit einem schweren, dumpfen Aufschlag glitt er zu Boden. Malgoth zog am dem Sack: „Dem Gewicht nach könnte es etwa stimmen.“ Dann öffnete er ihn: „Und Goldtaler sind tatsächlich drin.“
„Was glaubst du denn“, fragte Gartret empört, „meinst etwa, ich hätte Eisenstücke eingefüllt?“
„Das Vertrauen in dich hat in den letzten Stunden etwas gelitten – Gartret“, erwiderte Siliah eisig.
Malgoth schaute auf: „Also gut – das Geld ist wieder da. Und mit deinem Anteil kannst du machen was du willst. Aber was sollte das Ganze? Was hast du die Nacht über angestellt?“
„Er hat uns wohl bestehlen wollen“, meinte Siliah, „und dann hat ihn das schlechte Gewissen eingeholt.“
Gartret warf der Elfe einen feindseligen Blick zu – sie schien einen wunden Punkt getroffen zu haben. „Ich war beschäftigt – weiter nichts. Und euer Misstrauen habe ich nicht verdient.“
„Bitte beantworte Malgoths Frage“, forderte Kagor in entschiedenem Tonfall.
Gartret stöhnte: „Na gut – ich bin wieder in der Bibliothek am Hafen gewesen. Da habe ich mir das Buch Vindros zurückgeholt. Er hat zu mir gesprochen – ich habe seine Stimme hören können. Danach ich noch etwas zu erledigen; aber darüber will ich nicht sprechen.“
„Wenigsten für etwas sind die Religionen gut: Manche Schufte dieser Welt werden ein klein weniger besser“, meinte Siliah dazu.
„Dann haben wir also deine Rückkehr vermutlich Vindros zu verdanken. Doch wieso hast du deinen Anteil aus dem Sack genommen?“, wollte Kagor wissen.
„Ich habe ihn fast vollständig ausgegeben - nur noch tausend Goldtaler habe ich übrig.“
„Du hast viertausend Goldtaler ausgegeben?“, wunderte sich Malgoth, „in einer Nacht?“
„Ja – es ist schliesslich mein Geld!“, erwiderte Gartret gereizt.
„Das stimmt“, bestätigte Kagor, „doch nur aus Neugierde: Hat das Ausgeben der viertausend Goldtaler auch etwas mit Vindros Eingebung zu tun?“
„Vielleicht ist das so“, erwiderte Gartret wage, „aber darüber will ich wirklich nicht sprechen.“
Malgoth überlegte kurz, dann meinte er: „Vielleicht sollten wir den ganzen Vorfall einfach auf sich beruhen lassen. Am Besten, wir machen weiter wie geplant. Wir haben versprochen, Kagor bei seinem Diebstahl zu helfen; und genau dies sollten wir jetzt tun.“
„Einverstanden“, meinte Siliah, „aber von jetzt an werde ich stets ein Auge auf dich haben – Gartret. Und solltest du wieder einmal unser Geld in die Nacht hinaustragen, dann wir dir ein Pfeil zwischen deinen Rippen sicher sein.“
Gartret blickte nur zu Boden und liess diese Drohung unbeantwortet.
Das prächtige Anwesen befand sich auf einer kleinen Anhöhe mitten in der Stadt. An den gegenüberliegenden Enden eines grossen Satteldaches erhoben sich zwei geduckte Türme. Eine Mauer, welche mit Zinnen bestückt war, umgab das Anwesen. Doch jedem Betrachter war sofort klar: sowohl die zinnenbewehrte Mauer wie auch die Türme dienten mehr zur Zierde als zum Schutz. Die grossen Fenster und die vielen Kamine des Hauses zeigten deutlich – hier wurde vor allem gut gelebt. Der militärische Wert des Anwesens war gering.
Dennoch war das unbemerkte Eindringen hier nicht ganz einfach. Die vier dunkelgekleideten Gestalten überwanden zuerst die Mauer. Aus einer schweren Armbrust wurde ein Enterhaken abgefeuert, der in den engen Räumen zwischen den Zinnen sicher Halt fand. Die Vier kletterten die Mauer hoch, überschauten von dort die Lage, und seilten sich dann auf der anderen Seite wieder ab. Dann eilten sie im Schutze der Dunkelheit über den Hof und machten sich an einem der grossen Fenster zu schaffen. Schliesslich wurde ein ganzer Fensterflügel aus der Fassung gelöst und von dem Grössten der Vier ohne ein Geräusch herausgenommen und auf dem Boden abgestellt. Nun war der Weg in das Hauptgebäude frei.
Drinnen war es dunkel. Sie befanden sich in einem kleinen Raum, der nur kärglich ausgestattet war. In einer Ecke stand ein Waschzuber und an einem der Wände ein klobiger Kleiderschrank. Vermutlich war dieser Raum dazu da, der Dienerschaft die Gelegenheit zu geben, sich frisch zu machen.
Die einzige Tür zu dem Raum war verschlossen, doch Gartret hatte das Problem rasch gelöst.
„Was denkst du? Wo müssen wir hin?“, fragte Malgoth leise in Kagors Richtung.
„Nach oben“, meinte Dieser bestimmt.
„Was sollen wir hier eigentlich stehlen?“, fragte Siliah.
„Eine Brosche.“
Gartret drehte sich zu Kagor um: „Nur eine Brosche? Und dafür bist du ein Dieb geworden?“
Kagor nickte: „Nur eine Brosche – um mehr geht es hier nicht.“
Sie gelangten durch die Tür in einen breiten Gang, welcher mit einem schweren dunklen Teppich ausgelegt war. Dieser führte sie zu zwei ausladenden Treppenaufgängen, die sich jeweils nach einem eleganten Halbkreis etwas weiter oben zu einem gemeinsamen Podest vereinigten.
„Dieser Mann muss sehr begütert sein“, vermutete Siliah flüsternd.
Kagor schüttelte den Kopf: „Dieses Anwesen wird ihm zur Verfügung gestellt.“
Malgoth wollte sich eben auf eine der Treppenaufgänge begeben, da wurde er von Siliah zurückgehalten: „Da sind feine Drähte befestigt – bestimmt wird Etwas ausgelöst, wenn man über die stolpert.“
„Tatsächlich – deine Elfenaugen haben wieder Mal recht“, bestätigte Gartret und machte sich gleich an die Arbeit. Bald war das Hindernis aus dem Weg geräumt: „So – die Treppe ist frei.“
Im oberen Stockwerk stiessen sie auf beinahe denselben Gang wie unten. Nur hingen hier viele Waffen an den Wänden, manche sahen in der Dunkelheit sehr exotisch aus.
Verschiedene Türen zweigten ab. Bei einer von ihnen blieb Kagor stehen. „Hier müsste es sein.“
Gartret nahm die Tür in Augenschein. „Das ist seltsam“, meinte er bald, „die Tür hat keinerlei Schlüsselloch. Ich fürchte: hier bin ich machtlos.“
Kagor machte sich darauf und daran, die Tür mit Gewalt einzubrechen: „Ich werde jetzt nicht aufgeben – nicht so nahe am Ziel.“
„Warte – Kagor“, bat Malgoth, „vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit.“
„Hör auf ihn“, meinte auch Gartret, „wir sollten hier nicht zuviel Krach machen.“
„Was schlagt ihr vor?“, fragte Kagor.
„Zuerst sollten wir in einen nebenan liegenden Raum gelangen“, erwiderte Malgoth.
„Und dann klettert jemand von uns – am Besten Siliah - dort aus dem Fenster und dringt über das Fenster dieses Raumes hier ein“, vervollständigte Gartret den Plan.
Kagor liess sich überzeugen: „Also gut - das ist die bessere Möglichkeit. Die Gier nach der Brosche hat mir einen Augenblick den Verstand vernebelt.“
Tatsächlich konnte Gartret das Schloss der Tür, welche gleich nebenan lag, öffnen. Vorsichtig traten sie ein; es befand sich niemand hier. Kagor eilte zum Fenster und öffnete es.
Siliah sprang behände auf den Fenstersims.
„Warte noch!“, meinte Gartret und zog aus seinem Rucksack zwei kleine Instrumente. „Die Fenster hier scheinen von innen verriegelt; nicht verschlossen wie im Erdgeschoss. Mit etwas Geschick lässt sich das Problem lösen. Es genügt, wenn du mit diesem Glasschneider ein kleines Loch schneidest. Mit diesem Saugnapf kannst du das Stück Glas festhalten, damit es nicht hinunterfällt und Lärm macht.“
Die Elfe kletterte den dünnen Fenstersims entlang und gelangte rasch zum anderen Fenster. Hier begann sie nach Gartrets Anweisungen mit der Arbeit am Glas. Sie musst den Schneider mehrmals ansetzten, bevor es hier gelang.
Aber nach etwas Zeit hatte sie ein sauberes, kreisrundes Loch geschnitten. Ihr dünner Arm glitt hindurch und drehte den Knauf zur Entriegelung; das Fenster ging auf. Sie schaute zurück zu den anderen Dieben. „Ich werde versuchen, die Tür von innen zu öffnen“, versprach Siliah und schlüpfte hinein. Die Anderen schlichen sich wieder auf den Gang und warteten. Einige Minuten verstrichen; schliesslich knackte es und die Tür schwang nach innen.
„Tut mir leid; von Mechanik verstehe ich nicht gerade viel“, entschuldigte sich die Elfe für die verstrichene Zeit.
„Wie man wohl sonst in diesen Raum gelangt?“, fragte sich Gartret.
„Alle Rätsel dieser Welt werden wir wohl nie lüften können“, erwiderte Malgoth und ging hinein.
Hier schienen sie sich in einem grossen Arbeitszimmer zu befinden. Ein wuchtiges Pult stand zwischen Regalen voll mit Büchern und Pergamenten. In etwa der Mitte des Raumes befand sich ein Tisch, auf dem mit weisser Kreide ein feines Gitternetz aufgetragen worden war. Und auf diesem Raster standen verschiedene Figuren aus Holz und Ton; manche waren Reitern nachempfunden, andere schienen mehr Monstern zu ähneln.
„Hier werden Planspiele durchgeführt“, erklärte Kagor. Er liess seinen Blick über das Pult schweifen. „Oh – das habe ich schon lange nicht mehr gesehen; zu lange…“ Kagor nahm einen kleinen Stapel Karten vom Pult.
„Was ist das?“, wollte Malgoth wissen.
„Es ist ein Kartenspiel – die Paladine können damit in ihre eigene Seele blicken und ihre Reinheit prüfen. Und sie können manchmal sogar einen Blick in die Zukunft damit werfen.“ Kagor versuchte die Karten so vor das spärliche Licht zu halten, welches durch das Fenster hinein schien, dass er die Motive erkennen konnte. „Es sind verschiedene Bilder, die beim Aufdecken Rückschlüsse auf die innere Verfassung erlauben – der Knabe, der auf dem Schwan reitet zum Beispiel…“
„Hier – da ist bestimmt etwas Wertvolles drin!“, Siliah hatte ein Schatulle aus Zinn entdeckt, welche mit prächtigen Gravuren geschmückt war.
Kagor war sich sicher: „Das ist es! “
„Die Schatulle scheint nicht verschlossen zu sein“, meinte Gartret.“
„Aber es liegt ein Zauber darauf – sehr schwach, aber dennoch spürbar“, warnte Malgoth.
Kagor verharrte eine Minute unschlüssig vor der Schatulle, dann meinte er: „Ich kann nicht länger warten; es ist Zeit, etwas zu riskieren.“ Er öffnete das Kästchen; darin befind sich nur ein kleines Stück Papier. Siliah nahm es: „Das steht Etwas: Die Brosche befindet sich nicht hier – Kagor.“
„Das ist seltsam“, meinte Malgoth, „scheint so, als hätte jemand ziemlich viel vorausgesehen.“
Der Paladin schüttelte traurig den Kopf, sagte aber nichts.
Gartret nahm die Schatulle Kagor aus der Hand und untersuchte sie: „Kein Geheimfach – rein gar nichts; tut mir leid, mein Grosser.“
„Wir können ja immer noch weitersuchen“, meinte Siliah und schaute sich weiter um.
Malgoth überlegte: „Das gefällt mir nicht. Wieso liegt ein Zauber auf einer Schatulle, die leer ist und die beim öffnen keinen Feuerball oder so etwas auslöst?“
„Weil der Zauber nur einen Alarm auslöst; und sonst gar nichts“, ertönte eine tiefe, dröhnende Stimme. Sie blickten zur Tür und sahen in deren Rahmen die Silhouette eines grossen und breitschultrigen Mannes.
Kagor zog seinen Säbel. „Seid ganz vorsichtig meine Freunde – wir haben einen mächtigen Gegner vor uns!“
„Steck deine Waffe weg – Kagor!“, sprach die Gestalt an der Tür in befehlendem Tonfall, „die Wachen werden gleich hier sein.“ Tatsächlich hörten sie rennende Schritte und das Klirren von Waffen und Rüstungen. Es dauerte nur ein paar Augenblicke und drei Paladine mit Fackeln waren herbeigeeilt.
Im Schein des Feuers erkannten sie nun, dass sie einem Mann in schon fortgeschrittenem Alter gegenüberstanden. Sein Haar war schon mehrheitlich weiss und in seine Züge hatten sich bereits tiefe Falten gegraben. „Ich wusste, dass du eines Tages hier auftauchen würdest.“
„Und ich hätte wissen müssen, dass du mich erwarten würdest – Schwertmeister Malatein“, antwortete Kagor ruhig.
„Kann mir mal jemand verraten, was hier los ist?“, fragte Gartret, „unter deiner Führung überfallen wir ausgerechnet die Paladine?“
„Du scheinst deine neuen Freunde nicht in alles eingeweiht zu haben – Kagor“, bemerkte Malatein.
„Es wäre deiner Ehre in ihren Augen ziemlich abträglich gewesen, wenn ich es getan hätte. Sie mögen zwar Diebe sein, aber deine Vollendung an Hinterlistigkeit wird auch über ihrer Vorstellungskraft liegen.“
Malatein versuchte zu lächeln, was ihm nur halb gelang; einen Moment blickte er sogar verschämt zu Boden: „Wir haben beide Fehler gemacht – Kagor; und wir haben beide Schwüre gebrochen.“
„Das mag sein“, gab Kagor zurück, „aber einen Freund aufs Übelste verleugnet, das hast nur du – Malatein.“
Der Schwertmeister senkte den Blick erneut: „Du und ich - wir wollten ihre Brosche; nur bin ich schneller gewesen. Wir haben uns beide nicht rechtschaffen verhalten. Sie hätte unsere Ausbildung gebraucht, nicht unsere Gefühle. Vielleicht sind wir deswegen sogar Schuld an ihrem Tod.“
„Ich verstehe kein Wort, von dem, was ihr da redet“, meldete sich Malgoth.
„Das geht dich nichts an – Zwerg!“, erwiderte Malatein streng, dann wandte er sich wieder an Kagor: „Du hast dir das Kartenspiel angeschaut. Ich sehe, dass es nicht mehr an seinem Platz steht.“
Kagor nickte.
„Weisst du noch, als du sehr jung warst? Ich habe dir die Karten gelegt. Zuerst kam der Knabe, welcher auf dem Schwan reitet. Dann die Karte, in welcher sowohl der Schwan wie auch der Knabe tot übereinander liegen. Schon damals habe ich dich gewarnt. Der Schwan symbolisiert die Reinheit der eigenen Seele, der Knabe den Orden. Zusammen leben sie, zusammen sterben sie. Nun sind haben sie beide Schaden genommen und vor mir steht nur noch ein gewöhnlicher Dieb.“
„Vielleicht haben die Karten ja über dich gesprochen – was meinst du?“, knurrte Kagor bedrohlich.
Malatein wählte seine Wort langsam und sorgfältig: „Unter normalen Umständen, würde ich Busse tun und dir vielleicht sogar ins Gefängnis folgen. Aber die Zeiten sind schlecht, auch wenn es das gewöhnliche Volk noch nicht sehen kann. Wir sind im Krieg und unsere Sache steht alles andere als gut. Aber das geht dich nichts mehr an.“
„Was wirst du nun also tun?“, fragte Kagor.
Schwertmeister Malatein überlegte: „Ich werde dich verhaften – und auch deine Kumpane. Versucht nicht euch zu widersetzen – gegen vier Paladine habt ihr keine Chance. Nicht einmal mit Kagor an euerer Seite.“
Sie wurden durch die nächtliche Stadt geführt. Einer der fackeltragenden Paladine schritt voran. Die zu so später Stunde völlig ausgestorbenen Boulevards wirkten jetzt ohne Menschen viel zu gross und sehr düster. All die prächtigen Gebäude wurden vom Schein des Feuers kurz beleuchtet und versanken dann wieder als grosse. lauernde Schatten in der Dunkelheit. Es kam ein kühler Wind auf; Die Blätter der in regelmässigen Abständen gesetzten Bäume raschelten leise; es hörte sich wie monotones Flüstern an.
„Ich kann leider nicht mit euch kommen“, flüsterte Siliah den Anderen zu, „in einem Gefängnis würde ich nur ein paar Stunden überleben; wir Elfen haben es nicht so mit der Gefangenschaft.“
Malatein wandte sich um und wollte seine Gefangenen zur Ruhe auffordern. Gerade in diesem Moment machte Siliah plötzlich kehrt und schoss wie der Blitz die Strasse hinunter. Zwei der Paladine wollten die Verfolgung aufnehmen.
„Das hat keinen Sinn!“, hielt sie der Schwertmeister zurück, „mit eurer schweren Ausrüstung würdet ihr nie im Leben eine rennende Elfe einholen. Hauptsache wir haben Kagor; und auch diesen vorlauten Zwerg, der so etwas wie ihr Anführer zu sein scheint.“
Ohne dass ihnen auch nur jemand begegnet war, gelangten sie bis ins Westhafenviertel. Hier kreuzten einige Menschen ihren Weg; doch sie wechselten rasch die Strassenseite, um den dem Trupp der Paladine nicht in die Quere zu kommen.
Bald hatten den sie den Exerzierplatz und danach den Palast der Paladine erreicht. Die prächtige Eingangshalle war rasch durchquert und danach ging es gleich in den Keller.
„Bringt sie alle in die Zelle, wo dieser Atamirenses eingesessen hat – sie ist geräumig genug.“
Malgoth hob überrascht den Kopf: „Atamirenses? Er war hier?“
„Alisan hatte also nicht gelogen“, murmelte Kagor, „er ist hier von den Paladinen gefangen gehalten worden.“
„Kennt ihr ihn etwa?“, fragte Malatein misstrauisch.
„Wir sind ihm in Vindara begegnet – dort haben wir mit ihm zusammengearbeitet“, antwortete Kagor.
„Das glaube ich gern – er war ein Hehler“, erwiderte der Schwertmeister spöttisch.
Sie wurden in die Zelle bugsiert. „Glaubt ja nicht, dass euch das Elfenmädchen irgendwie helfen könnte – sie kann vielleicht schnell rennen, aber durch feste Türen oder vergitterte Fenster wird sie sicher nicht gehen können. Ihr werdet in dieser Zelle verrotten“, versprach ihnen Malatein. Er wollte eben die Tür zuschlagen, da überkam ihn ein plötzlicher Gedanke. Er blieb unschlüssig stehen, wollte die Tür erneut schliessen und liess es dann doch wieder bleiben. „Zuletzt eine Frage noch: Ihr habt Atamirenses gekannt; kennt ihr auch die Silbertränen?“
*****
Siliah rannte ohne sich umzublicken; schon nach wenigen Sekunden wusste, sie, dass die Paladine sie nicht mehr einhohlen konnten.
Bald begann sie in einen Laufschritt zu verfallen. Und erst jetzt bemerkte sie, wie sie von den Menschen auf der Strasse angestarrt wurde. Mandakir war eine grosse Stadt, doch eine Elfe derart in Eile war ein höchst seltenes Ereignis.
Siliah empfand plötzlich den Drang, ihre spitzen Ohren zu verbergen. Sie empfand es als höchst unangenehm, als Attraktion herhalten zu müssen – es war wie nackt auf einer Bühne ausgestellt zu sein. Und je mehr sie angestarrt wurde, desto fremder und einsamer fühlte sie sich hier. Sie war hier allein in dieser riesigen Stadt voller Menschen. Sie gehörte nicht hierher. Beinahe erschien es ihr richtig, dass die Paladine sie zu verhaften versuchten; hatten die Leute hier nicht das Recht, einen Fremdkörper wie sie entfernen zu wollen? In ihr keimte gar der Gedanke auf, ob sie nicht zu den Ordenskriegern zurückkehren sollte – wenigstens wäre sie dann wieder bei ihren Freunden gewesen.
Mit einem inneren Aufbäumen versuchte Siliah diese Gedanken zu verbannen, doch es gelang hier nicht. Im Gegenteil stiegen nun Erinnerungen hoch, die sie sonst sorgfältig mied.
Sie sah das Gesicht von Carn, dem Bauernjungen, den sie einst so innig geliebt hatte. Er war ein Mensch gewesen, der ein wenig elfisches Blut in sich hatte; gerade genug, dass man es seinen Ohren ansah.
Sie hatten ihre Liebe genossen – doch immer unter dem missfallenden Blicken des Bauernvolkes. Siliah war im höchsten Falle geduldet gewesen.
Und bald hatten viele böse Worte Carn von ihr entfremdet. Ihre Liebe zerbrach und Siliahs Gefühle wandelten sich rasch in Verachtung. Wie hatte Carn bloss auf diese Menschen und ihre Bosheit hören können? Er verdiente nicht, was Siliah ihm gegeben hatte.
Das letzte, was Siliah von Carn hörte, war ein schreckliches Gerücht gewesen: Demnach hätte er sich mit einem Messer das letzte Bisschen entfernen versucht, was ihn als teilweise elfisch zu erkennen gab.
Lohnte sich die Liebe? Lohnte sich das Leben?
Siliah ballte die Faust; sie fühlte wie sich ein Klumpen von unangenehmen Gefühl in ihrem Bauch sammelte und langsam in Richtung Hals empor kletterte. Ihre Augen begannen feucht zu werden. Sie presste die Lider zusammen so fest sie konnte: sie durfte nicht schwach werden! Hier konnte sie mit niemandes Hilfe rechnen.
Endlich wurde ihre Entschlossenheit wieder wach: Sie würde kämpfen! Sie würde ihre Freunde suchen und sie würde sie befreien - notfalls mit Gewalt!
*****
Rokar war bereit den letzten Schritt zu tun. Er befand sich in einem jener Grüfte, in denen die Feldherren des Grossen Herrschers beerdigt waren. Von den Menschen längst vergessen bildeten diese Ruinen die Rückzugsstätten der Silbertränen. Sie waren aus ihrem langen Schlaf erwacht, denn die Zeit war reif. Die Menschen hatten sich vom Dunklen Zeitalter erholt; voller Naivität lebten sie ihr Leben und hörten nicht den bedrohlichen Donner, der bereits in der Ferne grollte. Das Leben würde bald wieder geerntet werden, so wie die Sense das Korn mäht. Aber damit dies geschehen konnte, mussten die Silbertränen ihre grosse Aufgabe erledigen.
Sie hatten eine andere Form des Daseins erreicht, aber das war ein gefährlicher Zustand: Ohne Körper würde sich ihre Lebensenergie bald verflüchtigt haben. Aber es gab Wege, dies zu vermeiden; doch dazu brauchten sie Hilfe von mächtiger Hand. Erst dann würden sie sich wieder am Leben der Menschen laben können.
Rokar war bereit sich einzureihen. Er hatte Gelegenheit gehabt, sowohl die Silbertränen wie auch ihre Gegner zu studieren. Und welches Ungleichgewicht hatte er da festgestellt! Die Paladine wussten nicht einmal, was die Silbertränen wollten, während deren Pläne schon weit gediehen waren. Seit dem Dunklen Zeitalter war viel Wissen verloren gegangen. All das Grauen und die vielen Toten waren in Vergessenheit geraten. Das Leben war einfach zu lieblich geworden, als das man sich diesen Schrecken hätte vorstellen können. Aber die Zeit des Friedens würde bald vorüber sein.
Rokar war es wirklich leicht gefallen, die Seite zu wählen. Die Paladine bot nur diffuses Gerede über Pflichtbewusstsein und den Kampf für die Schwachen. Die Silbertränen dagegen zeigten einen Weg auf, der zur Unsterblichkeit führte. Das geistige Vermächtnis seines Vaters konnte endlich in Erfüllung gehen. Doch sein alter Herr hatte sich geirrt: Das herumdoktern an Leichenteilen half nicht; es gab nur einen einzigen Mann, der das Geheimnis lüften konnte. Für ihn mussten sie alles tun. Und Rokar selbst durfte dabei nicht abseits stehen.
Der Zauberwirker war nicht von verruchter Bosheit erfüllt – er wusste einfach, dass die Silbertränen kaum aufzuhalten waren; und er wollte die Dinge, die sie anzubieten hatten.
Das Wissen um die eigene Sterblichkeit empfand Rokar als so etwas wie eine persönliche Beleidigung. All dies Wissen, welches er sich angeeignet hatte, sollte nur auf Zeit sein? War er denn eine Blume, die sich kurz entfaltete, nur um dann zu verwelken? Geradezu eine lächerliche Vorstellung! Er war geradezu verpflichtet, der Sache eine andere Wendung zu geben. Rokar lächelte: er war sich sicher, aufs richtige Pferd gesetzt zu haben.
Schwarz behandschuhte Hände hoben seinen nackten Körper hoch und legten ihn auf einen steinernen Opfertisch. Vier Silbertränen waren um ihn herum versammelt. Rokar befand sich in einer kreisrunden Grabkammer. An den Wänden waren viele Fackeln angebracht.
Der Zauberwirker hätte Lügen müssen, wenn er behauptet hätte, dass er keine Angst habe. Aber er hoffte, dass der Moment der Furcht bald an ihm vorüberziehen würde. Und dann würde er diesen leidigen Körper los sein und auf ewig die Geheimnisse der Magie studieren können.
Die Silbertränen erhoben ihre Stimmen – es war nicht klar, ob sie sangen oder schrieen. Es klang schrill und unangenehm; Rokar versucht wegzuhören.
Dann herrschte plötzlich Stille. Der Zauberwirker verharrte reglos und voller Furcht; er war in der Erwartung von etwas Grauenhaftem. Er schwitzte stark und dennoch fror er zugleich. Sein Kopf sagte ihm, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hatte, doch sein Herz und sein Magen rebellierten gegen seine Entscheidung.
Blitzschnell hob einer der Schwarzgewandeten einen reich verzierten silbernen Dolch, dessen Ende in einer gebogenen Spitze mündete. Eine weitere plötzliche Bewegung und das kalte Metall grub sich tief in Rokars Fleisch. Er zuckte zusammen und stiess einen heiseren Schrei aus. Rokars Körper zitterte vor Angst und Schmerz. Die Klinge wurde langsam wieder herausgezogen – doch ein Teil des Metalls schien in seinen Eingeweiden stecken geblieben zu sein. Das Silber verflüssigte sich – so fühlte es sich an - und verteilte sich in seinem Körper bis jeder Winkel damit ausgefüllt war. Eine furchtbare Kälte machte sich in Rokar breit. Der Zauberwirker stöhnte leise; und er fühlte, dass er dem Tode nahe war.
Die Silbertränen hüllten seinen sterbenden Körper in schwarze Samttücher ein.
Kurz bevor Rokar sein körperliches Leben aushauchte, sah er noch, wie sich eine silberne Maske vor seine Augen senkte und ihm am Atmen hinderte. Halbtot hatte er noch Angst zu ersticken. Dann fühlte er wie sich alles aufzulösen begann. Rokar war gezwungen, loszulassen – doch er wollte nicht. Die Frucht nahm zu und drohte seine Sinne zu vernebeln. Dann begann sein Körper zusammenzuschrumpfen und verlor durch die Magie der Silbertränen an Masse. Er konnte es spüren: Sie sogen ihn regelrecht aus. Immer dünner und ausgedörrter wurde er. Durch das Metall in seinem Körper hatten sie vollständige Macht über ihn gewonnen.
Schliesslich war da nichts mehr, was man einen Körper hätte nennen können. Aber es blieb nicht bei seinem Leib: nun fing sein Geist an sich aufzulösen. Er begann sich zu verlieren und es war ein schreckliches Gefühl. Er versuchte seine Gedanken und Gefühle festzuhalten – vergebens. Alles was sein Leben und ihn selbst ausgemacht hatte begann unaufhaltsam zu verblassen. Rokars Angst steigerte sich ins Unermessliche. Verzweifelt versuchte er das Wenige noch festzuhalten, was ihm noch geblieben war. Doch es war zu spät: der letzte Rest seiner Menschlichkeit zerrieselte wie feiner Sand zwischen seinen Fingern. Ein letzter Gedanke glomm auf und hatte noch für eine Sekunde bestand: Er hatte einen furchtbaren Fehler begangen!
Ohne Selbst, körperlos und nur noch erfüllt von Angst vor dem Tod, blieb ein winziger Rest zurück– eine Silberträne.
*****
„Wir wissen eine Menge über sie“, trug Malgoth reichlich dick auf. Er wollte unbedingt verhindern, dass Schwertmeister Malatein die Zellentür zuschlug, wahrscheinlich für lange Zeit; oder sogar für immer.
„Lass mich mit deinen Lügen in ruhe – Zwerg! Ich möchte es aus Kagors Mund erfahren.“
Kagor schwieg.
„Du musst ihm antworten!“, forderte Gartret, „sonst verrotten wir ihr drin!“
„Wir sind ihnen begegnet – insgesamt dreimal.“
Malatein war erstaunt: „Dreimal? Wisst ihr, was sie wollen?“
„Sie sammeln Rüstungsteile des Grossen Herrschers von einst“, antwortete Malgoth.
„Das wissen wir bereits“, gab Malatein zurück, „aber weshalb tun sie das?“
Die drei Diebe schwiegen.
„Dann wisst ihr also doch nicht soviel“, schloss der Schwertmeister. Er trat bereits wieder von der Zellentür zurück.
„Vielleicht weiss Alisan mehr“, meinte Malgoth rasch, „oder sein Freund der Zauberwirker… Rokar heisst er - so glaube ich.“
„Ihr seid Rokar begegnet?“, fragte Malatein erstaunt.
„Er wollte zusammen mit Alisan die Armschienen für die Silbertränen stehlen“, sagte Kagor.
Malatein überlegte eine Weile: „Diesen Alisan kenne ich nicht. Aber Rokar ist ein Zauberwirker, der für die Paladine arbeitet. Wenn ihr die Wahrheit sagt, dann ist er ein Verräter.“
„Alisan ist ein Meisterdieb – man hat ihn früher ‚die goldene Hand’ genannt“, erklärte Kagor, „er ist für einen Anschlag mit einer Giftgasfalle verantwortlich, bei dem offenbar viele Paladine ums Leben kamen…“
„Du weiss davon?“, fragte Malatein wiederum erstaunt.
„Die Silbertränen haben ihn dazu beauftragt. Alisan arbeitet für Geld und Ruhm; vielleicht auch nur um die Welt von seiner Kunstfertigkeit zu überzeugen. Was dieser Rokar im Schilde führt, dass wissen wir nicht. Er schien nur sehr daran interessiert zu sein, dass die Silbertränen mit ihren Plänen erfolgreich sind.“
Malatein dachte erneut eine Weile nach, dann meinte er: „Ich kann nicht behaupten, dass ich im Moment alles verstehe. Ich werde so vorgehen: entweder komme ich morgen wieder und verlange weitere Informationen von euch. Andernfalls werdet ihr einfach hier bleiben und die Sache hat sich für euch erledigt.“
„Gibt es kein Gerichtsverfahren?“, fragte Malgoth.
„Nein – ihr habt einen Offizier der Paladine bestehlen wollen. Dies zieht eine sofortige Strafe nach sich; ohne jede Verhandlung.“
„Er hat Recht“, stöhnte Kagor, „die Strafe lautet auf lebenslange Gefängnishaft.“
„Du hast uns ganz schön reingeritten“, beklagte sich Gartret bei Kagor, nachdem Malatein die Zellentür geschlossen und verriegelt hatte.
„Es tut mir leid“, gab sich Kagor zerknirscht, „ich wollte euch nicht in diese Lage bringen. Ich habe viel zu eigennützig gehandelt und nicht bedacht, wie sehr ich euch in Gefahr bringe.“
„Lasst uns lieber herausfinden, wie wir hier raus kommen“, meinte Malgoth.
Sie untersuchten die Zelle. Die Tür war massiv und von aussen verriegelt. Ausserdem hatte man ihnen alle Werkzeuge und Waffen abgenommen. Gartret prüfte das pechschwarze und sehr harte Holz; hier war nichts zu machen.
Die Zelle besass nur ein Fenster, welches mit dicken Eisenstäben vergittert war. Es lag ziemlich hoch und nur Kagor konnte es mit seinen Händen erreichen. Er rüttelte an den Gitterstäben. Resignierend zog er seine Hände wieder zurück: „Da könnte ich ein Jahr meine ganze Kraft verwenden – da geht überhaupt nichts.“
Ein Schatten erschien plötzlich auf der anderen Seite des Gitterfensters: „Vielleicht braucht ihr ja Hilfe von draussen.“
„Siliah!“, rief Gartret; er war wohl das erste Mal erfreut, die Elfe zu sehen
„Sagt schon – was kann ich tun, um euch hier herauszuhelfen?“
„Das wissen wir leider auch nicht“, erwiderte Malgoth, „es bringt wohl nicht viel, wenn du dich in den Paladinpalast hineinschleichst. Wir werden uns hier niemals unbemerkt davonstehlen können.“
„Dann wollt ihr also hier bleiben?“, fragte die Elfe keck.
„Vielleicht können wir uns mit den Paladinen einigen – Morgen wissen wir mehr“, meinte Kagor, „sie wollen Informationen über die Silbertränen. Und so wie sie uns beim letzten Mal bedroht haben, werden wir wohl keine Gewissensbisse haben, sie zu verraten.“
Siliah schwieg eine Weile, dann fragte sie: „Kagor – um was geht es bei dieser Sache mit der Brosche überhaupt? Wir hängen jetzt alle mit drin und haben ein Recht darauf, es zu erfahren.“
„Das stimmt“, bestätigte Gartret, „besser, du hättest uns noch vor dem Einbruch alles erzählt.“
„Es geht um eine Sache… Sie liegt schon ein paar Jahre zurück…“
„Nun sag’ schon – Kagor“, ermunterte ihn Malgoth, „wir sind deine Freunde.“
„Es ist sehr persönlich… Es geht auch um den Moment meiner Schwäche; und meiner Unaufrichtigkeit gegenüber dem Orden.“
„Dann bist du also zu Recht ausgeschlossen worden?“, fragte Siliah.
„Ja – aber nicht aus den Gründen, die dafür angeführt worden sind; ausgeschlossen wurde ich infolge Malateins Verrat.“
„Du solltest das etwas genauer erklären“, forderte Gartret, „erzähl doch die ganze Geschichte von Anfang an.“
Kagor schloss die Augen; die Anderen konnte regelrecht sehen, wie er sich schmerzlich erinnerte. Dann begann er: „Ganz selten kommt es vor, dass eine Frau die Veranlagung zu einem Paladin zeigt. Dies sind kritische Momente für den Orden. Wir sind verpflichtet, jeden aufzunehmen, der die Veranlagung zeigt, egal welchen Geschlechts. Aber die Anwesenheit einer Frau in einem Männerorden sorgt fast immer für Schwierigkeiten.“
„Das glaube ich gern“, meinte Siliah, „aber wahrscheinlich gehen diese Schwierigkeiten eher von euch Männern aus.“
„Das stimmt in diesem Fall ganz gewiss“, gab Kagor ohne Umschweife zu, „Gatrima – so hiess sie - und ich hatte die Aufgabe, sie im Schwertkampf zu schulen. Malatein war für ihre geistige Festigkeit verantwortlich. Und obwohl wir beide um die möglichen Schwierigkeiten wussten, kamen wir doch vom rechten Weg ab.“
„Du meinst, Malatein und du habt euch in diesen weiblichen Paladin verliebt“, stellte Siliah fest.
Kagor ballte die Fäuste, sein Blick schien in die Vergangenheit zu wandern: „Sie war eine wunderbare Frau und ohne Zweifel im Herzen ein Paladin – das hat mich überrascht. Wir sind uns von Anfang an nahe gestanden. Es war, als hätten wir uns schon immer gekannt. Je mehr sie blieb, desto inniger wurden meine Gefühle; und nach einer gewissen Zeit hat sie mir das Herz aufgeschlossen.“
„Klingt bislang gar nicht so schlimm“, meinte Malgoth.
Kagor blickte ihn wütend an: „Ich war dazu da, sie auszubilden! Doch in dem ich mich auf meine Gefühle konzentrierte, wurde ich zu einem schlechten Lehrer. Ich habe damit Gatrima verraten; die Frau, die ich liebte.“
„Und Malatein ist es wohl nicht viel besser ergangen“, vermutete Gartret.
Kagor nickte: „Wir haben uns gegenseitig belauert und Gatrima umgarnt. Und als die schweren Kämpfe gegen die Totenbeschwörer begannen, besass sie nicht die Kraft, die sie haben sollte. Sie fiel - ich war wie von Sinnen als ich davon hörte. Doch es sollte noch schlimmer kommen.“
„Ich schätze nun kommt Malateins dunkle Stunde“, murmelte Malgoth.
„Jeder Paladin“, fuhr Kagor fort, „besitzt zum Zeichen seiner Ordenszugehörigkeit eine Tätowierung auf seinem Rücken – jeder männlicher Paladin. Bei den Frauen verzichtet man auf diese Prozedur und gibt ihnen stattdessen eine Brosche. Nach dem Kampf gegen die Totenbeschwörer blieb diese Brosche verschwunden; ich wusste, das Malatein sie an sich gebracht hatte. Doch der Orden ist in solchen Dingen sehr streng; nach dem Ableben eines Paladins fällt jeglicher Besitz an ihn zurück.“
„Und weshalb wusstest du, dass Malatein die Brosche genommen hatte?“, fragte Gartret.
„Er war sofort zur Stätte des Kampfes geeilt – ich bin sicher, dass er damals die Brosche an sich genommen hat. Ich hätte dasselbe getan, doch er ist schneller gewesen. Hatten wir bis dahin um eine Frau gebuhlt, so kämpften wir jetzt nur noch um eine Brosche. Vielleicht half uns das, unseren Verlust nicht sehen zu müssen.“
„Ich verstehe noch immer nicht“, meinte Malgoth, „wie hat all dies dazu geführt, dass du aus dem Orden ausgeschlossen wurdest.“
„Vielen Paladinen waren meine Gefühle für Gatrima nicht verborgen geblieben. Malatein war da wohl geschickter. Und als die Brosche dann fehlte, da fiel der Verdacht rasch auf mich. Es gab eine Gerichtsverhandlung und ihre wurde verurteilt. Solange ich die Brosche nicht zurückgeben kann, bin ich aus dem Orden ausgeschlossen.“
„Dann hat dich Malatein vernichtet, bloss um eines Andenkens willen?“, fragte Siliah erstaunt.
„Es ging mehr als nur darum; jeder hat dem Anderen wohl die Schuld gegeben, dass er nicht mit Gatrima zusammen gekommen ist. So eine Konkurrenz kann bitter sein. Ausserdem stand für Malatein viel auf dem Spiel. Hätte er die Brosche einfach zurückgegeben, dann wäre er bestraft worden. Als Schwertmeister hat man viel zu verlieren.“
Kagors Worte versetzten Siliah einen Stich ins Herz: „Ich verstehe es nicht; wie passiert es immer wieder, dass solche Niedertracht entsteht, wo einst Freundschaft war?“
„So etwas entsteht nicht über Nacht – die Reinheit der Seele verdüsterte sich langsam; man merkt es kaum.“
„Du hältst dich für schuldig“, stellte Malgoth fest.
„Ich bin schuldig – auch wenn ich die Brosche nicht gestohlen habe.“, antwortete Kagor, „ich bin vom rechten Weg abgekommen und habe den Orden verraten – versucht nicht mich von etwas Anderem zu überzeugen. Ich glaubte, ich brauche lediglich die Brosche von Malatein zu stehlen, und alles käme wieder in Ordnung. Was für ein Irrtum! Wenn ich im Herzen je wieder zum Orden gehören will, dann muss ich es mir redlich verdienen.“ Mit diesen Worten kehrte Kagor ihnen den Rücken zu. Er setzte sich so in eine Ecke, dass er von Siliah nicht gesehen werden konnte.
Sie schwiegen lange; schliesslich zog sich Siliah vom Gitterfenster zurück und eilte in die Nacht hinaus. Malgoth und Gartret schliefen noch ein bisschen. Doch es gab nur wenig Stroh, mit dem sie den kalten Steinboden abdecken konnten. Und so bestand der Rest der Nacht hauptsächlich aus Warten.
Die Sonne ging auf und ein neuer Tag brach zaghaft an. Gartret hatte die Arme um sich geschlungen – ihm war kalt: „Er wird nicht kommen und wir werden hier verrotten.“
„Wenn er wirklich gegen die Silbertränen kämpfen will, dann kann er auf uns nicht verzichten“, meinte Malgoth hingegen.
Etwa eine weitere Stunde verging, dann hörten sie Schritte; die Zellentür wurde entriegelt und dann aufgestossen.
„Rokar ist verschwunden“, meinte Malatein, während er seine Gefangenen musterte, „jeder, den ich gegen die Silbertränen aussende, stirbt entweder, oder er verrät mich.“
Kagor regte sich in seiner Ecke: „Du bist auf einen Kampf gegen diese dämonenhafte Wesen nicht vorbereitet gewesen.“
Malatein presste die Lippen zusammen, dann schlug er voller Wut auf die halb geöffnete Zellentür. Gartret und Malgoth zuckten erschreckt zurück. „Ich hasse es, dir Recht zu geben! Die Paladine sind nicht dazu ausgebildet, in einem solchen Schattenkrieg zu fechten!“
„Ihr werdet Zauberwirker brauchen“, meinte Malgoth.
Malatein warf ihm einen eisigen Blick zu: „Zauberwirker sagst du? Solche wie Rokar? Ich hatte drei für diesen Kampf zu meiner Verfügung; einer ist tot, einer verriet mich, und die letzte ist halb wahnsinnig vor Angst. Nein - Zwerg – die Zauberwirker sind nicht die Lösung gewesen!“
„Dann müsst ihr wohl einen anderen Weg finden“, meinte Gartret vorsichtig. Er wollte den aufgewühlten Schwertmeister keinesfalls reizen. „Wir können euch alles erzählen, was wir wissen. Natürlich erhoffen wir uns im Gegenzug die Freiheit. Wir sind auch gewillt, die Stadt sofort zu verlassen.“
Malatein schüttelte den Kopf: „Nein – so einfach ist das für nicht. Wir haben das bei euren Sachen gefunden.“ Der Schwertmeister nahm eine silberne Münze hervor und warf sie vor den Dieben auf den Zellenboden. Darauf war ein gekrümmter und geschundener Körper zu sehen, der von sieben Dolchen durchbohrt war. „Dies habt ihr von den Silbertränen erhalten – nicht wahr?“
„Wir wissen nicht, wieso sie uns dies gegeben haben“, bestätigte Gartret indirekt.
Malatein verschränkte die Arme: „Aber ich weiss es – es ist ein Todesurteil. Atamirenses hat ebenfalls eine solche Münze erhalten. Deshalb ist er nach Mandakir geflohen; er wollte seinem Schicksal entkommen.“
Malgoth klaubte mit seinen klammen Fingern die Münze vom Boden auf und betrachtete sie: „Die Silbertränen wollen uns töten?“
„Ihr müsst in Ungnade gefallen sein. Warum vermag ich nicht zu sagen.“
„Es ist wegen mir“, meinte Kagor aus der Ecke, „ich bin sie hart angegangen, weil sie den Giftanschlag gegen die Paladine befohlen haben.“
Malatein lachte kurz auf: „Das ehrt dich! Aber vermutlich hast du damit euer Leben verwirkt. Glaubt mir, meiner Erfahrung nach würde ich euch einen Gefallen tun, wenn ich euch weiter hier gefangen halten würde. Aber ich habe andere Pläne.“
„Ihr wollt uns als Köder benutzen“, glaubte Gartret zu ahnen.
„Oh nein! Denselben Fehler werde ich nicht zweimal machen! Ausserdem habe ich von dem Paladinhauptmann, welcher die Kathedrale der Mörder bewacht, die Nachricht erhalten, jemand habe sich Zugang zu den Katakomben verschafft. Kurz nachdem er gezwungen gewesen war, ein paar dubiose Gestalten Einlass zu gewähren, hat er die Kathedrale durchsuchen lassen. Dabei hat er gesehen, wie ein Mann – offensichtlich ein Dieb – die Katakomben eben durch einen geheimen Zugang verlassen wollte. Leider konnte er diesen nicht einfangen – er scheint sich sehr einfallsreich gewehrt zu haben und hat sich dann aus dem Staub gemacht. Ich würde wetten, das ist dieser Alisan gewesen, von dem hier gesprochen hat. Und wenn er wie Rokar für die Silbertränen arbeitet, dann hat er sich wohl geholt, was für die Maskenträger in Mandakir interessant war.“
„Wenn die Silbertränen weg sind, dann wären wir hier ja sicher“, meinte Gartret.
„Ich werde euch nicht erlauben, in der Stadt zu bleiben“, antwortete ihm Malatein bestimmt.
„Du musst versuchen, die nächsten Schritte der Silbertränen vorauszuahnen; andernfalls wirst du nie eine Chance haben“
„Sehr richtig – Kagor!“, bestätigte der Schwertmeister, „und wie ich zuvor erklärt habe, verfüge ich noch über eine Zauberwirkerin. Sie ist schwer angeschlagen. Letzte Nacht habe ich sie dennoch ausgequetscht, gleich nachdem ich die Nachricht vom Paladinhauptmann erhalten habe. Wahrscheinlich wurden aus den Katakomben die silbernen Armschienen des Grossen Herrschers gestohlen. Wir haben von Anfang an geahnt, dass die Silbertränen hier in Mandakir hinter diesen her waren. In eurem Gepäck haben wir ausserdem die von uns hergestellte Kopie der Armschienen gefunden. Damit wollten wir die Maskenträger in die Falle locken. Seltsam, dass sie sich nun bei euch befinden; aber das spielt jetzt keine Rolle.“
„Wie wirst du vorgehen?“, wollte Kagor wissen.
„Wir wissen, dass sie die Beinschienen von Vindara haben, und leider die Armschienen von Mandakir ebenfalls.“
„Den Helm von Kulmina haben sie leider auch“, flüsterte Kagor.
„Übrig bleiben nur noch die Handschuhe von Undramar und der Brustpanzer von Sindra Mall – soviel habe ich aus meiner verängstigten Zauberwirkerin herausbekommen“, erwiderte Malatein, „dann haben sie die Rüstung des Grossen Herrschers zusammen – nur, was wollen die damit?“
„Das habe ich mich auch schon gefragt“, antwortete Malgoth, „vielleicht planen sie eine Art Rückkehr des Grossen Herrschers?“
Malatein nickte langsam und bedächtig: „Dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen. Wirken nicht auch diesen Maskenträger selbst irgendwie körperlos? Aber selbst wenn dem so ist: wieso wollen sie so etwas tun? Und wie sollte dies möglich sein?“
Niemand antwortete.
„Ihr wisst es auch nicht“, stellte der Schwertmeister fest, „sicher ist nur, die Silbertränen dürfen die beiden anderen Artefakte nicht bekommen. Und dafür werdet ihr sorgen.“
Eine Weile schwiegen die Diebe verblüfft; schliesslich meinte Kagor: „Und das ist dein Plan?“
Malatein nickte: „Ich habe schon zu lange nach der Pfeife der Silbertränen getanzt. Die Forscher, die in unserem Auftrag ihre Ruhestätten überwachen sollten, sind nie zurückgekehrt. Als ich Paladine in strahlender Rüstung ausschickte, haben sie dies vorausgeahnt und sie vernichtet. Und als ich Zauberwirker auf sie ansetzte, haben sie diese moralisch zersetzt oder vernichtet. Ich muss endlich etwas tun, was die Silbertränen nicht erwarten, ansonsten werden wir den Kampf verlieren; diese Gewissheit habe ich mittlerweile.“
„Dann willst du also Diebe einsetzen, um den Silbertränen zuvor zu kommen“, stellte Kagor fest.
Malatein nahm Malgoth die silberne Münze aus der Hand, fasste sie zwischen zwei Finger und hob sie empor: „Ich weiss nicht, welche üble Rolle ihr bei dem Ganzen gespielt habt, und ich will es auch nicht wissen. Aber Eines ist sicher: ihr seid jetzt die einzigen Diebe, die ganz gewiss nicht zu den Silbertränen überlaufen werden; egal wie viel sie auch bezahlen. Denkt immer daran: Euer Leben hängt davon ab, ob die Silbertränen besiegt werden.“
„Du hast eben von Bezahlung gesprochen…“, begann Gartret ganz vorsichtig, „für gewöhnlich führen wir solche Arbeiten nicht umsonst aus.“
„Ich biete euch eine umfassende Amnestie. Ausserdem biete ich Kagor die Möglichkeit, wieder in den Orden der Paladine einzutreten. Dies alles gilt natürlich nur, wenn ihr Erfolg habt. Von den Silbertränen Ermordete brauchen keine Rehabilitation.“
Gartret öffnete den Mund; er wollte verhandeln - schliesslich besann er sich eines Besseren und liess es klugerweise bleiben.
„Wo sollen wir denn deiner Meinung nach anfangen?“, wollte Kagor wissen.
„Wir werden euch auf ein Schiff geleiten, welches in Kürze nach Undramar fährt. Diese Stadt liegt wesentlich näher als Sindra Mall. Dort müsst ihr versuchen, die silbernen Handschuhe des Grossen Herrschers zu finden. Ich werde euch ein Empfehlungsschreiben mitgeben.“
„Dann setzt du also alles auf eine Karte?“, wunderte sich Kagor.
„Nicht ganz“, erwiderte Schwertmeister Malatein, „ich werde zugleich noch Truppen nach Undramar entsenden. Aber sie werden länger brauchen als ihr, und ihre Aussicht auf Erfolg halte ich für ungewiss.“
„Weil dieser Schachzug zu berechenbar ist“, vermutete Kagor.
„Undramar – die Stadt der Toten; das gefällt mir nicht“, murmelte Malgoth.
„Wenn es dich beruhigt: es gibt dort so gut wie keine Untoten – Zwerg; in Undramar weiss man mit dem Tod umzugehen. Aber nun genug geredet; das Schiff hätte eigentlich bereits ablegen sollen – wir haben es gerade noch aufhalten können.“
Gartret schüttelte ungläubig den Kopf: „Das fass’ ich nicht; wir arbeiten für die Paladine – kostenlos! So etwas könnte Unsereiner durchaus als Schande betrachten.“
Der Schwertmeister warf Gartret einen grimmigen Blick zu: „Wenn dir keine Ideale für diesen Kampf einfallen, dann denke einfach an dein Leben; dies wird auch für dich Ansporn genug sein.“
Sie wurden aus dem Keller geführt. In der Eingangshalle bekamen sie ihr sämtliches Gepäck und sogar ihre Waffen zurück. Kagor nahm zusätzlich noch Siliahs Sachen an sich.
Gartret konnte es noch immer nicht glauben; er zog sein Rapier, keiner der Paladine reagierte. „Das darf nicht wahr sein“, murmelte er, „sie glauben, ich sei ein Verbündeter.“
Ohne Umschweife geleitete sie Schwertmeister Malatein und ein ganzer Trupp schwer bewaffneter Paladine aus dem Palast.
„Wir müssen uns beeilen“, spornte sie Malatein an, „das Schiff geht vom Südhafen ab.“
Kagor beschleunigte seinen Schritt und holte den zuvorderst gehenden Schwertmeister ein: „Etwas solltest du wissen – Malatein – ich tue dies für den Orden, und weil es das Richtige ist. Komm nicht auf den Gedanken, dass ich für dich gegen die Silbertränen antreten würde.“
„Wie seltsam“, antwortete der Schwertmeister, „etwas ganz ähnliches wollte ich vorhin zu dir sagen. Es bleibt keine Zeit, unsere Differenzen zu bereinigen; falls dies überhaupt möglich ist. Ihr seid meine letzten Trümpfe; und wir Paladine sind die einzigen, die euch in euerer verzweifelten Lage helfen können.“
„Gatrima wird immer zwischen uns stehen – egal was auch geschehen mag.“ Damit liess sich Kagor wieder zu den Anderen zurückfallen.
Sie bogen in eine der baumgesäumten Prachtstrassen ein, für die Mandakir berühmt war. Die Geschäfte waren eben gerade dabei, zu öffnen. Preisschilder wurden aufgestellt, Ausladen geschmückt und Jalousien hochgezogen.
„Vielleicht sollten wir Vorräte einkaufen“, meinte Gartret zu Malgoth.
„Hier?“, fragte der Zwerg, „willst du etwa ein Schokoladentörtchen kaufen, ein Duftwasser, oder einen modischen Sonnenschirm?“
Tatsächlich boten die meisten Geschäfte bloss Luxusartikel an. Alles schien entweder exotisch, modisch oder von erlesener Qualität zu sein.
„In den Seitenstrassen werden auch normale Dinge angeboten. Selbst die Bürger von Mandakir haben von Zeit zu Zeit einige normale Besorgungen zu machen“, gab Gartret dem Zwerg zu verstehen,
Bald bogen sie in eine kleinere Strasse ab und die Gegend wirkte je länger je weniger betucht – sie kamen in die Nähe des Südhafens.
Und als sie an einer Schreinerei vorbeikamen, der einige Möbel direkt auf der Strasse feilbot, trat plötzlich eine zierliche Gestalt halb hinter einem breiten Schrank hervor: „Keinen Schritt weiter! Ich habe einen Pfeil direkt auf den Schwertmeister gerichtet – lasst sofort meine Freunde frei!“
Malatein blieb stehen: „Da liegt ein Missverständnis vor – hasenfüssige Elfe!“
„Das ist zwar nur ein gewöhnlicher Langbogen von euch Menschen, den ich mir besorgt habe“, antwortete Siliah unbeirrt, „aber selbst mit diesem erbärmlichen Ding werde ich dich nicht verfehlen.“
„Es haben sich ein paar Dinge geändert“, versuchte Malgoth auf Siliah einzuwirken, „wir kommen frei. Du kannst deinen Bogen also wieder senken.“
„Woher weiss ich, dass sie dich nicht zwingen, das zu sagen?“
Malatein schüttelte verärgert den Kopf, dann meinte er: „Wir haben keine Zeit. Lass es einfach sein und ich verzeihe dir.“
Kagor zog Siliahs Elfenbogen hervor und zeigte ihn: „Es stimmt, wir sind frei. Man hat uns sogar unsere Waffen mitgegeben.“
Zögernd senkte Siliah den Langbogen.
„Die Elfe scheint verschlagen und gefährlich. Das ist genau das, was für eure Mission verlangt wird; ihr solltet sie mitnehmen“, meinte Malatein nur und gab seinen Männern das Zeichen zum erneuten Aufbruch.
„Mission?“, echote Siliah verständnislos.
„Ich werde dir alles unterwegs erklären“, versprach Malgoth.
Sie kamen zügig zum Südhafen. Dort herrschte bereits Hochbetrieb. Im Gegensatz zum Westhafen wurden hier die Massengüter umgeschlagen: Rau zugeschnittenes Holz, Weizen, einfache Lampenöle und Stoffe, welcher erst noch zu Kleidern geschneidert werden mussten. Hunderte schwitzende Arbeiter trugen schwere Leinensäcke von den Piers zu den nahen Lagerhäusern oder umgekehrt. Überall wurde geflucht und raue Kommandos gerufen. Zahnräder von einfachen mechanischen Ladevorrichtungen ratterten, Ankerketten rasselten und gezogene Handkarren knarrten; Zugtiere wären wohl in diesem Getümmel sofort kopfscheu geworden. Es war, als wären sie in einen Ameisenhaufen geraten. Rauch und der Geruch von Kohle und Teer lag in der Luft. Vor dem Paladintrupp wurde eine Gasse geöffnet, die sich hinter ihnen sofort wieder verschloss.
„Passagierschiffe gehen nur selten vom Südhafen ab“, erklärte Malatein, er musste fast schreien, damit die Anderen ihn verstanden: „Aber nach Undramar will so gut wie niemand. Ausserdem wird die Fracht diese Schiffe am Westhafen nicht gerne gesehen.“
„Was wohl seinen Grund haben wird“, sinnierte Malgoth,
„Da drüben ist es“, verkündete Malatein und zeigte auf ein kleines Schiff, welches etwas abseits stand und nur einen einzigen Mast besass. Es schien kein Unterdeck zu besitzen; stattdessen befanden sich einige behelfsmässige Holzunterstände auf dem Deck. An Bord warteten etwa zwei Dutzend Personen, darunter auch Frauen und Kinder. Daneben sahen sie noch etwas fünf bis sechs Seeleute. Zwei Paladine standen beim Steg und warteten.
„Das sieht wie ein verdammter Seelenverkäufer aus“, knurrte Gartret.
„Es ist das einzige Schiff, welches nach Undramar fährt“, meinte Malatein dazu, „ihr solltet jetzt gleich an Bord gehen. Hier ist ein Brief, den ihr bei eurer Ankunft in Undramar öffnen sollt.“ Der Schwertmeister übergab Kagor einen weissen Umschlag und wies die Diebe dann an, sich auf das Schiff zu begeben.
Weil sie wohl kaum eine andere Wahl hatten, gingen die vier Diebe über den wackligen Steg an Bord des Schiffes, welches nur wenig mehr als ein besseres Boot war.
„Denkt daran, was ihr zu tun habt!“, rief ihnen Malatein noch hinüber, „ihr seid vorerst auf euch allein gestellt.“ Dann befahl der Schwertmeister dem Kapitän – einem alten Mann mit einer grossen Narbe quer über dem Gesicht – den Steg zurückzuziehen und die Leinen zu lösen.
Das Schiff entfernte sich rasch von der Kaimauer. Als sie die ersten hundert Klafter zurückgelegt hatten, und der Lärm des Hafens schon etwas gedämpft zu ihnen hinüber drang, sahen sie noch, wie Malatein und die Paladine abzogen.
„Ob gut oder schlecht“, meinte Gartret, „da wären wir nun.“
„Wir sollten beraten, was wir nun tun wollen“, forderte Siliah.
„Vorerst werden wir mit diesem Schiff hier nach Undramar reisen“, erwiderte Malgoth, „das lässt sich wohl kaum noch vermeiden.“
Sie machten es sich unter einem der Unterstände bequem; für die Passagiere gab es mit Stroh gefüllte Säcke – mehr nicht.
Gartret blickte auf den allmählich im Dunst verschwindenden Südhafen zurück: „Auf Wiedersehen – Heimatstadt; so bald werde ich dich wohl nicht mehr wieder sehen.“
Siliah nahm die wenigen Passagiere in Augenschein, plötzlich wurde sie stutzig: „Schaut mal, dieser Junge da drüben; den haben wir schon einmal gesehen.“
Malgoth kniff die Augen zusammen und nickte: „Und ob wir das haben: er hat den blinden Hohepriester geführt, der uns vor dem Seepark Schwierigkeiten gemacht hat.“
„Er war der Gehilfe des Hohepriesters Mulgan“, erinnerte sich auch Kagor, „ja, ich erkenne ihn wieder, obwohl ich damals kaum noch bei Bewusstsein war. Alisans Bolzen hatte mich fast ins Jenseits befördert.“
„Es gefällt mir nicht, dass er hier ist“, knurrte Gartret.
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Tag der Veröffentlichung: 28.11.2010
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