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2. Teil: Kulmina


8. Kapitel: Der Stein in der Ebene

Je weiter sie sich gegen Norden von der Stadt Vindara entfernten, desto weniger Weinhügel sahen sie. Dafür gab es immer mehr Bauernhöfe und die Felder standen in der beginnenden Ebene bald dicht nebeneinander. Auf manchen Feldern war noch Stroh zu sehen – ein Zeichen, dass hier vor kurzem Korn gemäht worden war. An anderen Orten sahen sie Kühe, Ziegen oder Schafe.
Schliesslich flachten die Hügel ganz ab und es liess sich Weit und Breit keine Winzerei mehr erblicken – sie hatten das Umland der Weinstadt vollends verlassen.
Die Wege waren breit und gut ausgebaut – sie hatten keine Mühe, rasch voranzukommen.

Als sich der zweite Tag nach ihrem Aufbruch von Vindara dem Ende zuneigte, zogen sie sich in eines der wenigen Waldstücke am Wegesrand zurück und schlugen dort ihr Nachtlager auf.
Gartret las in dem Buch Vindros, Kagor übte noch ein paar Schläge mit seinem Säbel und Malgoth brühtete mit gerunzelter Stirn über den silbernen Beinschienen, die vor ihm lagen. Siliah sass seltsam apathisch auf dem Waldboden. Sie schien in Gedanken weit weg zu sein. Als es dunkel wurde, zündete Malgoth seine kleine Laterne an.
Plötzlich legte Gartret das Buch weg: „Da ist doch etwas! Dort zwischen den Bäumen!“
Malgoth löschte sofort die Laterne, dann wandte er sich an Siliah: „Was ist los? Hast du nichts gehört?“
Die Elfe schien wie aus einem Traum zu erwachen. „Doch… Ja, das ist jemand. Aber er zieht sich bereits wieder zurück. Wahrscheinlich ist er durch euer Geschrei gewarnt worden.“
„Ist uns jemand von Vindara gefolgt?“, fragte Kagor.
„Möglich, aber unwahrscheinlich“, meinte Malgoth, „die werden dort genug mit sich selber zu tun haben.“
„Da ist etwas im Wald, nicht weit von hier“, gab Siliah bekannt.
Gartret sprang auf: „Dann lasst uns nachsehen.“
„Ja“, meinte auch Malgoth, „aber alle zusammen. Kagor soll vorausgehen. Und Siliah soll uns diesmal bitte warnen, falls sich wieder jemand nähert.“ Der Zwerg zündete erneut seine winzige Laterne an.
Sie brauchten nicht weit zu gehen und sahen einen kleinen, glitzernden Gegenstand am Boden. Als sie näher kamen, bemerkten sie, dass es sich um eine silberne Münze handelte, die auf einem Sack lag. Malgoth nahm sie an sich und betrachtete sie: „Ein kniende Figur, welche einen silbernen Kelch empfängt. Wenn das eine Nachricht ist, dann eher eine gute.“
Gartret nahm den Sack und schaute hinein, dann pfiff er anerkennend: „Nicht schlecht! Das werden die 800 Goldtaler sein, welche wir von den Silbertränen noch zugute haben.“
„Dann wissen sie also, dass wir ihren Auftrag ausgeführt haben“, stellte Malgoth fest.
„Da ist noch ein Pergament“, bemerkte Gartret.
Malgoth streckte die Hand aus und der ehemalige Schauspieler gab ihm das Verlangte. „Kagor, halt mir bitte die Laterne, damit ich vorlesen kann.“
Als Malgoth genügend Licht hatte begann er: „‚Ihr habt den Auftrag wohl ausgeführt. Die silbernen Beinschienen unseres Lebensspenders werden uns ein tiefes Gefühl des Glücks bescheren. Nehmt das Geld und werft dann die silberne Münze zu Boden – damit wird ein Zauber gewirkt werden, welche eine Truhe zum Vorschein bringt. Legt die Beinschienen hinein und schliesst sie wieder – dadurch werden wir Zugriff erlangen.
Doch es gibt noch mehr zu tun; der Durst nach unserem Herrscher will gestillt sein. Begebt euch weiter nach Norden und ihr werdet in eine Stadt kommen, die Kulmina genannt wird. Dort müsst ihr den silbernen Helm suchen, der einst das Haupt unseres Lebensspenders geschmückt hat. Tut es und reicher Lohn wird euch sicher sein; 2000 Goldtaler sollten euch für eure Mühen Entgelt genug sein. Aber vergesst nicht: so grosszügig wir auch sind, so unerbittlich wird unser Zorn jene treffen, die unsere Erwartungen zu enttäuschen. Verkennt nicht die Lage der Welt und lernt die Zeichen zu deuten.’ Das ist alles, was da steht.“
„Seltsam und geheimnisvoll wie beim letzten Mal“, meinte Siliah.
„Sogar fast ein wenig verschroben“, setzte Gartret hinzu.
„’Verkennt nicht die Lage der Welt und lernt die Zeichen zu deuten’?“, murmelte Malgoth, „das wiegt schwerer als es bloss den Anschein hat.“
„Wie dem auch sei“, sagte Gartret, „wie sollten besser tun, was sie gesagt haben. Schliesslich haben sie ihren Teil der Abmachung erfüllt.“
Malgoth nickte: „Wir sollten uns diese Leute nicht zum Feind machen.“
Kagor nahm die silberne Münze, die auf dem Sack gelegen hatte und warf sie auf den Waldboden. Ein Knistern war vorerst nur zu hören; doch dann kam plötzlich von allen Seiten Wind auf, welcher von der Münze regelrecht aufgesogen wurde.
„Hoffentlich ist das keine Falle!“, bangte Gartret und hielt sich sicherheitshalber an einem kleinen Baum fest.
Der Wind erstarb und die Münze am Boden leuchtete auf einmal grell auf; dann wuchs sie in die Breite und in die Höhe und nahm sehr rasch die Form einer silbernen Truhe an.
Einen Momentlang verharrten die Diebe schweigend. Schliesslich meinte Malgoth flüsternd: „Es ist ein mächtiger Zauber, der soeben gewirkt wurde. Doch er scheint keinen Schaden angerichtet zu haben – soweit ich sehen kann.“
„Legen wir besser die Beinschienen hinein, dann ist diese Sache hoffentlich erledigt“, sagte Siliah.
Malgoth nahm die Beinschienen, legte sie in die Truhe und schloss diese. Augenblicklich kam wieder Wind auf – doch diesmal kam er von der Truhe aus und wurde von ihr aus in alle Richtungen geblasen. Das helle Leuchten erschien erneut. Die Truhe schrumpfte und nahm eine kleine, kugelförmige Gestalt an. Aus dieser silbernen Kugel entsprossen Beine – insgesamt drei.
Die Kugel wurde von den Beinen etwa eine Handbreit emporgehoben; dann machte sich das ganze Ding – wie eine Spinne laufend – rasch davon.
Atemlos vor Staunen verharrten die vier Diebe.
„Warum sind Leute, die solche Dinge tun können, auf uns angewiesen?“, fragte Siliah.
„Irgendjemand macht immer die Drecksarbeit für die Grossen“, erwiderte Gartret.
„Wenigstens hat es diesmal keine Explosion gegeben – die letzte hätte mich fast umgebracht“, fügte die Elfe noch an.

„2000 Goldtaler – wir müssen diesen Auftrag unbedingt annehmen!“, versuchte Gartret am nächsten Morgen den Anderen klarzumachen.
„Aber dazu müssten wir… nach Kulmia“, warf Siliah unsicher ein.
„Und? Was ist das für ein Ort?“, fragte Gartret die Elfe, „bist du schon einmal dort gewesen?“
Siliah schüttelte den Kopf.
„Was bitteschön soll denn das für ein Argument sein?“
„Beim letzten Mal habe ich nicht viel über die Diebeskunst gelernt“, meinte Kagor, „aber vielleicht klappt es ja jetzt. Ich finde, wir sollten diesen Auftrag ausführen.“
„Ich enthalte mich der Stimme“, gab Malgoth bekannt, „obwohl ich gerne aussteigen würde, ist es dafür wahrscheinlich schon zu spät.“
„Du und deine Geheimniskrämerei!“, warf Gartret dem Zwergen giftig vor. „Wieso verschweigen wir uns Dinge? Das kann unser Überleben gefährden!“
„Ihr beide solltet uns sagen, was ihr auf dem Herzen habt“, mahnte Kagor Malgoth und Siliah, „was befürchtest du, Malgoth?“ Dann wandte er sich an die Elfe: “Und was hat es mit dieser Stadt Kulmina auf sich?“
Gartret nickte: „Ja, genau – sagt es uns!“
Doch sowohl Malgoth wie auch Siliah zogen es vor zu schweigen.
Der ehemalige Schauspieler verwarf theatralisch die Hände: „Na, fabelhaft! Aber wie auch immer: es steht nach Stimmen zwei zu eins – wir führen den Auftrag aus. Wir gehen nach Norden nach Kulmina, besorgen uns den Helm und kassieren die 2000 Goldtaler. Genau das tun wir, und nichts anderes!“ Damit nahm er seinen Rucksack und stapfte trotzig Richtung Norden.

Schweigend wanderten sie durch das flache Land – ihre Stimmung war nicht die Beste.
Erst gegen Mittag hatte sich die Sonne durch die Nebeldecke gekämpft. Endlich wurde aus dem aschfahlen Licht ein richtiger Tag. Die Temperatur stieg merklich. Das Land erschien mit einem Mal viel freundlicher; die Farben der Pflanzen zeigten sich ihnen viel kräftiger und die Vögel erwachten zum Leben.

Malgoth hatte plötzlich das Bedürfnis sich zu entschuldigen: „Es tut mir leid, wenn ich mich in dunklen Andeutungen verliere.“
„Das tust du in der Tat!“, stellte Gartret energisch fest.
Der Zwerg hob beruhigend die Hand: „Ich will euch nur nicht mit irgendwelchen Annahmen verrückt machen.“
„Was bräuchtest du denn, um aus diesen Theorien Gewissheiten zu machen?“, fragte Kagor.
„Ich müsste mich mit ein paar Gelehrten austauschen und eine gut ausstattete Bibliothek durchstöbern.“
„Das wird wahrscheinlich nicht möglich sein“, meinte Siliah.
„Das wäre aber wichtig“, entgegnete der Zwerg. „Wir sollten herausfinden, was wir hier tun. Es ist gefährlich, der Erfüllungsgehilfe für die Pläne die Silbertränen zu sein und keine Ahnung zu haben, was vorgeht.“
„Schon klar“, antwortete Gartret, „aber sag uns doch, was du herausgefunden zu haben glaubst.“
Malgoth sammelte kurz seine Gedanken: „Beinschienen – Helm; ich glaube, wir beschaffen Teile einer kompletten Rüstung. Und diese Rüstung wird irgendetwas auslösen können – so glauben diese Silbertränen es wohl.“
„Und was soll dann passieren?“, fragte Siliah.
Malgoth schüttelte den Kopf: „Das weiss ich noch nicht mit Sicherheit. Aber wir sollten herausfinden, zu welchem Zweck diese Rüstung einst gedient hatte. Und dafür müssten wir jemand finden, der sich mit Geschichte gut auskennt.“
„Doch ihr Menschen redet für gewöhnlich nicht einmal über diese Epoche. Wer soll da noch Bescheid wissen?“ Wie immer machte die Elfe keinen Unterschied zwischen Zwergen und Menschen.
Malgoth zuckte mit den Schultern: „Ich habe keine Ahnung, was ich darauf antworten soll. Aber wir müssen uns das Wissen beschaffen; ansonsten sind wir bloss Marionetten, in einem Spiel, das wir nichts verstehen. Vergesst nicht: wir hantieren hier mit Artefakten aus einer schrecklichen Zeit; eine Vergangenheit, in der sich einst mächtige Kräfte gegenübergestanden.“
Nach dem sie wieder einige Schritte gegangen waren, nickte Gartret: „Gut, wir versuchen mehr herauszufinden. Aber vorerst werden wir uns an die Fakten halten: Diese Silbertränen zahlen den versprochenen Betrag in voller Höhe; und das mit barer Münze. Vor allem vergesst eines nicht: wir sind weder Geschichtsgelehrte noch Wohltäter – wir sind schlicht und ergreifend Diebe! ‚Alles ausser Mord’ ist unser Motto – und bislang haben wir für die Silbertränen noch Keinen umgelegt.“
„Morde kam man leider nicht nur mit Waffen begehen“, murmelte Malgoth halblaut, „die ganz grossen Massaker sind oft durch Dummheit der Leichtgläubigen eingeleitet worden.“

*****

Atamirenses wagte nicht die Strassen benutzen. Er nahm in Kauf, dass er dadurch viel Zeit verlor.
Seit er aufgebrochen war, hatte er keine ruhige Minute verbracht. Hinter jeden Baum und hinter jedem Strauch glaubte er seine tödlichen Feinde zu sehen. Sein Herz raste beinahe ohne unterlass.
Und je länger er ohne Schlaf blieb und sich keine Rast gönnte, desto mehr wurde er sich dem Schattenhaften in der Welt bewusst, welches unauflöslich mit dieser verbunden schien.
Jeder Baum, jeder Stein und selbst jeder Grashalm barg eine dunkle Seite in sich; durch Angst und Rastlosigkeit war sein Blick auf Weise geschärft und verändert, dass er dies nun wahrnahm. Blick.
Atamirenses hätte laut auflachen können; die Welt war nicht was sie zu sein vorgab! Der Betrug war aufgeflogen. Und nichts würde dieses Wissen über die geheime Wirklichkeit der Dinge je wieder aus seinem Gedächtnis löschen können.

Die Welt war eine andere geworden.
Es war wie die Dunkelheit, die sich wie bleierne Schwere herabsenkte, nachdem die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war. Die Licht und die Wärme des Tages waren nur noch eine ferne Erinnerung; und die Aussicht auf deren Wiederkehr eine lächerliche Vorstellung.

Da er ein gutes Pferd hatte und es erbarmungslos vorwärts trieb, war er einigermassen schnell vorangekommen, obwohl der die Strassen mied. Aber dies vermochte ihn einfach nicht zu beruhigen. Er war sich sicher: Die Silbertränen warteten nur, bis er sich in Sicherheit wiegte; sich endlich schlafen legte und die Gefahr zu vergessen versuchte.
Dann würden sie ihm zuerst in seinen Träumen heimsuchen. Schlussendlich würden sie ihm einen grässlichen Übergang von einem Alptraum direkt in den Schlund des Todes bereiten.
Wo waren sie nur? Wieso töteten sie ihn nicht einfach und beendeten die Sache damit?
Die in die Länge gezogene Qual des sicheren Todes vor Augen schien ihm bald schlimmer als das Ende selbst.
Am liebsten hätte er laut geschrieen: „Kommt hervor! Versteckt euch nicht länger und tut endlich, weshalb ihr hier seid!“

Vielleicht wäre klüger das Leben von sich aus aufzugeben. So würde er die Silbertränen wenigsten um ihren Triumph betrügen können; und für ihn würde diese Qual endlich ein Ende haben.
Aber Atamirenses versuchte diesen Gedanken abzustreifen wie ein nasses einengendes Kleidungsstück, welches auf ihm lastete. Auf so billige Weise sollten sie ihn nicht loswerden! Sie mussten schon selbst herkommen und ihn töten!
Noch war er am Leben und noch rannte er darum mit seinen Häschern um die Wette.
Atamirenses gab seinen Pferd die Sporen; dieses wieherte erschöpft auf, doch es nahm alle Kraft zusammen und fiel wieder in einen unruhigen Galopp.


*****

Am nächsten Tag gingen sie weiter über die Ebene – jeder brütete über seinen Gedanken. Malgoth murmelte Dann und Wann etwas Unverständliches, doch niemand fragte nach.
Die Stille, die sie umging, wurde immer unangenehmer. Jeder schien nur noch darauf zu warten, dass ein Anderer den Mut finden würde, das Schweigen zu brechen.

Schliesslich hielt es Kagor nicht mehr aus und musste sich mit Worten Luft verschaffen: „Diese Silbertränen scheinen viel Bosheit in sich zu tragen – und wir helfen ihnen; das ist nicht gut.“
„Ja“, bestätigte Malgoth, „sie werden schlimme Dinge im Schilde führen.“ Der Zwerg schien zu sinnieren, dann lächelte er.
„Was hast du?“, fragte Gartret.
„Ich habe gerade über das Böse nachgedacht – und vor allem über dessen Ursache.“
„Das Böse hat eine Ursache?“, war sich Siliah nicht sicher, „vielleicht gehört es einfach nur zur Welt.“
„Woher glaubst du, dass das Böse kommt?“, wollte Kagor wissen, nachdem er sich etwas hatte zurückfallen lassen, um besser mit dem Zwergen sprechen zu können.
„Also von sich aus gesehen ist das Böse eigentlich unsinnig: Wer sich schlecht verhält, der wird Andere dazu anstiften, es ihm gleichzutun. Und dies führt zu einer Welt, in der jeder auf der Hut sein muss und sich jeder unwohl fühlt. Es ist eigentlich daher zutiefst unvernünftig böse zu sein – man verschlechtert damit sein eigenes Leben.“
Gartret nickte und klopfte auf seine Seitentasche: „Hier im Buch Vindros steht, dass sowohl das Leid wie auch die Lust sich wie Krankheiten verbreiten – vielleicht gilt das auch für das Böse.“
„Aber dann dürfte es ja das Böse eigentlich nicht geben – Malgoth?“, warf Siliah ein.
„Das Böse gibt es – daran kann es keinen Zweifel geben“, wandte Kagor mit Bestimmtheit ein.
„Aber ja doch“, befand auch der Zwerg, „wenn wir das Böse als eine Kraft verstehen, die dazu führt, dass wir willentlich uns und anderen Schaden zufügen. Nur wer will uns sehenden Auges ins Unglück stürzen? Wohl nur Wenige. Und dennoch gibt es viele, die wir Böse nennen müssen. Es muss also irgendetwas am Anfang des Bösen stehen, dass unsere Sinne verwirrt. Ich selbst denke, dass es etwas mit Angst zu tun hat; denn was verwirrt die Sinne besser als sie?“
Kagor nickte und spannte seinen mächtigen Körper: „Nur wer mutig im Herzen ist, der kann auch das Böse bekämpfen. Die Furcht lähmt uns.“
„Das habe ich nicht unbedingt gemeint. Ich denke vielmehr, dass die Angst dazu führt, dass wir das Falsche tun, welches dann das Böse sein kann.“
„Ist es wirklich so einfach?“, zweifelte Siliah erneut, während sich ihre Augen immer mehr zu zwei dünnen Schlitzen verengten. „Das würde ja heissen, dass jeder Ängstliche böse ist – und das ist nicht wahr.“
Malgoth lächelte wieder: „Sehr richtig. Es muss also eine bestimmte Angst sein. Wie wäre es zum Beispiel mit der Furcht, Verlust erfahren zu müssen? Vielleicht gar das eigene Leben oder die eigene Seele zu verlieren? Möglicherweise führt diese Art der Angst dazu, das wir ungebührliche Dinge tun – und dies später zur Gewohnheit werden lassen. Wir wollen uns selber schützen und vor Verlust bewahren und kommen dabei auf den Gedanken, dies nur tun zu können, indem wir andere leiden lassen.“
„Manchmal ist es doch wirklich besser, anderen Leid zuzufügen, bevor sie uns selbst Schaden können“, dachte Gartret laut.
Kagor schüttelte den Kopf und wollte Gartret widersprechen; doch dann besann er sich anders und blieb allgemeiner: „Was immer das Böse ist – wir müssen es im Zaum halten; sei es bei Anderen oder auch in uns selbst.“

Das Wetter war schon den ganzen Nachmittag über unentschieden gewesen; mal jagten Wolken vorüber, dann schien es wieder als hätte sich die Sonne durchgesetzt; aber dies war nie von Dauer.
Die rasch vorüberziehenden Wolken warfen wogende Schatten auf die Felder – man konnte sich alles Mögliche unter den ständig wechselnden Umrissen vorstellen.

Sie wanderten schon seit vielen Stunden über die Ebene, die einfach kein Ende nehmen wollte. Bald würde es Zeit sein, das Nachtlager aufzuschlagen.

Siliah wirkte immer geistesabwesender; oftmals blieb sie stehen und es schien so als lausche sie. Zwischendurch betrachtete sie die Felder und ein eindeutiger Ausdruck der Verbitterung legte sich dann auf ihre Züge.
„Was hast du?“, fragte Kagor schliesslich, „was erfüllt dich so mit Abscheu?“
„Diese Bauern – mit ihren Felder und Tieren – sie gehören nicht hierher!“, presste sie hervor.
„Gehören nicht hierher?“, echote Malgoth, „was meinst du damit?“
„Das ist nicht ihr Land! Ihre Vorfahren haben es gestohlen – und nun wissen sie nicht einmal von diesem Diebstahl – die Menschen vergessen so leicht!“
„Ich muss doch sehr bitten!“, protestierte Gartret.
„Wieso bezichtigst du diese Bauern des Diebstahls?“, hakte Kagor nach, „das sind doch ehrliche und hart arbeitende Leute.“
Siliah Lippen blieben verschlossen; sie wandte den Blick ab.
„Du schuldest uns Menschen eine Antwort“, liess Gartret nicht locker, „nach deinen harschen Worten verlange ich das.“
Zuerst schien es, als wolle Siliah nicht antworten. Sie rang mit sich selbst, dann streckte sie flach die Hand aus: „Das ist alles Elfenland – die ganze Ebene.“
„Hier haben einst Elfen gelebt?“, fragte Malgoth neugierig.
„Nicht nur irgendwelche Elfen. Das war die Heimstatt der inneren Clans. Doch dann kamen die Bauern und haben alles mit Feuer und Axt gerodet. Zuerst liessen die Clans sie gewähren. Erst als es schon längst zu spät war, begannen sich einzelne zur Wehr zu setzten.“
„Die inneren Clans?“, fragte Kagor nach.
Siliah nickte: „Der Kern der Clanstruktur, die ihr Menschen nicht verstehen könnt, und“, sie sah in Gartrets Richtung, „das ist keine Beleidigung, sondern nur eine Feststellung.“
„Dann seid ihr also von Bauern überrannt worden“, stellte Malgoth fest.
„Die Elfen waren nach dem dunklen Zeitalter geschwächt. Sie hatten den vielen Menschen nichts mehr entgegenzusetzen.“
„Und diese inneren Clans – was haben die für eine Bedeutung gehabt?“, fragte Kagor.
„Sie haben Etwas bewacht“, entgegnete Siliah knapp.
„Und was?“
Die Elfe stöhnte und meinte dann: „Das werdet ihr sehr bald sehen.“

*****

Das Schloss wurde aus der Verankerung gerissen. Badrus und Matila hatten mit brachialer Gewalt endlich ihr Ziel erreicht. Mit vereinten Kräften hatten sie die Tür zum Ratshaus mit einem Brecheisen aufstemmen können.

In der Stadt Vindara herrschte seit dem Erscheinen der Menaden eine Art von gespannter Waffenruhe. Die Anhänger Vindros hielten den Rathausplatz besetzt; die Wachen der Stadt lauerten unauffällig aber allgegenwärtig in den umliegenden Gassen. Doch niemand wusste zurzeit, wie mit dieser neuen Situation zu verfahren war; und so herrschte einstweilen der jetzige Zustand unverändert fort.
Bislang war niemand verletzt worden. Doch die Bürger hatten mit hilflosem Entsetzen den Wiederaufstieg des Vindros-Kultes mitverfolgen müssen; und man hatte sie gezwungen, an einem geheimnisvollen und abgründigen Ritual teilzunehmen. Was längst erledigt schien, hatte sich nun wieder an die Oberfläche gedrängt - Vindros war wieder da. Es war, als sei eine schlecht vernarbte Wunde plötzlich wieder aufgeplatzt.

Manche hatten sich von dem elesaischen Wein einen tüchtigen Kater zugezogen, aber die Köpfe der Bürger klarten sich allmählich wieder auf.
Der zwergische Herold war kurz unauffindbar gewesen. Doch man hatte ihn gefunden; ohnmächtig in der Gosse liegend mit einer gebrochenen Nase. Und man hatte ihm die silbernen Beinschienen geklaut. Gleichzeitig waren auch die vier neuen Anhänger Vindros verschwunden. Diese seltsame Gleichzeitigkeit sorgte bei Badrus und Matila für ein gewisses Unbehagen.

Der Meisterwinzer und seine Tochter betraten das Ratshaus; niemand schien sich hier zu befinden. Doch Badrus war vorsichtig; er hielt die Brechstange wie eine Waffe über seinem Kopf.
Von der Eingangshalle kamen sie in ein Treppenhaus.
„Nach unten oder oben?“, fragte Badrus.
Matila zeigte stumm nach unten; eine böse Vorahnung schien sie zu plagen.
Im Keller fanden sie mehrere Räume, die als Vorratslager für alle möglichen Dinge dienten. Aber sie entdeckten auch eine schwere, geschlossene Tür, die ihre Aufmerksamkeit erregte.
Wieder benutzen die Beiden die Brechstange.
Die mit Eisen beschlagene Tür leistete eine ganze Weile Widerstand, dann musste auch sie sich der geballten Entschlossenheit der Beiden fügen – der Weg war frei.
Langsam und vorsichtig betraten sie einen fensterlosen Raum. Badrus entzündete eine Petroleumlampe, welche auf einem Tisch stand. Als er mit einem Regler das Licht heller stellte, konnten sie sehen, dass der Raum mit vielen Gerätschaften ausgestattet war. Erst nach einem Moment der Verwirrung gewahrten sie, dass es sich um Folterinstrumente handelte.
Matila stockte der Atem.
Badrus nahm seine Tochter schnell in den Arm: „Wir wissen nicht ob sie… Vielleicht sind hier nur richtige Verbrecher gefoltert worden.“ Doch dem Meisterwinzer fehlte die rechte Überzeugung in seiner Stimme.
Matila nahm ein dickes Buch zur Hand, welches auf dem Tisch neben der Petroleumlampe gelegen hatte. Sie schlug es auf und begann zu lesen. Bald wurde ihr Gesicht bleich und ihre Hände zitterten: „Geständnisse…“, hauchte sie nur. Und als sie eine ganze Weile weiterblätterte, wurden die schlimmsten Ahnungen zur Gewissheit: „Mutter…“
Badrus riss seiner Tochter das Buch aus der Hand. „Bei Vindros – es ist wahr!“ Als hätte ein Schlag den Meisterwinzer in die Magengrube getroffen, zuckte er zusammen und begann leise zu schluchzen.
Von grossem Ernst beseelt, nahm Matila das Buch wieder an sich: „Sie... Sie haben sie am Ende im Wald verscharrt – so wie sie es immer taten, wenn einer der Unseren sich aus der Dunkelheit gewagt hatte.“
Badrus konnte nicht antworten. Vor Schmerzen gekrümmt weinte er, ohne dabei ein Geräusch von sich zu geben.
Für Matila schien die Zeit wie stehen geblieben. Die Folterinstrumente, der gesamte Keller, ja, sogar ihr Vater schien weit weg gerückt. Selbst die Gewissheit um das Leiden und den Tod ihrer Mutter beherrschten ihr Denken nicht länger. Ihre Gedanken enteilten vielmehr der Gegenwart und wanderten in die Zukunft. Wie würde sie selbst je lieben und geliebt werden können, wenn der Tod ihr all das in einem einzigen Augenblick wieder nehmen konnte? War es das Risiko überhaupt wert? War es vielmehr nicht besser, kalt wie ein Stein zu sein um den Schlägen des blind wütenden Schicksals ihre Härte nehmen zu können? Und wenn Liebe nicht mehr möglich war, so konnte sie sich wenigstens noch eine Weile an der verzehrenden Glut ganz anderer Gefühle wärmen.
Matila blätterte weiter im dem Buch. „Alle Geständnisse wurden von einem Mann abgenommen; einem Sekretär der Stadt. Emalus ist sein Name – ihm wird mein ganzer Hass gehören.“

*****

Ein riesiger schwarzer Stein schälte sich aus den Schleiern des Morgennebels, welcher die Ebene wie ein weisses Tuch bedeckte. Der Stein besass eine Kantenlänge von vielen Meilen; und er war fast ebenso hoch. Halb eingesunken in der Ebene wirkte er völlig fremd und unpassend dieser Landschaft, die sonst so gar nichts Spektakuläres aufzuweisen hatte.
„Da am Rand dieses Steins ist eine Siedlung, die ihr Menschen die Stadt Kulmina nennt“, erklärte Siliah.
Die anderen Drei antworteten nicht, sondern betrachteten sprachlos vor Staunen das gewaltige Gebilde.
„Ich habe davon gehört“, hauchte Malgoth geradezu ehrfürchtig. „Es ist also wahr – man hat eine Stadt in einen riesigen Fels hineingebaut.“
„Wir Elfen kennen den Stein schon länger als ihr – er war einst das Herz unseres Landes und das grosse Heiligtum aller Clans.
„Und.. das ist eine Stadt?“, fragte Kagor.
Siliah nickte: „Jetzt schon – jedenfalls ein kleiner Teil davon; der Stein ist von unzähligen Gängen und Hohlräumen durchzogen. Und seine Oberfläche ist an vielen Stellen nach den Wünschen der Menschen behauen und neu gestaltet worden.“
Gartret schüttelte den Kopf: „Ich kann mir nicht vorstellen, in so einem Ding zu wohnen.“
„Es leben auch nicht mehr viele Menschen hier“, belehrte Siliah Gartret, „früher war das anders. Lange Zeit über wurde hier Gold und Kupfer abgebaut. Innen – in den Höhlen - hat der Stein früher nur so geglänzt. Aber seit der Stein nichts mehr hergibt, ist die Stadt ziemlich verlassen.“
„Bist du schon einmal dort gewesen?“, fragte Kagor.
„Nein – aber alle Elfen wissen, wie es um den Stein steht. Aber egal was ihr mit ihm macht; er wird immer ein Teil von uns bleiben.“
Als sie näher kamen, sahen sie, das unzählige Löcher in den Stein hineinführten. Und wie Siliah gesagt hatte: an vielen Stellen war die Oberfläche geradezu zu einer Stadt gemeisselt worden. Es gab Strassen und Häuserzeilen, viele Brücken und sogar Plätze.
„Das ist fantastisch!“, meinte Kagor, „wieso haben wir noch nie von diesem Ort gehört?“
„Städte, die ihre beste Zeit hinter sich haben, zählen bei euch nicht mehr viel“, bemerkte Siliah. „Ausserdem ist Kulmina durchaus noch bekannt, allerdings mehr bei den Gelehrten und bei den Forschern eurer Rasse; offenbar haben diese Leute sogar die Verantwortung für den Stein inne.“
„Ja – das habe ich auch gehört“, sagte Malgoth, „ich wollte den Stein schon längst einmal besucht. Er soll im Inneren höchst interessant sein. Und was die Forscher anbelangt: ich weiss viel über das Auftreten und die Sprache dieser Leute; das können wir zu unserem Vorteil nutzen.“
„Wo dieser Helm wohl sein könnte, den wir für die Silbertränen stehlen sollten?“, fragte sich Gartret.
„Wir sollten die Sache langsam angehen“, meinte Malgoth dazu, „das scheint ein höchst bemerkenswerter Ort zu sein. Besser wir finden heraus, was das für eine Stadt ist, die sich da in diesem Stein eingenistet hat.“

*****

„Die Oberste Kuratorin verlangt nach dir – und es gibt keine Entschuldigung!“
Bezarze löste ihre Aufmerksamkeit von der mit unendlich kleinen Buchstaben beschrifteten Steinplatte und sah auf. Die Gestalt, die vor ihr stand, konnte sie nur verschwommen wahrnehmen. Es dauerte eine Sekunde, dann begriff Bezarze; sie klappte mit einer raschen Bewegung den zweiten Satz Brillengläser hoch. Augenblicklich konnte sie scharf sehen. Ihre inneren Brillengläser erlaubten eine ausgezeichnete Sicht auf mittlere Distanz – ihre äusseren funktionierten eher wie Vergrösserungsgläser. Vor ihr stand Quandor, der Stellvertreter der Obersten Kuratorin Talmara. Er war einer der wenigen Männer, die in der Gruppe zur Restaurierung und Erforschung der Stadt Kulminas dienten. Doch böse Zungen behaupteten – wohl wegen Quandors hoher Stimme – dass die Definition ‚Mann’ in seinem Fall nicht vollständig zutraf. Aber das tat hier nichts zur Sache – ein persönliches Aufgebot der Obersten Kuratorin konnte nicht umgangen werden. Bezarze stöhnte, warf noch einen letzten Blick auf die Steintafel und stand auf. „Und, hat sie gesagt, um was es geht?“
„Hat sie nicht“, erwiderte Quandor knapp.
„Dann werde ich es wohl selbst herausfinden müssen.“
Lustlos trabte Bezarze hinter Quandor her, der in doch ganz ordentlichem Tempo durch die Gänge und Hallen eilte. Manchmal führte ihr Weg sie über eine Terrasse und der freie Himmel stand für einen Moment über ihnen – fast schon ein ungewohnter Anblick für Bezarze. Von diesen Orten aus hatte man einen imposanten Ausblick auf die Ebene, welche Kulmina umgab; aber weder Quandor noch Bezarze hatten einen Blick für diese eindrucksvolle Weite übrig. Niemand in Kulmina war der Aussicht wegen hier. Harte Arbeit erwartete jeden Kurator im Inneren des Steins. Alleine die so genannt äusseren Bezirke - welche an der Oberfläche des Steins oder knapp darunter lagen – waren von archäologischen und kunsthistorischen Besonderheiten nur so gespickt. Hier musste man allerdings zuweilen vorsichtig sein; schliesslich waren manche der äusseren Bezirke immer noch bewohnt; meist alte Leute, krank und dahinsiechend von der Minenarbeit, die sie einst verrichtet hatten. Aber im Grunde genommen war Kulmina bereits eine tote Stadt – und genau dies zog die Forscher und Kuratoren an. Einen Ort wie diesen gab es nur einen auf der Insel und damit in der bekannten Welt. Wie die Schalen einer Zwiebel lagen die verschiedenen Schichten der Siedlungswellen übereinander. Das wertvollste Erz hatte sich ziemlich weit innen im Stein befunden. Zugang in den porösen Stein hatte sich jeder verschaffen können, dafür gab es Höhlen genug. So hatten die Minenarbeiter zuerst nahe am Kern geschürft – wo die Erze am ergiebigsten vorhanden gewesen waren. Und immer wann Stollen und Gänge aufgegeben wurden, dann traten die so genannten Goldgeschlechter als Mäzene auf den Plan. Die Goldgeschlechter waren Familien, welche Schürfrechte im Stein besassen und dadurch oft märchenhaft reich wurden. Als sie mit dem Geld nichts mehr anderes anzufangen wussten, begannen sie sich für Kunst zu interessieren. Eigentlich war es mehr der Konkurrenzkampf untereinander, der ihnen wirklich am Herzen lag. Jedes Goldgeschlecht versuchte seine verlassenen Gänge und Stollen prächtiger zu schmücken und die anderen Familien zu übertrumpfen.
Die Künstler kamen in Scharen. Ihre Inspiration entzündete sich in dieser einmaligen Umgebung. Und gemäss der momentan vorherrschenden Geschmacks begannen sie den Stein von innen nach aussen zu dekorieren. Auf diese Weise war ein Panoptikum der Kunst entstanden – Schicht um Schicht.

Was sich aber genau nahe dem Kern des Steins befand, konnte man nicht so recht sagen. Es gab nur ganz wenige Expetitionen der Kuratoren dorthin. Einerseits hatten die Forscher und Bewahrer bereits genug mit den äusseren Bezirken zu tun; andererseits gab es da Gefahren, die man nach längerem Aufenthalt hinauf zu beschwören schien.
Der innerste Kern – so wurde gemunkelt – sei überhaupt noch nie von Menschen betreten worden. Ob dies der Wahrheit entsprach, war ebenso umstritten wie unbekannt.

Bezarze hatte mit ihren Steintafeln noch für Jahrzehnte Arbeit. Aber stets wenn die Rede auf die inneren Bezirke kam, fühlte sie ein seltsames Kribbeln. Wie magisch schien sie vom Inneren des Steins angezogen zu werden. Was beherbergten die Tiefen der inneren Bezirke? Warum wollte ein Teil von ihr unbedingt dorthin und weshalb fürchtete sie sich gleichzeitig so davor?
Bezarzes Gedanken kreisten oft um solche Fragen. Sie war nun schon fast vierzig Jahre alt. Ihr Leben drohte zu einer monotonen Routine zu verflachen, die sie einerseits schätzte, andererseits aber stets ein Gefühl der Unbefriedigtheit zurück liess. Es schien ihr, als wäre es nun höchste Zeit, dass sich ihr Schicksal zeige.
Oft lag sie des Nachts wach, geplagt von seltsamen Träumen, die kamen, ohne dass sie wirklich schlief. Immer wieder erschien sie sich selbst, bekleidet von grauen Lumpen und das Gesicht von wabernden Schleiern verdeckt.
Dann griffen Hände nach ihr und rissen die Lumpen von ihrem Leib und nahmen ihr die Schleier vom Gesicht. Ein Gefühl der Angst, aber auch der Befreiung umfing sie. Jetzt war sie sich selbst geworden – frei doch verletzlich. Immer konnte sie zuletzt noch einen Blick auf ihre Befreier werfen – und immer gewahrte sie, dass es Elfen waren.
Jedes Mal war es dasselbe: Schweissgebadet riss sich Bezarze aus den geträumten Visionen. Erstaunt befühlte sie ihren Körper und hörte ihre Lungen atmen. Ihr Herz schlug pochend, doch es war ihr fremd. Sie war nicht sie selbst. Wer war sie?

Die Oberste Kuratorin Talmara machte ein strenges Gesicht. Sie sass hinter einem steinernen Schreibtisch, der von einer solchen Menge an Pergament und Papier bedeckt war, dass eine hölzerne Entsprechung unweigerlich dieser Last erlegen wäre.
„Bezarze – die Höflichkeit gegenüber auswärtigen Kollegen verlangt – dass du deine Arbeit einstweilen ruhen lässt.“ Talmara hatte mit einer Bestimmtheit gesprochen, welcher Widerspruch von vornherein ausschloss. Bezarze liess ihre Schultern hängen – sie hasste Unterbrechungen ihrer Arbeit. Wieso liess man sie nicht mit ihren Steintafeln in Ruhe?
Vier Leute betraten die Arbeitsstube der Obersten Kuratorin.
„Das hier“, Talmara wies auf einer der vier, der offenbar ein Zwerg war, „ist Forscher Malgoth vom Bergeseeland. Er und seine Kollegen haben eine weite Reise unternommen. Sie wollen hier Forschung betreiben. Und wie immer helfen wir jenen, die mit wissenschaftlicher Neugier den Weg zu uns finden. Du wirst ihnen zur Seite stehen.“
Bezarze war nicht überrascht – sie hatte im Gegenteil so etwas kommen sehen. Was sie vielmehr verwunderte, war die Art der angekommenen Forscher. Der eine war ein Zwerg – schon das war ziemlich ungewöhnlich. Gleich dahinter stand ein Hüne von einem Mann, flankiert von einem zierlichen Wesen. Konnte das tatsächlich eine Elfe sein? Bezares Herz machte bei ihrem Anblick einen Sprung.
Als Viertes war da noch ein eher dunkel und unberechenbar ausschauender Mensch. Dieser trug im Rucksack eine Armbrust mit sich – höchst ungewöhnlich für einen Forscher.
„An welcher Epoche seid ihr denn interessiert – Forscher Malgoth?“, fragte Bezarze vorsichtig.
Dieser liess sich mit der Antwort Zeit. Er schaute sich um, so, als wolle er sich vergewissern, dass niemand sonst anwesend war. „Wir sind am Dunklen Zeitalter interessiert“, flüsterte er schliesslich halblaut, „an der Zeit, in welchem der Grosse Herrscher von einst… Ihr wisst schon.“
Für einige Zeit herrschte erschrecktes Schweigen. Dies hatten weder Bezarze noch die Oberste Kuratorin erwartet. Schliesslich fing sich Talmara wieder: „Einen ungewöhnlichen Zeitraum habt ihr euch da ausgewählt – Forscher Malgoth. Aber die Wissenschaft muss unvoreingenommen sein – dies gilt auch für unangenehme Themen; das ist immer unser Leitfaden gewesen. So soll es auch jetzt sein; ich genehmige eure Forschung. Aber sprecht mit niemanden über euer Vorhaben – das ist die Bedingung. Wir wollen in der Stadt keine Unruhe aufkommen lassen.“
Malgoth nickte und zeigte damit an, dass er einverstanden war.
„Wenn ihr so weit zurück wollt, dann müsst ihr tief in den Stein – in die Randzone zwischen den äusseren und den inneren Bezirk. Das wird eine regelrechte Expetition werden – und so etwas kommt selten vor. Bereitet euch gut auf dieses Vorhaben vor – Forscher Malgoth. Bezarze wird euch dabei helfen; und sie wird euch begleiten.“
Bezarze fühlte sich plötzlich seltsam. Es war ihr als würde sie in ein tiefes Loch fallen und doch gleichzeitig emporgehoben. Sie wusste instinktiv; die vier ungewöhnlichen Forscher würden ihre grössten Hoffnungen wie ihre schlimmsten Befürchtungen wahr werden lassen. Nichts würde so sein wie zuvor. Was verbarg der Stein?

*****

Badrus und Matila hatten rasch erfahren, dass Emalus erst kürzlich verstorben war. Doch der Winzertochter liess die Sache keine Ruhe. Was musste das für ein Mensch gewesen sein, der solche Dinge tat? Sie wollte wenigstens den Leichnam des Mannes sehen, welcher ihr das Liebste in ihrem Leben genommen hatte. Der Mörder ihrer Mutter sollte nicht unerkannt im Reich der Toten weilen dürfen.
Es dauerte nicht lange und Matila hatte ihren Vater dazu überredet, sich Zugang zum Grab zu verschaffen.

Es war einfach, in den ehemaligen Weinkeller zu gelangen. Er lag nicht weit vom Ratshaus entfernt. Hier fanden die berühmten Toten der Stadt ihre letzte Ruhe. Einer der Anhänger Vindros war ein Totengräber und er besass die Schlüssel zu allen Grabkellern der Stadt. Doch als er das Schloss sah, runzelte der Mann die Stirn: „Da hat sich jemand daran zu schaffen gemacht.“
„Jemand, der keinen Schlüssel besass?“, fragte Badrus.
Der Totengräber nickte, dann stiess er die unverschlossene Tür auf; ein modriger Gestank kam ihnen entgegen. „Der Keller ist zwar trocken“, erklärte der Totengräber, „aber die Toten sind innen voller Wasser; daher vermodern sie die ersten paar Wochen, bevor sich trocknen.“
Sie gingen hinein. Der Totengräber brauchte sich nicht lange umzuschauen, dann fand er die richtige Nische. „Der Leichnam ist nicht da“, bemerkte er.
Badrus runzelte die Stirn: „Nicht da? Was hat das zu bedeuten?“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Und der Leichnam von diesem Emalus ist ganz sicher hier gewesen?“, insistierte Matila.
„Da bin ich mir ganz sicher – allerdings…“
„Was?“, fragte Badrus.
„Etwas stimmt hier nicht.“ Der Totengräber untersuchte die Grabnische. Immer wieder schüttelte den Kopf.
„Was ist denn jetzt?“, fragte Matila, deren Herz vor Aufregung bis zu ihrem Hals pochte. „Wir wollen wissen, was mit dem Mörder meiner Mutter passiert ist!“
„Es ist seltsam“, entgegnete der Totengräber mit stoischer Stimme, „aber hier sind keine Reste von Leichenwasser.“
„Und das bedeutet?“
„Normalerweise dünsten Leichen in den ersten paar Tagen in trockener Umgebung verunreinigtes Wasser aus – eine Art von dickem Schweiss“, erklärte der Totengräber.
Badrus und Matila stellten sich nur ungern diese Details vor, doch sie wollten unbedingt wissen, was passiert war.
„Durch diesen Schweiss der Toten entstehen gut sichtbare Ränder auf dem Stein.“ Der Totengräber zeigte auf die Grabnische: „hier sind aber keine solchen Ränder.“
Eine Weile schwiegen alle. Matila musste sich abstützen; der ganze Keller drehte sich vor ihren Augen: „Sag mir endlich, was das zu bedeuten hat.“
„Ganz einfach“, erwiderte der Totengräber, „hier hat nie eine Leiche gelegen.“

*****

Malgoth stiess Gartret heimlich in die Seiten, während sie Bezarze durch die Gänge und Arkaden der äusseren Bezirke folgten. Der Zwerg gab sich im Rücken der Kuratorin keine Mühe, seine Freude zu verbergen. Er hatte den Leuten hier weismachen können, er sei ein Forscher und habe den Auftrag, eine ganz bestimmte Epoche zu studieren; natürlich diejenige, in welche auch jenes Artefakt gehörte, das sie im Auftrag der Silbertränen stehlen sollten. Dieses Täuschungsmanöver war ihm nicht mal sonderlich schwer gefallen.
Plötzlich drehte sich Bezarze um und Malgoth musste seinen vergnügten Gesichtsausdruck sofort ändern. Die Kuratorin winkte Siliah heran. „Wir helfen allen, die mit der ehrlichen Absicht zu forschen hierher kommen. Ihr könnt alles Wissen haben, welches wir euch geben können. Aber wir erwarten natürlich von euch dieselbe Offenheit. Wir haben erfahren, dass der Stein einmal ein Heiligtum der Elfen gewesen ist. Natürlich würden wir gerne mehr darüber wissen. Leider sind wir noch niemals so tief in den Stein vorgedrungen, um Spuren von den Elfen zu finden – falls es überhaupt welche gibt.“
„So weit werden wir nicht in den Stein hinein müssen“, warf Malgoth rasch ein.
„Umso wichtiger“, entgegnete Bezarze, „dass ich vielleicht ein paar Informationen von der Elfe…“
„Siliah ist mein Name.“
„…von Siliah bekomme.“
„Ich finde zum Beispiel interessant, dass die Elfen ein Heiligtum in einem Stein haben; ausgerechnet sie, die doch die grüne Natur bevorzugen.“
„Das ist interessant – tatsächlich…“, murmelte Siliah nur.
Bezarze warf der Elfe einen enttäuschten Blick zu; diese ausweichende Antwort erschien der Kuratorin mehr als dürftig.

Die Vier Diebe wurden in eine grosse Vorratskammer geführt. Durch ein grosses Fenster konnte man auf die Ebene sehen. Ansonsten war alles mit grauen Holzkisten vollgestellt.
„Hier lagern wir die Ausrüstung, die wir für längere Expetitionen benötigen“, sagte die Kuratorin. „Nehmt, was euch nützlich erscheint. Doch überladet euch nicht – der Weg könnte weit werden.“ Die Kuratorin wendete sich ab und wollte gehen.
„Warte!“, hielt Malgoth sie zurück, „wann startet die Expetition?“
„Ich werde euch morgen früh abholen – dann führe ich euch zur Grenze zwischen den äusseren und den inneren Bezirken; und danach wieder zurück. Ihr müsst mindestens vier Tage einplanen. Überlegt gut, wie ihr euch die Zeit einteilen wollt; wir bleiben nicht gerne so tief im Stein.“
„Wieso nicht?“, fragte Siliah.
Bezarze warf der Elfe einen bösen Blick zu. Es schien ihr eine Frechheit, dass ausgerechnet Siliah um die Beantwortung einer Frage bat. „Es gibt gewisse… Probleme… Man sollte nicht zu lange in den tieferen Schichten verweilen.“
„Ja“, meinte Malgoth, „sich dieser geballten Vergangenheit auszusetzen, muss sicher bedrückend sein.“
Bezarze lächelte belustigt: „Das stimmt sicher auch. Aber nicht alle Probleme sind so… geistiger Natur – leider…“ Dann schaute sie wieder Siliah eindringlich an: „Es gibt da ein paar Dinge, die wir nicht verstehen. Ich würde selber auch gerne mehr wissen – aber bisher habe wir keine gesicherten Informationen.“
„Nur keine Sorge – wir sind es gewohnt, mit allen möglichen Dingen fertig zu werden“, meinte Gartret.
„Dann ist ja gut.“ Damit verliess die Kuratorin die Vorratskammer ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Es war unklar ob ihre letzte Bemerkung spöttisch zu verstehen gewesen war oder nicht.

„Es hat etwas mit den Elfen zu tun“, sagte Kagor, während er die erste Kiste zu öffnen begann.
„Was hat etwas mit den Elfen zu tun?“, gab Siliah etwas unwirsch zurück.
„Das mit den Gefahren, die nach längerem Aufenthalt herauf beschworen werden.“
„Vielleicht sind die Leute bloss etwas abergläubisch“, mutmasste Gartret.
Malgoth schüttelte den Kopf: „Diese Kuratoren? Glaube ich nicht.“
„Willst du nicht wenigstens uns erzählen, was du weisst?“, fragte Kagor an Siliah gewandt.
Die Elfe winkte ab: „Wir müssen nicht so tief in den Stein. Lasst uns einfach den silbernen Helm holen und dann verschwinden; dann wird uns nichts geschehen.“
„Und wenn wir zu lange bleiben?“, fragte Kagor beinahe bang.
Die Elfe zuckte mit den Schultern: „Wir bleiben eben nicht zu lange.“

Sie begannen die Kisten auszupacken. Es kamen viele Dinge zum Vorschein, die zu erwarten gewesen waren – Seile, Hacken und Ösen, Helme und Spitzhacken. Gartret fand einen Enterhaken, der leichter als sein eigener in der Hand lag; eine Zeitlang blieb er unschlüssig, dann nahm den neuen und warf den alten in eine Ecke. Ausserdem packte er einige Seile ein.
Plötzlich rief Malgoth überrascht auf: „Leuchtkugeln!“
Er zeigte seinen drei Freunden eine Anzahl kleiner Steine, die ein helles Licht aussandten.
„Sieht für Menschen durchaus brauchbar aus“, bemerkte Siliah.
„Nicht schlecht!“, meinte Gartret, „und wie lange hält das.“
„So gut wie ewig. Einige Zauberwirker verdienen sich eine goldene Nase mit diesen Steinen. Gut, dass wir welche umsonst einstecken können.“
Malgoth hatte die Anderen überzeugt – jeder nahm mindestens zwei der Steine an sich.
„Ihr könnt sie hier auf diese Helme aufsetzten – seht ihr?“ Der Zwerg legte die leuchtenden Steine in eine spezielle Drahtvorrichtung, die vorne auf einem Helm angebracht war. Als er den Helm aufsetzte, musste Siliah lachen. „Entschuldige – aber das sieht wirklich komisch aus!“
Doch Malgoth liess sich nicht beirren: „Vielleicht schon – aber es ist sehr effektiv. Man braucht nichts in der Hand zu halten und hat trotzdem immer Licht.“
Malgoth fand noch einen Dolch. Die Waffe war klein und sah trotzdem irgendwie gefährlich aus; wohl auch deshalb steckte sie der Zwerg ein.
Danach fand niemand noch etwas, dass für die bevorstehende Expetition unbedingt notwendig schien.


9. Kapitel: Auf der Jagd nach dem Helm

Am nächsten Morgen wurden sie durch ein Räuspern geweckt – Bezarze stand in der Vorratskammer. Sie trug einen Rucksack aus bunten Flicken, einen Gehstock mit einer eisernen Spitze und einen breitkrempigen Hut.
Schlaftunken suchten die Vier Diebe ihre Ausrüstung zusammen und machten sich bereit.
„Einen seltsamen Helm trägst du da – Forscher Malgoth“, bemerkte die Kuratorin, „die hat man eigentlich nur früher verwendet. Aber nimm ihn ruhig mit – besonders die Vorrichtung mit den Leuchtkugeln ist durchaus brauchbar.“

Der Morgen graute; einzelne fahle Sonnenstrahlen schienen durch die Fenster und Aussparungen im Stein zu ihnen.
Es war nicht nur wegen der frühen Stunde, weshalb sie kaum Leute sahen. Und Jene die ihren Weg in diesen äusseren Bezirken kreuzten, schienen alt und gingen gebeugt.
Manchmal sahen sie kleine, hölzerne Gebäude, die man in die grösseren Kammern hinein gebaut hatte. Andere hatten einzelne Bereiche mit Tüchern abgetrennt. Aber all sah so aus, als versuchten Leute in einer Stadt zu Leben, die es längst nicht mehr gab. Kulmina wirkte wie ein altes Kleidungsstück, welches dem jetzigen Träger viel zu gross war.
Fast alle Jüngeren schienen Forscher oder Kuratoren zu sein. Sie sahen Leute, die Wandreliefe mit Pinseln säuberten, Teile von zerborstenen Statuen einsammelten oder versuchten, mit feuchten Lappen den rauchigen Rückstand der Zeit von Bildern zu tupfen. Bezarze grüsste viele von ihnen; ihre Kollegen schauten aber meist nicht einmal von ihrer Arbeit auf, sondern nickten nur stumm.
Einmal kamen sie in eine Halle, die voll mit rostigen Eisenmaschinen war. Grosse und wuchtige Teile vollführten ruckartig unsichere Bewegungen. Da wurde Sand – welcher am Boden lag – mit einer Schaufel aufgehoben und danach an gleicher Stelle wieder fallengelassen. An anderer Stelle rollte eine Maschine mit theatralisch schwingenden Armen vor - und gleich drauf denselben Weg zurück.
„Nicht berühren“, mahnte Bezarze, „das sind historische Kunstwerke; auch wenn sie nur ein paar Jahrzehnte alt sind.“
„Sieht gar nicht wie Kunst aus“, bemerkte Kagor.
„Die Maschinen symbolisieren mit ihren sinnlosen Bewegungen das ebenso sinnlose Streben des Menschen“, erklärte Bezarze mit gelehriger Stimme.
„Wie diese Maschinen bloss alle funktionieren?“, fragte Malgoth fasziniert.
„Es kostet enorme Mühe, sie in Stand zu halten“, sagte die Kuratorin statt einer Antwort.
„Das ist keine Stadt, das ist eher eine Museum“, meinte Siliah.
„Ja, bald wird es das wirklich sein“, erwiderte Bezarze ohne Bedauern.

Sie hatten schon seit längerem kein Tageslicht mehr gesehen. Offenbar befanden sie sich nicht mehr an der Oberfläche des Steins. Hier waren nur Forscher und Kuratoren – die eigentlichen Bewohner der Stadt Kulmina liessen sich nicht mehr blicken. Zudem wurde es geradezu unnatürlich still. Und bald schauten sie sich bei jedem noch so geringem Geräusch um. Nach einer weiteren halben Stunde sahen sie niemand mehr,
Bezarze hielt kurz an: „Wir verlassen nun die Bereiche, wo wir normalerweise unsere Arbeit tun. Aber ihr braucht keine Angst zu haben, ich bin schon zweimal fast so tief in den Stein eingedrungen, wie wir es jetzt vorhaben.“
„Ist ja beruhigend“, meinte Siliah fröstelnd; die steinerne Umgebung ohne Tageslicht machte sie unruhig.
Kagor schaute sich um: „Was sind das für Figuren?“
In der Kammer, in der sie standen, befanden sich viele Statuen. Einige von ihnen besassen völlig unebenmässige Proportionen; andere trugen die Gliedmassen wirr und verdreht an ihren ebenso entstellten Körpern. Andere waren schwarz, dünn und dafür geradezu lächerlich gross.
Bezarze machte ein wegwerfende Handbewegung: „Ach dass… Eine Zeitlang haben gewisse Künstler ihre Entfremdung von der Wirklichkeit ausdrücken wollen; und diese Figuren sind das Resultat davon. Aber die sind bereits zur Genüge erforscht; da gibt es nichts mehr zu holen.“
„Wie lange werden wir brauchen, um bis zum Bereich vorzustossen, der…“
„…der zur Zeit des grossen Herrschers ausgeschmückt worden ist“, vervollständigte Bezarze rasch den Satz. „Wir werden etwa zwei Tage unterwegs sein – fürchte ich.“ Und mit einem Seitenblick auf Kagor meinte sie: „Und ich bin gar nicht unglücklich darüber, dass einige unter uns eher wie Krieger als wie Forscher aussehen.“
„Was erwartet uns tiefer im Stein?“, fragte Siliah.
Bezarze warf der Elfe erneut einen strafenden Blick zu und antwortete ihr nicht.
„Egal, was es ist“, gab sich Gartret hoffungsfroh, „wir werden damit fertig werden. Und wenn wir erst am Ziel sind dann nehmen wir… dann untersuchen wir, was es zu untersuchen gibt und machen uns wieder davon.“
Die Kuratorin betrachtete Gartret eingehend; sie schien misstrauisch geworden zu sein. Doch schliesslich wandte sie sich ab und gab das Zeichen zum erneuten Aufbruch.

An den steinernen Wänden hingen einige Gemälde; meistens waren sie in ähnlichem Stil gehalten, wie die Bilder im Museum von Vindara. Das Licht auf ihnen schien flirrend über die Gebäude und Menschen darauf zu fliessen.
„Sind wir hier nicht bereits richtig?“, fragte Kagor, der die Gemälde betrachtete, „das eine Bild in Vindara… ihr wisst schon…“
„Das Bild mit dem leeren Stuhl im Kornfeld“, warf Siliah ein.
Kagor nickte: „Ja – genau. “ Er warf Bezarze einen raschen Seitenblick zu; es war schwierig, in ihrer Gegenwart von ihren vergangenen Taten und zukünftigen Absichten zu sprechen. „Dieses Bild war doch auch für die… Silbertränen. Stammt es nicht aus der gleichen Zeit, wie… die übrigen Dinge, nach denen wir Ausschau halten?“
Bezarze wollte etwas fragen, doch Malgoth fuhr ihr rasch dazwischen: „Nein Kagor – diese Art der Malerei ist erst etwa zweihundert Jahre alt. Aber die Zeit des Grossen Herrschers liegt viel weiter zurück. Möglich, dass das Bild mit dem Stuhl im Kornfeld in irgendeiner Weise auf den Grossen Herrscher anspielt. Aber es ist ein Unterschied, ob man ein Zeitgenosse ist oder ob man bloss die Vergangenheit wieder aufleben lässt.“
Kagor rückte seinen Säbel zurecht: „Erst zweihundert Jahre - dann haben wir also noch einen weiten Weg vor uns. Der Grosse Herrscher hat eher vor zweitausend Jahren gelebt.“
„Wer sind diese Silbertränen?“, fragte Bezarze, „und was für ein Bild habt ihr für sie besorgt?“ Das Misstrauen in der Stimme der Kuratorin war unüberhörbar.
„Die Silbertränen sind Kunstliebhaber und wir haben ein Bild für sie ersteigert“, behauptete Gartret, ohne eine Miene zu verziehen.
Bezarze fixierte Gartret mit ihrem stechenden Blick – doch der ehemalige Schauspieler hielt stand.
„Silbertränen - ein seltsamer Name für Kunstliebhaber“, murmelte die Kuratorin und liess die Sache damit auf sich beruhen.

Sie wurden müde und begannen daher zu vermuten, dass der Abend hereingebrochen sei. Bezarze nahm eine kleine Sanduhr aus ihrer Brusttasche und bestätigte die Vermutung.
In einer grossen Halle schlugen sie ihr Nachtlager auf. Kagor und Malgoth inspizierten vor dem Schlafengehen interessiert die Statuen und Bilder hier. Alles wirkte hier in höchstem Grade realistisch und streng naturgetreu. Die Landschaften und Gebäude auf den Bildern schienen erstarrte Ausschnitte der Welt selbst zu sein. Und bei den Statuen konnte man jede Faser des Haars, jeder Muskelstrang der Glieder ganz genau ausmachen; nur die toten Augen verrieten die Leblosigkeit der steinernen Figuren.
„Das ist einfach fantastisch!“, begeisterte sich Kagor. Und während er die Statue eines Jungen betrachtete, der innig mit einem Hund spielte, entfuhr es ihm: „Schon beinahe zum Fürchten!“
Bezarze, die sich bereits niedergelegt hatte, nickte erschöpft: „Das stimmt schon. Diese Kunstrichtung wurde als ein Akt der Bescheidenheit betrachtet. Die Künstler verbaten es sich, der Natur und vor allem dem menschlichen Körper etwas hinzuzufügen, oder etwas wegzulassen. Doch die gewöhnlichen Leute fürchteten diese Statuen. Nicht Wenige davon wurden nachts eingesperrt. Trotzdem hielten sich Gerüchte über Statuen, die umherwandelten und Unheil anrichteten. Und von den Bildern wurde behauptetet, es seien Leute regelrecht in sie hineingefallen und müssten nun ihr Dasein in den lebensecht gemalten Landschaften fristen. Das alles warf kein gutes Licht auf diese Kunstrichtung. Schliesslich wurden die Künstler der so genannt bescheidenistischen Phase vertrieben oder gar ermordet.“
„Mit handwerklichem Können kann man es auch zu weit treiben…“, murmelte Malgoth mehr zu sich selbst.

Bald legten sie sich alle schlafen. Die langsam verglimmenden Leuchtsteine deckten sie sorgfältig ab.
Es herrschte weiterhin eine unangenehme Stille; selbst ihre eigenen Geräusche schienen irgendwie stumpf und nur halb so laut wie gewohnt zu sein. Da sie aber den ganzen Tag über marschiert waren, stellte sich der Schlaf trotzdem rasch ein.

*****

Bezarze trug die grauen Lumpen und die Schleier vor ihrem Gesicht. Sie ging durch eine nebelverhangene Nachtlandschaft. Bezarze war ohne Erinnerung.
Sie wurde gerufen. Zuerst hörte die Kuratorin die Stimmen nur von weitem und sie musste sich bemühen, sie überhaupt zu hören. Doch dann klangen die Rufe näher. Immer wieder versuchte sie durch die Nebelschwaden hindurch zu sehen, um Jene endlich zu sehen, die nach ihr verlangten; doch es war zu dunkel und der Nebel zu dicht.
Plötzlich wurde Bezarze von Angst erfasst; sie fürchtete sich plötzlich vor den Rufern, die da im Nebel auf sie lauerten. Angestrengt versuchte sie zu rennen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht recht; sie kam nur geradezu lächerlich langsam voran. Aus dem Nebel kamen Gestalten, die sich rasch näherten.
Dann wurde sie eingeholt – erschreckt drehte sie sich um. Ein ganzer Trupp schemenhafter Elfen stand vor ihr. Sie kamen näher und streckten ihre dürren Hände nach ihr aus. Bezarze wusste was die Elfen wollten; verzweifelt hielt sie die Schleier und grauen Lumpen fest, die sie doch so sehr hasste.
„Gib sie her!“, riefen die Elfen drohend, während sich immer mehr Hände nach ihr ausstreckten, „du bist lange genug davon gelaufen – wir wollen dich zurück; du gehörst uns!“
„Ich gebe sie nicht her!“
„Sie sind nur eine Verkleidung – lasse nicht zu, dass du auf deine eigene Maskerade hereinfällst!“
Doch Bezarze hielt ihre Lumpen noch immer fest. ‚Was, wenn ich nie mehr war, als diese Schleier und diese Lumpen?’, fragte sie sich voll bebender Angst; dann würde sie alles verlieren.
„Es wird Zeit, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Je mehr du dich dem Inneren des Steins näherst, desto schwächer wird die Lüge werden. Komm zu uns! Komm tief in den Kern des Steins.“

Bezarze erwachte – sie war schweissgebadet. So intensiv hatte sie noch nie von den Elfen geträumt. Etwas ging vor sich. Diese Expedition würde für sie alles ändern; daran hatte sie keinen Zweifel mehr. Unruhig und mit kreisenden Gedanken warf sie sich Hin und Her und machte in dieser Nacht kein Auge mehr zu.

*****

Matila hatte alle Unterlagen zusammengetragen, welche sie im Folterkeller wie auch in Emalus ehemaliger Wohnung im zweitobersten Stock des Ratshauses hatte finden können. Sie wollte so viel wie möglich über den Mörder ihrer Mutter wissen. Sie musste sich durch einen Aktenberg wühlen – Protokolle, Zusammenfassungen von Ratssitzungen, Korrespondenz mit anderen Städten, Aufzeichnungen von Geständnissen. Doch was wirklich interessant war, hatte die Winzertochter in einem Geheimfach von Emalus Schreibtisch gefunden: Hier befand sich alles, was der Sekretär der Stadt offenbar im Verborgenen hatte halten wollten. Und das war nicht die Geständnisse, welche durch Folter erzwungen worden waren; vielmehr waren es die Zeugnisse der lässlicheren Sünden, welche er versteckt hatte: Auflistungen von Bestechungsgeldern, Adressen von Freudenmädchen und ein Verzeichnis erpressbarer Personen. Besonders Letzteres gab Matila zu denken. Und besonders ein Name stach auf dieser Liste hervor: Alisan – genannt die goldene Hand. Dieser legendäre Dieb hatte sich erpressen lassen?
Matila eilte mit den Unterlagen zu ihrem Vater.
Die Lage in der Stadt war weiterhin sehr angespannt; niemand traute sich den nächsten Schritt zu machen. Alle fürchteten den blutigen Kampf.
Badrus hielt sich meist draussen auf dem Rathausplatz auf. Er kontrollierte die Stellungen seiner Getreuen. Und manchmal organisierten sie auch neue Predigten Vindros. Jedes Mal waren etwas mehr Leute gekommen – und das machte dem alten Meisterwinzer Hoffnung. Vielleicht konnten sie Vindara ja doch noch von dem ursprünglichen Glauben der Stadtgründer überzeugen.
Als Matila mit viel Papier und Pergament kam, traf ihn die Erinnerung an den Mord an seiner Frau erneut schwer. Er hatte mit seiner emsigen Betriebsamkeit in den letzten Tagen zu entfliehen versucht. Badrus fühlte sich dem Alpdruck der Vergangenheit nicht gewachsen.
„Schau doch – Vater! Kennst du die ’Goldene Hand’ nicht?“
Badrus hatte sich gerade unter irgendeinem Vorwand abwenden wollen, doch jetzt stutzte er: „Dieser Emalus hat die ‚Goldene Hand’ erpresst? Bist du dir da sicher?“
Matila nickte.
Badrus nahm das Pergament mit der Namensliste aller Erpressten an sich: „Ist der Sekretär verrückt geworden? So etwas konnte doch unmöglich gut gehen.“
„Ein Wunder, dass Emalus so lange überlebt hat“, stimmte Matila zu.
„Vielleicht hat das Verschwinden des Sekretärs etwas damit zu tun“, mutmasste der Winzermeister, „möglicherweise ist ihm klar geworden, was für einen Fehler er begangen hatte. Der Dieb mag mittlerweile alt sein, aber wer sich mit einer derart legendären Figur anlegt, dessen Leben ist in Gefahr.“
„Vielleicht wollte die ‚Goldene Hand’ Emalus umbringen und dieser hat davon Wind bekommen?“
Badrus überlegte. „Das könnte durchaus sein. Dann hat sich der schlaue Sekretär einfach tot gestellt und damit schien die Sache erledigt. Vielleicht macht er sich nun Anderswo mit dem erpressten Geld ein schönes Leben.“
„Wenn dem so ist, dann sollten wir mit der ‚Goldenen Hand’ reden“, meinte Matila entschlossen.
„Ein gefährliches Vorhaben.. Ich weiss nicht…“
„Vater!“, meinte Matila streng, „Mutter muss gerächt werden!“
Badrus liess langsam das Pergament sinken: „Du hast recht – solange der Mörder meiner Frau vielleicht noch lebt, ist es nicht vorbei. Wie sagt das Sprichwort doch? ‚Wer einen Feind hat, soll sich an dessen Feinde richten’; wir werden die ‚Goldene Hand’ aufsuchen. Es wird ihn sicher interessieren, dass Emalus vielleicht noch lebt.“

*****

Bezarze weckte sie – es schien morgen zu sein. Müde erhoben sie sich zwischen all den Statuen und Bildern.
„Wenn wir grosses Glück haben, dann sind wir bis heute Abend in der richtigen Schicht angekommen“, machte die Kuratorin den vier Dieben Mut.
„Und wie gross ist diese… Schicht?“, fragte Gartret missmutig.
„Sie geht um den ganzen Stein herum.“
Malgoth war sofort hellwach: „Um den ganzen Stein herum? So ein grosses Gebiet können wir unmöglich absuchen.“
Bezarze schaute den Zwerg verwirrt an: „Natürlich nicht – wir werden uns vom Zufall leiten lassen. Ihr betretet Neuland – Forscher Malgoth; da sollte man nicht wählerisch sein.“
Malgoth schüttelte trotzig den Kopf: „Wir sind aber wählerisch!“ Augenblicklich entspannte er sich, doch die Kuratorin hatte bereits wieder Verdacht geschöpft: „Ihr sucht nach etwas Bestimmten – nicht wahr?“
Malgoth hätte sich für seine Unbeherrschtheit Ohrfeigen können, doch Leugnen hatte nun keinen Zweck mehr: „Wir haben gehofft, etwas vom Grossen Herrscher selbst zu finden.“
„Ihr wollt einen persönlichen Gegenstand des Grossen Herrschers finden?“, fragte Bezarze ungläubig, „von der dunkelsten Figur der Geschichte wollt ihr etwas haben?“
„Er war nicht nur dunkel“, warf Gartret ein, „er hat doch auch unser Reich geschaffen.“
Bezarze liess Zeit verstreichen, bevor sie antwortete: „Gewiss das hat er – fragt sich nur zu welchem Preis. All diese Massaker und die furchtbaren Verluste an Leben… Das Land war am Ende vereint, aber verwüstet und für alle Zeiten gebrandmarkt. Und er hat das Reich sicher nicht als Volksherrschaft geplant gehabt. Dies hat nur sein früher Tod bewirkt.“
Sie schwiegen eine Weile, dann meinte die Kuratorin versöhnlich: „Kommt: je früher wir dort sind, desto mehr Zeit haben wir. Unwahrscheinlich, dass wir gerade das Gewünschte finden werden, aber versuchen können wir es ja. Allerdings muss ich sagen, dass eure Methoden mehr als ungewöhnlich sind. Ich habe noch nie so seltsame… Forscher in den Stein geführt.“

Bald weiteten sich die Stollen und wurden bedeutend höher. Hier gab es auch viel grössere Hallen als zuvor. Nach und Nach verloren die Bilder und Statuen ihre verblüffende Lebensechtheit. Die Köpfe der abgebildeten Figuren waren nun häufig zu gross. Hände und Körperhaltungen wirkten oft verkrampft und unnatürlich. Auf den Bildern waren die Gebäude im Vergleich zu den sie umgebenden Menschen viel zu klein dargestellt.
Immer häufiger sahen sie schwere Wandteppiche mit dunklen und matt gewordenen Farben an den Wänden hängen.
„Dies ist die Kunst in der Phase des Aufbaus“, erklärte Bezarze, „man begann damals erst zögerlich wieder Bilder zu malen und Skulpturen zu schaffen. Die Menschen von damals hatten die Gräuel des Dunklen Zeitalters noch lebhaft in Erinnerung. Viele hatten zu jener Zeit Trost bei den Kulten gesucht. Das mögliche Wiederaufleben der dunklen Zeit lauerte immer als Furcht im Hintergrund. Es wurden fröhliche Feste gefeiert; doch auch Weltuntergangsstimmungen machten immer wieder die Runde.“
„Es wirkt alles ein wenig plump und grob gefertigt“, urteilte Kagor streng.
„Nicht alles“, erwiderte Bezarze, „schaut empor!“
Die hohe Decke der Halle war durch elegante Bögen abgestützt, die sich einander auf raffinierte Weise überkreuzten.
„Die Architektur ist vielleicht das Beste aus jener Zeit. Hört euch Mal das an!“ Bezarze kramte einen kleinen Hammer aus ihrer Tasche hervor und schlug damit auf eine der dünnen Säulen, welche die Bögen abstürzte. Augenblicklich erklang ein intensives Summen, welches sich durch das Mauerwerk fortpflanzte und schliesslich die ganze Halle erfüllte.
„Das geht ja durch Mark und Bein!“, meinte Gartret beinahe schon begeistert.
„Das ist eher unheimlich – wie alles hier“, fand Siliah dagegen.
„Das ganze Mauerwerk hier steht unter einer enormen Spannung“, erklärte Bezarze, „manche Forscher glauben, dass diese Spannung die Erwartung nach der Wiederkehr des Dunklen Zeitalters symbolisiert. Die Angst vor dem Ende der Welt hat sich also auf die Architektur übertragen.“
Malgoth schien etwas neidisch auf das Wissen, welches die Kuratorin besass. Etwas grantig meinte der Zwerg: „Überall kann man Bedeutung entdecken – wenn man nur will.“
Bezarze ignoriert ihn und führte sie ihn ein paar Hallen weiter.

„Haltet eure Lichtkugeln hoch“, befahl Bezarze.
Sie taten, wie ihnen von der Kuratorin geheissen wurde. In der Halle direkt vor ihnen hing ein riesiger Wandteppich. Darauf war ein Mann mit einem grossen Streithammer zu sehen, der einen Gegner angriff. Wer der Feind war, liess sich leider nicht erkennen; an dieser Stelle, waren die ohnehin matten Farben des Teppichs völlig verblasst.
„Gegen wer kämpft er?“, fragte Siliah.
„Gegen den Grossen Herrscher“, flüsterte Bezarze, „es ist D’Sanos, einer der fünf Helden des Volkes.“
„Sie haben den Grossen Herrscher besiegt und damit das Dunkle Zeitalter beendet“, fügte Malgoth ehrfürchtig hinzu.
„Wie haben sie das gemacht?“, fragte Gartret.
„Wir wissen es nicht“, gab Bezarze zu, „die Erforschung jener Epoche ist leider… etwas zurückgeblieben – niemand beschäftigt sich gerne mit diesem Zeitalter.“
„Manche Dinge lässt man besser in der Dunkelheit ruhen“, meinte Kagor, „wer weiss, was man sonst alles aufscheucht.“
„Für einen normalen Menschen ist das eine verständliche Einstellung, aber nicht für einen Forscher!“, erwiderte Bezarze streng.
„Weisst du denn mehr darüber?“, fragte Malgoth, der seine Neugierde nicht im Zaum halten konnte.
Bezarze schüttelte den Kopf. „Leider nein – dies hier ist der tiefste Ort, den ich je im Stein besucht habe. Aber wir müssen noch etwas weiter. Doch keine Sorge, wir sind fast da.“
„Bleibt mal stehen!“, forderte Siliah.
„Was ist denn?“ wollte Kagor wissen, der bereits seinen Säbel gezogen hatte.
„Geräusche – Singen, Lachen, Stimmen; Genaueres kann ich nicht hören.“
„Ich höre gar nichts“, gab Gartret bekannt.
Siliah lauschte weiter: „Jetzt ist es weg – aber ich war mir ganz sicher, das…“ Die Elfe unterbrach sich selbst und schüttelte dann den Kopf: „Nein, das kann nicht sein.“
„Was immer das war - lasst uns unseren Weg fortsetzen; etwas Anderes bleibt uns gar nicht übrig“, meint Malgoth.
Als sie weitergingen, begann sich alles um sie herum zu verändern. Die Bilder waren nun direkt auf dem nacktem Stein aufbracht. Es sah so aus, als seien dazu nur wenig herkömmliche Farben verwendet worden. Dunkle Braun- und Rottöne herrschten vor. Möglich, dass auch Blut verwendet worden war, vielleicht auch Erde oder Lehm. Noch verwirrender war die Wahl der Motive: Nackte Menschen wurden von Fabeltieren mit spitzen Schnäbeln gepackt und trotz ihres Flehens in schwarze Wolken gestossen. Vielen der Abgebildeten fehlte ein Arm oder Bein. Flammen züngelten überall. Sterne fielen vom Himmel und versengten das Land. Armeen erhoben sich aus Aschebergen und zogen mordend und brandschatzend umher. Tanzende und behaarte Kreaturen mit schwarzen Knopfaugen machten sich über Sterbende lustig. Alle Werke der Menschen – Gerätschaften, Häuser – waren zerschlissen dargestellt oder nur noch als Ruinen oder Bruchstücke vorhanden. Kurz: Ein Panoptikum des Schreckens breitete sich vor ihnen aus.
„Hierzu brauche ich wohl nichts mehr zu sagen“, flüsterte Bezarze, „wir sind angekommen.“
Kagor blieb stehen und blickte ängstlich auf all die furchtbaren Wandbilder: „Und was jetzt?“
Gartret legte dem Hünen die Hand auf den Rücken: „Na, jetzt suchen wir, und dann nichts wie weg von hier – mein Grosser.“
„Was sucht ihr denn genau?“, fragte Bezarze.
„Einen Helm“, antwortete Malgoth.
„Der Helm, von Demjenigen, der all dies verursacht hatte“, flüsterte Siliah, während sie die schrecklichen Szenen auf den Bildern betrachtete.
„Und was wollt ihr ausgerechnet mit diesem Gegenstand?“, hakte die Kuratorin erneut nach.
Doch niemand antwortete ihr.
Bezarze schaute die Vier unsicher an. Es schien mit einem Mal, dass sie Malgoth, Siliah, Gartret und Kagor mit ganz anderen Augen betrachtete: „Seid ihr wirklich Forscher?“

*****

Das leise Klingeln einer kleinen Glocke ertönte – Alisan nahm seine Beine vom Hocker. Von seiner Veranda aus schaute er auf die gegenüberliegende Baumreihe hinüber. Der alte Dieb würde Besuch bekommen, irgendwie hatte er es schon längst gespürt. Das Auslösen seines Alarmsystems hatte nur seine letzten Zweifel beseitigt.
Eigentlich hatte er seinem Schicksal dankbar zu sein: Immer wenn er träge zu werden drohte, drang etwas in sein eremitenhaftes Leben, dass ihn wieder auf die Beine zwang.
Dabei war die letzte Zeit durchaus auch aufregend gewesen: Er hatte mit seinem Fernrohr mitverfolgt, was in Vindara vor sich ging. Der alte Kult der Stadt war zurückgekehrt, hatte sich jedoch nicht vollständig durchsetzen können. Niemand konnte sagen, wie die Zukunft der Weinstadt aussehen würde.
Aber all das hatte Alisan nicht wirklich betroffen – er war nur ein ferner Beobachter geblieben.
Seine Eule kam und stiess einen Schrei aus. Alisan scheuchte sie davon – er brauchte nicht zweimal gewarnt zu werden; ausserdem war das Tier fett und träge geworden – es verrichtete seine Aufgaben nur noch nachlässig oder überhaupt nicht.
Alisan stand einige Sekunden unschlüssig vor dem Waffenständer, den er auf der Veranda aufgestellt hatte. Schliesslich entschied er sich und nahm den grossen Paladinzweihänder zu Hand. Mit einem sich erinnernden Lächeln wog er die schwere Waffe in der Hand. Diesen seltenen Zweihänder hatte er von einem seiner Schüler bekommen; nur Paladine besassen eine so imposante Klinge. Zwar konnte Alisan nicht besonders damit umgehen, aber ein Mann mit einer solchen Bewaffnung wirkte immer besonders Furcht einflössend.
Da sich der alte Dieb nicht sonderlich bedroht fühlte, versteckte er sich nicht, sondern wartete nur.
Es dauerte nicht lange und ein Mann von mittleren Jahren erschien mit einer jungen Frau an seiner Seite. Der Mann hatte einen Strohhut auf dem Kopf und die junge Frau – welche fast noch ein Mädchen war – trug Rebenblätter in den Haaren. Als die Beiden die Waffe in den Händen des alten Mannes sahen, blieben sie vorsichtshalber stehen.
„Bist du die ‚goldene Hand?“, rief die junge Frau zu Alisan hinüber.
„Wer will das wissen?“, fragte der alte Dieb zurück.
„Ich bin Badrus – Meisterwinzer von Beruf – und das ist meine Tochter Matila!“, rief der Mann in Richtung Veranda.
„Freut mich Badrus und Matila. Ihr seid sicher Anhänger Vindros; so seht ihr jedenfalls aus. Solltet ihr nicht besser in der Stadt sein und dort für euere Sache einstehen? Laut meinen Erkenntnissen steht dort alles Spitz auf Knopf.“
Die beiden Neuankömmlinge schienen sich zu beraten, dann kamen sie etwas näher und Badrus meinte: „Tatsächlich: Eigentlich müssten wir in Vindara sein – doch eine persönliche Angelegenheit zwingt uns hierher.“
„Ich wüsste nicht, was für eine Angelegenheit ich mit euch teilen würde“, erwiderte Alisan.
„Kennt ihr Emalus – den Sekretär der Stadt?“, fragte Badrus.
„Den toten Sekretär der Stadt“, korrigierte Alisan, „ja, den kannte ich.“
„Vielleicht ist er ja nicht ganz so tot, wie manche denken“, spann Matila keck den Faden fort.
Alisan stutzte, dann liess er den Zweihänder sinken; vielleicht gab es ja doch eine Angelegenheit, die ihn mit seinen beiden Besuchern verband.

*****

Ein leises, scharrendes Geräusch – Gartret hatte sein Rapier gezogen.
„Warte, Gartret“, bat Malgoth, und dann zu Bezarze, „du hast recht – wir sind keine Forscher im engeren Sinne.“
Angstvoll schaute die Kuratorin auf das gezogene Rapier: „Auf alle Fälle seid ihr Leute, denen man besser nicht die falschen Fragen stellt.“
„Niemand wird dir etwas tun“, beschwichtigte Kagor, „wir brauchen nur diesen Helm – dann verschwinden wir wieder.“
„Ja“, pflichtete Siliah bei, „führe uns einfach zum Helm des Grossen Herrschers, dann können wir endlich diesen schrecklichen Ort verlassen.“
Bezarze hatte wieder etwas Mut gefasst: „Dann seid ihr also Diebe? Ihr wollt ein wertvolles Artefakt stehlen und euch dann davonmachen?“
„Nehmen wir an, es sei so“, meinte Malgoth schmunzelnd, „würdest du uns das übel nehmen?“
Gartret kam mit dem gezogenen Rapier einen Schritt näher.
Bezarze schaute gehetzt um sich.
„Nun macht ihr doch nicht solche Angst“, protestierte Siliah, „sie ist nicht unser Feind.“
Gartret schien sie nicht zu hören; er hob drohend seine Waffe: „Du wirst uns jetzt zu dem Helm führen – sofort!“
Bezarze zitterte, doch sie schüttelte tapfer den Kopf: „Ihr wollt Kunstwerke widerrechtlich entfernen – dass kann ich nicht zulassen.“
„Doch, das kannst du!“, drohte Gartret erneut.
Wieder schüttelte die Kuratorin den Kopf.
Gartret stöhnte und liess den Rapier sinken: „Das funktioniert nicht – wir müssen etwas anderes versuchen.“
„Diesen Part hätte wohl besser Kagor übernommen“, meinte Malgoth, „aber leider ist er zu zart besaitet dafür.“
„Es ist keine Schande, unter den Augen der Götter ein guter Mensch zu sein“, verteidigte sich Kagor salbungsvoll.
„Du fürchtest den Tod offenbar nicht genug, um uns zu geben, was wir wollen. Wie können wir dich sonst überreden?“, fragte Siliah.
„Lass es – Siliah“, meinte Gartret, „wir werden den Helm schon finden. Und sie werden wir als Gefangene mit uns nehmen – bis alles vorbei ist.“
„Ohne mich werdet ihr gar nichts finden“, entfuhr es der Kuratorin, die ihre mutige Bemerkung sogleich bereute.
„Dann hilf uns und nenne uns deinen Preis“, forderte Kagor.
Bezarze wollte etwas sagen, doch dann schwieg sie lieber.
„Es gibt etwas“, meinte Malgoth hoffnungsfroh; vielleicht war die Kuratorin doch bestechlicher, als es zuerst den Anschein hatte, „was können wir tun, damit du uns hilfst?“
Bezarze atmete schwer; es schien, als würde sie mit einem tonnenschweren Gewicht kämpfen, welches ihr auf der Seele läge. Schliesslich wandte sie sich an Siliah; und ihre Worte sprudelten nur so heraus: „Sag mir, was die Elfen mit dem Stein gemacht haben. Sag mir, was sich in dessen Kern befindet. Und verrate mir, wieso ich in meinen Träumen von einer Elfenschar verfolgt werde.“
Einen Moment schwiegen die Diebe überrascht.
Dann fasste sich Malgoth und fragte: „Und wenn Siliah dir sagt, was sie weiss, dann hilfst du uns?“
Bezarze presste die Lippen aufeinander, dann nickte sie.

******

Auf der belebten Strasse schien alles normal zu verlaufen; Fuhrwerke klapperten, Menschen gingen eilig – das westliche Stadttor würde bald geschlossen werden.
Atamirenses schob den Vorhang wieder zurück. Vor wenigen Stunden erst hatte er ein Zimmer in der unauffälligen Herberge gemietet. Niemand hatte gefragt oder auch nur gross von ihm Notiz genommen.
Vorerst hatte er sein Ziel erreicht – er war in Mandakir, der zweitgrössten Stadt der Insel. Hier – im Gewimmel der vielen Menschen – hoffte er untertauchen zu können. Aber der stets elegant gekleidete Hehler war weit davon entfernt, wirklich in Sicherheit zu sein – das wusste er. Mit den Silbertränen hatte er sich einen mächtigen und völlig unberechenbaren Feind geschaffen. Sie hatten ihm in Form einer Münze die Botschaft überbracht, dass sein Leben verwirkt war; seither befand er sich auf der Flucht.
In jeder denkbaren Person, der er begegnete, erwartete er seinen Mörder. Keine Art seines Ablebens schien ihm mehr undenkbar. Jeder Ast über ihm konnte abbrechen und ihn erschlagen; jeder Fussbreit Boden drohte unter seinen Füssen nachzugeben und ihn in eine endlose Tiefe fallen lassen. Die Angst allein schien bereits, das Werk der Silbertränen zu vollbringen, ohne dass sie auch nur eine Hand hätten rühren müssen.

Atamirenses atmete tief durch; noch war es nicht soweit; er war am Leben und befand sich an einem Ort, wo er seine Fähigkeiten und Beziehungen spielen lassen konnte.
Mandakir war für viele Dinge berühmt. Die Stadt lag an der Küste; und es gab hier gleich zwei Häfen, die für regen Handel sorgten. Besonders die Geschäfte mit Gewürzen und seltenem Tuch florierten und hatten manchen Bürger zu grossem Wohlstand gebracht.
Hier befand sich auch das Hauptquartier des Paladinordens. Diese bewaffneten Männer des Glaubens wachten über die Stadt und bekämpften alles Böse. In Zeiten, wo es wenig zu bekämpfen galt, machte sich der Orden für allerlei sonstige Dinge nützlich; er unterhielt Suppenküchen für Armenspeisungen, zwei grosse Badeanstalten, und ein grosses Hospital.
Vor allem aber war Mandakir für seine kulturellen Einrichtungen berühmt. Auf diesem Feld wurde sie nur noch von der Hauptstat Sindra Mall übertroffen.
Es gab ein grosses Konzerthaus und ein grosses Theater; welches von wechselnden Ensembles bespielt wurde. Die Bürger liebten ihr grosses Orchester und bewunderten den Wortwitz und die sprachliche Gewandtheit ihrer Schauspieler.
Besonders bekannt war auch die so genannte ‚Kathedrale der Mörder’. Alle gefassten und gehängten Mörder der Stadt wurden tatsächlich unter dem marmornen Boden oder den Steinsärgen des prächtigen Bauwerks begraben. Wieso das so war, vermochte niemand zu sagen. Wenn diese Tradition je einen Sinn gehabt hatte, dann war er irgendwann einmal abhanden gekommen. Nur wenige Gelehrte verbreiteten ein paar unheimliche Theorien darüber.
Während die ganze Insel von einer gewählten Volksversammlung regiert wurde; hatte sie in den Städten diese Form des Regierens meist nicht durchsetzen können – so auch in Mandakir. Die Stadt wurde von einer ständigen Abordnung regiert, welche aus Mitgliedern der Gilden und Handwerksstände zusammengesetzt war. Aber die wirkliche Herrschaft hatten die Paladine inne.

Atamirenses legte sich auf das Bett; obwohl es schon spät war, drang immer noch der Lärm von schwatzenden Menschen und vom Knarren der Fuhrwerke durchs Fenster.
Der Hehler legte seinen feinen Mantel ab, der allerdings nach der langen Reise leicht mitgenommen aussah.
Er war sehr müde; hatte er doch zwei nächtelang kein Auge zugetan. Aber selbst jetzt überstieg die Unruhe und die Angst seine Müdigkeit bei weitem. Die Zukunft würde für ihn sehr schwierig werden, darüber bestand kein Zweifel.
Doch Atamirenses ballte die Faust: er schwor sich, er würde am Leben bleiben. Zu sehr war er der Welt und ihren Genüssen zugetan, um sich einfach seinem Schicksal ergeben zu wollen.

Ihn umfing ein leichter Schlummer; welcher aber ständig von unruhigen Traumfetzen durchdrungen war. Gestalten hetzten ihn und versuchten seine Verstecke aufzustöbern. Sein Leben im Traum verlief als ein ewiges Flüchten und Untertauchen.
Oft schreckte Atamirenses aus seinem Schlummer auf; nur um gleich wieder einzunicken.
Plötzlich war Atamirenses hellwach: Jemand war in seinem Zimmer. Ein Schatten trat aus der Ecke und beugte sich über ihn. Starr vor Schreck wagte er sich nicht zu bewegen. Seine Träume schienen fast nahtlos in die Wirklichkeit hinüber geglitten zu sein; nur, dass ihm in der Wirklichkeit kein Versteck Schutz bot und keine Distanz ihn von seinen Verfolgern trennte.
Die Hand der Gestalt, welche in einem schwarzen Handschuh stak, schoss hervor; darin ein kurzer Stab mit einem metallenen Knauf. Atamirenses wollte seine Arme schützend vor seinen Kopf halten, doch es war zu spät; ein Schlag, ein Krachen. Die Welt geriet aus den Fugen und versank in Dunkelheit.

*****

Siliah stemmte die Hände in die Hüften, dann entspannte sie sich wieder etwas: „Wenn es keinen anderen Weg gibt, dann werde ich erzählen was ich weiss.“
Malgoth, Kagor und Gartret atmeten auf. Sie waren nicht sicher gewesen, wie die eigenwillige Elfe auf Bezarzes Angebot reagieren würde.
„Dann sag mir jetzt, was ihr Elfen mit dem Stein gemacht habt“, forderte Bezarze.
„Was wir Elfen mit dem Stein gemacht haben?“, ereiferte sich Siliah, „wir Elfen waren schon Jahrtausende vor euch da! Ihr Menschen habt uns den Stein weggenommen, ihn mit unzähligen Tunnels zerlöchert! Am Ende habt ihr sogar eine Stadt in ihn hineingebaut! Dann kamen eure Künstler und haben sein Inneres verändert; ganz der momentane Mode entsprechend. Das alles habt ihr getan, ohne euch auch nur einen Moment lang zu fragen, was hier wirklich von Bedeutung ist. Und jetzt fragst du, was wir mit dem Stein gemacht haben?“
Gartret trat ungeduldig von einem Fuss auf den anderen: „Ja, ja – wir Menschen sind so was von ignorant…“
Siliah warf ihm einen giftigen Blick zu.
„Dann solltest du uns vielleicht aufklären“, bemerkte Malgoth vorsichtig.
„Das werde ich wohl tun müssen, auch wenn ich bezweifle, dass ihr dies hören solltet; immerhin geht es um die Geheimnisse der Elfen.“
„Sag mir, was der Stein bei euch für eine Bedeutung gehabt hat“, forderte Bezarze – ihre Worte diesmal aber mit mehr Bedacht wählend.
„Schon besser; also dann versprecht mir, dass ihr kein Wort, von dem was ich euch jetzt sage, verraten werdet.“
„Wir geloben, dass wir die einzigen unwürdigen Menschen sein werden, die je etwas über das Geheimnis des Steins erfahren“, sprach Gartret mit übertriebener Feierlichkeit.
„Ich meine es ernst – Gartret!“, donnerte die Elfe.
„Wir versprechen es – und zwar ohne jede Einschränkung“, versuchte Malgoth die Situation zu entschärfen.
Siliah sammelte sich kurz, dann fing sie an zu erzählen, was sie eigentlich Menschen nie hatte mitteilen wollen: „Gemäss der Mythologie der Clans sind wir Elfen gefallene Sterne. Einst sind wir durch eigenes Fehlverhalten aus dem Himmel verbannt worden. Früher soll viel mehr Sterne gegeben haben – für uns sieht der heutige Himmel leer aus. Unter den Himmelslichtern gibt es Familien, die den Verwandtschaften der Elfen entsprechen. Wir fühlen uns daher mit jeweils einem Sternbild verbunden. Dieses wieder vollständig werden zu lassen, ist das Ziel der Abfolge vieler Elfenleben.“
„Ihr wollt wieder zu den Sternen aufsteigen?“, fragte Kagor erstaunt.
„Gemäss der alten Weisheiten ja – aber nicht alle Elfen glauben daran; doch das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls fühlen wir uns mit dem Stein seelenverwandt.“
„Weshalb denn?“, fragte Bezarze.
„Weil der Stein einst vom Himmel gefallen ist – ganz wie wir einst. Er ist ebenfalls so etwas wie ein gefallener Stern.“
„Da irrt ihr euch“, meinte die Kuratorin dagegen, „laut neusten Forschungen ist der Stein schon immer da gewesen. Bloss Wind und Wetter haben ihn aus der umliegenden Ebene frei gelegt.“
„Wen interessiert schon die menschliche Forschung!“, ereiferte sich Siliah dünnhäutig.
„Es spielt keine Rolle“, entgegnete Bezarze kleinlaut, „erzähl lieber weiter.“
Siliahs Zorn war rasch verflogen: „Wie schon erklärt, ist es das Ziel jedes Elfen, sich wieder in seine Sternenfamilie einzureihen. Grosse Helden – meist legendäre Jäger, Krieger oder Magier, hatten sich diesem Ziel nähern können. Doch immer wieder gab es Zeiten, in denen sie nicht mehr weiter reifen konnten. Während solchen Zeiten versteckten sich diese Persönlichkeiten oft.“
„Was meinst du mit ‚verstecken’?“, fragte Malgoth, „würden sie nicht besser den Anderen hilfreich beistehen?“
Siliah schüttelte den Kopf: „Nein – du verstehst nicht. Diese Elfen sind am Ende eines langen Zyklus angelangt; sie haben schon viele Leben gelebt. Ihre Aufgabe ist es, die letzten Schritte zu tun, um danach den Sternenhimmel zu bevölkern. Um das Wenige zu finden, was ihnen noch dazu fehlt, müssen sie bloss noch bestimmte Zeiten durchleben.“
„Du sprichst von irgendwelchen höheren Wesen. Dann sind das also gar keine richtigen Elfen mehr“, warf Gartret ein.
„Doch – natürlich sind sie das. Aber gleichzeitig haben sie sich von ihren Clans zu gelöst und gehen das letzte Stück des Weges alleine.“
„Und wo halten sich diese mächtigen Elfen versteckt?“, fragte Bezarze.
„Die Seelen dieser Elfen schlummern hier auf der Erde.“
„Sie warten in dem Stein?“, fragte Kagor.
„Nein – diese Seelen sind auf das Leben angewiesen, Die den Sternen nahe Gekommenen warten im Inneren von gewöhnlichen Elfen oder in anderen Lebewesen - manchmal sogar in Tieren.“
„Und die Träger einer solchen Elfenseele ahnen nichts?“, fragte Malgoth.
Siliah zuckte mit den Schultern: „Über solche Dinge weiss ich nichts. Ich trage keine solch mächtige Seele in mir.“
Gartret schaute Siliah an, als erwarte er, dass gleich ein mächtiger Krieger oder Magier aus ihr herausspringen würde: „Und woher willst du das wissen?“
„Es gibt bei Methoden, dies herauszufinden – doch auch das ist eine andere Geschichte.“
„Was hat das alles mit dem Stein zu tun?“, fragte Bezarze.
„Im Kern des Steins kann ein Ritual durchgeführt werden, dass diese Seelen herauslöst. Es wird gesagt, dass eine Handvoll Elfen, die zwischen Tod und Leben schweben, diese Aufgabe obliegt.“
Bezarze wurde plötzlich schwindlig – sie musste sich setzen. Pochende Ahnungen drohten ihren Geist zu lähmen. Die endzeitlichen Bilder des Dunklen Zeitalters um sie herum schienen zu wachsen und sich drohend über sie zu beugen.
„Was hast du?“, fragte Siliah, „wieso trifft dich das so?“
Bezarze erwachte wie aus einer Trance: „Was… was genau tun diese Elfen?“
„Sie legen die Seelen frei, die den Sternen nahe gekommen sind. Wie das genau geht, weiss ich nicht.“
„Und was geschieht mit dem… Träger?“
Siliah zuckte mit den Schultern.
„Was sind das für Elfen, die zwischen Tod und Leben schweben?“, wollte Kagor wissen.
„Es sind keine Untoten – du bist also nicht verpflichtet, sie zu vernichten – Kagor.“
„Was sind sie dann?“
„So etwas wie hilfreiche Geister, die sich einstweilen weigern, ein neues Leben zu beginnen. Früher wurden die Träger der Seelen in den Stein geführt. Lag allerdings ein Irrtum vor, dann wurde es sehr unangenehm.“
„Aha – jetzt kommt der Pferdefuss der ganzen Geschichte!“, war Gartret überzeugt.
„Diesmal hast du Recht. In einem solchen Fall wurden der vermeintliche Träger und sämtliche Begleiter vernichtet. Manche glauben, die geisterhaften Elfen könnten sich vor lauter Enttäuschung nicht zurückhalten, wenn sie keine der erhofften Seelen vorfinden.“
„Klingt seltsam – und gefährlich“, schloss Malgoth.
Eine kurze Zeit des Schweigens folgte wieder, dann fragte Bezarze Siliah: „Ist das auch alles, was du darüber weisst?“
Die Elfe hat wieder mit ihrem aufbrausenden Temperament zu kämpfen: „Ist denn das nicht genug?“
„Es ist weit mehr, als ich bisher in Erfahrung bringen konnte“, gab die Kuratorin zu.
„Dann sei zufrieden.“
Malgoth wandte sich an die Kuratorin: „Siliah hat alles gesagt, was sie weiss. Wirst du uns jetzt helfen?“
Bezarze nickte: „Ich habe es wohl oder übel versprochen.“
Gartret, der sich mittlerweile hingesetzt hatte, sprang wieder auf die Beine: „Dann nichts wie los!“
„Immer mit der Ruhe“, dämpfte Bezarze Gartrets Drang, „wir müssen zuerst ein Nachtlager finden; Morgen werden wir mit der Suche beginnen – versprochen.
„Ist schon wieder ein Tag vergangen?“, fragte Siliah verblüfft.
Kagor schaute sich um: „Wenn wir schon eine weitere Nacht im Stein verbringen müssen, dann bitte nicht hier. Zwischen diesen schrecklichen Bildern kann keine Seele Ruhe finden. Die Gegenwart des Dunklen Zeitalter würde mich keine Sekunde schlafen lassen.“
„Kagor hat recht – wir sollten nicht hier bleiben“, stimmte Malgoth zu.
„Das müssen wir auch nicht“, meinte Bezarze, „wir sind hier sowieso falsch. Ich wollte nur sehen, ob ihr es bemerkt.“
„Ach, ja?“, fragte Malgoth erstaunt.
„Denkt doch mal nach: Ihr sucht den Helm des Grossen Herrschers. Wenn der Helm hier irgendwo zu finden ist, dann etwas weiter aussen im Stein.“
„Und warum denn das?“
„Es wird gesagt, dass der Grosse Herrscher von den fünf Helden des Volkes besiegt worden ist. Die Legende besagt weiter, dass sie jeweils ein Teil des Herrschers mit sich genommen haben. Hier - glaube ich – übertreibt die Legende; sicher wurde der Grosse Herrscher nicht wirklich geteilt. Demzufolge handelte es sich wahrscheinlich um fünf Beutestücke, die eng mit dem Grossen Herrscher in Verbindung standen; sein Helm beispielsweise. Könnt ihr mir folgen?“
Malgoth nickte leicht verärgert.
Kagor ging ein Licht auf: „Dann müssten wir aber nicht im Dunklen Zeitalter suchen.“
„Ja – so ist es“, bestätigte Bezarze, „wir müssen zurück zu etwa dem Punkt, wo wir den Wandteppich von D’Sanos – dem Volkshelden von Kuminia – gesehen haben. In dieser Tiefe des Steins müssen wir suchen. Der Helm – wenn er denn hier ist – wurde erst nach dem Dunklen Zeitalter hergebracht.“

Als sie wieder den riesigen Wandteppich erreicht hatten, der den kämpfenden Volkshelden D’Sanos zeigte, schlugen sie dort ihr Nachtlager auf. Hier war es viel angenehmer als in der Schicht des dunklen Zeitalters. Zwar wirkten die Kunstwerke hier etwas albern und waren ohne allzu viel Raffinesse gefertigt – aber dafür zeigten sie auch viele fröhliche und eher heitere Szenen.
„Wenn das Licht fehlt, dann ersetze es mit menschlicher Wärme – wenn dir die Zeit zu lang ist, dann verkürze sie mit guten Taten. Die Hitze des Weines ist nur der Beginn. Was wirklich in dir glüht, ist die Lust am Guten“, rezitierte Gartret aus dem Buch Vindros.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du gläubig bist“, wunderte sich Bezarze, „schliesslich hast du mich vor ein paar Stunden noch umbringen wollen.“
Gartret lächelte, er schien trotz seiner Widersprüche im Moment im Reinen mit sich zu sein: „Kein Mensch hat nur eine Seite – meine liebe Kuratorin.“
Sie bedeckten die Leuchtkugeln und legten sich schlafen. Doch nicht alle fanden Ruhe: Siliah und Bezarze fielen bestenfalls in einen nervösen Halbschlaf. Beide Frauen wurden von den gleichen seltsamen Bildern beunruhigt: Eine tanzende, schemenhafte Elfenschar. Viele spielten Instrumente – andere schwatzten miteinander. Doch hinter der vermeintlichen Fröhlichkeit verbarg sich etwas – eine Art von Gier. Das Leben dieser Elfen war verwirkt, ohne dass der Tod ihnen Ruhe gegeben hatte. Alles was sie jetzt noch besassen, war die Aufgabe, die sie sich selbst auferlegt hatten. Sie wollten die verborgenen Seelen der grossen Elfen freilegen. Gierig streckten sie ihre unnatürlich langen Glieder aus, sie würden alles Störende mit Händen zerreissen um weiter vorzudringen. Und wehe, wenn es da nichts zu finden gab!
Siliah sprang auf und schrie: „Wacht auf! Wir haben nicht mehr viel Zeit! Sie sind schon ganz nah!“
„Bei den Göttern – was ist denn los?“, fragte Malgoth schlaftrunken.
„Es ist meine Schuld“, flüsterte Bezarze, „sie kommen nur meinetwegen.“

*****

Alisan packte reichlich Ausrüstung ein – er wusste; er würde eine lange Reise unternehmen müssen. Und wer konnte wissen, was ihm alles begegnen würde? Er nahm Waffen, Fallen und Gifte mit. Der alte Dieb hatte sich aufs Kreuz legen lassen; und jetzt war es an der Zeit, es seinen ehemaligen Schülern heimzuzahlen.
Alisans Gefühle waren widersprüchlich; er schwankte zwischen Stolz und gekränkt sein.
Waren die Vier nicht eher naiv und ungeübt zu ihm gekommen? Hatte er sie nicht in kürzester Zeit zu einer schlagkräftigen Diebesbande ausgebildet? Diese Gedanken lagen auf der Sonnenseite seines Gemüts. Auf der anderen Seite war er vielleicht mit der Ausbildung zu weit gegangen. Und am Ende hatten sie ihn sogar übertölpelt. Aber letztendlich – da war sich Alisan sicher –war er über seine eigene Überheblichkeit gestolpert. Ja, er war selbst schuld: Allein der Gedanke, ihn – die Goldene Hand – zu übervorteilen, war ihm abwegig erschienen. Nun hatte das Leben dem alten Dieb also eine heilsame Lektion erteilt. Und Alisan schwor sich: auch er würde ein gelehrsamer Schüler sein. Das Leben war der grösste aller Lehrmeister – sich von ihm unterweisen zu lassen, war auch für den Besten keine Schande.

Es hatte nicht lange gedauert und Alisan hatte Vindara erreicht. Er kümmerte sich nicht, um das Chaos, welches noch immer in der Stadt herrschte. Vielleicht würde dies ein Dauerzustand bleiben; möglicherweise würde sich die Lage bald zugunsten der einen oder anderen Seite klären. Doch die Goldene Hand war gewiss nicht hier, um sich um religiöse Streitigkeiten zu kümmern. Er war ein Mann von dieser Welt; die Vertröstungen auf das unsichtbare Jenseits und die Einbildung von mächtigen Götterfiguren hatten ihm nie gelegen.

Der alte Dieb begann diejenigen Gasthäuser abzuklappern, von denen er wusste, dass dort von Zeit zu Zeit Fremde einkehrten. Immer wieder liess er eine Münze springen und fragte nach den vier Dieben. Doch niemand hatte sie gesehen; sie schienen in keinem der Gasthöfe übernachtet zu haben. Schliesslich begann er seine Tour erneut und fragte allgemein nach Fremden, die sich irgendwie auffällig verhalten hatten. Im Gasthof zur Kirschbrücke wurde er fündig. Zwar redete der Besitzer des Gasthofes kaum – egal wie viele Münzen er über den Tresen schob. Aber an einem der Tische sass ein Waffenknecht, der schon am Mittag nach Schnaps verlangte. Wie es sich herausstellte, wollte er sich betrinken, weil ihn sein Arbeitgeber plötzlich verlassen hatte. Alisan gesellte sich zu ihm und schenkte ihm ein offenes Ohr.
„Ich habe alles für ihn getan – für diesen schmucken Schnösel!“, lamentierte der Mann lautstark, „und jetzt hat er sich einfach aus dem Staub gemacht – ohne ein Wort!“
Alisan bestellte Schnaps für den unglücklichen Waffenknecht: „Wie hiess dein Arbeitgeber und womit hat er sich beschäftigt?“
„Atamirenses – eine Name, so elegant wie er selbst! Womit er sich beschäftigt hat? Das kann ich dir leider nicht sagen – Fremder.“
Alisans Intuition sagte ihm, dass es Wert war, der Sache nachzugehen. „Wann hat dein Arbeitgeber dich verlassen?“
Der Waffenknecht leerte ein weiteres Schnapsglas mit einem Zug: „Vor drei Tagen – und ich weiss nicht einmal wohin er ist! Und wozu dieser plötzliche Aufbruch? Ich habe keine Ahnung!“
Alisan legte dem Mann beruhigend die Hand auf die Schulter.
„Seit der sich mit diesen Silbertränen eingelassen hat, ist alles den Bach runter gegangen!“ Ein weiteres Glas wurde geleert.
„Die Silbetränen? Nie gehört.“
Der Waffenknecht macht eine ungelenke Handbewegung – der Alkohol zeigte bereits erste Auswirkungen: „Glaub mir Fremder – das möchtest du gar nicht wissen. Die Typen sind an Unheimlichkeit kaum zu überbieten. Kann es sein, dass jemand wie ein Mensch aussieht und doch keiner ist? Ist ja auch egal – jetzt ist sowieso alles im Eimer!“
„Und was haben die Silbetränen gewollt?“
„Kunst haben sie gewollt – mein Arbeitgeber war ein… Kunsthändler. Ja, ein Kunsthändler. Goldtaler haben sie – diese Silbertränen - aber haben sie auch ein schlagendes Herz? Diese Maskenträger sind wie Gift, welches schon durchs Anschauen wirkt!“
„Habt ihr euch die Kunst selbst ‚besorgt’“, fragte Alisan so beiläufig wie möglich.
Der Waffenknecht schüttelt wie wild seinen Kopf; daraufhin musste er sich seine Haare neu ordnen: „Nein – da waren Leute, die die Besorgungen für uns erledigten. Wie die das machten? Ging uns nichts an! Wir kassierten das Geld von den Silbertränen und zahlten nur einen Teil davon wieder aus. Ein todsicheres Geschäft! Aber ich habe bereits damals geahnt, dass es schief gehen würde. Und es ist offensichtlich etwas schief gegangen! Andernfalls wäre Atamirenses wohl noch hier.“
„Ich habe Freunde – die solche ‚Besorgungen’ für Leute wie Atamirenses machen. Es ist eine ziemlich bunt zusammen gewürfelte Truppe; Vier…“
„..Ja, ja, ja – ein Zwerg, eine Elfe, eine wahrer Riese und so ein hinterhältiger Typ; kenne ich schon.“
„Kannst du mir sagen, wo meine Freunde jetzt sind?“
Der Waffenknecht lachte rau und verschluckte sich dann. Nachdem er ein wenig gehustet hatte, meinte er: „Woher soll ich das wissen? Ich habe sie nur einmal gesehen; bei einer Scheune, nicht weit von der Stadt. Aber das ist schon einige Wochen her. Sie haben uns ein Bild gebracht – für die Silbertränen natürlich. Keine saubere Arbeit – sie hatten deswegen in der Nacht davor die ganze Stadt verrückt gemacht.“
„Und wo könnten sie jetzt sein?“
Der Waffenknecht stand auf und wirkte plötzlich bedrohlich: „He – du hast mir wohl nicht zugehört! Ich habe sie seither nicht wieder gesehen. Beim Dämon – wer kann schon wissen, wo sie stecken!“
Alisan schenkte Schnaps nach und schwieg eine Weile. Der Waffenknecht beruhigte sich wieder und setzte sich: „Ich möchte doch nur, dass Atamirenses zurückkehrt und dass alles wieder so ist wie früher; ist denn das zuviel verlangt?“
„Vielleicht kann ich dir helfen, ihn aufzuspüren – wo könnte er denn sein?“
Der angetrunkene Mann zerschnitt mit einer ausladenden Geste mit der flachen Hand die Luft vor ihm: „Eines ist sicher – er ist in einer Stadt; wahrscheinlich in einer grossen Stadt. Ein Mann wie er gehört nicht aufs Land – das liegt ihm nicht. Dieses Vindara zum Beispiel… Ist doch bloss ein Kaff!“
„Eine grosse Stadt also. Auf unserer Insel kämen da nur Mandakir und Sindra Mall in Frage“, spekulierte Alisan.
„Wenn er in Mandakir ist, dann bestimmt nicht zum Arbeiten. Die Paladine dort führen ein strenges Regiment. Es ist nicht einfach dort, für Leute wie uns.“
„In jeder Stadt werden Dinge ‚besorgt’ – und vielleicht möchte er einfach nur untertauchen“, wandte Alisan ein.
Der Waffenknecht nickte bedächtig: „Das stimmt – mein einziger Freund. Aber in Mandakir muss man sehr vorsichtig sein. Es heisst, dort werden nur die ganz grossen und wirklich ungeheuerlichen Verbrechen nicht bestraft.“
„Was soll das denn heissen?“, fragte der alte Dieb nach.
Doch der Waffenknecht schüttelte nur den Kopf und murmelte etwas über die Kathedrale der Mörder, hinter welcher sich sicher eine furchtbare Perversion verberge.
Alisan ging nicht weiter auf diese höchst seltsame Sehenswürdigkeit Mandakirs ein – die auf der ganzen Insel bekannt war. „Die Hauptstadt Sindra Mall ist weit – Mandakir liegt bedeutend näher; ich würde fast wetten, dein Atamirenses verbirgt sich dort.“
„Schon möglich“, erwiderte der Waffenknecht, der allmählich ein wenig schläfrig wurde, „ich werde hier bleiben und auf Atamirenses warten. Geh du nur nach Mandakir und stöbere ihn dort auf! Sag ihm, was für ein treuer Gefolgsmann hier auf ihn wartet.“
„Kannst du mir Atamirenses beschreiben, damit ich ihn auch finden kann?“
Der Waffenknecht nickte: „Aber gewiss doch.“ Dann beschrieb er die ungemein elegante Erscheinung, mit der sein ehemaliger Arbeitgeber die Leute von sich einzunehmen versuchte.
Alisan stand auf: „Ich werde ihn finden – mein Freund. Verlass dich auf mich.“

Der alte Dieb hatte keine Zeit mehr zu verlieren; schnurstracks ging er zum Stadtrand. Dort hatte er ein Pferd festgebunden, welches er einst einem Zauberwirker abgenommen hatte. Der schlanke und doch ungemein muskulöse Körper des Tieres nötigte ihm Respekt ab. Das Fell des Pferdes war ganz schwarz und schimmerte im Sonnenlicht.
Alisan würde sein Glück in Mandakir versuchen.
Dieser Atamirenses war die einzige Verbindung zu den vier Dieben; nur über ihn hatte er die Chance, sie zu finden. Dank seines schnellen Pferdes würde es ihm vielleicht gelingen, den Hehler einzuholen.
Alisan lächelte; er war ein guter Lehrmeister gewesen. Aber die Vier würden staunen, was er ihnen alles vorenthalten hatte.

******

Kagor horchte angestrengt; den gezogenen Säbel in seiner Hand. „Also ich höre nichts.“
Siliah blieb unberirrt: „Sie sind ganz nahe – wir sollten von hier verschwinden.“
„Ist die Nacht schon vorbei?“, fragte Gartret in Bezarzes Richtung.
Doch diese antwortete nicht, sondern schaute nur in die dunklen Gänge.
„Also wenn niemand mehr schlafen möchte“, meldete sich Malgoth zu Wort, „dann fangen wir jetzt schon mit der Suche an. Egal was da draussen ist. Je eher wir weg sind, desto besser.“
Bezarze war bleich und sie zitterte. Es brauchte einige Minuten, bis die Kuratorin soweit war, dass sie wieder die Führung übernehmen konnte.

Sie versuchten stets in der gleichen Schicht des Steins zu bleiben. Die Kunst war weiterhin einfach gehalten, und viele religiöse Motive herrschten vor. Es gab zahlreiche Wandteppiche, nur einige Bilder und fast keine Statuen.

Bemerkten sie, dass sie in eine andere Kunstperiode gerieten, traten sie den Rückweg an. So verging viel Zeit und auch der dritte Tag drohte zur Neige zu gehen.
Bezarze blieb plötzlich stehen: „Wir sollten den Stein so schnell wie möglich verlassen.“
„Nicht bevor wir den Helm haben“, erwiderte Gartret trotzig.
„Hier ist es für uns alle lebensgefährlich!“
Der ehemalige Schauspieler grinste verächtlich „Lebensgefährlich? Nur weil du schlecht schläfst?“
Die Kuratorin schaute verzweifelt um sich: „Sie werden mich holen – und euch gleich dazu!“
„Nun beruhige dich mal“, bat Malgoth.
Doch Bezarze hörte gar nicht hin. „Was wird mit mir geschehen, wenn sie mich eingefangen haben? Sag es mir – Siliah!“
„Du glaubt, du hast eine dieser versteckten Elfenseelen in dir – nicht wahr?“, fragte Siliah zurück.
Bezarze nickte.
„Dann solltest du dich deinem Schicksal stellen.“
„Und wenn ich mich irre? Dann werden uns die Elfengeister alle töten! Und falls ich mich nicht irre: was geschieht dann mit mir?“
Gartret stöhnte: „Versteckte Elfenseelen in Menschenkörpern. Geisterelfen, die nach diesen Seelen Jagd machen: Das geht zu weit – wir sind nur einfache Diebe. Wir nehmen uns diesen Helm, haben damit unsere Aufgabe erfüllt und das war’s.“
„Möglicherweise ist es doch nicht so einfach“, zweifelte Malgoth, „trotzdem sind wir zuerst mal Diebe – wir werden uns diesen Helm holen.“
„Da habe ich eigentlich nichts dagegen einzuwenden“, meinte Siliah, „ich habe mich für dieses Leben entschieden, so wie ihr Anderen auch. Aber ich muss euch warnen: Wenn uns diese Elfenschar in die Finger kriegt, werde ich nicht helfen können. Ich bin jetzt schon so lange unter Menschen; ich weiss nicht einmal, wie das Ritual im Kern des Stein vollzogen wird.“
„Können wir uns nicht zur Wehr setzen?“, fragte Kagor.
Siliah verneinte: „Nicht mit diesen Waffen – und auch nicht ohne einen mächtigen Zauberwirker in unseren Reihen. Die Elfenschar sind keine Untoten im eigentlichen Sinne; auch du wirst ihnen vermutlich nichts anhaben können.“
„Dann können wir also nur den Helm finden, bevor sie uns gefunden haben“, schloss Kagor.
„Ganz recht“, meinte Gartret, „darum sollten wir weniger plaudern und dafür einen Zahn zulegen.“
„Ja – lasst uns etwas schneller suchen“, stimmte Malgoth zu.

Fast im Laufschritt hetzten sie durch die Hallen und Gänge. Selbst nur diese Schicht im Stein war riesig. Die Kunstwerke an den Wänden nahmen sie kaum mehr wahr; jeder Wandteppich war nur noch ein Fetzen Stoff; jedes Bild bloss eine Fläche voll Farben und Linien. Ihre Beine wurden schwerer und schwerer – besonders Malgoth stöhnte oft. Doch Bezarze und Siliah trieben sie voran. Die Elfe war sich der Gefahr bewusst, in der sie schwebten. Und die Kuratorin fühlte die Bedrohung für ihr Leben ständig wachsen.
Sie glaubten schon, ihre Suche würde kein Ende nehmen, da gelangten sie in eine sehr grosse Halle, die hell erleuchtet war.
Riesige Kronleuchter - mit unzähligen Leuchtkugeln bestückt – hingen von der Decke. Das wirklich Bemerkenswerte in der Halle war aber eine hohe Säule, die fast bis an die Decke empor ragte. Und auf dieser Säule befand sich ein silberner Helm.
Die vier Diebe und Bezarze waren starr vor Staunen. Ehrfürchtig betrachteten sie das gesuchte Artefakt. Ein Art weissliches Licht schien von ihm auszugehen – vielleicht war es auch nur die Reflexion auf dem Silber.
„Den Göttern sei gedankt!“, unterbrach Bezarze erleichtert die Stille, „jetzt können wir endlich von hier verschwinden.“
„Und wie holen wir den Helm von der Säule herunter?“, fragte Kagor.
Malgoth wandte sich an Siliah: „Nimm dir einen Pfeil ohne Spitze – einer von denen, mit dem du den Herold in Vindara zu Fall gebracht hast.“
Gartret nickte: „Ich und Kagor werden versuchen, den Helm aufzufangen. Wir sollten das Ding besser in einem Stück den Silbertränen übergeben.“
Siliah nahm einen Pfeil hervor, der in einer kleinen Kugel statt in einer Spitze mündete. Sie legte an und zielte auf den Helm.
„Wenn der Helm wirklich dem Grossen Herrscher gehört hat, dann ist er mindestens zweitausend Jahre alt. Hoffentlich hält dieses alte Artefakt diesen Pfeilschuss aus“, meinte Bezarze.
Siliah setzte den Pfeil ab: „Soll ich es lieber bleibenlassen?“
Malgoth überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf: „Wir müssen den Helm da runterkriegen – und ich wüsste nicht, wie wir das sonst auf die Schnelle tun sollten.“
Die Elfe legte den Pfeil wieder an – die Sehne des Bogens gab einen ächzenden Laut von sich, als sie aufgezogen wurde. Dann ein Zischen und der Pfeil sauste durch die Luft. Einen winzigen Augenblick später hatte das Geschoss die Spitze der Säule erreicht. Der Helm wurde getroffen. Ein helles, schwingendes Geräusch erklang, so, als sei eine Glocke angeschlagen worden. Doch nichts rührte sich – der Helm blieb an der Stelle.
Siliah stiess einen hässlich klingenden Fluch auf elfisch aus; sofort hatte sie einen zweiten Pfeil angelegt. Diesmal zog sie die Sehne des Bogens noch weiter auf, um dem Geschoss mehr Wucht zu verleihen. Auch dieser Pfeil traf. Doch auch diesmal rührte sich der Helm keinen Fingerbreit.
Siliah liess den Bogen sinken: „So geht es nicht – wir müssen einen anderen Weg finden.“
Malgoth kniff die Augen zusammen und schaute nach oben: „Der Helm scheint irgendwie festgemacht. Vielleicht sollten wir versuchen, heraufzuklettern.“
Die Elfe betrachtete die Säule: „Vielleicht schaffe ich das.“
Als sie näher an die Säue herangingen, blieben sie erstaunt stehen.
„Ein seltsames Gefühl hat mich eben berührt“, bemerkte Kagor, „und es ist mir bekannt vorgekommen.“
Die Anderen war es ebenso ergangen.
„Es hat sich so angefühlt wie dort im Weinkeller in Vindara“, war sich Siliah sicher.
„Ja“, bestätigte Malgoth, „dasselbe angenehme Erschaudern; wie vor dem Grab von Ilian. Ich vermute daher, wir sind wieder auf ein Grab eines Volkshelden gestossen. Wahrscheinlich ist D’Sanos hier begraben – der Held von Kulmina.“
„Man fühlt, wenn man sich in die Nähe eines der Gräber der Volkshelden begibt?“, fragte Bezarze verwundert, „das ist wirklich neu; und noch gänzlich unerforscht. Aber besser ihr holt euch jetzt endlich, weshalb ihr hergekommen seid.“
Gartret wollte das Material der Säule prüfen, doch kaum hatte er sie berührt, zog er erschreckt die Hand wieder zurück. Neugierig schnupperte er an seinen Fingerkuppen. „Die Säule scheint mit so etwas wie Fett eingerieben zu sein“, gab er bekannt, dann schaute er auf seine Stiefel, „und mit dem Boden stimmt auch etwas nicht – da klebt die gleiche Substanz.“
Siliah verdrehte die Augen: „Das hat mir gerade noch gefehlt.“ An der Säule angekommen, prüfte sie diese ebenfalls. „Es hat keinen Zweck – ich würde sofort abrutschen.“
„Das darf doch nicht wahr sein!“, schimpfte Gartret, „wir sind so nahe dran!“
Malgoth ging um die Säule herum, zweimal fiel er dabei fast um: „Der Boden scheint tatsächlich mit Fett eingerieben zu sein – oder was immer das ist.“
„Und ich wollte gerade vorschlagen, eine Leiter zu bauen“, gab sich Kagor enttäuscht.
„Daran habe ich auch schon gedacht“, meinte Gartret zu dem Hünen, „wir hätten die hölzernen Rahmen der Bilder verwenden können.“
„Egal, was sich in mir verstecken mag“, knurrte Bezarze, „noch bin ich eine Kuratorin. So etwas hätte ich Nie und Nimmer zugelassen!“
Gartret nahm ein Stück Stoff aus seinem Rucksack und versuchte die glitschige Substanz vom Boden zu wischen: „Das ist kein herkömmliches Fett – es lässt sich nicht wegwischen.“
„Kannst du deinen Enterhaken soweit hochwerfen?“, fragte Malgoth Gartret.
Dieser schätzte die Distanz ein, dann schüttelte er den Kopf: „Vergiss es – da oben gibt es nichts, wo er Halt finden könnte.“
Bezarze schaute ängstlich um sich – sie schien die nahende Gefahr zu spüren: „Bitte beeilt euch! Lasst euch irgendetwas einfallen; wir müssen hier weg!“
„Wir tun was wir können!“, meinte Malgoth verärgert. Der Widerstand, den die vermeintlich so simple Säule ihnen entgegenbrachte, begann seinem Stolz zu kränken.
Kagor umfasste die Säule mit beiden Armen. Immer wieder wegrutschend, versuchte er festen Stand zu finden. Dann versuchte er mit ruckartigen Bewegungen die Säule zum Schwanken zu bringen.
„Hört auf – Kagor“, bat Malgoth, „kein Mensch kann eine Säule umwerfen – auch du nicht.“
Kagor sah selbst die Sinnlosigkeit seines Unterfangens ein und gab auf.
Malgoth und Gartret begannen, die Säule genauer zu untersuchen. „Ob die ganze Säule mit dieser fettähnlichen Substanz eingerieben ist?“, fragte sich der Zwerg.
„Ich glaube nicht“, meinte Gartret, „das Zeug glänzt leicht – und schon nach wenigen Klaftern hört dieser Glanz auf.“
Malgoth betrachte die Säule und kam zu demselben Schluss. Er lächelte: „Siliah – Kagor; ihr beide solltet ein kleines Kunststück versuchen.“
„Lass mich raten“, erwiderte die Elfe, „ich soll auf Kagors Schultern steigen und von da aus versuchen, auf den weniger glitschigen Teil der Säule zu kommen.“
„So habe ich mir das etwa vorgestellt“, gab Malgoth zurück.
Kagor hielt sich bereit und die Elfe erklomm behände den Hünen und stellte sich auf dessen Schultern. Ganz vorsichtig – um nicht auszurutschen – näherte sich Kagor der Säule.
„Was für ein Zirkus“, murrte Gartret, der den balancierenden Hünen mit der Elfe auf den Schultern beobachtete.
„Ich werde so hoch wie möglich springen“, gab Siliah bekannt.
Sie ging leicht in die Hocke und schoss wie eine losgelassene Feder nach oben. Dann umfasste sie mit beiden Armen und Beinen die Säule. „Hier oben ist kein Fett mehr“, gab die Elfe bekannt.
„Sehr gut - dann hol jetzt den Helm!“, wies Malgoth Siliah an.
Die Elfe fand Halt in winzigen Ritzen und Vorsprüngen. Langsam konnte sie sich weiter hocharbeiten. Bald hatte sie schon einige Klafter zurückgelegt. „Es ist mühsam; aber es geht“, verkündete sie und wollte soeben weiterklettern. Doch da erklang ein leichtes Knacken – dann schwirrte etwas Blitzschnell durch die Luft. Siliah versuchte ihr Gesicht abzuwenden, was ihr aber nur halb gelang – eine blutrote Strieme überzog ihre linke Backe. Weitere Knackgeräusche ertönten.
„Verschwinde von dort - Siliah!“, rief Malgoth aus Leibeskräften, „es ist eine Falle!“
Ein ganzer Schwarm winziger Bolzen schwirrte durch die Luft – Siliah liess sich mehr fallen als das sie herunterkletterte. Immerhin schaffte sie es – dank ihrer übermenschlichen Schnelligkeit – nicht mehr getroffen zu werden. Als Siliah den glitschigen Teil der Säule erreichte, war sie zwar von den Bolzen sicher, aber dafür verlor sie jeglichen Halt. Doch Kagor fing sie auf, auch wenn er dadurch selbst das Gleichgewicht verlor.
„Diese verdammte Säule! Das darf doch nicht wahr sein!“, fluchte Gartret wutentbrannt.
Malgoth half Siliah und Kagor auf. Die Elfe hatte zwar eine ziemliche Schramme abbekommen, war aber ansonsten unverletzt geblieben. Kagor war weit davon entfernt, Blessuren davongetragen zu haben.
„Und wie geht es jetzt weiter?“, fragte Bezarze, die das Ringen der vier Diebe mit der Säule bis dahin schweigend mitverfolgt hatte. „Jede Minute, die wir hier verbringen, bringt uns nur weiter in Gefahr.“
Gartret warf der Kuratorin einen Blick zu, der sie sofort verstummen liess.
„Du musst da rauf – Gartret – und oben die Falle entschärfen“, meinte Malgoth.
„Und wie zum Dämon soll ich das anstellen?“, fragte dieser unwirsch.
„Wir müssen diesen Pfeilhagel unterbinden; nur du beherrscht die Kunst, Fallen zu entschärfen.“
Gartret schaute verzweifelt die Säule hoch: „Malgoth – wie denn?“
„Ich werde noch mal hochsteigen – und dir ein Seil festbinden“, lieferte Siliah die Lösung.
Gartret wirkte nicht sehr überzeugt.
„Hast du eine bessere Idee?“, fragte Kagor.
„Dann versuchen wir es eben“, murrte Gartret.
Siliah und Kagor wiederholten ihr Kunststück, doch diesmal kletterte die Elfe nicht ganz so weit empor wie zuvor. Stattdessen hielt sie sich einen Moment nur mit den Knien fest und warf geschickt ein Seil um die Säule, dessen Ende sie auf der anderen Seite wieder auffing. Jetzt konnte sie eine ganze Serie von Knoten anbringen. Danach liess Siliah sich wieder herab gleiten. Jetzt kletterte Gartret auf Kagors Schultern und versuchte darauf stehend zu balancieren.
Siliah lachte. „Aha – der Zirkus hat eine neue Nummer!“, bemerkte sie spitz.
Gartret wollte etwas Giftiges entgegnen; doch er besann sich anders und wandte sich stattdessen ganz seiner eigentlichen Aufgabe zu. Er fasste das eine, herabbaumelnde Seilende und versuchte sich daran hochzuziehen. Der ehemalige Schauspieler war für einen Menschen ganz geschickt, aber verglichen mit der katzenhaften Gewandtheit der Elfe wirkten seine Bemühungen kläglich.
„Du musst das Seil einmal um deinen Körper legen“, wies Siliah Gartret an, „dann musst du dich mit beiden Beinen gegen die Säule stemmen und dich Stück für Stück hocharbeiten.“
Gartret folgte Siliahs Anweisungen; und es klappte erstaunlich gut. Zwar schwankte er etwas unsicher, aber er konnte mit kleinen Schritten die Säule regelrecht hochgehen. Es sah fast so aus, als hätte er die Schwerkraft überlistet.
Dann kam er bis fast zu der Stelle, an der Siliah von den Bolzen beschossen worden war. Hier band sich Gartret das Seil um den Oberkörper. Vorsichtig senkte er sich auf die Knie.
Als er sich einige Atemzüge lang ausgeruht hatte, fasst er nach hinten und zog einige kleine Werkzeuge aus seiner Hosentasche. Langsam machte sich Gartret ans Werk. „Die Falle ist recht einfach aufgebaut“, gab er nach einigen Minuten bekannt, „viele kleine Druckpunkte lösen Federn aus, welche dann die Bolzen aus kleinen Löchern jagen. Am Einfachsten ist es, wenn ich die Bolzen aus den Löchern hole – dann passiert nicht mehr viel, wenn man auf die Druckpunkte kommt.“
Einige weitere Minuten vergingen – Gartret kam ganz ordentlich ins Schwitzen. Mehrmals pendelte er gefährlich Hin und Her. Doch dann schaute er erleichtert auf: „Geschafft! Ich glaube, ich habe alle Bolzen erwischt. Ich komme jetzt herunter.“
„Du glaubst?“, fragte Siliah, „das klingt nicht sehr überzeugt.“
Doch die Elfe stieg tapfer auf Kagors Schultern, kaum war Gartret unten angelangt. Bald hatte sie wieder die Stelle erreicht, bei der sie letztes Mal die Flucht hatte antreten müssen. Vorsichtig kletterte sie weiter. Ein leichtes Knacken ertönte immer wieder, aber keine Bolzen flogen – die Falle war entschärft.
„Sehr gut – nun ist der Weg hoffentlich frei“, war Malgoth erleichtert.
„Hol endlich diesen elenden Helm!“, forderte Gartret.
„Wir haben nach all unsere Mühen diesen Lohn verdient – das müssen jetzt auch die Götter einsehen!“, meinte Kagor.
Doch mit dem Einsehen der Götter haperte es.
„Ich komme nicht weiter“, gab Siliah bekannt.
„Was ist denn nun schon wieder?“, wollte Malgoth wissen.
„Die Säule bewegt sich.“
„Wie meinst du das – Siliah?“, fragte Kagor.
„Die Säule besteht hier aus mehreren Abschnitten, die sich drehen, sobald man sie berührt. So kann ich nicht weiterklettern.“
Unten herrschte eine Weile schweigen – niemand wusste, wie dieser neuen Situation zu begegnen war.
„Kannst du irgendwelche Inschriften sehen?“, fragte Bezarze schliesslich, die sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich den Rückzug antreten zu können.
Siliah kletterte um die Säule herum: „Ja – unter den sich bewegenden Abschnitten sehe ich vier Namen: Kulmina, Vindara, Mandakir und Undramar – Städtenamen offenbar.“
Malgoth wandte sich an Bezarze: „Das sind vier der Heimatstädte der fünf Helden des Volkes, die, die einst den Grossen Herrscher…“
Die Kuratorin nickte hastig: „Ist auf den sich bewegenden Segmenten auch etwas zu sehen?“
„Ja – da ist zum Beispiel das Wort ‚Ilian’ – und links und rechts davon sind Weintrauben, dann sind da noch…“
„Schiebe diesen Teil zu der Aufschrift ‚Vindara’“, forderte Bezarze.
Siliah tat es: „Da passiert nichts.“
„Wahrscheinlich müssen alle drehbaren Teile in die richtige Position gebracht werden, bevor etwas passiert“, mutmasste Malgoth, „was siehst du auf dem nächsten Segment?“
„Eine Sense, einen Streithammer, dann…“
„Bewege den Streithammer zu ‚Kulmina’ – dies war die Waffe von D’Sanos“, unterbrach Bezarze.
„Es geschieht wieder nichts“, beschwerte sich Siliah.
„Abwarten – nun das dritte Segment“, gebot Malgoth.
Siliah streckte sich: „Das wird langsam schwierig – viel weiter kann ich nicht mehr ausgreifen, ohne die zuvor eingestellten Abschnitte zu verschieben.“
„Was siehst du?“, fragte Bezarze ungeduldig.
„Einen Würfel…“
„Das gehört zu Mandakir“, gab Gartret ohne Umschweife bekannt, „Damir war ein Spieler – und einer der grossen Helden des Volkes. Einmal im Jahr wird in Mandakir ihm zu Ehren ein Schauspiel aufgeführt, welches seine Lebensgeschichte zeigt. Ihr könnte mir glauben – ich habe schon selbst an so einer Aufführung mitgewirkt. Keine besonders gute Geschichte: Die Guten kämpfen dort gegen die Bösen.“
„Sicher warst du einer der Bösen!“, rief Siliah nach unten – die offenbar trotz ihrer Anstrengung noch immer zu spitzen Bemerkungen aufgelegt war.
„War es das?“, fragte Malgoth.
„Da gibt es noch ein Segment“, gab die Elfe bekannt.
„Was siehst du darauf?“, fragte Bezarze.
„Es ist zu weit weg – ich sehe überhaupt nichts; ich betrachte aus dem falschen Winkel heraus. Ich kann es von hier aus ja kaum mehr berühren – und was immer da eingemeisselt ist, es ist nur noch sehr undeutlich vorhanden.“
„Ich bitte dich Siliah! Bemühe dich!“, bat Bezarze inständig.
„Was glaubst du, was ich hier tue!“, gab Siliah unwirsch zurück, die mittlerweile vor Anstrengung keuchte.
„Kannst du überhaupt nichts erkennen?“, fragte Malgoth verzweifelt.
„Ich sehe… so etwas ähnliches wie einen Totenkopf.“
„Das muss zur Stadt Undramar gehören“, war sich der Zwerg sicher, „dieser Ort würde am Besten dazu passen. Undramar wird auch oft die Stadt der Toten genannt.“
„Ja“, bestätigte Bezarze, „es muss Undramar sein. Der Volksheld dieser Stadt ist als einziger der Fünf im Kampf gegen den grossen Herrschers gefallen. Der Totenkopf passt.“
„Seid ihr euch einig?“, fragte Siliah nach unten.
„Undramar!“, rief Bezarze hinauf.
Siliah schob das letzte Ringsegment in Position. Einige Sekunden verstrichen, ohne dass etwas geschah. Die Elfe wollte sich schon aufs neuerliche Beklagen, da ging ein Schaudern durch die Säule.
„Die Abschnitte bewegen sich nicht mehr“, gab Siliah freudig bekannt, „ich kann weiterklettern.“
„Sehr gut – aber sei vorsichtig!“, bat Malgoth.
Siliah hatte nicht mehr weit zu klettern – ohne von weiteren Vorrichtungen aufgehalten worden zu sein, erklomm sie die Säule bis fast ganz an die Spitze. Es war höchste Zeit, ihre Hände zitterten bereits und ihre Muskeln drohten zu versagen.
„Hol endlich den Helm!“, forderte Gartret.
Die Elfe betrachtete das Artefakt, welches nun zum Greifen nah war. Aber sie zögerte – eine innere Stimme hielt sie zurück. Trotz ihrer Erschöpfung verharrte sie untätig unterhalb der Spitze.
„Bitte, bring die Sache jetzt zu Ende!“, rief Bezarze flehend nach oben, „wir hätten schon längst von hier verschwinden sollen!“
Siliah fasste sich ein Herz und griff nach dem Helm und hob in langsam aus einer Art steinernen Halterung, welche sich in dessen Inneren verborgen hatte.
Augenblicklich begann die Säule zu vibrieren, dann folgte ein kräftiges Rumpeln. Kleine Teile der Säule lösten sich bereits. Siliah wusste, dass sie einen Fehler begangen hatte.

*****

Atamirenses schlug die Augen auf; er lag auf dem Boden. Als er sich mit seinen Händen übers Gesicht fahren wollte, konnte er sich nicht rühren: er war gefesselt.
Sein Kopf dröhnte immer noch von dem Schlag, den er erhalten hatte.
Der Hehler sah nur verschwommen. Vor seinem Gesichtsfeld konnte er nur zwei schwarze, dicke Striche wahrnehmen. Dann klarte sich sein Blick allmählich auf und er sah, dass es sich um zwei Beine handelte, die unmittelbar vor ihm standen und in abgewetzten Reitstiefeln staken.
Atamirenses wandte langsam seinen Kopf nach oben und wanderte mit seinem Blick die zwei Beine hinauf, die in einem schlanken Torso mündete. Darüber stand der Kopf des Mannes, der ganz in Schwarz gekleidet war. Das Gesicht des Fremden war unkenntlich, da der ganze Kopf ebenfalls in schwarzes Tuch gewickelt war. Der Mann sah aus wie man sich einen Meuchelmörder in seinen schlimmsten Träumen vorstellt.
Lange hatte Atamirenses also in Mandakir nicht durchgehalten. Die Silbertränen – oder einer ihrer Häscher – hatten ihn offenbar schon nach wenigen Stunden ausfindig machen können. Nun hatte er mit dem Schlimmsten zu rechnen.
„Du hast es verpfuscht – Atamirenses; hast dich mit den falschen Leuten eingelassen. So etwas geht immer schief“, nuschelte der Fremde hinter dem schwarzen Tuch hervor.
„Ich schwöre, ich habe niemals die Absicht gehabt, die Silbertränen zu verraten! Ich wollte euch stets nur von Nutzen sein!“
„Schrei nicht so rum!“, herrschte der Fremde ihn an.
Atamirenses dämpfte seine Stimme: „Ich weiss, dass ich nicht über euch hätte sprechen dürfen. Aber nun arbeiten die vier Diebe für euch. Man könnte also sagen, ihr profitiert sogar davon, dass ich euch… weiterempfohlen habe. Wollt ihr mich wirklich töten, für etwas, das euch von nutzen war?“
Sekunden verstrichen und nichts geschah. Atamirenses zitterte und lag hilflos wie ein Wurm vor dem Fremden. Die Schnüre seiner Fesseln waren sehr eng und gruben sich immer tiefer in sein Fleisch. Der Hehler zitterte vor Angst und Verzweiflung. Er war noch nie so vollständig der Gnade eines Fremden ausgeliefert gewesen. Ein falsches Wort konnte sein Ende bedeuten.
„Wo sind die Vier jetzt?“, fragte der Fremde überraschend.
„Das wisst ihr nicht?“, fragte Atamirenses überrascht, „sie arbeiten doch jetzt für euch.“
„Sag mir, wo die vier Diebe jetzt sind!“, forderte der Schwarzgewandete drohend.
Der Hehler schüttelte den Kopf: „Beim besten Willen – ich weiss es nicht!“
„Wir wollen wissen, wie viel du über unser Tun weisst. Also sage die Wahrheit und lüge nicht: Welche Aufträge haben wir an die vier Diebe vergeben? Sprich!“
Atamirenses war dieser seltsamen Frage wegen ziemlich verwirrt: „Ich nehme an, ihr habt ihnen aufgetragen, nach Artefakten des Grossen Herrschers zu suchen. Genaueres weiss ich jedoch nicht.“
„Und wo befinden sich solche Artefakte?“
„Ich weiss nicht…“
„Das will ich nicht hoffen – es wäre wirklich schade um dich.“ Der Fremde zückte einen Dolch und hob ihn drohend. Die Klinge glänzte matt im fahlen Licht.
„Wartet!“, beeilte sich Atamirenses, „ich sage alles, was ich weiss!“ Sich gefesselt dem gezückten Dolch gegenüberzusehen, verstärkte Atamirenses Angst aufs Neue. „Es gibt nur wenige Kunstwerke, die den Grossen Herrscher verehren. Und dann gibt es noch jene ganz seltenen Dinge, die zu dem Grossen Herrscher selbst gehörten.“
„Werde gefälligst deutlicher!“
„Zum Beispiel Teile seiner Rüstung – welcher der Grosse Herrscher in seinen letzten Lebensjahren nie mehr abgelegt hatte. In Vindara wird mit einem Teil davon jährlich ein Umzug veranstaltet.“
„Du meinst die berühmten Beinschienen, die der Herold jedes Jahr zum Erntedankfest trägt – nicht wahr?“
„Ja“, erwiderte Atamirenses überrascht, „ihr scheint euch in Vindara auszukennen.“
„Weiter!“, forderte der Fremde barsch.
„Die Armschienen sind hier in Mandakir – die Brustplatte befindet sich vielleicht in der Hauptstadt Sindra Mall; mehr weiss ich nicht!“
Der Fremde liess den Dolch sinken. Er schien zu überlegen. „Und du hast keine Ahnung, wo sich die restlichen Teile der Rüstung befinden könnten?“
„Beim meinem Leben – ich weiss es nicht!“
„Weisst du, was wir Silbertränen mit dieser Rüstung wollen?“
Wieder einer dieser seltsamen Fragen, die Atamirenses langsam an der Identität seines Gegenübers zweifeln liess. Aber er hatte keine Wahl als zu antworten: „Ihr sehnt euch nach der Nähe des Grosses Herrschers. Euer ganzes Leben – falls ihr wirklich lebt – ist auf ihn ausgerichtet.“
Der Fremde überlegte wieder, dann schüttelte er den Kopf: „All das nur aus purer Liebe zu einem toten Herrscher? Unsinn! Was steckt dahinter?“ Der Schwarzgewandete beugte sich drohend über den Hehler.
Dieser zerrte an seinen Fesseln; er wollte seine Arme schützen vor sich halten, aber das Resultat waren nur noch mehr Schmerzen. „Ich bin bloss ein Vermittler! Was geht es mich an, was meine Kunden mit ihren Kunstwerken tun? Hört zu – wer immer ihr seid, nehmt einfach alles, was ich bei mir habe. Mein Geldbeutel ist prall gefüllt! Nehmt ihn und lasst mich in Frieden!“
Doch der Fremde schien das Flehen des Hehlers nicht zu hören. Er hob den Dolch und schien für einen Moment bereit zu sein, die Sache zu beenden. Aber der Schwarzgewandete blieb unschlüssig – der Dolch verharrte still in der Luft. Atamirenses war starr vor Todesangst. Jeden Augenblick würde der tödliche Stoss erfolgen.

Plötzlich liess ein Krachen die Tür zum Zimmer des Gasthauses erzittern; der Schwarzgewandete fuhr herum; ein noch lauteres Krachen und das Geräusch von splitterndem Holz ertönte. Ein Loch war in der Tür entstanden, durch welches helles Licht ins Zimmer drang. Dann erschien ein eiserner Handschuh, welche hindurch griff und die Verriegelung von innen her löste.
Die Tür wurde aufgestossen und ein Mann in einer schweren Eisenrüstung trat ein, welcher fast den ganzen Türrahmen ausfüllte. Er musste den Kopf Hin und Her wenden, damit er durch den Helm – der nur enge Sehschlitze besass – den Raum überblicken konnte. Am Boden lag ein zitternder, totenbleicher Mann, der an Armen und Beinen gefesselt war. Das Fenster des Zimmers war geöffnet und ein Streifen schwarzer Stoff befand sich eingeklemmt zwischen Fenster und Fensterahmen und flatterte im Wind. Jemand war entkommen.


10. Kapitel: Das Geheimnis des Steines.

Siliah wusste, dass sie die Säule sofort verlassen musste. Sie zog den Helm vollends aus seiner Verankerung und warf ihn in Richtung Kagor. Dann liess sie sich so rasch wie möglich nach unten gleiten. Während sie das tat, begann sich die Säule ein Stück um die eigene Achse zu drehen und neigte sich langsam zur Seite. Die unten Stehenden schrieen vor Schreck laut auf. Gartret und Bezarze begannen, aus der möglichen Gefahrenzone zu rennen. Malgoth konnte nicht anders; er blieb einfach nur unbeweglich stehen.
Kagor hatte den Helm soeben an sich gebracht und wartete tapfer auf die Elfe.
Als die Säule endgültig zu kippen begann, hatte Siliah gerade die unterste Zone erreicht. Nun konnte sie sich nirgends mehr festhalten. Fallend konnte sie nur hoffen, das Kagor noch immer bereitstehen würde.
Doch Malgoth schwebte in weit grösserer Gefahr. Die Säule kippte genau in seine Richtung. Gefährlich beugte sich das steinerne Ungetüm auf ihn herab und fiel immer schneller. Der Zwerg konnte sich bis zum letzten Moment nicht entscheiden, in welche Richtung er springen wollte. Endlich machte er einen Hechtsprung nach Rechts – die Säule schlug mit einem bebenden Krachen auf. Steine und Steinchen regneten herab. Staub wogte zu einer grossen Wolke auf, welche die Sicht in der ganzen Halle verunmöglichte. In einer Ecke hustete jemand. Eine heisere Stimme fluchte leise.
Endlich legte sich die Wolke allmählich wieder. Gestalten kamen zum Vorschein, die ganz von gelbbraunem Staub bedeckt waren.
Malgoth rappelte sich auf und schaute zurück auf die geborstenen Säulenteile, die ummittelbar hinter ihm niedergegangen waren. Er war ernsthaft überrascht, dass seine kurzen Beine in der Lage gewesen waren, sein Leben zu retten. Bezarze und Gartret hatten nicht viel mehr als ein paar kleinere Steine abbekommen.
Kagor schüttelte den Staub von sich. Er trug Siliah und den Helm.
Gartret reckte die Arme in die Höhe: „Geschafft!“
Malgoth hustete, dann meinte er: „Trotzdem haben wir etwas falsch gemacht – ansonsten wäre die Säule wohl nicht umgefallen.“
Kagor setzte Siliah ab, die etwas unsicher auf ihren Beinen stand. „Es hat angefangen, als ich den Helm aus der Verankerung genommen habe“, berichtete die Elfe.
„Wir haben doch alle Rätsel gelöst?“, fragte Kagor.
„Vielleicht nicht“ Malgoth begann die Trümmer der Säule zu durchsuchen.
„Bitte!“, flehte Bezarze, „ihr habt jetzt diesen Helm. Können wir nicht endlich, endlich von hier weg?“
„Einen Moment noch.“ Malgoth hatte das oberste Säulenstück gefunden. „Habe ich mir es doch gedacht!“
„Was?“, fragte Gartret.
„Seht her: am obersten Rand befindet sich eine eingemeisselte Krone. Wir haben alle Helden des Volkes in dem Rätsel zuvor zuordnen müssen – nur nicht den Helden der Hauptstadt Sindra Mall.“
„Und wie hätten wir das tun sollen?“, fragte Siliah.
Malgoth legte beide Hände auf die steinerne Verankerung, auf der sich der Helm befunden hatte. Dieses noch erstaunlich intakte Element begann sich unter seinem sanften Druck zu drehen. „Wir hätten den Helm wohl in Richtung der Krone drehen müssen – meine Freunde.“
Gartret zuckte mit den Schultern: „Niemand macht alles richtig – Hauptsache wir haben den Helm.“
Kagor säuberte das Artefakt von dem Staub und präsentierte es den Anderen. Der Helm war aus dem gleichen silbernen Material gefertigt, wie die Beinschienen aus Vindara. Auch er fühlte sich warm an. Und er schien ebenfalls diese vibrierende Energie in sich zu haben. Die dunkle, T-förmige Aussparung für die Sicht und die Atmung wirkte unheimlich und zog den Blick geradezu magisch an.
„Steck den Helm bitte weg – Kagor“, bat Malgoth.
„Was hast du denn auf einmal?“, fragte Gartret verwundert.
„Nichts - ich möchte das Ding nur nicht anstarren müssen.“
Siliah fröstelte es: „Ich weiss was du meinst.“
Kagor verstaute den Helm in seinem Gepäck.
Angeführt von Bezarze - die es sehr eilig hatte – machten sie sich auf den Rückweg.
„Wir werden etwa zwei Tage brauchen, bis wir die bewohnten Teile von Kulmina erreichen“, erklärte die Kuratorin, „vielleicht sollten wir die Nacht hindurch marschieren.“
„Dir wird schon nichts passieren“, meinte Gartret etwas beschwingt und versuchte schützend den Arm um Bezarze zu legen. Doch diese wich zur Seite und würdigte den ehemaligen Schauspieler keines Blickes. Gartret nahm es ihr nicht übel; dass sie den Helm erbeutet hatten, stimmte ihn euphorisch und zuversichtlich.
Sie kamen gut voran und bald sahen sie die ersten Kunstwerke der so genannt bescheidenistischen Phase. Von nun an waren alle Statuen ungemein genau und naturgetreu gehauen und Personen und Gegenstände auf den Bildern verblüffend lebensecht gemalt.
Sie kamen in einen besonders schön ausgeschmückten Raum, dessen Mitte von einer Skulptur aus leuchtend weissen Marmor eingenommen wurde. Der polierte Stein schimmerte wie Perlmut. Dargestellt war ein kleiner Junge, welcher mit einem Schwan kämpfte. Der Knabe und das Tier waren eng umschlungen; es war nicht klar, ob dieser Streit ernst oder nur von freundschaftlicher Natur war. Sowohl der Schwan wie auch das Kind waren erstaunlich detailreich gearbeitet. Man hatte fast das Gefühl, bei der Skulptur mehr sehen zu können, als es in der Wirklichkeit möglich gewesen wäre.
„Kein Wunder, dass man manche dieser Statuen eingesperrt hatte“, murmelte Malgoth im vorbeigehen.
Kagor blieb stehen: „Das habe ich schon mal gesehen – dieses Motiv meine ich.“
„Das glaube ich gerne – du bist ja offenbar einmal Paladin gewesen“, erwiderte Bezarze.
Kagor überlegte, doch er konnte keinen Zusammenhang feststellen. „Erklär mir, was du damit meinst“, forderte er.
„Wenn wir die inneren Bezirken verlassen haben – liebend gern. Aber jetzt sollten wir uns lieber beeilen“, drängte Bezarze.
Sie wollten ihren Marsch soeben fortsetzen, als Siliah die Hand hob: „Bleibt stehen!“ Die Elfe lauschte, dann fuhr ein Schatten der Angst über ihre Züge: „Kein Zweifel, sie sind es!“
„Diese Geisterelfen?“, fragte Gartret.
Bezarze schaute wie ein gehetztes Tier um sich, dann lief sie los.
„He – warte!“, rief Malgoth ihr hinterher.
„Wir sollten ihr besser folgen“, meinte Kagor, „sie ist die Einzige, die sich hier auskennt. Ohne sie kommen wir nie hier raus.“
Sie liefen los und holten die Kuratorin nach einer Weile ein. Nach einige Minuten des Laufens kamen in einen weiteren Raum, der drei Zugänge besass. Völlig erschöpft, mussten sie sich einige Minuten ausruhen.
Auch hier war eine Skulptur; und diese stand offenbar in Zusammenhang mit dem Motiv zuvor. Hier waren ebenfalls ein Kind und ein Schwan dargestellt. Doch diesmal lagen beide am Boden übereinander – so wie es aussah, waren sie im Sterben begriffen. Ein Rabe hatte sie bereits drohend neben sie niedergelassen; er schien bereits auf Nahrung zu hoffen.
Kagor stockte der Atem: „Was ist das…“
„Weiter – wir müssen weiter!“, schrie Bezarze nur.
Doch Siliah packte sie an den Schultern und versuchte sie zurückzuhalten. „Warte!“
Mit keuchenden Atem drehte sich die Kuratorin um: „Was ist denn?“
Siliah schaute traurig: „Es ist zu spät – sie kommen aus allen Richtungen.“
Bezarze stand stocksteif da; ihr Mund öffnete sich langsam. In ihren Augen konnte man ihre Ängste und Befürchtungen aufflackern sehen. Es gab keinen Ausweg mehr – die Kuratorin musste sich stellen. Sie fürchtete sich vor dem, was kommen würde. Und sie wusste: sie hatte ihre Begleiter in Lebensgefahr gebracht.
„Dort vorne – ich sehe sie kommen“, verkündete Siliah in seltsam ruhigen Tonfall.

*****

Er war noch immer gefesselt.
Atamirenses wurde von dem Mann in der eisernen Rüstung wie ein Sack vom Boden aufgehoben und dann über die Schulter geworfen. Er wurde aus dem Gasthof getragen und dann durch die Strassen der Stadt Mandakir. Die wenigen Passanten, die noch zu so später Stunde unterwegs waren, wichen dem Eisenmann aus. Niemand war auf Ärger mit diesem Riesen in Rüstung aus.
Der Hehler bemerkte, dass sie in Richtung Westhafen gingen. Doch gerade bevor sie die ersten Lagerhäuser erreichten, bog der Mann rechts ab. Bald befanden sie sich auf einem grossen, windigen Platz. Es war das Exerzierfeld, wie Atamirenses wusste. Der Hehler entspannte sich etwas, denn der wusste jetzt zumindest, wem er in die Hände gefallen war.
Der Eisenmann überquerte das Exerzierfeld und hielt auf den Palast der Paladine zu; ein prächtiges Gebäude, welches aus einem grossen, quadratischen Block mit einem Innenhof in der Mitte bestand. Und an jeder Seite wehte die Flagge der Paladine, auf dem das Symbol der Paladine zu sehen war: Ein kleiner, nackter Junge, der zwei spitze Nadeln gekreuzt über seinen Kopf hielt.
Der Mann in Vollrüstung – und damit gezwungenermassen auch Atamirenses – betrat den Palast.
Sie kamen in die riesige Empfangshalle, die ganz mit Marmor ausgekleidet war. Die Halle war so hell erleuchtet, dass es blendete, wenn man vom Dunkeln hier eintrat. Woher das Licht kam, war nicht erkennbar. Es schien seinen Ursprung nicht an einem bestimmten Ort zu haben, sondern durchflutete gleichmässig den Raum.
Atamirenses öffnete seine Augen wieder, nachdem er sich etwas an die Helligkeit gewöhnt hatte. Überall spiegelte er sich in dem blankpolierten Marmor, wie er kopfüber über der Schulter des Paladins lag. Der Hehler fand, dass er entsetzlich aussah. Seine Wangen waren eingefallen und sein Haar zerzaust. Seine sonst so elegante Kleidung verbeult und der glänzende Stoff matt geworden. Atamirenses bedauerte sich selbst. Aber es war ja auch kein Wunder, nach allem, was er durchgemacht hatte.
Der Eisenmann benutze nicht die prächtige Treppe, welche einladend zu den oberen Stockwerken führte. Stattdessen benutzte er eine kleine Tür, die unscheinbar an der Seite der Eingangshalle lag. Sofort, nach dem sie die Tür hinter sich gelassen hatte, änderte sich alles: Hier war es düster - von prächtigem Marmor keine Spur. Stattdessen waren hier die Wände nur aus rohen Blöcken gefertigt. Bald führte eine steile Treppe nach unten und es wurde noch düsterer.
Nach dem Abstieg folgte ein Gang, an dem rechts und links in regelmässigen Abständen massive Türen eingelassen waren. Eine davon öffnete der Eisenmann und legte Atamirenses in die kleine Zelle dahinter. Dann zückte er einen Dolch und befreite den Hehler endlich von den Fesseln.
„Was.. Was wollt ihr von mir? Was wird mir vorgeworfen?“, fragte Atamirenses.
Doch der Eisenmann beachtete in gar nicht; er wandte sich ab, verliess die Zelle und warf krachend die schwere Tür zu. Kurze Zeit später war noch das Geräusch einen zufallenden Riegels zu hören – dann herrschte völlige Stille.

*****

Alisan stand auf dem Dach eines Nebengebäudes, welches in unmittelbarer Nähe zum Palast der Paladine lag. Er zog das schwarze Tuch vor seinem Gesicht zurück
Atamirenses war einstweilen unerreichbar; eine direkte Konfrontation mit den Paladinen in ihrem Hauptquartier wäre nichts als Selbstmord gewesen. Es war seltsam, dass diese Eisenriesen immer im rechten Augenblick aufzutauchen pflegten. Vielleicht war ja etwas an den Gerüchten dran, dass die Paladine mit Zauberwirkern zusammen arbeiteten.
Zum Glück war Alisan viel zu flink für den schwer gerüsteten Kämpfer gewesen – schnell wie der Wind war er durch das Fenster aus dem Zimmer des Gasthauses geflohen. Doch er hatte seine Beute dem Paladin überlassen müssen.
Der alte Meisterdieb überlegte. Es galt abzuwägen, ob der Hehler überhaupt noch etwas wusste, was bei der Suche nach den vier Dieben nützlich war.
Alisan hatte Atamirenses gehörige Angst eingejagt – auch wenn ein Grossteil dieser Angst auf eine Verwechslung zurück zu führen war. Er war keine Silberträne oder einer ihrer Häscher; im Gegenteil – er wusste nicht einmal, was das überhaupt für Leute waren.
Bei den Silbertränen musste es sich um eine Art Sekte handeln, die grosse Furcht verbreitete. Mehr konnte Alisan bislang nicht erraten.

Der alte Dieb kletterte vom Dach des Gebäudes. Er war erst wenige Stunden in Mandakir und hatte schon einiges in Erfahrung bringen können. Bereits hatte er sich ein kleines Netz von Kontakten zurechtgelegt. Vielen Besitzer der Gasthäuser, wo Fremde einzukehren pflegten, hatte er ein kleines Entgelt versprochen, falls diese ihm Informationen lieferten. Mit dieser Methode hatte er schon in Vindara Erfolg gehabt und in Mandakir hatte er so bereits Atamirenses aufgespürt.
Doch er musste noch mehr tun. Es galt seinen Feinden immer einen Schritt voraus zu sein. Alisan wusste nun, dass die vier Diebe für die Silbertränen arbeiteten. Und diese Silbertränen wollten Artefakte; vor allem die Rüstungsteile des Grossen Herrschers. Und in Mandakir befanden sich laut Atamirenses die Armschienen des Grossen Königs von einst. Dieses Wissen verriet Alisan einen Ort, wo die vier Diebe früher oder später auftauchen würden. Er brauchte sich nur auf die Lauer zu legen.
Der Meisterdieb hatte keine Zweifel: er würde seine Rache bekommen.

Eine sich geschmeidig bewegende Gestalt, welche ganz in Schwarz gehüllt war, huschte durch die Strassen der nächtlichen Stadt. Ein Rächer im eigenen Auftrag hatte sich in Mandakir eingenistet. Und die Paladine wussten nicht einmal von seiner Anwesenheit.

*****

Wie eine Welle brandete die Schar von schemenhaften Gestalten von drei Seiten heran; begleitet von Musik, welche aus unnatürlich verzerrten Klängen bestand.
Malgoth wollte die Anderen noch warnen, Kagor seinen Säbel ziehen und Siliah ihren Bogen anlegen – doch es war für alles zu spät. Entsetzt schrie Bezarze auf. Sie wurden von der geisterhaften Elfenschar erfasst und regelrecht durch den Raum gewirbelt. Die Elfen stiessen wilde Schreie aus; es klang fast wie Triumphgeheul. Diese Schreie waren aber auch von tiefer Verzweiflung durchdrungen.
Sie alle wurden von unzähligen Händen erfasst und hochgehoben. Die schemenhaften Gestalten schienen grosse Kraft zu besitzen. Ihre Waffen wurden ihnen entrissen und auf den Boden geworfen. Dann setzte sich die Schar in Bewegung. Ohne jede Möglichkeit sich zu bewegen, geschweige denn zu fliehen, trugen sie die Geisterelfen mit grosser Geschwindigkeit durch die Korridore, Kammern und Hallen.
Siliah versuchte ihre Entführer auf Elfisch anzusprechen, doch die Antwort war so unwirsch, dass es die Elfe vorzog, fortan zu schweigen.
Sie wurden immer tiefer in den Stein gebracht. Nach kurzer Zeit erreichten sie wieder die Schicht, wo die Kunst des dunklen Zeitalters vorherrschte.
Doch ihre Reise ging noch weiter. Bald waren die Wände kaum mehr behauen. Es gab keine Bilder mehr. Stattdessen war direkt auf die nackten Steinwände gemalt worden. Daneben gab es farbige Handabdrucke und ungelenke Striche, die vermutlich mit verkohlten Hölzern gezeichnet worden waren. Dann brach jegliche Gestaltung plötzlich ab – die Wände bestanden nur noch aus unbehauenem Fels.
Die Elfenschar eilte weiter – noch tiefer in den Stein; ihre Opfer mit sich nehmend, die sie fest umklammert hielten. Noch immer konnten weder Bezarze noch die Diebe sich rühren. Getragen wie auf einer Sänfte aus Händen, wurden sie vorwärts geschleppt. Die Geisterhaften Elfen machten keinerlei Anstalten, mit ihnen sprechen zu wollen. Sie hasteten einfach weiter; liessen dabei ihre misstönende Musik erklingen und stiessen manchmal Schreie oder undefinierbare Geräusche aus. Alles an diesen Elfen wirkte unwirklich, verzerrt und auf unerklärliche Weise entstellt. Es schienen weniger eine Ansammlung von einzelnen Wesen zu sein, als vielmehr eine Masse mit einem einzigen Körper.
Doch die Schar war nicht aus dem Jenseits zurückgekehrt, sondern lebte im Diesseits eine unnatürliche Form des Daseins. Hier machten sich nicht die Kräfte des Todes über das Leben lustig; das Leben selbst hatte sich auf furchtbare Abwege begeben.

„Wo bringen sie uns hin? Tut doch etwas!“, rief Bezarze, die sich mit aller Kraft zu befreien versuchte.
Auch Kagor kämpfte gegen die Dutzenden von Händen an, die in umklammert hielten – doch mit der Zeit ermattete auch er und gab auf.
„Siliah – kannst du nicht irgendetwas tun?“, fragte Malgoth verzweifelt, der Mühe hatte, seinen Kopf in Richtung der Elfe zu drehen.
„Es tut mir leid, es hat einfach keinen Zweck; sie hören nicht auf mich!“
„Und was geschieht jetzt?“, fragte Gartret.
„Wir werden bald da sein“, meinte Siliah nur.
„Warum ausgerechnet ich?“, fragte Bezarze mit weinerlicher Stimme.

Siliah sollte recht behalten. Sie kamen in eine riesige Höhle. Ein schwaches Licht erfüllte den Raum. Bezarze und die vier Diebe suchten die Quelle dieses Lichts. Überrascht stellten sie fest, dass es von grossen Samenkapseln kam. Diese hingen an hohen Bäumen, die in grosser Zahl am Rand der grossen Höhle wuchsen. Es gab hier auch Sträucher und niedrige Baumarten, ja selbst Blumen und eine Art von Gras. An den Wänden machten sie Moos und Flechten breit. Auf Vorsprüngen wuchsen Farne und Moose. Sogar Vögel schien es hier zu geben; auch wenn sie diese mehr hörten als sahen. Dieser Ort wirkte mehr wie eine sanft beleuchtete Waldlichtung und weniger wie eine Höhle.
„Das ist fantastisch!“, entfuhr es Malgoth.
„Ach ja?“, erwiderte Gartret missmutig, „den Ort, an dem wir alle sterben werden, findest du fantastisch?“
Aber auch Bezarze vergass ihre Angst für ein paar Sekunden und war starr vor Staunen: „Wer hätte gedacht, dass sich so etwas in der Mitte des Steines befindet? Nun ist das Rätsel gelüftet – schade, dass vielleicht niemand von uns davon berichten wird.“
Doch ihnen blieb nicht viel Zeit zum Staunen; die geisterhafte Elfenschar brachte sie unverzügliche in die Mitte der Höhle. Hier standen nur zwei Bäume, die auf etwa doppelter Mannshöhe zusammenliefen und von dort an ineinander verknotet weiter wuchsen. Daraus ergab sich ein Durchgang, der so aussah wie ein Tor, dessen Umrahmung nur aus den Stämmen der Bäume bestand. Hier hielt die Schar der Elfen an.
„Wir sind offenbar am Ziel“, knurrte Gartret.
„Ja – wir sind am Tor angelangt“, bestätigte Siliah.
„Am Tor?“, fragte Bezarze, „was hat das zu bedeuten?“
Doch bevor Siliah antworten konnte, tat sich etwas im Getümmel der geisterhaften Elfen. Eine einzelne Person löste sich aus der wogenden Masse und trat als eigenständiges Wesen in Erscheinung. Es war ein männlicher Elf; alt und mit sehr langem Haar. Dieser begann auf elfisch zu sprechen.
„Er sagt, wir hätten sie gerufen“, übersetzte Siliah.
„Das ist nicht wahr!“, protestierte Kagor.
„Dann sagt er, dass sie das Tor entzünden werden.“
„Das Tor entzünden?“, echote Malgoth, „was meint er damit?“
Doch der Elf redete bereits weiter und Siliah übersetzte: „Dann werden sie sehen, ob sich jemand in uns verbirgt, der den Sternen nahe gekommen ist. Sie werden nicht ruhen, bis sie fündig geworden sind; solange wird einer nach dem anderen von uns durch das Tor gehen müssen. Wer aber keine der gesuchten Seele in sich trägt, wird nicht überleben können.“
„Das ist das Ritual also…“, flüsterte Bezarze.
„Sag dem Kerl doch endlich, dass wir für sein Tor nicht zu haben sind!“, schrie Gartret wütend, „diese ganzen Geschichte geht uns nichts an! Ich möchte nicht mein Leben verlieren, für etwas, dass ich kaum verstehe!“
Siliah versuchte auf den Elfen einzuwirken, doch sie wurde schon nach wenigen Worten unterbrochen. „Sie werden das Tor entzünden – ich kann es nicht verhindern. Jeder, der in die Tiefen des Steins eindringt, so sagt er, hat sein Einverständnis mit dem Ritual erklärt.“
„Dann tue etwas dagegen!“, schrie Gartret Siliah an, „die werden uns sonst alle opfern oder so was!“
„Was soll ich denn tun?“, fragte die Elfe, „ich bin gefangen wie ihr, wie du unschwer erkennen kannst.“
„Dir ist es wohl egal!“, keifte Gartret zurück, „schliesslich wirst du es überleben – du bist ja eine Elfe!“
„Du irrst dich Gartret“, widersprach Siliah ruhig, „ich weiss von uns allen als Einzige mit Gewissheit, dass ich keine versteckte Elfenseele in mir trage. Ich werde also ganz gewiss sterben müssen.“
„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass man eine solche Elfenseele in sich trägt?“, fragte Malgoth.
„Mehr als gering.“
Bezarze und die vier Diebe schwiegen – es gab nichts mehr zu sagen; ihr Schicksal schien sie ereilt zu haben.

Einige aus der Elfenschar lösten sich und begannen sich am Baumtor zu schaffen zu machen. Sie rieben das Holz mit stark duftenden Ölen und Essenzen ein, bestreuten den Boden davor mit Blüten und zerriebenen Wurzeln; ein Geruch von schwerer Erdigkeit stieg auf.
Dann begann die Elfenschar zu flüstern. Ihre leisen Stimmen schienen sich in der ganzen Höhle zu verteilen. Unheimlich berührt schauten sich Bezarze und die Diebe um.
Ein leichtes Beben ging durch den Boden, doch die schemenhaften Gestalten liessen sich nicht beirren und fuhren weiter mit dem Flüstern fort.
Dann fingen die Holzstämme des Tores zu glühen an. Funken flogen vom Holz und drängten zur Mitte der Öffnung. Schliesslich wurde aus diesem Funkenschlag so etwas wie eine einheitliche Schicht, welche die ganze Toröffnung bedeckte. Manchmal züngelten Flammen auf, die aber sofort wieder von der hellroten Fläche aufgesogen wurden. Das Tor hatte sich geöffnet; die Elfenschar wurde augenblicklich still.

„Es ist also wirklich wahr“, flüsterte Siliah, „die Geschichten aus meiner Kindheit sind vor meinen Augen wahr geworden!“
Die Elfenschar drängte sie näher an das Tor.
Gartret versuchte gegen die Dutzenden von Händen anzukämpfen, die ihn fest im Griff hatten: „Die wollen uns durch dieses Flammentor werfen! Diese elenden, dreckigen Geister wollen uns töten!“
Doch er war nicht als Erster dran; die Elfenschar schien Siliah ausgewählt zu haben. Sie drängten die Elfe immer näher an das Tor; Siliah wehrte sich mit Leibeskräften. In beinahe freudiger Erwartung glühte die hellrote Funkenfläche des Tores auf – immer mehr Flammen züngelten und wollten Siliah wie mit tausend kleinen Armen empfangen. Die Elfe wandte sich in grösster Verzweiflung an ihre Freunde:„Helft mir! Ich kann das unmöglich überleben!“
Kagor brüllte so laut, dass seine Stimme von der Höhlendecke und den Wänden zurückgeworfen wurde. Dann begann er mit solcher Kraft um sich zu schlagen, dass ihn die Elfenschar loslassen musste und ein Stück zurückgedrängt wurde. Aber sofort brandeten die schemenhaften Gestalten wieder heran. Kagor versuchte sich zu Siliah durchzukämpfen. Er teilte mächtige Faustschläge aus, welche die geisterhaften Elfen zwar nicht wirklich verletzten konnte, sie aber auf Abstand hielten. Der Hüne drängte sich, trotz des grossen Widerstandes, immer weiter vor. Dann war er nahe genug an Siliah heran gekommen. Er bekam ihre Hand zu fassen und versuchte sie vom Tor wegzuziehen. Doch nun konnte Kagor nicht mehr gegen die Elfenschar ankämpfen; er wurde wieder von unzähligen Händen gepackt und selbst langsam Richtung Tor gedrängt. Selbst unter Auferbietung all seiner Kräfte schien er Siliahs Opferung nur verzögern zu können. Nur noch wenige Handbreit trennten die Elfe vom tödlichen Flammentor.
„Lass es gut sein – Kagor“, meinte Siliah tapfer, „du bist mir ein grossartiger Freund gewesen. Es tut mir leid, dass es so enden muss.“ Dann schloss sie die Augen und hatte bereits mit ihrem Leben abgeschlossen.

*****

Die Tür wurde geöffnet – Licht, das Atamirenses sehr grell erschien, flutete in die Zelle.
Der Hehler versuchte sich zu zwingen, die Augen geöffnet zu halten. Zwischen ihm und dem Licht drängte sich die Silhouette einer grossen, dünnen Gestalt. „Auf zum Verhör – mein Guter! Es gibt eine Menge zu bereden.“
Eine zweite Gestalt erschien, die Atamirenses nur allzu vertraut war: schwere, stampfende Schritte, das Klirren von Eisenteile und ein grosser, breiter Körperbau. Der Hehler wurde hochgehoben und auf die Beine gestellt. Ebenso unsanft wurde er genötigt, seine Zelle zu verlassen. Mit etwas unsicherem Schritt trat er auf den Korridor. Von hinten schubste ihn der Eisenmann; vermutlich derselbe, der ihn hierher gebracht hatte. Neben dem Paladin räusperte sich unruhig ein Mann in mittleren Jahren, welche eine blaue Robe trug. „Die Anderen warten schon – und es gibt für uns nichts Reizvolleres als ein Gefangenenverhör; also komm“, drängte der Mann.
„Wer bist du?“, fragte Atamirenses.
„Rokar – bald zu deinen Diensten; aber erst im Verhörraum.“
Atamirenses betrachtete den Mann, der sich soeben vorgestellt hatte; er war sehr gross, gleichzeitig aber hager, ja, beinahe ausgemergelt. Er bewegte sich auf seinen langen dünnen Beinen wie ein schlingerndes Schiff auf hoher See.
Sie verliessen den Keller und betraten die prunkvoll ausgestatteten Räume des Palastes. Die Decken lagen ungeheuer hoch und alles war mit Marmor verkleidet. Die Pracht wirkte auf den Hehler beinahe einschüchternd; auch wenn bei näherer Betrachtung alles ein wenig zu gross geraten und ein wenig zu üppig ausgestattet war.
Sie hatten einen erstaunlich weiten Weg zu gehen – der Palast der Paladine war recht unübersichtlich; ein zufälliger Besucher hätte sich im Gewirr der unzähligen Hallen und Zimmern bestimmt verirrt.
Endlich öffnete sich eine Doppeltüre wie von Geisterhand und sie waren am Ziel. Ein langer Raum mit einem ebenso langen Tisch lag vor ihnen. Am einen Kopfende des Tisches sassen ein alter Mann in einer wallenden Toga und eine hakennasige Frau mit einer seltsamen Lederkappe auf dem Kopf. Die Frau hatte Schreibutensilien und Pergament vor sich liegen – der Mann blätterte in einem grossen Buch. Als die Neuankömmlinge eintraten, hellte sich die Miene der Beiden auf. „Ah – wir können also beginnen!“, meinte der alte Mann, während er das Buch zuschlug und sich die Hände rieb.
Die Frau mit der Hakennase machte eine Handbewegung; augenblicklich hob sich eine der Schreibfedern und tanzte über ein Stück Pergament, wodurch sie eine Schrift erzeugte.
Der Eisenmann blieb neben der Doppeltüre stehen – Rokar gesellte sich zu den Anderen am Tisch.
Atamirenses wurde gebeten, am gegenüberliegenden Ende des langen Tisches Platz zu nehmen. Sein Stuhl bestand aus dunklem Holz, besass seltsamerweise an jeder Seite zwei Armlehen und stand mehr als sicher auf acht Beinen.
Dem Hehler war unwohl – er hatte etwas anderes erwartet. Diese drei Gestalten passten einfach nicht hierher; waren das Paladine?
Die Frau schüttelte den Kopf: „Nein, wir sind keine Paladine – natürlich nicht.“
Der alte Mann lachte, ohne ein Geräusch von sich zu geben; nur sein Körper schüttelte sich etwas.
„Ja – das hast du wirklich gut bemerkt“, ergänzte Rokar.
„Ihr… Ihr lest meine Gedanken?“, fragte Atamirenses stotternd.
„Nur unsere gute Tharia hier“, erwiderte der alte Mann, „sie wird ausserdem noch das Protokoll führen – wenn du nichts dagegen hast.“
Tharia nickte: „Wer zu laut denkt, wird von mir gehört. Es ist allerdings eine etwas flüchtige Gabe; sind die Umstände ungünstig, so sind es die Resultate auch – irgendwie sinnig, nicht?“
„Oh – bevor ich es vergesse“, meldete sich der alte Mann wieder zu Wort, “ich bin Selkur – der Vorsitzende hier. Ich bin nicht für viel zu gebrauchen; aber ich bin alt und darum wohl ehrwürdig. So eine Person macht sich in einem Gremium immer gut.“
Die Drei lachten und schienen sich prächtig zu amüsieren.
Selkur zeigte auf Rokar: „Und das ist Rokar – nimm ihn nicht zu ernst. Er engt sich manchmal ziemlich ein und kann nur selten von einer Fährte lassen. Er ist so etwas wie ein Bluthund in Menschengestalt.“
Wieder lachten Selkur; Rokar und Tharia und warfen sich gegenseitig geradezu liebenswürdige Blicke zu.
„Wer seid ihr? Wieso habe ich mit euch zu tun?“, kam Atamirenses nicht umhin zu fragen.
„Wie sind wie gesagt keine Paladine“, antwortete ihm Rokar, „aber wir arbeiten für sie.“
„Wir sind alle drei Zauberwirker und arbeiten hier als Sonderermittler“, fuhr Selkur fort.
Tharia nickte: „Immer wenn es um eine ganz bestimmte Art von Zauberwirkerei geht, wenn es… wie soll ich sagen…“
„… um eine ganz bestimmte Gruppe geht, die die Paladine besonders im Auge behalten wollen“, sprang Rokar hilfreich ein.
„Ja – genau. Dann werden unsere Dienste von den Paladinen in Anspruch genommen. Nicht, dass wir uns sonst irgendwie ähnlich sind. Die Paladine sind mächtige Krieger und wir… wir sind eben für bestimmte Notfälle da. Vor einigen Wochen kam eine Brieftaube hierher geflattert. Sie trug eine Nachricht bei sich. Aus deren Inhalt entnahmen die Paladine, dass sie von nun an besser mit ein paar Zauberwirker zusammenarbeiten sollten.“
„Und diese geheimnisvolle Gruppe, auf die wir angesetzt worden sind“, fuhr Selkur fort, der jetzt auf einmal ganz ernst wirkte, „ist wirklich sehr schwer zu fassen. Man sollte schon etwas mit Zauberwirkerei am Hut haben, wenn man sie überhaupt nur verstehen will.“
„Ihr sprecht von den Silbertränen – nicht wahr?“, entfuhr es Atamirenses.
Rokar lächelte und trommelte begeistert mit beiden Fäusten auf den Tisch: „Das Verhör beginnt – es beginnt!“
Tharia hob wieder ihre Hand und die Feder tanzte erneut mit grosser Geschwindigkeit über das Pergament.
Selkur räusperte sich, dann meinte er beinahe entschuldigend: „Bitte versteh unseren Enthusiasmus nicht falsch – wir verlassen unsere Laboratorien und Büchereien nur selten. Dies hier ist für uns alle ein Abenteuer.“ Der alte Mann breitete die Arme aus und machte eine umfassende Bewegung: „All das hier – das echte Leben – ist für uns ungemein faszinierend!“
Tharia nickte: „Ein Verhör ist etwas Schönes. Ein Teil der Lebensgeschichte eines echten Menschen! Man könnte nie genug davon kriegen.“
Atamirenses war mehr als nur mulmig zumute. Er schaute über den viel zu langen Tisch zu den drei Zauberwirkern; dass er in die Fänge dieser obskuren Gestalten geraten war, ängstigte ihn.
Rokar hob triumphierend den rechten Zeigefinger: „Erste Frage: Was ist dein Beruf?“
Atamirenses zögerte – so eine simple Frage hatte er nicht erwartet: „Ich bin… nun ja… Ich bin so etwas wie ein Vermittler. Ich bringe Käufer und Verkäufer zusammen.“
„Und diese Dinge, die du vermittelst, sind die rechtmässig erworben?“, fragte Tharia.
„Nun ja...“, entgegnete Atamirenses ausweichend.
„Ein einfaches ‚Ja’ oder ‚Nein’ genügt“, mahnte Selkur in strengem Tonfall.
Als der Hehler nicht antwortete, griff Tharia in eine grosse Ledertasche, welche neben ihr auf dem Boden lag. Zum Vorschein kam eine Sanduhr. „Dies ist eine Lügenuhr. Immer wenn der zu Verhörende lügen sollte, oder seine Antwort nicht vollständig ist, dann bleibt sie stehen.“ Die hakennasige Frau senkte ihren Ton, so, als würde sie nun etwas ganz schreckliches sagen: „Kein einziges Sandkorn wird mehr herunterfallen.“
Das klang für Atamirenses nicht wirklich bedrohlich – ob Sandkörner herunterfielen oder nicht, war ihm egal.
„Nun also: sind die Gegenstände – mit denen du handelst - rechtmässig erworben oder nicht“, fragte Rokar.
„Ich denke schon…“, erwiderte Atamirenses. Sofort konnte der Hehler sehen, wie ein Ruck durch die Sanduhr ging. Dann entstand plötzlich ein Summton, der rasch immer lauter wurde. Der Ton schien direkt in Atamirenses Schädel eindringen. Der Hehler hielt sich den Kopf – schon nach wenigen Sekunden konnte er an nichts mehr anderes denken, als endlich dieses Summen abzustellen: „Ja, ja – ich handle mit gestohlenen Kunstwerken!“
Der Summton hörte augenblicklich auf.
Atamirenses schaute wie ein gehetztes Tier um sich: „Das könnt ihr nicht machen! So etwas werden die Paladine niemals zulassen!“
Selkur schaute auf den Eisenmann, der noch immer neben der Eingangstür stand. Der Paladin schien abzuwägen. Doch statt zu antworten, drehte er sich um und verliess den Verhörraum.
„Bleib hier! Das kannst du nicht tun! Du lässt mich hier allein mit diesen zauberwirkenden Folterknechten!“, rief Atamirenses dem Eisenmann hinterher. Doch der Paladin hörte nicht auf ihn, sondern schloss im Gegenteil noch die Doppeltür von aussen ab.
Selkur lächelte: „Du siehst: man lässt uns freie Hand.“
Atamirenses versuchte von seinem Stuhl aufzuspringen, doch es ging nicht; blitzschnell und mit einem leisen Knarren schlangen sich zwei Armlehnen und zwei Beine des Stuhls um seinen Körper. So sehr er sich auch wand, er konnte sich kein Fingerbreit von der Sitzfläche erheben.
„Wir sind Zauberwirker“, bemerkte Rokar trocken, „das solltest du stets bedenken.“
Atamirenses liess seine Muskeln erschlaffen. Er fühlte sich unendlich hilflos. Seit er hier in Mandakir angekommen war, hatte sich ein alptraumhafter Abgrund nach dem anderen aufgetan. Und er fürchtete, dass ihm das Schlimmste noch bevor stehen würde.

*****

„Nehmt mich zuerst!“, schrie Bezarze, all ihren Ängsten zum Trotz, „wenn jemand durch dieses Tor muss, dann ich!“
Doch die Elfenschar schien sie nicht zu hören; sie versuchten weiter Siliah durch das Tor zu drängen. Kagor hielt die Elfe fest, doch sein Widerstand verzögerte die Sache nur. Es wurden nur noch Augenblicke vergehen, bis Siliah dem Flammentor zum Opfer fallen würde.
Gartret und Malgoth versuchten sich ebenfalls zu wehren, aber ihre Kräfte reichten nicht aus. Hilflos mussten sie mit ansehen, wie Siliah und dahinter auch Kagor ihrer Vernichtung immer näher rückten.
Da wurde Bezarze von einem nie gekannten Gefühl übermannt; sie drohte ihr Bewusstsein zu verlieren. Die Welt vor ihren Augen wurde unscharf und seltsam einfarbig. Die Kuratorin hörte, wie fremde und unbekannte Worte aus ihrem Mund drangen, ohne dass sie einen wirklichen Anteil daran hatte.
Die Elfenschar liess Bezarze augenblicklich los. Ein Seufzen ging durch die Reihen der geisterhaften Gestalten; Siliah und Kagor wurden nicht näher an das Tor gezerrt.
Mit unsicherem Schritt kam Bezarze näher an die hellrote Fläche, welche sich zwischen den Stämmen der beiden Bäume spannte. Ihr Blick wurde wie magisch von den Flammen und Funken des Tores angezogen. Flüsternde Stimmen schienen von Jenseits der feurigen Fläche zu kommen. Sie wurde gerufen. Bezarze trat noch näher heran, die Elfenschar um sie herum wich ehrfürchtig zurück.
Bezarze befand sich nun ganz nahe am Flammentor. Sie wusste, dass sie den letzten Schritt tun musste. Noch einmal drehte sie sich um: „Flieht von hier, sobald ich das Tor betreten habe. Sagt der obersten Kuratorin, was passiert ist. Und berichtet vor allem, was ihr im inneren Stein gesehen habt. Dieses Wissen darf nicht verloren gehen; das seid ihr uns schuldig.“
Siliah steckte die Hand nach der Kuratorin aus: „Warte Bezarze!“ Doch es war zu spät. Noch eine Sekunde zögerte Bezarze, dann streckte sie die Arme aus und liess sich regelrecht in das Tor fallen.
Sofort wurde sie von tausend züngelnden Flammen umarmt. Ihr Körper drehte und wand sich im Tor. Funken stoben. Die bis dahin hellrote Fläche wurde immer heller und leuchte schliesslich weiss. Ein heulendes Seufzen kam auf und die Luft wurde vom Tor angesogen. Malgoth, Kagor, Siliah und Gartret wurden von der Elfenschar losgelassen. Sie mussten sich am Boden an Wurzeln und Sträuchern festhalten, wollten sie nicht in das Flammentor hinein gesogen werden.
Bezarze Körper wurde immer schneller herumgewirbelt; dann begann das Feuer sie zu verzehren. Stück für Stück wurde sie von den Flammen verbrannt – ein entsetzlicher Anblick.
„Nein!“, schrie Siliah verzweifelt.
Malgoth stockte der Atem; beinahe hätte er die Wurzel losgelassen, an der er sich festklammerte: „Bei den Göttern, dass darf nicht wahr sein!“
Es nicht dauerte lange, bis von der Kuratorin nicht mehr viel übrig war. Ein letztes, verglimmendes Stück, dann war nichts mehr.
„Ein verdammtes Flammenopfer!“, fluchte Gartret entsetzt.
Kagor reckte drohend die Faust: „Wie kann man nur derart feige einen Menschen töten!“
Doch die Elfenschar kümmerte sich nicht um die Diebe.
„Wir sollten Bezarzes Rat befolgen und sofort von hier fliehen“, empfahl Siliah dringend, „irgendwann wird sonst das nächste Opfer folgen.“
„Ja – nur weg von hier“, meinte Malgoth, der allerdings seinen Blick nicht von dem Flammentor nehmen konnte.
Kagor zog dem Zwerg am Arm haltend einfach mit; so schnell sie konnten, machten sie sich auf den Weg aus der Höhle. Bevor sie diese verliessen, drehte sich Siliah noch einmal zu der Elfenschar um; ihr Blick funkelte böse und sie zitterte vor Wut. Dann stiess sie einen Fluch auf elfisch aus, der so hässlich klang, dass einem der Kopf davon dröhnte.
„Ihr Elfen scheint euch untereinander auch nicht immer grün zu sein“, bemerkte Gartret.
Siliah würdigte ihn keines Blickes, sondern drehte sich nur um und verliess die bewaldete Höhle.

Es war nicht ganz einfach, den Rückweg zu finden. Die Elfenschar hatte sie derart rasch in den Kern des Steins gebracht, dass sie sich den Weg nicht hatten merken können. So blieb ihnen nur die Kunst, welche in verschiedene Zeitalter gegliedert war. So kamen sie ziemlich gut voran. Zwar verliefen sie sich einige Male, doch das bemerkten sie jeweils rasch, weil sie dann plötzlich die Kunst des vorherigen Zeitalters wieder sahen.
Auf dem Rückweg sprachen sie anfangs kaum ein Wort miteinander. Der Verlust Bezarzes schwebte wie eine dunkle Wolke über ihnen.
Gartret flüsterte immer wieder leise Verse aus dem Buch Vindros.
Plötzlich drehte sich Siliah zu dem ehemaligen Schauspieler um: „Was ist los Gartret? Wieso rezitierst du immer die gleichen Sätze?“
„Siliah – du bist traurig und wütend“, versucht Malgoth die Elfe zurückzuhalten, „vielleicht solltest du…“
„Nein – ich möchte es wissen; fühlst du dich schuldig?“
„Vielleicht“, meinte Gartret, „immerhin haben wir sie mit Waffengewalt gezwungen, mit uns tiefer in den Stein zu kommen.“
„Du hast sie mit Waffengewalt gezwungen!“, stellte Siliah klar.
Gartret zuckte nur mit den Schultern: „Kann schon sein – doch wir alle wollten diesen Helm; oder besser gesagt, das Geld, das uns die Silbertränen dafür geben.“
Die Elfe kniff die Augen zusammen: „Und nun murmelst du diese Verse. Glaubst du, dir wird dadurch vergeben? Oder möchtest du nur deinen Gott gnädig stimmen? Damit wir noch einen schmutzigen Auftrag von den Silbertränen bekommen?“
Gartret blickte die Elfe erstaunt an, dann gab er zurück: „Ich habe wenigstens einen Gott, zu dem es sich zu beten lohnt. Ich möchte keine Religion haben, die solche grausamen Menschenopfer fordert.“
„Was weisst du schon über unsere Religion!“
„Freunde – ich weiss wirklich nicht, wohin diese Diskussion führen soll. Um den Rückweg nach Kulmina zu finden, hilft sie wohl kaum!“, warf Malgoth verärgert ein.
„Gartret versucht den Verlust zu betrauern – auf seine Weise“, wandte Kagor ein, „was immer man von diesem Vindros halten mag; er scheint friedliche Wege zu bevorzugen. Aber was die Religion der Elfen betrifft, so hat Siliah recht: Wir können sie nicht aufgrund dieser dämonischen Geister bemessen – wir wissen zu wenig.“
Siliah wollte noch etwas sagen, doch sie liess es bleiben. Stillschweigend einigten sich alle, dass Kagor das letzte Wort in diesem Streit behalten sollte.

Sie hatten Glück und gelangten – eher durch Zufall als durch Planung – wieder in den Raum zurück, wo sie von der Elfenschar überfallen worden waren.
Hier konnten sie ihre Waffen wieder einsammeln, welche ihnen die Elfenschar dort entrissen hatten. Von nun würde der Weg nicht mehr sehr weit sein. Sie waren allerdings so erschöpft, dass sie ein Nachlager aufschlagen mussten. Trotz ihrer Müdigkeit hielt immer einer von ihnen für etwa zwei Stunden Wache. Als Malgoth an der Reihe war, winkte Kagor ab – er wollte sich nicht ablösen lassen.
„Etwas Schlaf würde dir gut tun“, bemerkte Malgoth leise, um die Anderen nicht zu wecken.
Der Hüne schüttelt beinahe trotzig den Kopf.
Der Zwerg setzte sich ganz nahe an den mürrisch dreinblickenden ehemaligen Paladin.
Eine ganze Weile schwiegen die Beiden.
Dann seufzte Kagor: „Wir sind schuld am Tod von Bezarze. Und ich besonders; ich habe versagt.“
Malgoth runzelte die Stirn: „Wie kommst du darauf?“
„Ganz einfach: ich hätte sie beschützen müssen. Bei Siliah ist es mir einigermassen gelungen. Aber Bezarze stand mir weniger Nahe, darum habe ich wohl nicht mit aller Macht gekämpft. Doch das war falsch: ich bin zum Schutz der Schwächeren verpflichtet – ganz gleich, ob ich sie nun kenne oder nicht. Diesen Grundsatz habe ich heute verraten.“
Der Zwerg strich sich mit den Fingern nachdenklich übers Kinn: „Kagor - sieh es doch endlich ein: du bist kein Paladin mehr. Das ist sicher mit einer Menge Nachteile verbunden; aber es hat auch Vorteile. Du bist jetzt ein Dieb, und als solcher bist du nicht verpflichtet, Irgendjemanden zu schützen. Wir sind natürlich sehr dankbar, wenn du uns drei Anderen beistehst – keine Frage.“
Kagor las einen keinen Stein vom Boden auf und liess diesen durch die Finger gleiten: „Einerseits hast du recht. Ich möchte ja ein Dieb sein, um das Diebeshandwerk zu lernen. Aber in meinem Herzen bin ich ein Paladin geblieben. Sieh dir diese Skulptur in diesem Raum, an“, Kagor zeigte auf die steinernen Figuren des sterbenden Knaben und des Schwans, welche in diesem Raum standen. „Als wir das erste Mal hier waren – gerade bevor uns diese Elfenschar entführt hat – ist mir dieses Motiv schon bekannt vorgekommen. Nun weiss ich es wieder: Dieses Knabe und der Schwan waren in einem Kartenspiel abgebildet, mit welchem die angehenden Paladine unterrichtet werden. Wie konnte ich das nur vergessen.“
„Ihr werdet durch ein Kartenspiel unterrichtet?“, fragte Malgoth überrascht.
„Unter Anderem auch“, bestätigte Kagor, „Die Ausbildung hat mich sehr geprägt und ist unauslöschlich eingebrannt; ich werde den Paladin in mir niemals los.“
Malgoth schaute Kagor direkt in die Augen: „Du bist von uns allen der ungewöhnlichste Dieb. Sag mir doch endlich, weshalb möchtest du mehr über Diebeshandwerk lernen?“
Kagor senkte den Blick: „Ich muss etwas stehlen; es geht um meine Ehre, und vor allem geht es um die Gerechtigkeit.“
„Du musst etwas für die Paladine stehlen?“
„Nein, nur für mich – der Orden hat mich ausgeschlossen, weil er mich für einen Dieb hält; und um dies rückgängig zu machen sehe ich nur eine Möglichkeit: Ich muss wirklich zu einem Dieb werden.“
„Eine seltsame Geschichte“, meinte Malgoth.
Kagor nickte: „Ja, so ist es. Dabei ist es gerecht, dass mich die Paladine ausgeschlossen haben.“
„Wieso dass denn?“, fragte der Zwerg überrascht, „ich dachte, man hätte dich nur für einen Dieb gehalten.“
Der ehemalige Paladin seufzte erneut: „Ich bin gestrauchelt und vom rechten Weg abgekommen - aber nicht wegen eines Diebstahl. Ich habe gegen ein anderes Gebot verstossen.“
„Und gegen welches?“, fragte Malgoth neugierig.
Kagor schüttelte traurig den Kopf: „Du bist mir ein guter Freund – Malgoth, aber darüber will ich nicht sprechen. Ich bin einfach zu enttäuscht von mir, und das grämt mich zu sehr.“
Sie schwiegen wieder eine Weile, ohne dass die Stille zwischen ihnen irgendwie unangenehm wirkte.
Schliesslich meinte Malgoth: „Du musst also einen Diebstahl ausführen – oder?
„Ja, dass war mein Plan.“
„Sag mal: wie wäre es, wenn wir dir dabei helfen?“
„Ich weiss nicht“, meinte Kagor, „es gibt dabei weder Geld zu verdienen noch Ruhm zu ernten.“
„Dann werden wir es einfach deinetwillen tun. Wir können Siliah überzeugen, und Gartret werden wir notfalls einfach überstimmen. Was meinst du?“
Kagor überlegte, dann lächelte er: „Das würde mir viel bedeuten; und es würde meine Chancen erheblich verbessern.“

Kagor sass aufrecht da und dachte über das Geschehene nach. Trotz der spektakulären Ereignisse im innersten Kern war es vor allem die Skulptur mit dem sterbenden Knaben und dem ebenso todgeweihten Schwan welche immer wieder vor seinem geistigen Auge erschien. Es war einfach zu erraten, wieso er sich nicht sofort an dieses Motiv hatte erinnern können: Oft geschah es, dass man Missliebiges in einen dunklen Winkel seiner Seele verbannte.

Er hatte es damals nicht glauben wollen: das Kartenspiel hatte aufgedeckt, was ihm in den letzten Jahren widerfahren war. Mit Symbolen, die er zu jener Zeit nicht hatte deuten können, war ihm alles gezeigt worden.

Wie war das möglich gewesen? Wieso wussten ein paar Karten über den Lebensweg eines Menschen bescheid?
Oder war es eine innere Regung von ihm selbst gewesen, welche nur die Karten benutzt hatte, um sich erklären zu können?
Dies würde bedeuten, dass der Mensch selbst über das Kommende Bescheid wusste. Und wenn dem so wäre, würde dies auch bedeuten, dass ein jeder weit mehr war als es ihm selbst den Anschein machte. Vielleicht war der Mensch nicht bloss ein hilfloses Wesen, dessen Geist an bloss einem Punkt der Zeit gefangen war.
Kagor musste schmunzeln: Er war es eigentlich nicht gewohnt, mit seinen Gedanken so zielgerichtet in die Ferne zu wandern. Aber seit er mit Malgoth zusammen war, geschah es doch ab und zu einmal.


Nach etwa sechs Stunden standen sie auf und machten sich wieder auf den Weg. Sie waren alles andere als frisch und ausgeruht. Aber sie wollten keine Minute länger als notwendig hier im inneren des Steins verbringen. Sie kamen rasch voran. Bald gelangten sie schon zu den Bereichen, wo wirre Metallkonstruktionen die vorherrschenden Kunstwerke waren. Es würde nicht mehr weit sein bis nach Kulmina, dem bewohnten Teil des Steines.
„Was sagen wir der obersten Kuratorin?“, fragte Siliah plötzlich.
„Vielleicht sagen wir ihr gar nichts“, entgegnete Malgoth.
„Aber es ist Bezarzes letzter Wunsch gewesen, dass wir den Kuratoren vom Kern des Steins berichten.“
Malgoth biss sich auf die Lippen: „Ja, das stimmt allerdings.“
„Vielleicht gehen nicht alle Wünsche in Erfüllung“, warf Gartret ein.
„Dieser sollte aber in Erfüllung gehen“, meinte Kagor bestimmt.
Gartret überlegte: „Vielleicht sollten wir eine Lösung wählen, die Bezarzes Wunsch erfüllt, und uns Ärger erspart.“
„Wie soll das gehen?“, fragte Siliah.
„Wir könnten einen schriftlichen Bericht hinterlassen, welcher unsere Reise schildert.“
„Vielleicht ist das eine Möglichkeit…“, sinnierte Kagor
Siliah überlegte kurz, dann nickte sie: „Die Idee ist gut.“
Malgoth hielt an; gerade vor ihm befand sich eine Metallskulptur, die hauptsächlich aus einem grossen Eisenträger auf Rollen bestand. Das Kunstwerk mochte sich früher einmal bewegt haben; jetzt lag es still vor ihnen. Malgoth holte Pergament und etwas zu Schreiben hervor. „Ich brauche etwa eine Stunde Zeit; bitte gibt mir Licht.“
Der Zwerg schrieb langsam Seite um Seite auf Pergament. Etwas mehr als eine Stunde verstrich, dann war er fertig. „Wir müssen diesen Bericht der obersten Kuratorin zukommen lassen; dann haben wir unser Versprechen erfüllt“, meinte er.

Als sie in Kulmina ankamen, versuchten sie sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Und tatsächlich nahm kaum jemand Notiz von ihnen. Die wenigen Menschen, denen sie begegneten, schlurften reichlich teilnahmslos durch die Hallen und Gänge. Das lag wohl vor allem daran, dass es noch früher Morgen war. Wann immer sie durch ein Fenster oder durch eine Säulenarkade nach draussen sehen konnten, zeigte sich nur graues Dämmerlicht.
„Ich hätte gedacht, es sei so gegen Abend“, murmelte Malgoth, „uns ist das Zeitgefühl wohl völlig abhanden gekommen.“
Sie kamen an einem Gasthof vorbei; und hier hörten sie das erste Mal in Kulmina Gelächter und die Stimmen von sich angeregt unterhaltenden Menschen.
„Es gibt ja doch noch Leben hier“, stellte Siliah fest.
„Trotzdem, dies ist kein Ort, wo Menschen sein sollten“, meinte Kagor. „Eine Stadt, die grösstenteils im Dunkeln liegt? So etwas würde ich mir nicht freiwillig antun.“
Soeben verliess ein Mann den Gasthof. Gartret hielt ihn an: „Willst du einen schnellen Goldtaler verdienen? Dieser Zwerg wird dir ein Dokument geben. Bring diese Pergamente der obersten Kuratorin. Hier ist ein Goldtaler. Du brauchst dich nicht zu beeilen – es reicht, wenn du deinen Auftrag bis heute Abend ausführst.“
Der Mann nickte, nahm das Geld von Gartret und von Malgoth den Bericht, dann machte er sich davon.
„So, jetzt müssen wir uns nur noch aus dem Staub machen“, sagte Malgoth erleichtert.
Sie verliessen die Umgebung des Gasthofes; sofort waren deutlich weniger Leute unterwegs. Und als sie noch weiter gingen, war die Gegend völlig verlassen.
„Hoffentlich sind wir auf dem richtigen Weg“, meinte Kagor, „ich möchte keinesfalls wieder zurück in die Tiefe des Steins.“
„Ich möchte endlich wieder unter freiem Himmel sein“, sagte Siliah sehnsüchtig, „diese Enge bringt mich noch um.“
Sie bogen um eine Ecke und wollten eben weitergehen, da traten ihnen zwei Gestalten entgegen, die beide Umhänge aus Samt trugen. Die Gesichter konnte man nicht sehen, da sie von Kapuzen verdeckt waren. Eine Welle der Kälte schien von ihnen auszugehen.
Die vier Diebe hielten sofort an. Siliah schaute zurück, um zu sehen, ob sie eine Möglichkeit zur Flucht hatten. In diesem Moment traten zwei weitere Gestalten von hinten an sie heran und versperrten ihnen den Rückweg.
Einen Moment lang rührte sich niemand. Die Zeit schien langsamer zu vergehen; eine grosse Anspannung baute sich auf.
„Wer... Wer seid ihr?“, fragte Gartret schliesslich.
Mit einer gleichzeitigen Bewegung zogen alle vier Gestalten ihre Kapuzen ein Stück zurück; silberne Masken kamen zum Vorschein.
„Die Silbertränen!“, entfuhr es Siliah.
Kagors Hand bewegte sich zum Griff seines Säbels.
Malgoth nahm seinen Blick nicht von den aufgetauchten Silbertränen: „Seid besonnen, Freunde – wir dürfen uns jetzt nicht den geringsten Fehler erlauben.“

*****

„Sind dir diese Silbertränen je begegnet, die seit Kurzem wieder ihr Unwesen auf der Insel treiben?“, fragte Selkur.
Atamirenses zerrte und versuchte wieder gegen den Stuhl anzukämpfen, der ihn noch immer festhielt. Einmal mehr war er hilflos gefangen.
„Die Lügenuhr wird gleich wieder in Aktion treten – du solltest besser antworten“, gab Tharia bekannt.
„Ja, ja!“, rief Atamirenses so laut, das seine Stimme in dem riesigen Verhörraum echote, “ich habe ein Bild für sie besorgt!“
Rokar wandte sich an seine zwei Zauberwirkerkollegen: „Das Verhör läuft gut – nicht wahr? Wir haben die Spur aufgenommen; es kann jetzt nichts mehr schief gehen.“
Die anderen Beiden lächelten ihm zu und nickten.
„Und was war das für ein Bild?“, fragte Rokar dann.
„Ein Gemälde – ein leerer Stuhl, welcher in einem Kornfeld steht; nichts besonders.“
„Vielleicht doch…“, meinte Tharia sinnierend, dann schaute sie ihre zwei Kollegen an: „Das mit Ähren trächtige Korn, welche die reife Zeit symbolisiert? Der leere Stuhl als Zeichen der Abwesenheit?“
„Gut entschlüsselt – meine Liebe!“, gratulierte Rokar, „das Bild zeigt die Sehnsucht, welche die Silbertränen umtreibt.“
„Ich bin derselben Meinung“, schloss sich der Vorsitzende der Kommission, der alte Selkur, an. „Die Silbertränen haben ein klares Ziel vor Augen, und niemand wird sie davon abbringen können – es sei denn, man besiegt sie.“
„Sie besiegen?“, fragte Tharia, „geht das überhaupt? Schliesslich sind sie…“
Rokar hob die Hand und brachte damit die Zauberwirkerin zum Schweigen: „Wir sollten dieses Wissen unserem Gast lieber vorenthalten. Ich schlage vor, wir fahren stattdessen mit dem Verhör fort.“
Dieser Vorschlag fand ungeteilte Zustimmung. „Man hat dich gefesselt und am Boden liegend gefunden – was ist schief gelaufen?“, fragte Rokar.
„Ich… Ich bin überfallen worden – ich weiss nicht von wem.“
„Von den Silbertränen?“, fragte Tharia skeptisch.
„Unwahrscheinlich“, flüsterte Rokar.
„Wer glaubst du, ist es gewesen?“, fragte Selkur Atamirenses.
„Keine Ahnung. Anfangs bin ich mir sicher gewesen, es sei eine der Silberträne, oder einer ihrer Häscher. Doch der Mann hat Fragen gestellt, die nicht nötig gewesen wären, wenn er in Verbindung mit den Silbertränen gestanden hätte.“
Selkur überlegte, dann fragte er: „Aber ihr habt über sie geredet – du und der Unbekannte?“
Atamirenses hatte das Gefühl, er bekomme keine Luft mehr. Die Armlehen des Stuhles schnürten seinen Oberkörper ein. Der Hehler wurde von einem Panikanfall gepackt. Er versuchte sich mit aller Kraft loszureissen. „Ich werde keine Fragen mehr beantworten, bis ihr mir nicht mehr Luft verschafft!“, schrie Atamirenses, „sagt diesem Stuhl, er soll mich loslassen!“
„Die Lügenuhr tickt – eine rasche Antwort wäre jetzt angebracht“, stellte Tharia nüchtern fest.
„Ich werde nicht antworten! Ich werde nicht…“ Der Summton kam auf; er drang mühelos in Atamirenses Schädel ein und verursachte dort grosse Schmerzen. Der Hehler kämpfte tapfer dagegen an: „Ich werde… unter keinen Umständen…“ Die Schmerzen wurden unerträglich.
Da flog die grosse Doppeltür zu dem Verhörraum auf. Ein grosser Mann in schon fortgeschrittenem Alter erschien. Er trug eine Rüstung, die aber mehr zur Zierde als für einen richtigen Kampf gemacht schien. „Hört sofort auf damit!“, rief der Mann mit einer tiefen Stimme.
Tharia machte sich an der Lügenuhr zu schaffen und der Summton verstummte augenblicklich.
„Was habt ihr euch gedacht?“, rief der Mann in der prächtigen Rüstung, „ihr habt hier kein Insekt vor euch, das ihr aufspiessen und untersuchen könnt! Was immer der Kerl auch getan hat, er ist ein Mensch, und als solcher soll er behandelt werden! Gebt mir einen Stuhl – ich werde das Verhör selbst leiten.“
„Ja – Schwertmeister Malatein“, erwiderte Rokar gehorsam und stellte einen weiteren Stuhl bereit.
Der Paladinmeister setzte sich und schaute in die Runde: „Zuerst einmal: schafft diese vermaledeite Uhr aus meinen Augen!“
Die Lügenuhr verschwand sofort in Tharias Tasche.
„Und jetzt befehlt diesem Stuhl, er soll den Gefangenen loslassen!“
Der Stuhl knarrte und die Armlehen und Beine entwirrten sich und schlangen sich wieder in die Ursprungsposition zurück – Atamirenses konnte befreit aufatmen. Er betrachtete schaudernd das dunkle Holz, welches ihm bis vor wenigen Augenblicken noch fast die Luft geraubt hatte. Schwer zu begreifen, was die Zauberwirkerei mit einem so vermeintlich harmlosen Stuhl anstellen konnte.
Nun wandte sich Schwertmeister Malatein Atamirenses zu. Der Paladin strich sich seinen grauen Bart glatt und betrachtete den Hehler sorgfältig. Atamirenses war dem Schwertmeister dankbar, dass er ihn von der Lügenuhr und von Griff des verzauberten Stuhls befreit hatte; aber der ungemein stechende und wachsame Blick des Schwertmeisters liess ihn vorsichtig sein.
„Als dich ein Paladin gefunden hat“, begann Malatein, „hast du in Fesseln gelegen. Du kannst von Glück sagen, dass viele unserer Krieger eine Art von sechstem Sinn haben, was Verbrechen angeht. Wäre dem nicht so, dann würdest du jetzt nicht mehr leben.“
Atamirenses wusste nicht, was er darauf antworten sollte, also schwieg er.
„Er hat zuerst geglaubt, es sei ein Häscher von den Silbertränen gewesen, der ihn überfallen hat“, gab Rokar an Malateins Adresse bekannt, „aber dann sind ihm gehörige Zweifel gekommen.“
„Dann ist er nicht mehr mit den Silbertränen im Bunde?“, fragte Malatein.
„Nein“, erwiderte Tharia beflissen, „er ist ein Hehler, der mit ihnen zusammen gearbeitet hat. Doch offenbar hat er sich ihre Feindschaft eingehandelt.“
„Also hast du es mit den Silbertränen verdorben, und vielleicht noch mit einem anderen Feind, der dich jederzeit des Nachts überfallen und fesseln kann“, schloss der Schwertmeister.
Atamirenses zuckte nur mit den Schultern. Wie ein guter Kartenspieler versuchte er sich nichts anmerken zu lassen; doch er musste zugeben, dass Malatein Recht hatte: er wurde verfolgt – und es waren vielleicht sogar mehrere Gegner, die ihm nach dem Leben trachteten.
Der Schwertmeister lehnte sich zurück: „Anstatt dich für deine Hehlerei zu bestrafen, könnten wir dich einfach freilassen. Einer deiner Feinde würde dich gewiss zur Strecke bringen – und wir wären eine leidige Sache los.“ Malatein beugte sich über den langen Tisch und fixierte Atamirenses: „Verbrecher können wir in Mandakir gar nicht leiden; das hättest du eigentlich wissen müssen.“
„Vielleicht ist er ja gerade deshalb hergekommen“, mutmasste Selkur, „möglicherweise hat er eher Schutz gesucht, als einen Schauplatz für weitere Verbrechen.“
„Kein schlechter Gedanke“, stimmte der Schwertmeister zu, „aber mir wäre lieber, der Gefangene selbst würde über seine Absichten sprechen.“ Damit wandte er sich wieder an Atamirenses und schien ihn mit seinem Blick durchbohren zu wollen.
„Was soll ich darauf antworten? Ich bin nur auf der Durchreise hier und…“
„Rede keinen Unsinn!“, donnerte Malatein, dann beruhigte er sich augenblicklich wieder und fuhr wesentlich sanfter fort: „Bedenke, wenn die Silbertränen hinter dir her sind, dann können dich nur die Paladine beschützen. Doch solange du dich uns verschliesst, können wir dir keine Hilfe anbieten.“
Atamirenses liess Zeit verstreichen, dann fragte er vorsichtig: „Und wie hoch wäre der Preis, den ich für euren Schutz entrichten müsste?“
Rokar grinste: „Schlaues Kerlchen! Alles hat seinen Preis – auch bei den Paladinen.“ Doch ein strenger Seitenblick des Schwertmeisters wischte das Grinsen augenblicklich aus dem Gesicht des Zauberwirkers. „Wir treiben keinen Kuhhandel!“, und wieder an den Hehler gewandt: „Wir verlangen deine Offenheit, und ausserdem…“
„Was sonst?“, hakte Atamirenses nach.
Malatein suchte die rechten Worte, bevor er weiter sprach: „Auch wenn wir keinen Kuhhandel wollen, so verlangen wir doch eine gewisse… Mithilfe bei der Ergreifung deiner Feinde.“
„Du wirst der Köder sein!“, platzte Tharia heraus.
Schwertmeister Malatein wandte sich verärgert zu der Zauberwirkerin um.
Atamirenses stand unwillkürlich auf: „Ist das wahr? Ist das der Preis?“
Malatein wand sich sichtlich innerlich, dann meinte er endlich: „Ja – das wird der Preis für unseren Schutz sein.“

*****

Die vier Silbertränen hatten sie umzingelt, es gab keine Möglichkeit zur Flucht.
Einer der Maskenträger trat hervor und streckte die Hand aus. In dieser Stellung verharrte er.
„Was will er?“, flüsterte Kagor.
„Den Helm, was den sonst?“, flüsterte Siliah zurück.
„Die sollen uns erst die 2000 Goldtaler aushändigen – vorher kriegen sie gar nichts“, erwiderte Gartret leise.
Die Kälte, die von den Silbertränen ausging, schien zu wachsen; eine Welle eisiger Energie brandete den vier Dieben von allen Seiten entgegen. Als das Gefühl noch intensiver wurde erkannten sie, dass es keine wirkliche Kälte war. Es war mehr eine Art von metallischer Erstarrung, die mit gierigen Ausläufern nach ihren warmen Körpern griff.
Kagor wollte seinen Säbel ziehen; augenblicklich wurde die Welle noch um ein vielfaches stärker. Ächzend und stöhnend rückten die vier Diebe zusammen. Es war, als würde sämtliche Lebensenergie aus ihnen entweichen. Den Silbertränen war bei alledem nichts anzumerken; wegen ihrer Masken war keinerlei Regung zu erkennen.
„Gib ihnen den Helm – Kagor“, bat Malgoth, der sich schützend die Arme vors Gesicht hielt, „es hat keinen Sinn; wir können nicht dagegen ankämpfen.“
Widerwillig griff Kagor in seine Tasche und holte den Helm des Grossen Herrschers hervor; sofort brach die Welle der Erstarrung ab und verlor sich im Nu.
Die Silberträne, die noch immer seine Hand ausgestreckt hielt, schien vom Helm geradezu angezogen zu werden. Ohne sich richtig zu bewegen, glitt sie darauf zu. Dann war sie ganz nah bei Kagor und nahm den Helm an sich. Der ehemalige Paladin musste all seine Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht zurückzuweichen. Eine unangenehme Rätselhaftigkeit ging von der Silbeträne aus. Kagor versuchte durch die Augenlöcher der Maske die Augen zu sehen; er konnte sie nicht ausmachen. Dann wich die Silberträne zurück und Kagor bemerkte, dass er etwas Schweres in der Hand hielt: Es war ein grosser Sack voller Münzen.
„Das wird das Geld sein“, meinte Gartret befriedigt, „dass heisst, sie wollen uns nicht töten sondern bezahlen.“
Die Silbertränen verharrten noch eine Sekunde regungslos, dann machten sie sich rasch in verschiedene Richtungen davon.

Malgoth atmete auf: „Oh, bei den Göttern, gibt es etwas Unangenehmeres als diese Dinger?“
„Du glaubst, das sind keine Menschen?“, fragte Siliah.
„Jedenfalls keine Gewöhnlichen.“
Gartret nahm dem noch immer um Fassung ringenden Kagor den Geldsack aus der Hand und wog diesen in der Hand: „Das mit den versprochenen 2000 Goldtalern könnte hinkommen.“
„Du hast Sorgen – Gartret“, bemerkte Siliah.
„Was habt ihr denn? Schliesslich arbeiten wir für Geld – oder etwa nicht?“
„Wir werden vielleicht Geld haben, aber möglicherweise nicht am Leben bleiben, wenn wir uns weiterhin mit diesen Silbertränen einlassen“, meinte Kagor, der sich langsam erholte.
„Da ist noch ein Brief drin – vielleicht ein neuer Auftrag?“, gab Gartret bekannt.
„Zeig doch mal her“, bat Malgoth.
Der Zwerg nahm das Pergament in Empfang und begann zu lesen.
„Sag schon – was schreiben unsere unheimlichen Freunde?“, fragte Siliah neugierig.
Malgoth liess das Pergament sinken und amtete hörbar aus.
„Willst du uns auf die Folter spannen?“, beschwerte sich Gartret, „sag schon was da steht.“
„Das, was das steht, ist an uns alle gerichtet“, meinte auch Kagor, „du darfst uns nicht ausschliessen.“
„Ist ja gut, ist ja gut“, beschwichtigte der Zwerg, „ich war einfach einen Moment lang zu verblüfft.“ Malgoth legte wieder eine kleine Pause ein, die den anderen Dieben reichlich unnötig erschien: „Also… Die Silbertränen bieten uns einen neuen Auftrag an.“
„Es wäre besser, jetzt einen Schlussstrich zu ziehen“, meinte Kagor sofort, „ich habe versucht, in die Augen einer Silberträne zu sehen, und ich habe das nackte Nichts erblickt. Vielleicht hätten wir uns nie mit diesen Leuten einlassen sollen.“
„Aber sie bieten uns…“, Malgoth musste Luft holen, „sie bieten uns zwanzigtausend Goldtaler!“
Gartret nahm Malgoth das Pergament aus der Hand – er musste das Unglaubliche selbst lesen: „zwanzigtausend Goldtaler! Das ist das ganz grosse Ding!“
„Danach müssten wir uns nie wieder anderer Leute Dinge unter den Nagel reissen“, gab Kagor zu, „aber dennoch… Vielleicht verkaufen wir mit dieser Riesensumme unsere eigene Seele gleich dazu.“
„Was verlangen die Silbertränen dafür?“, fragte Siliah.
„Wir müssten die Armschienen des grossen Herrschers stehlen – in Mandakir.“
„Und schreiben sie auch, weshalb sie eine so grosse Summe dafür zahlen wollen?“, fragte die Elfe weiter.
Malgoth nickte: „Sie schreiben dazu: ‚Wir sind uns des grosszügigen Entgelts wohl bewusst – doch unsere Sehnsucht treibt uns unermüdlich an…’“
„Das übliche Silbertränen-Gerede“, murmelte Gartret.
„’Das Ziel darf nicht aus den Augen verloren werden. Ausserdem haben Messungen ergeben, dass erhöhte Gefahr droht; die Brut wider dem Grossen Herrscher hat sich geregt und beginnt Fallstricke auszulegen. Doch keine Sorge – ihr Unterstützter des Lebensspenders – es wurde mit viel List und Tücke Vorsorge getroffen. Unsere Feinde werden harte Schläge treffen. Nutzt die dadurch entstehende Zeit klug und mit Umsicht.’ Dann folgen ein paar Lobpreisungen an ‚Ihn’, also den Grossen Herrscher; schliesslich: ‚die zwanzigtausend Goldtaler werden euch sicher sein, sobald wir die Armschienen unseres Grossen Königs haben. Eilt und lasst euch von den Feinden in Mandakir nicht ablenken.’“
„Egal wie hoch die Summe ist – das gefällt mir nicht“, meinte Siliah, „ich habe bislang immer das Gefühl gehabt, dass uns die Silbetränen am Liebsten töten wollen. Wenn das vielleicht unser letzter Auftrag an sie sein soll, wieso sollten sie uns bezahlen anstatt uns umzubringen?“
„Du stimmst also dagegen?“, wollte Malgoth wissen.
„Das tue ich“, erwiderte Siliah überzeugt.
„Ich enthalte mich der Stimme“, meinte Malgoth.
„Ich stimme dafür“, warf Gartret etwas zerknirscht sein Gewicht in die Wagschale.
„Dann liegt es an dir Kagor – wie stimmst du?“, fragte Siliah.
Kagor zögerte, dann schien ihm eine Idee zu kommen: „Ich hasse diese Silbertränen, doch ich würde dennoch dafür entscheiden – unter einer Bedingung.“
Gartrets Gesichtszüge hellten sich auf – er witterte Morgenluft: „Alles was du willst – mein Grosser.“
„Ich möchte, dass wir in Mandakir etwas stehlen – etwas Persönliches; und ich möchte, dass wir das zuerst erledigen.“
„Eine schwierige Sache?“, fragte Gartret.
„Ich hoffe nicht. Es wird vermutlich nicht sehr gut geschützt.“
„Also gut – wenn die Anderen da mitziehen, bin ich auch dabei“, war Gartret einverstanden.
„Meine Zustimmung hast du schon – Kagor“, meinte Malgoth.
„Dann läuft heute alles an mir vorbei – wie?“, sagte Siliah etwas verärgert, „aber sei’s drum: wir gehen also nach Mandakir, erledigen die Sache für Kagor, stehlen unter den Augen der Paladine ein Artefakt, werden weder von den Silbertränen noch ihren Feinden getötet und kassieren am Ende die fürstliche Belohnung. Habt ihr euch das so vorgestellt?“
Gartret lächelte: „Wir werden unser Bestes geben. Und wenn wir erfolgreich sind, dann haben wir ausgesorgt.“
„Dann auf nach Mandakir“, beendete Malgoth die Diskussion, „wir wagen uns mitten in ein Vipernnest und werden wohl schauen müssen, was wir davon haben.“

*****

Der Kurator Quandor tänzelte durch die Hallen und Gänge der Stadt Kulmina. Sein leichter Gang entsprach alles andere als seiner Laune; seit Bezarzes Verschwinden musste er die ganzen Steintafeln übersetzen; zusätzlich zu seinen sonstigen Verpflichtungen. Und nun hatte ein fauler Bote, der offenbar den Weg scheute, ihm einen Brief für die oberste Kuratorin Talmara mitgegeben. Zwar war dies eine gute Entschuldigung, die gewöhnliche Arbeit für einen Moment lang zu unterbrechen, aber diese wurde dadurch gewiss nicht weniger.

Quandor würdigte Talmaras Sekretärin keines Blickes und durchquerte das Vorzimmer mit eiligen Schritten. Er war der Stellvertreter und nahm darum jederzeit das Recht in Anspruch, die oberste Kuratorin zu sprechen, wann immer es ihm passte.
Er trat in Talmaras Büro ein. Die schon etwas ältere Frau schaute zwischen den Pergamentbergen hervor, die sich auf ihrem Steintisch stapelten. „Was gibt es?“, fragte sie mit einem Anflug von Verärgerung.
„Ein Brief – offenbar aus Kulmina“, sagte Quandor mit seiner Fistelstimme.
„Jemand schickt mir einen Brief von hier nach hier?“, fragte Talmara verwundert und nahm das Dokument von Quandor in Empfang. Sie öffnete und entfaltete die Pergamentblätter. Die Schrift war seltsam eckig gehalten, ganz so, wie Zwerge oft schrieben. Die Worte waren sorgfältig gewählt, aber der Stil etwas ausufernd geraten. Doch es war der Inhalt des Briefes, der Talmara schier den Atem raubte. Unwillkürlich stand sie auf, so schnell wie möglich las sie die Pergamentseiten, welche sie in ihren zitternden Händen hielt:

Sehr geehrte oberste Kuratorin Talmara

Wir bedauern es zutiefst, Euch eine ganze Reihe von unerfreulichen Ereignissen eröffnen zu müssen:
Vor knapp einer Woche kamen wir zu Euch und stellten uns als reisende Forscher voller Wissensdurst vor. Dies war – wie wir zugeben müssen – eine Vortäuschung falscher Tatsachen, welche wir auf gewisse Weise jetzt bedauern. Aber wir wagten nicht, unsere wahren Motive und Ziele zu enthüllen, weil dies bestimmt Eure Gastfreundschaft und Eure Hilfeleistungen um ein bedeutendes Mass gemindert hätte. Auf Eure Hilfe waren wir jedoch angewiesen, um unsere hochgesteckten Ziele zu erreichen.
Wie dem auch immer sei: Ihr hattet euch durch unsere Täuschung und durch eure Grosszügigkeit dazu entschlossen, uns die Kuratorin Bezarze als Begleitung zur Seite zu stellen. Dies ermöglichte die zielgerichtete Reise ins Innere des Steins. Und eben jene Reise war der Ausgangspunkt für eine lange Kette von tragischen und geradezu unglaublichen Ereignissen, von welchen dieser Bericht jetzt Zeugnis liefern soll. Mögen die folgenden Worte Eurer Forschung von grossem Nutzen sein; denn die Opfer, die für die Erlangung dieses Wissens notwendig waren, sind gross gewesen – vielleicht grösser als jeder Nutzen, den man sich davon versprechen könnte…

Die folgenden Seiten von Malgoths Bericht schilderten ausführlich alle Ereignisse der letzen Tage; vom Weg ins Innere des Steins, dem dreisten Diebstahl des Helms des Grossen Herrschers, von der Gefangennahme durch die geisterhafte Elfenschar, bis schlussendlich zu Bezarzes Tod im bewaldeten Innersten des Steins. Als das Ende der Kuratorin beschrieben wurde, erbleichte Talmara. Sie hatte nie ein besonders inniges Verhältnis zu Bezarze gehabt. Aber dieses Ende im Flammentor liess sie erschaudern und rief tiefe Gefühle des Mitleids und der Trauer in ihr hervor. Rasch las sie das Ende des Berichtes:

Die Tatsache, dass wir Diebe sind, soll nicht dazu verleiten, diesem Bericht weniger Gewicht beizumessen. Ein nicht unerhebliches Mass an schlechtem Gewissen trieb uns, diese Worte wahrheitsgetreu niederzuschreiben. Es tut uns von ganzem Herzen leid, dass die Sache für Bezarze einen derart verheerenden Ausgang genommen hat. Aber seid versichert: wir werden ihr Andenken ewig in uns tragen.

Gezeichnet: ‚Forscher’ Malgoth

Talmara liess das Pergament sinken; sie brauchte einem Moment, um ihre Gedanken zu ordnen. Dann stieg unwillkürlich eine Welle der Wut in ihr auf. Sie gab das Pergament an Quandor zurück: „Da, liess selbst, was ‚Forscher’ Malgoth uns schreibt!“
Quandor nahm begierig den Brief wieder an sich: „Hat er Nachricht von Bezarze?“
Die oberste Kuratorin sank auf ihren Stuhl zurück. Sie sah unendlich müde aus und schien um Jahre gealtert zu sein. „Ja – allerdings – er hat Nachricht von Bezarze.“
Quandor las und erbleichte: „Bei den Göttern, was hat man Bezarze nur angetan?“
„Was hat man uns angetan!“, korrigierte die oberste Kuratorin, „diese vier Diebe haben uns aufs Schändlichste hintergangen! Im Namen der Wissenschaft haben sie unsere Hilfe für einen Raubzug erschlichen! Und nun vergiessen sie Krokodilstränen – ha!“ Talmara hatte sich in Rage geredet, nun war sie so wütend, dass sie mit der Faust auf ihren steinernen Schreibtisch schlug. Den dadurch entstandenen Schmerz steckte sie weg, ohne eine Miene zu verziehen. Dann fasste die oberste Kuratorin einen Entschluss: „Ich werde die Sache nicht auf sich beruhen lassen! Wir werden eine Expedition zusammenstellen und selbst zum innersten Kern des Steins vordringen. Dort werden wir mit eigenen Augen sehen, was mit Bezarze geschehen ist!“
Quandor war wegen der donnernden Stimme von Talmara immer mehr zurückgewichen; jetzt trippelte er wieder vorsichtig zwei Schritte näher: „Ist das nicht… gefährlich?“
„Schon möglich, doch wir werden es tun“, bekräftigte die oberste Kuratorin, „Bezarze war eine von uns, und ich fühle mich verpflichtet, soviel wie möglich über ihr Schicksal in Erfahrung zu bringen. Geh und trommle unsere besten Leute zusammen – wir werden bald aufbrechen.“
Das ‚Wir’ schien Quandor ganz und gar nicht zu gefallen. Er war alles andere als gefühllos gegenüber Bezarzes Schicksal. Aber der Gedanke, in die tiefsten Tiefen des Steins zu gehen, widerstrebte ihm doch sehr. „Wenn ihr euch dazu verpflichtet fühlt, dann soll euch niemand aufhalten. Aber…“
„Wir – die führenden Kuratoren – werden alle bis zum Kern vorstossen; das schliesst dich mit ein – Quandor“, erwiderte die oberste Kuratorin unerbittlich, „und es gibt nichts auf der Welt, was mich davon abzubringen vermag.“


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Tag der Veröffentlichung: 22.10.2010

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