Cover

Prolog

Gunar nahm die Reliefe in Augenschein. Er befand sich in der halb zerfallenen Kuppel, welche den imposantesten Teil der Gruft bildete.
Erst gestern waren sie hier angekommen – und bereits hatten sie beunruhigende Zeichen ausmachen können: Dinge befanden sich nicht mehr am selben Ort, wie beim letzten Mal; Spuren waren zu sehen, die bislang gefehlt hatten – alles Kleinigkeiten, die nur dem geschulten Auge auffielen.

Die Reliefe an den übrig gebliebenen Wänden zeigten eine fortlaufende Geschichte. Und was Gunar da erzählt wurde, war auch der Grund ihrer Anwesenheit. Das Grauen breitete sich in Bildern vor ihm aus; und ein Teil dieses Schreckens aus uralter Zeit lauerte direkt unter ihm – verborgen über all die Jahrhunderte unter kaltem Stein.
Das Böse von einst, welches sich in den Tiefen der Grüfte regte - es klang für Gunar wie eine Geschichte, mit der man kleine Kinder zu erschrecken pflegte. Aber es wusste, dass mehr dahinter steckte.

Gunar drehte sich um. Weil der hintere Teil der Kuppel eingestürzt war, konnte er auf andere Teile der einst herrschaftlichen Gruftanlage blicken. Etwa zwanzig Klafter von ihm entfernt arbeitete Isana; sie schaute im selben Augenblick zu ihm wie er zu ihr. Ihre Blicke kreuzten sich und beide lächelten. Sie mochten sich sehr. Und das Beste war: ihre innigen Gefühle füreinander hatten ihre Arbeit bislang nicht im Geringsten zu stören vermocht. Es war jene Art von Liebe, die den Anderen nicht besitzen oder vereinnahmen wollte, sondern einfach nur einen wunderbar wärmenden Halt für Beide bot.
Isana hatte früher als Kuratorin gearbeitet; im Inneren eines riesigen Steins, der auf der ganzen Insel als archäologische Sensation ohnegleichen bekannt war.
Gunar selbst war schon immer eher ein wandernder Forscher und Entdecker gewesen. Nun arbeiteten sie beide für einen mächtigen Kriegerorden. Sie suchten uralte Grüfte und Grabstätten auf und erstatteten regelmässig Bericht über deren Zustand.
Es hatte eine dunkle Bewandtnis mit diesen Orten; ihre Arbeit war nicht ohne Gefahr. Aber sie wurden gut entlohnt – und das war in ihrem Metier eher eine Seltenheit.
Ein scharrendes Geräusch riss Gunar aus seinen Gedanken. Er sah sofort, was die Ursache war: der geheime Zugang zum Inneren der Gruft hatte sich einen Spalt weit geöffnet.
„Was ist da los?“, rief Isana zu ihm hinüber – Besorgnis lag in ihrer Stimme.
„Du wirst es nicht glauben…“, gab Gunar zurück. Er ging ganz nahe an den Zugang heran. War es wirklich möglich? Nach all diesen Jahrhunderten würde ausgerechnet er der erste Zeuge sein? Eigentlich hätte er nun sofort das Weite suchen sollen und wäre verpflichtet gewesen, auf schnellstem Wege seine Auftraggeber zu benachrichtigen. Doch Gunars Neugierde war stärker: Er versuchte etwas durch den dunklen Spalt zu erkennen; die Schwärze im Inneren der Gruft zog seinen Blick geradezu magisch an.
„Lass uns lieber verschwinden – da stimmt etwas nicht!“, rief Isana, doch ihre Worte stiessen auf taube Ohren; Gunar war ganz in seiner Faszination gefangen. Noch näher wandte er sich dem Spalt zu. Angestrengt versuchte er etwas in Dunkelheit zu erkennen; doch die Finsternis jenseits des Zugangs gab nichts preis.
Plötzlich drang ein kalter Lufthauch aus der Gruft und streifte das Gesicht des Forschers.
Dann geschah alles ganz schnell: Die steinerne Geheimtür glitt mit einem Schwung ganz auf. Eine Gestalt schoss hervor – gross, dunkel. Und es war sofort spürbar, das sie bar jeder Seele war, die man noch hätte menschlich nennen können.
Gunar war wie gelähmt; seine Augen weiteten sich vor Schreck und ungläubigem Entsetzen. All die Jahre hatte er die Geschichten gehört – und jetzt erwiesen sie sich als wahr. Er wollte Isana warnen, ihr laut zurufen, sie solle weglaufen; doch es war zu spät: noch bevor er schreien konnte, legte sich eine schwarz behandschuhte Hand um seine Kehle und drückte mit einer schier übermenschlichen Kraft zu. Gunar rang in höchster Not um Luft und versuchte verzweifelt sich dem eisernen Griff zu entwinden – vergebens: er war viel zu schwach. Allmählich erlahmte sein Widerstand. Flehend schaute er in Richtung Isana, die den Todeskampf ihres geliebten Kollegen hilflos mitverfolgen musste. Gunars zitternde Lippen versuchten tonlose Worte zu sprechen: Bitte – flieh! Rette dein Leben. Warne die Anderen!
Ein letztes Aufbäumen, ein letzter Versuch sich aus dem Würgegriff zu befreien, dann war er besiegt. Das Ende nahte.
Zuletzt richtete sich Gunars verschwommen werdender Blick noch einmal seinem Angreifer zu: wo das Gesicht der Gestalt hätte sein sollen, war nur ein schimmerndes Etwas zu sehen.


1. Teil: Vindara

1. Kapitel: Ein leerer Stuhl

‚Alles ausser Mord’,
war das Motto jener vier Gestalten, die im Dämmerlicht vorsichtig über den Torbogen balancierten, welcher das Museum mit einem alten Nebengebäude verband.
Die ungleiche Truppe bestand aus zwei Menschen, einem Zwerg und einer Elfe.
Einer der beiden Menschen war sehr gross und äusserst kräftig gebaut, der andere wirkte heimtückisch und verschlagen.
Die zierliche Elfe drängte ungeduldig vorwärts; besonders der Zwerg, der zuvorderst ging, balancierte nach ihrem Empfinden viel zu langsam über die gefährliche Strecke. Nervös zupfte sie an ihrem pechschwarzen Haar, welches seitlich aus ihrer Kapuze herausquoll. Sie war mit einem elfischen Reflexbogen bewaffnet und das beruhigte sie ein wenig. Ausserdem wusste sie den Hünen in ihrem Rücken, der einen Zweihänder quer über seinem Rücken festgezurrt hatte.

Der verschlagen aussehende Mensch trug wie die Elfe einen Umhang. Er hatte einen Rucksack umgeschnallt, aus dem die Teile aller möglichen Gerätschaften herausschauten. Der obere Teil einer Armbrust und die spitzen Enden eines Enterhakens waren gut erkennbar. Er schaute sich öfter vorsichtig um; nicht hastig und nervös, sondern eher umsichtig und mit einem erfahrenen Blick für mögliche Gefahren.

Der Zwerg dagegen zeigte deutliche Anzeichen von Angst. Er ging gebeugt und sein Blick irrlichterte fahrig umher. Er schien jeden Augenblick mit dem Schlimmsten zu rechnen.

Endlich hatten sie die Aussenmauer des Museums erreicht.
Einen kurzen Moment beratschlagten sie sich stumm mit Blicken, was nun zu tun sei. Als sie dadurch zu keinem Ergebnis kamen, wandte sich der Zwerg flüsternd an den Menschen mit dem Rucksack: „Gartret - wir haben es doch besprochen: wir gehen durch das Fenster im oberen Stockwerk.“
Gartret nickte. Noch immer auf der Mauerkrone das Gleichgewicht haltend, schnallte er seinen Rucksack ab und holte den Enterhaken hervor. Dann kniff er zielend die Augen zusammen und warf den Haken nach oben. Augenblicke später erklang das laute Geräusch einer zerberstenden Scheibe.
„Oh ihr Götter – verdammt mich!“, entfuhr es dem Zwerg.
Einen Moment verharrten sie still; ein Hund begann in einem nahen Hinterhof zu bellen, sonst schien niemand aufgeschreckt worden zu sein.
Die Elfe verdrehte die Augen: „Mit solchen Anfängern muss ich mein täglich Brot verdienen!“
Gartret warf ihr einen bösen Blick zu: „Mach es doch besser – Siliah! Das ist hier kein lieblicher Elfenwald – hier geht es etwas handfester zu.“
„Es ist wie es ist“, seufzte Siliah die Elfe, „ich bin nun mal gezwungen, unter euch Menschen zu leben. Ich versuche das Beste daraus zu machen, auch wenn da nicht viel zu holen ist. Leider ernte ich oft nur Hohn und Spott, wenn ich mit euch auszukommen versuche.“
„Deine Versuche mit Menschen auszukommen sind meist etwas kümmerlich geraten“, entgegnete Gartret spitz.
„Seid endlich still!“, zischte der Zwerg, „wir wollen unsere Lage nicht noch verschlimmern.“
Eine Weile verharrten sie schweigend auf der Mauerkrone. Gartret hielt unschlüssig das Seil in der Hand, an dessen anderem Ende sich der Enterhaken befand, der sich oben in einem Fensterrahmen verkeilt hatte.
Nach einigen bangen Sekunden meinte der Hüne mit dem Zweihänder auf dem Rücken: „Es scheint nochmals alles gut gegangen zu sein. Ist auch besser so – wisst ihr noch bei unserem letzten Auftrag?“
„Ja – Kagor“, erwiderte der Zwerg, während er etwas resignierend ausatmete. „du schlägst nicht gerne Leute nieder – ich weiss schon...“
Kagor schüttelte etwas traurig den Kopf: „Es ist nicht ehrenvoll, so etwas zu tun. Diese Wachen hatten nur ihre Arbeit getan.“
„Und wir machen jetzt unsere“, meinte Gartret, während er das Seilende Kagor übergab. Dann wandte er sich an den Zwerg: „Malgoth – du zuerst.“
Ohne grosse Begeisterung nahm Malgoth das Seil in beide Hände, während Kagor es spannte. Eine Sekunde liess er noch verstreichen, dann machte er einen Satz und begann an dem Seil empor zu klettern. Er stellte sich einigermassen geschickt an, was man ihm von seiner Statur her nicht unbedingt zugetraut hätte. Schliesslich verschwand Malgoth hinter dem Fenstersims. Nach einer Weile zog jemand von oben dreimal kurz an dem Seil.
„Das Zeichen“, gab Kagor bekannt, „oben ist alles in Ordnung.“
Als Nächstes war Siliah dran. Sie kletterte mit einer unglaublichen Geschwindigkeit am Seil empor – in wenigen Sekunden war sie oben.
Dann tat es ihr Gartret gleich. Er war nicht ganz so schnell wie die Elfe, doch man sah deutlich, dass er Übung besass.
Zuletzt zog sich Kagor mit kräftigen Zügen nach oben, stemmte beide Armen aufs Fensterbrett und sprang dann durch das zersprungene Fenster ins Innere des Museums.

Sie standen in einem Korridor. Es roch muffig hier; und ein Geruch wie von speckig gewordenem Leder mischte sich dazu. Auf dem Boden knirschten die vielen Scherben unter ihren Füssen - Gartrets Enterhaken hatte das hohe Fenster auf der ganzen Länge zerschlagen.
„Da wären wir!“, meinte Gartret triumphierend. „Diesmal brauchst du keine Wachen mehr zusammenzuschlagen – Kagor. Heute Nacht kämpfen wir mit dem Florett, nicht mit dem Zweihänder.“
„Ah, mit dem Florett“, erwiderte Siliah spöttisch, während sie mit dem Kinn auf die vielen Scherben wies.
„Jedenfalls hat der Haken gehalten“, nahm Kagor Gartret in Schutz.
Malgoth zog eine geradezu lächerlich kleine Laterne hervor und entzündete diese. Fahles Licht erleuchtete den Korridor. Die Wände waren mit Seidenbezügen ausgekleidet und in regelmässigen Abständen hingen grosse Bilder. Der Boden war aus dunklen Holzbohlen gefertigt, welche beim Begehen knarrten.
„Auf geht’s – es kann nicht mehr weit sein.“ Malgoth ging voran und die Anderen folgten ihm.
Sie kamen nicht weit – schon nach wenigen Klaftern versperrte ihnen ein Gittertor den Weg. Der Zwerg fluchte leise.
„Hast du das Gitter nicht gesehen, als du gestern das Museum ausgekundschaftet hast?“, fragte Siliah Malgoth.
Der Zwerg schüttelte den Kopf: „Nein, es ist ein Fallgitter. Es war wohl gut in der Decke versenkt; deshalb habe ich es nicht bemerkt.“
„Geht mal beiseite“, bat Gartret. Er zog seinen Kapuzenumhang aus und übergab ihn Malgoth. Wie um seine Konzentration zu steigern, nahm Gartret einige tiefe Atemzüge. Gleichzeitig strich er sich mit den Fingern durch sein langes Haar und ordnete dieses so ein wenig. Dann nahm er einen Satz Dietriche hervor und begann sich an dem Schloss zu schaffen zu machen.
„Schaffst du es?“, fragte Kagor, während er Gartret neugierig über die Schulter schaute.
„Ich denke ja – es ist ein ziemlich einfach gebautes Schloss. Du musst nur sämtliche Druckbolzen im Inneren des Schlosses einpressen und fixieren. Dann nimmst du dies hier“, er nahm einen etwas gröberen Dietrich hervor, „ und dann kannst du sehen… das… jetzt haben wir es.“ Es knackte und die Mechanik tat ihren Dienst; wenn auch bestimmt nicht auf eine Weise, wie sie von deren Konstrukteur vorgesehen war. Aber die ineinander greifenden Teile waren nicht in der Lage, Gartrets Hantieren mit den Dietrichen von dem Drehen eines echten Schlüssels zu unterscheiden. Und so gewann wieder einmal das Verbrechen gegen jene Bemühungen, die ein ebensolches zu verhindern suchten.
Kagor konnte das Gitter nach oben schieben.
„Gut gemacht – Gartret!“, lobte Malgoth.
„Damit machst du das kaputte Fenster wieder wett“, meinte Siliah anerkennend.

Sie gingen weiter. Malgoths winzige Laterne spendete ihnen spärliches Licht. Plötzlich blieb der Zwerg ohne ersichtlichen Grund stehen. „Das müsst ihr euch ansehen.“
„Was ist los – Malgoth? Ist das das Bild, welches wir haben wollen?“, fragte Siliah.
Malgoth war vor einem riesigen Gemälde stehen geblieben.
Kagor gab einen missmutigen Laut von sich, dann meinte er: “Wie wollen wir dieses riesige Ding bloss von hier fortschaffen?“
Der Zwerg beruhigte ihn: „Keine Angst, dass ist nicht unser Bild.“
„Was machen wir dann hier?“, fragte Gartret ungeduldig.
„Das müsst hier euch einfach anschauen“, meinte der Zwerg. „Das hier ist eines der berühmtesten Bilder der ganzen Insel.“
„Es sieht etwas seltsam aus“, meinte Siliah eher verhalten, während sie das Gemälde betrachtete, „unendlich viele kleine Striche – und zudem einige in falscher Farben gesetzt; finde ich jedenfalls.“
„Das Bild hängt nur am falschen Ort“, wandte Malgoth ein. „Man müsste es eigentlich aus grösserer Entfernung betrachten; nur geht das in diesem Korridor nicht. Dieser Malstil wird als ‚Eindrücklichkeit’ bezeichnet. Der Sinn davon erschliesst sich erst ab einer gewissen Distanz. Erst dann verschmelzen die einzelnen Striche vollständig zu einem Ganzen.“
„Dann ist der Vorsteher dieses Museums ein Dummkopf“, schloss Siliah.
Malgoth stimmte nickend zu.
„Was stellt das Gemälde überhaupt dar?“, wollte Kagor wissen.
Malgoth hob die Laterne etwas höher und sie traten so weit weg wie möglich. Auf dem Gemälde konnte sie nun einen Weinberg sehen, auf dem ein Weinbauer seine Arbeit tat. Im Vordergrund des Bildes lagen einige Gerätschaften: ein Eimer, eine grosse Schere, sowie ein paar Pflöcke. Im Hintergrund des Bildes zeichneten sich die Silhouetten einer sanft geschwungenen Hügellandschaft ab, welche in der Ferne beinahe mit dem graugrünen Himmel zu verschmelzen schien.
Gartret zuckte mit den Schultern: „Ein Weinbauer – sonst ist niemand zu sehen.“
„Das ist kein einfacher Weinbauer!“, erwiderte Malgoth fast ein wenig grob. „Das ist Ilian – einer der legendären Helden des Volkes.“
„Du meinst, einer Derjenigen, die dem Grossen Herrscher den Garaus gemacht haben?“, fragte Siliah interessiert, „ich habe von dieser Legende der Menschen gehört.“
Malgoth nickte: „so ist es – allerdings ist es mehr als eine blosse Legende.“
„Der Grosse Herrscher; den viele bloss für den Reichseiniger halten…“, murmelte Kagor etwas gedankenverloren.
„Der grosser Reichseiniger und der noch grössere Tyrann“, korrigierte Malgoth, während er dem Hünen belehrend den Zeigefinger entgegenstreckte. „Um ein Haar hätte er uns alle vernichtet – dieser furchtbare Dämon!“
„Das brauchst du einem ehemaligen Paladin nicht zu erklären“, gab Kagor etwas gekränkt zurück.
Gartret trat ungeduldig von einem Fuss auf den anderen: „Man weiss nicht mehr viel aus jenen Tagen… Bloss noch Sagen und halbgare Gerüchte. Wie dem auch sei – wir sollten uns langsam auf die Socken machen. Schliesslich sind wir keine Museumsbesucher.“
Malgoth seufzte und warf noch einen letzten Blick auf das Bild, dann gab er das Zeichen zum Weitergehen.
Doch nachdem der Zwerg ein paar Schritte getan hatte, hörten sie am Boden ein metallisches Klirren.
„Vorsicht!“, warnte die Elfe Siliah, „da liegen spitzige Metallteile!“
Gartret bückte sich und hob eines dieser Teile auf: „Das sind so genannte Krähenfüsse; egal wie sie liegen, eine der vier Spitzen zeigt immer gegen oben. Mit solchen Dingern werden für gewöhnlich Strassen unpassierbar gemacht. Besser ich räume sie beiseite, sonst tritt noch jemand darauf, der nicht so schwere Stiefel wie Malgoth anhat.“

Sie gingen mit vorsichtigen Schritten weiter den Korridor entlang. Zu ihrer Rechten war die Wand in regelmässigen Abständen von hohen Fenstern unterbrochen – links hingen die Bilder.
Siliah machte eine Handbewegung „Da ist jemand!“
Sie blieben abrupt stehen – Malgoth löschte die Laterne.
„Wir haben heute vielleicht Pech“, grummelte Kagor flüsternd.
Tatsächlich erschien ein Licht am anderen Ende des Korridors – dann waren Stimmen zu hören.
Die Vier drückten sich an die Wand.
Die Stimmen kamen näher; ebenso das flackernde Licht. In wenigen Sekunden würden sie entdeckt werden.
„Und was jetzt?“, flüsterte Gartret gerade noch so laut, das die anderen Drei ihn verstehen konnten.
Mit einer ungemein geschmeidigen Bewegung nahm Siliah ihren Bogen vom Rücken.
Malgoth zupfte die Elfe am Saum ihres Umhanges „Was soll das? Was hast du vor? Du willst doch diese Leute nicht einfach umbringen?“, flüsterte er gepresst.
„Sie haben nur eine einzige Kerze dabei“, meinte Siliah, während sie schon einen Pfeil anlegte.
Bevor Malgoth noch etwas sagen konnte, schnellte der Pfeil von der Sehne – einen Augenblick später erlosch das Licht am Ende des Korridors.
„Wer ist da? Wer seid ihr?“, rief eine ängstliche Stimme in die Dunkelheit. Dann, ein einen Moment später eine andere Stimme genauso ängstlich: „Gebt euch gefälligst zu erkennen!“
Kagor seufzte; er zog ein Lederband aus seiner Tasche und begann damit seine rechte Faust zu umwickeln.
Doch die Dinge nahmen eine andere Wendung: „Ihr habt keine Chance! Wir holen Hilfe!“
Schrittgeräusche hastig wegeilender Menschen waren zu hören.
„Sie sind weg – diese Feiglinge!“, war Gartret erleichtert.
„Jetzt aber schnell! Sonst können wir unseren Auftrag vergessen!“, drängte Malgoth.
„Und unsere Freiheit gleich dazu“, fügte Siliah an.
Sie rannten einige Klafter, dann liess sie der Zwerg anhalten. Er entzündete seine Laterne wieder und wies aufgeregt auf ein Bild: „Dies hier ist es! Das ist das Richtige!“
„Ein leerer Stuhl in einem Kornfeld?“, bemerkte Gartret verwundert, während er das Bild betrachtete.
Malgoth gestikulierte wild, während er sprach: „Das ist jetzt doch völlig egal! Kagor - schnell!“
Der Hüne liess sich nicht lange bitten: Er fasste den Rahmen des Bildes mit beiden Händen und riss es mit einem kräftigen Ruck von der Wand. Kleine Eisenhalterungen wurden mitgerissen und flogen bis an die gegenüberliegende Wand des Korridors. Plötzlich fing ein kleines Glöckchen zu bimmeln an.
Malgoth wurde noch nervöser: „Bei den Göttern – das Bild ist mit einem Alarmmechanismus gesichert gewesen!“
„Vielleicht hättest du mich das Bild zuerst untersuchen lassen sollen“, wandte Gartret ein.
Siliah verzog das Gesicht, sie hasste es zuzusehen, wie Menschen eine Ungeschicklichkeit nach der anderen begingen. „Lasst uns einfach schnell verschwinden! Das mit dem Alarm macht es auch nicht mehr schlimmer - die Wachen werden sowieso bereits auf dem Weg sein.“
Sie rannten den Weg zurück, den sie gekommen waren. Kagor trug das Bild mit dem Rahmen als wäre es bloss ein Karton.
Malgoths kleine Laterne warf tanzende Schatten an die mit seidenem Tuch bespannten Wände.

Da sie auf dem Hinweg bereits alle Hindernisse aus dem Weg geräumt hatten, gelangten sie rasch zu ihrem Einstieg zurück.
Diesmal stieg Kagor als erster hinab. Gleich darauf folgten ihm Malgoth und Siliah. Gartret befestigte das Bild an einem dünnen Seil und liess es zu Kagor herunter.
„Ich hab’ es!“, meldete Kagor. Gartret kletterte ebenfalls zu den Anderen; dann fasste er das Seil und versuchte mit peitschenartigen Bewegungen den Enterhaken oben zu lösen.
„Lass es sein!“, sagte Malgoth ärgerlich, „wenn wir bezahlt werden, dann kannst du dir gleich ein Dutzend Haken kaufen.“
Doch Gartret liess sich nicht beirren; und tatsächlich schaffte er es, den Haken zu lösen und ihn auch noch aufzufangen.
Sie mussten erneut die Mauerkrone über dem Torbogen überqueren. Kagor tat sich diesmal deutlich schwerer, hatte er doch das sperrige Bild zu tragen.
Gerade als sie die Hälfte der Distanz zurückgelegt hatten, ertönte ein wildes Geschrei. Als sie nach unten schauten, sahen sie, wie ein Dutzend Stadtwachen mit gezückten Schwertern und einigen Hunden durch das Tor rannten. Viele von ihnen trugen Fackeln.
Die Diebe wagten sich nicht zu rühren.
Jede einzelne Sekunde verstrich mit quälender Langsamkeit. Hilflos standen die Vier auf der Mauerkrone und hielten den Atem an. Der Schein der Fackeln streifte sie und hob sie mehrere Male gefährlich aus der Dunkelheit.
Doch die Wachen schauten nicht nach oben; sie hielten direkt auf den Haupteingang des Museums zu – die Gefahr zog vorüber.
Malgoth atmete auf: „Noch einmal gut gegangen… Wir brauchen einfach zuviel Glück, um erfolgreich zu sein.“
Siliah nickte: „Das lag mir die ganze Zeit über auf der Zunge. Und eines müsst ihr wissen: Es gibt für eine Elfe nichts Schlimmeres, als der Gedanke an die Gefangenschaft in einem dunklen, feuchten Verliess.“
Sie überquerten die Mauerkrone ganz, kletterten durch ein Dachfenster in das Nebengebäude und hofften, sich endlich in Sicherheit gebracht zu haben.


2. Kapitel: Geheimnisvolle Auftraggeber

Isana hatte sich einen Tag und beinahe eine Nacht lang versteckt gehalten. Noch immer konnte sie kaum fassen, dass Gunar tot war; kaltblütig ermordet von jener furchtbaren Kreatur aus der Gruft. Sie selbst hatte die innige Bitte in den Augen ihres geliebten Freundes verstanden und war geflohen. Nun verbarg sie sich zwischen den Büschen, welche die Flanken des Hügels bedeckte, auf dessen Kuppe sich die Gruft befand. Sie war weit davon entfernt, in Sicherheit zu sein – das spürte sie.
Isana war kalt, sie hatte Angst, und die Trauer um Gunar drohte sie vollends zu lähmen. Ausserdem fühlte sie Scham, ihn so im Stich gelassen zu haben. Gleichzeitig wusste sie aber auch, dass sie ihm nicht mehr hatte helfen können.
Eine Leere machte sich in ihr breit – nie wieder würde sie mit ihrem geliebten Freund zusammen sein. Ihre Gespräche, die Zärtlichkeit zwischen ihnen – alles unwiederbringlich verloren; es war im Moment zuviel, um zu Ende gedacht zu werden.
Nun graute allmählich der Morgen und Isana versuchte all ihren Mut zusammen zu nehmen. Gunar sollte nicht umsonst gestorben sein – das war sie ihm schuldig. Sie musste ihre gemeinsame Aufgabe zu Ende bringen und ihre Auftraggeber warnen. Doch dazu musste sie ihr Lager aufsuchen, welches nahe des Ufers des Weissen Baches lag. Würde man sie dort nicht erwarten?
Langsam stand sie auf und reckte ihre klamm gewordenen Glieder. Vorsichtig schlich sie sich in die Nähe des Lagers, welches sie zusammen aufgebaut hatten. Von weitem sah es verlassen aus. Aber Isana war nicht dumm; wenn man sie wie Gunar töten wollte, dann würde man ihr dort am ehesten auflauern.
Dennoch riskierte sie es. Mit raschen Schritten legte sie die letzte Strecke des Weges zurück. Der Taubenkäfig war noch da und mit zitternden Händen öffnete sie ihn. Sie hatte noch während der Nacht eine Nachricht geschrieben die kurz aber eindeutig war: Schwertmeister Malatein: Unsere schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden. Der alte Feind ist zurückgekehrt. Gunar ist tot – gefallen von der Hand eines jener schrecklicher Wesen, die wir für immer vernichtet hofften.
Rasch nahm Isana eine Taube aus dem Käfig und befestigte die Nachricht. Kaum hatte sie das Tier freigelassen – welches sich sofort mit flatternden Flügelschlägen in den Nachthimmel emporschwang - hörte Isana ein Geräusch in ihrem Rücken. Erschrocken fuhr sie herum; dunkle Gestalten erhoben sich – sie war in eine Falle gelaufen.
Doch sie wollte nicht enden wie Gunar; sie wich zu dem Ufer des Baches zurück und watete rückwärtsgehend in das Wasser hinein. Die Gestalten kamen näher – es gab kein Entkommen mehr.
Isana sah keine andere Möglichkeit: all ihren Mut zusammen nehmend, stürzte sie sich ganz in das Wasser. Augenblicklich erfasste sie die Strömung des weissen Baches mit wilder Kraft. Sie wurde mitgerissen und ihr Körper hart gegen Steine und Felsen geschlagen. Schaffte sie es für eine Weile noch, regelmässig Luft zu schnappen, so erlahmte ihre Kraft schliesslich doch. Sie versuchte so lange es ging ihren Kopf über Wasser zu halten, aber ihr schwer verletzter Körper verweigerte ihr den Dienst. Die weisse Gischt schlug über ihr zusammen: das kalte Wasser umfing vollständig. Isana wusste: das war das Ende. Vielleicht stimmte es ja, was man über die Götter und das Leben nach dem Tode sagte – vielleicht würde sie Gunar wieder sehen.

*****

Die goldgelbe Morgensonne beschien mit sanften Strahlen die Weinstadt Vindara – ein neuer Tag begann. Nicht, dass dies hier eine grosse Bedeutung gehabt hätte; in Vindara war jeder Tag so gut oder so schlecht wie der andere. Die einzige Ausnahme bildete die frivole Zeit des Erntedankfestes einmal im Jahr.
Die Bürger dieser Stadt liebten die Ruhe und die Beschaulichkeit. Die Weinberge in der Nachbarschaft hatten viele Bürger wohlhabend gemacht; und mit dem Wohlstand hatte auch die Bequemlichkeit Einzug gehalten.
Die reicheren Bürger zogen es vor, in ländlich wirkenden Häusern zu wohnen. Und so war Vindara die Stadt der vielen Fachwerkhäuser, zwischen denen sich ein spinnwebenartiges Geflecht von engen Strassen und Gassen spannte. Hier ging man stets über raues Kopfsteinpflaster. Und wer – was hier öfters vorkam – mit einem Wagen oder einer Kutsche etwas zu transportieren hatte, der konnte froh sein, wenn sein Gefährt über eine gute Federung verfügte.
Zwei Bäche flossen durch die Stadt – der Weisse Bach und der Kirschbach; der Letztere war jetzt im Spätsommer nicht mehr als ein besseres Rinnsal. Auch wenn er nie an die ungestüme Kraft des Weissen Baches herankam, so konnte er doch tüchtig anschwellen – immer im Frühling, wenn das Schmelzwasser von den Hügeln herunterkam. Dann konnten durchaus auch weniger glückselige Tage auf die Stadt zukommen; kleinere Überschwemmungen kamen alle paar Jahre vor. Der Weisse Bach hatte allerdings diesbezüglich einen noch weit schlechteren Ruf.

Die Bürger der Stadt erwachten allmählich aus ihrem Schlaf. Fensterläden wurden aufgeschwungen und Decken und Kissen zum Durchlüften auf Simse gehängt.
Die Glocken einiger Tempel begannen zur Morgenandacht zu läuten, aber das kümmerte hier nur Wenige; Bei den meisten Vindarern nahm die Religion einen eher geringen Stellenwert ein.
Nur langsam kam Betrieb auf. Erst wenige Marktfahrer machten sich in ihren von Eseln und Maultieren gezogenen Wagen auf den holprigen Weg zum Marktplatz.

In der Mitte der Stadt – direkt beim Marktplatz - stand das Ratshaus; ebenfalls ein Fachwerkhaus. Aber die vielen Erker an allen Seiten machten auf den besonderen Charakter des Hauses aufmerksam.
In dessen Nähe stand das Museum, welches so gar nicht zu der übrigen Stadt passen wollte. Das erste Stockwerk bestand aus steinernen Arkaden; und auch darüber war wuchtig mit Granitblöcken gebaut worden.

Rund um das Museum waren heute Morgen viele Bewaffnete anzutreffen: Dutzende Wachen waren postiert oder patrouillierten unaufhörlich in der Gegend umher. Doch der ganze Aufwand war umsonst; den Einbruch letzte Nacht hatten sie nicht verhindern können. Und da Vindara keine Stadtmauern besass, waren die Diebe wohl schon längst über alle Berge auf und davon.

*****

Die Morgensonne hatte schon früh durch die zahlreichen Ritzen der alten Scheune geschienen, welche nur etwa eine Meile vor der Stadt lag. Der Geruch des Heus schien jetzt nach Tagesanbruch stärker zu werden und begann einem in der Nase zu kitzeln.

Malgoth mimte den Schlafenden. Er hörte, dass Kagor und Gartret bereits wach waren, aber er wollte noch in Ruhe nachdenken.
Dabei hätte er dafür reichlich Zeit gehabt, hatte er doch kaum ein Auge zugetan. Seine kurzen Beine taten ihm weh, aber das war nicht der Hauptgrund für seine Schlaflosigkeit gewesen: Vielmehr war es die Aufregung, die der letzte Diebstahl hinterlassen hatte, welche sich einfach nicht legen wollte.
Sie waren beinahe erwischt worden! Immer wieder kehrte dieser Gedanke wieder. So konnte es nicht weitergehen. Änderten sie nichts, dann verlor sich ihre Zukunft bald in einem dunklen Verliess – soviel war sicher. Aber was konnten sie tun? Sie waren Diebe und ihr Handwerk brachte Risiken mit sich.
Erst vor einigen Wochen hatten sie sich kennen gelernt; in einer dunkeln Spelunke am Wegesrand auf der Landstrasse zwischen Vindara und dem Bergseeland. Es liess sich kaum eine Unterkunft denken, die dreckiger, ungastlicher und heruntergekommener war. Das Haus - aus Holz gebaut - war mittlerweile morsch und windschief geworden. Am Tage brüteten dunkle Gestalten alleine vor ihrem Bier sitzend und des Nachts johlten und schrieen die Betrunkenen als gäbe es kein Morgen mehr. Hierhin verirrten sich nur wagemutigsten Reisenden, oder jene, die irrigerweise annahmen, sie würden hier sicherer sein als bei einer Übernachtung unter freiem Himmel.
Gartret hatte die Anwesenden im Schankraum angesprochen, hatte gefragt, ob sie helfen würden, ein „Geschäft abzuwickeln“. Die meisten Gäste hatten abgewunken, doch eine Elfe, ein wahrer Riese von einem Mann und er der Zwerg hatten mehr wissen wollen.
So waren Malgoth, Gartet, Siliah und Kagor zu einer kleinen Diebesbande geworden, die gemeinsam ihr Glück versuchte. Malgoth war stolz gewesen, das man ihn als Zwerg nicht gleich abgewiesen hatte – für gewöhnlich traute man ihm wenig bis gar nichts zu. Nach kurzer Zeit war er sogar so etwas wie der Anführer geworden – verstand er doch ein bisschen was von Planung und Taktik. Die Anderen liessen ihn meist gewähren.
Aber so richtig in Schwung war die Sache bislang noch nicht gekommen – dies musste sich Malgoth eingestehen.
Was taugte eine Bande, wenn sich dadurch Erfolgs- und Überlebenschancen nicht mehrten? Es musste eine Lösung her.

Bald sorgte die Sonne im inneren der Scheune für noch mehr Licht; an Schlaf nicht mehr zu denken. Besonders Kagor warf sich immer wieder rastlos auf dem mit Stroh und Heu bedeckten Boden hin und her.
„Was hast du – mein Grosser?“, frage Gartret, während er sich die Augen rieb.
Der Hüne liess nur ein missfallendes Gebrumm verlauten.
„Na, sag schon – was ist?“
Kagor warf sich nochmals auf die andere Seite, dann meinte er: „Ich weiss nicht – es ist dieses Bild. Etwas stimmt damit nicht…“
Siliah, die meditierend im Schneidersitz an der Wand lehnend die ganze Nacht still verharrt hatte schlug die Augen auf: „Über was habt ihr geredet?“
„Ach nichts“, meinte Kagor, „du kannst wieder in deinen Traumzustand fallen. Verbinde dich wieder mit den anderen Elfen und singt in der Traumwelt euer Lied. Kümmere dich nicht um mich.“
Ein Schatten der Traurigkeit huschte über das feingliedrige Gesicht der Elfe: „Es gibt in diesem Teil der Insel keine Elfen – ich bin allein da drüben auf der anderen Seite.“
„Kannst du dich trotzdem erholen?“, fragte Gartret neugierig. Die Art der Elfen wirkte auf die Menschen zugleich fremdartig wie auch faszinierend.
Die Elfe wog den Kopf hin und her: „Ehrlich gesagt – nicht besonders; aber lassen wir das doch. Sagt mir lieber, was ihr so Wichtiges zu besprechen gehabt habt. Ihr weckt noch Malgoth auf.“
„Keine Sorge“, ertönte da die erschöpfte Stimme des Zwerges, „ich bin schon eine ganze Weile wach.“
„Kagor hat nur gemeint, das Bild sei seltsam“, klärte Gartret die Elfe und den Zwerg unnötigerweise auf.
Malgoth reckte sich, dann meinte er: „Ein leerer Stuhl in einem Kornfeld – ein bisschen Recht hat er da schon“, und zu Kagor gewandt: „Aber trotzdem; das muss dich ja nicht um den Schlaf bringen.“
Kagor machte ein säuerliches Gesicht: „Vielleicht hätten wir das Bild dort lassen sollen; ich habe ein ungutes Gefühl.“
„Vergiss nicht“, wandte Malgoth ein „für diesen Stuhl bekommen wir 100 Goldtaler.“
„Wenn alles gut geht“, warf Siliah ein.
Malgoth nickte:“…wenn alles gut geht.“
„Jetzt hört mal zu“, meldete sich Gartret zu Wort, „diesmal ist Atamirenses unser Auftraggeber. Mit ihm haben wir bislang nur gute Erfahrungen gemacht.“
„Wir haben bislang eine gute Erfahrung mit ihm gemacht. Das ist erst unser zweiter Auftrag für ihn“, korrigierte Siliah.
„Ja, ja – stimmt ja alles“, erwiderte Gartret leicht verärgert, „aber was sollen wir tun? Unser Geschäft ist nun einmal mit einem gewissen Risiko verbunden. Und nur wegen eines schlechten Gefühls werden wir die Sache nicht abblasen. Nichts für ungut – mein Grosser – aber ich glaube, du hast nur ein schlechtes Gewissen. Unser Handwerk ist wohl keine einfache Sache für einen ehemaligen Paladin.“
Kagor überlegte einige Sekunden, dann meinte er: „Du hast Recht – ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so enden würde…“
„Hört, hört – wir sind der letzte Abschaum für unseren tapferen Ritter!“, meinte Malgoth mehr belustigt als verärgert.
Kagor tat seine Bemerkung leid: „Nein, das habe ich nicht gemeint… Mit euch habe ich sogar noch Glück im Unglück gehabt. Hoffentlich kann ich bei euch lernen, was ich brauche.“
„Wir sind ja auch wahre Experten auf unserem Gebiet“, meinte Siliah ziemlich spöttisch.
„Immerhin haben wir das Bild“, verteidigte Gartret die Fähigkeiten der Gruppe.
„Ein Bild, welches Kagor offenbar nicht gefällt“, rief Malgoth in Erinnerung.
„Es kündet von etwas Unheilvollem – glaubt mir.“
„Ich finde, es sieht ganz und gar harmlos aus. Es ist bloss eine leerer Stuhl, welches in einem Kornfeld steht“, meinte Gartret hingegen.
Die Elfe war sich nicht sicher: „Ich weiss nicht; Obwohl Kagor nicht so aussieht, ist er recht sensibel und hat für gewöhnlich feine Sinne; gut möglich also, dass er eine Gefahr heraufziehen sieht, wo wir noch gar nichts sehen.“
Der Zwerg sprang auf seine kurzen Beine: „Grämt euch nicht – das Bild wird nicht mehr lange in unserem Besitz sein. Wenn Atamirenses pünktlich ist, dann wird er jeden Augenblick aufkreuzen.“
„Diesen aufgedonnerte Schönling kann ich überhaupt nicht leiden“, bemerkte die Elfe.
„Aber du liebst seinen Geldbeutel – so wie wir alle“, entgegnete Malgoth streng. „Ausserdem ist da noch etwas Anderes, über das wir sprechen sollten“, fuhr der Zwerg in sanfterem Tonfall fort.
„Und das wäre?“, fragte Gartret.
„Ich habe das Gefühl… ich meine…“, rang Malgoth nach Worten, „ich denke wir sind noch nicht am Maximum dessen angelangt, was wir als Truppe leisten könnten.“
„Das sehe ich auch so“, pflichtete Siliah bei.
„Zielst du auf jemanden bestimmtes mit deiner Kritik?“, fragte Gartret lauernd.
„Nein – ich meine uns alle damit. Ich habe bei der Erkundung bei Tage das Gittertor übersehen, welches uns dann unnötig aufgehalten hat. Ich denke nur, wir alle könnten uns noch steigern. Schliesslich wollen wir alle im Geschäft bleiben und nicht frühzeitig in einem Kerker enden.“
„Und was schlägst du also vor?“, fragte Gartret etwas entspannter.
„Ich weiss nicht… Ich warte noch auf die richtige Idee. Vielleicht fällt mir noch etwas ein.“
Gartret seufzte, dann meinte er: “Hör mal zu – Malgoth: keiner von uns hatte sich als Kind gewünscht, einmal Dieb zu werden. Wir alle sind doch aus irgendeiner Not heraus beisammen. Ich selbst wäre liebend gerne bei meiner Schauspieltruppe geblieben. Damals musste ich nur mit Gelegenheitsdiebstählen die Kasse etwas aufbessern. Aber es ist am Ende nicht gut gegangen und nun bin ich hier. Zusammen sind unsere Chancen bedeutend besser als alleine.“
„Das bestreitet auch niemand“, meinte Siliah, „aber Malgoth hat schon recht: Wir könnten besser sein.“
„Tut mir leid, dass wir nicht mit dir mithalten können – kleine Elfe.“
„Komm – werd’ jetzt nicht grantig“, bat Malgoth „Ich wollte doch nur sagen, dass wir vielleicht…“
„Seid mal still! Da kommt jemand!“, unterbrach Siliah. Die Elfe, Gartret und Kagor erhoben sich; Letzterer zog sogar sein grosses Schwert.
Sie schmiegten sich an die Wände aus alten Brettern und spähten hinaus.
„Da, von Westen kommt jemand“, meldete Kagor. Sie begaben sich alle an die westliche Wand, wo auch das Scheunentor lag.
„Es ist Atamirenses“, gab Siliah erleichtert bekannt, doch dann schwand ihre Erleichterung sogleich wieder: „Er hat ein paar bewaffnete Kerle bei sich.“
„Verdammt!“, fluchte Malgoth, „was soll das?“,
„Sie kommen näher!“
Jetzt sahen die Anderen die Herannahenden ebenfalls: An der Spitze ging ein äusserst elegant gekleideter Mann mit einem schön gepflegten schwarzen Schnurbart. Gleich dahinter bewegten sich geduckt einige Waffenknechte, die mit Morgensternen und Äxten bewaffnet waren.
„Das sieht nicht gut aus – das sind ganz schön viele.“, murmelt Kagor besorgt.
Malgoth kaute nervös an seiner Unterlippe, dann fasste er einen plötzlichen Entschluss: Er ging zum Scheunentor, öffnete dieses ein wenig und schlüpfte durch den Spalt. „Hallo Atamirenses!“, rief Malgoth draussen, während er theatralisch die Arme ausbreitete. „Komm her – es ist alles in Ordnung!“
„Was tut der Dummkopf da!“, fragte Siliah ungehalten.
„Er riskiert etwas“, meinte Gartret nur.
„Hoffentlich geht das gut“, bangte Kagor und wollte ebenfalls nach draussen.
Doch Gartret legte ihm die Hand auf die Schulter: „Warte noch! Dich werden sie als Bedrohung betrachten – gib Malgoth etwas Zeit. Vielleicht kann er die Sache friedlich lösen.“
„Es sieht nicht so aus“, meinte die Elfe dagegen.
Tatsächlich kamen die Knechte mit ihren Waffen vorsichtig näher. Atamirenses liess sich etwas zurückfallen.
„Was soll das?“, rief der Zwerg Atamirenses entgegen, „ist das eine Art, alte Freunde zu begrüssen?“
Der gut gekleidete Mann schaute misstrauisch umher – offenbar schienen ihm auch all die bewaffneten Getreuen kein Gefühl der Sicherheit zu geben.
„Nun sag schon – was soll das?“ Aus Malgoths Stimme liess sich nun ganz deutlich Furcht vernehmen.
Die Waffenknechte hielten an – es sah so aus, als wollten sie eben einen Sturmangriff wagen. Da wandte sich Atamirenses endlich Malgoth zu: „Seid ihr allein?“
„Natürlich sind wir allein!“ Der Zwerg versuchte natürlich und unbeschwert zu klingen, aber es gelang ihm ganz und gar nicht. Seine Stimme zitterte.
Wieder schaute Atamirenses sich um. Dann: „Ich hätte schwören können, dass ihr erwischt worden seid – seid ihr nicht?“
„Aber nein – und dein Bild haben wir auch! Ich gebe zu, es hat da einige Probleme gegeben; aber wie du siehst, haben wir es bis hierher geschafft.“
Atamirenses schien noch immer nicht überzeugt: „Und ihr seid keinen Handel mit den Wachen der Stadt eingegangen? Kein ’Ihr beschafft uns euren Auftragsgeber, dafür lassen wir euch laufen’?“
„Atamirenses – wo denkst du hin? Glaubst du, wir lassen uns erwischen?“ Malgoth drehte sich um. „Sieh her, da sind wir – vollzählig und ohne Wachen; und mit deinem Bild!“
Kagor verstand das Zeichen, steckte das Schwert weg und öffnete langsam das Scheunentor. Der Hüne trat hinaus und Siliah und Gartret taten es ihm gleich, während sie das Bild mit sich trugen. Augenblicklich entspannte sich die Stimmung.
„Es... Es scheint tatsächlich alles in Ordnung zu sein“, war nun Atamirenses ziemlich überzeugt. Die Waffenknechte schauten sich kurz an, dann steckten sie ihre Waffen weg.
„Es hat letzte Nacht nur einen fürchterlichen Radau gegeben – und da habe ich gedacht…“, der elegant gekleidete Mann machte eine wegwerfende Handbewegung, „na, ja – ist nicht so wichtig.“ Er begrüsste die vier Diebe jetzt mit einem einnehmenden Lächeln auf den Lippen - der Rest der Anspannung schwand vollends. „Und nun lasst mich mal euren Fang bewundern“, meinte er dann, während er das Gemälde genauer in Augenschein nahm.
„Es hat uns mehr Mühe gekostet als wir angenommen hatten“, hob Malgoth hervor, während ihr Auftragsgeber noch jedes Detail des Bildes prüfte.
„Ja – das bezweifle ich nicht. Das Bild ist zudem unbeschädigt – gute Arbeit. Wie habt ihr es aus dem Museum herausbekommen?“
„Das ist leider ein Berufsgeheimnis“, antwortete Malgoth wichtigtuerisch.
Atamirenses lachte. „Aber natürlich doch!“ Dann griff er sich an den Gürtel, löste einen Beutel und warf ihn Malgoth zu. „Hier sind 100 Goldtaler und zehn dazu – schliesslich ist die Insel klein und man trifft sich bestimmt mal wieder …“
Gartret, Malgoth und Siliah lächelten und waren erleichtert – sie waren nicht angegriffen und erst noch bezahlt worden; alles schien sich zum Guten zu wenden.
Doch Kagor trat vor und schaute das Bild und danach Atamirenses an, dann meinte er: „Weisst du, was das für ein Bild ist? Was ist das für ein leerer Stuhl – was soll das?“
Atamirenses strich sich seinen Schnurbart; eine solche Frage hatte er nicht erwartet. „Tja, was soll ich sagen… Obwohl ich ein eifriger Sammler bin, ist das Bild ehrlich gesagt nicht für mich bestimmt. Aber ich verspreche euch: ich bekomme bei diesem Geschäft nur eine ganz bescheidene Provision.“
„Darum geht es nicht“, stellte Kagor klar.
„Beantworte doch einfach seine Frage!“, forderte Siliah.
„Ist diese Elfe immer noch bei euch?“, fragte Atamirenses, und an Malgoth und Gartret gewandt, „ich habe euch schon letztes Mal gesagt; ihr solltet ihr ein wenig Manieren beibringen – das hier ist nicht der Wald.“
Siliah liess sich nicht beirren: „Du lenkst vom Thema ab.“
Atamirenses schien sich eine Weile zu besinnen, dann wandte er sich an die Diebe: „Also gut – ich werde euch sagen, was ich weiss; auch wenn es nicht viel ist und euch eigentlich nichts angeht. Aber um des lieben Friedens willen, sollt ihr das Wenige hören: Den Leuten, denen ich dieses Bild geben werde, werdet ihr selbst bei helllichtem Tage nicht begegnen wollen. Und sie sind mindestens so seltsam wie sie unheimlich sind.“
„Wovon sprichst du – Atamirenses?“, frage Gartret verwundert.
„Es ist einfach so… Eigentlich wäre es besser, ich würde euch das gar nicht erzählen. Aber es belastet mich und vielleicht kann ich einen Teil der Last an euch abgeben, wenn ich spreche. Also: Diese Leute sind mir bisher nur in schwarzen Umhängen aus Samt begegnet; und sie alle tragen Masken aus poliertem Silber, welche ihre Gesichter vollständig unkenntlich machen.“
„Aber es sind doch Menschen?“, fragte Kagor.
Atamirenses wand sich: „Vermutlich ja – was weiss ich denn! Sie reden seltsames Zeug, drohen plötzlich, sind dann aber wieder ganz freundlich und spendabel. Irgendetwas geht von ihnen aus, etwas… ich weiss nicht… kaltes, ungesundes.“
„Aber sie sind spendabel“, hakte Malgoth nach.
„Das sind sie in der Tat – keine Frage.“
Der Zwerg liess nicht locker: „Und du stehst mit ihnen in Verbindung?“
„Ja und nein – sind auf einmal plötzlich da. In dunklen Gassen und Ecken erscheinen sie wie Gespenster – es ist schwierig für mich, Ruhe zu finden. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre ihnen nie begegnet.“
„Aber ihre Taler sind echt.“
„Ja, Malgoth – das sind sie, aber oft habe ich das Gefühl, ich würde nicht nur mit Diebesgut dafür zahlen. Aber wenn ihr erst mal mit diesen Leuten angefangen habt, dann gibt es kein Zurück mehr.“
„Wieso wollen sie ausgerechnet dieses Bild – was hat es damit auf sich?“, frage Kagor unbeirrt.
„Ach, lass uns doch von was anderem reden“, meinte Atamirenses, dem das Thema unangenehm zu berühren schien.
„Du hast versprochen, uns zu antworten“, beharrte Siliah.
Atamirenses stiess einen unverständlichen Fluch oder eine Beschimpfung aus; er schien das Missfallen der Elfe ihm gegenüber voll und ganz zu erwidern.
Atamirenses liess eine paar Sekunden verstreichen und antwortete dann: „Dieser leere Stuhl ist ein Symbol; wie das ganze Bild vor Symbolen nur so strotzt. Ich weiss nicht viel und habe nur Bruchstückhaft mitbekommen, wieso diesen Maskenträgern so viel an diesem Bild liegt. Der leere Stuhl jedenfalls ist ein Symbol des Wartens.“
„Ein Stuhl ist ein Symbol des Wartens? Was für ein Unsinn!“, ereiferte sich die Elfe.
„Lass ihn doch ausreden - Siliah“, bat Kagor.
„Es ist kein Unsinn!“, beharrte Atamirenses. „Es ist das Symbol des Wartens auf eine Person. Doch es wird nicht immer so sein – jemand wird Platz nehmen; Davon sind die Silbertränen überzeugt.“
„Die Silbertränen?“, hakte Siliah nach.
„Was weiss ich schon? So nennen sie sich nun mal!“
„Wenn es dir doch so unangenehm ist, mit diesen Leuten zusammenzuarbeiten, wieso tust du es dennoch“, fragte Malgoth.
Atamirenses seufzte, warf seinen Waffenknechten einen Blick zu, die schon bereits zum Aufbruch drängten und antwortete dann: „Sie zahlen vorzüglich – wie doch schon gesagt.“
„Also nichts von wegen ‚kleiner Provision’“
Der Hehler machte eine wegwerfende Handbewegung: „Ach – wieso sollte ich euch anlügen; die Silbertränen bezahlen mich so gut wie niemand sonst. Sie mögen unheimlich und äusserst unangenehm sein, aber zwei- drei Aufträge und ich kann meinen Beruf an den Nagel hängen.“
Malgoth liess ein paar Sekunden verstreichen, dann stellte er die Frage, die ihm schon längst auf der Zunge lag: „Wo können wir diese Silbertränen finden?“
Atamirenses überlegte was er sagen sollte: „Ich weiss nicht, ob das eine gute Idee ist…“
„Komm schon“, versuchte Gartret nachzuhelfen, „immerhin haben wir ihnen das Bild besorgt. Sie werden vielleicht froh sein, unsere Bekanntschaft zu machen.“
Der elegant gekleidete Hehler verschränkte seine Arme: „Ihr habt mir vielleicht nicht zugehört – mit diesen Leuten ist nicht zu spassen. Ihr solltet besser die Finger davon lassen.“
Gartret liess nicht locker: „Nach ein- oder zwei Aufträgen willst du sowieso deinen Beruf aufgeben – das hast du selbst gesagt. Wo wäre also dein Schaden, wenn du uns mit ihnen bekanntmachen würdest?“
Atamirenses presste die Lippen aufeinander, dann meinte er: „Also gut – ganz wie ihr wollt. Aber kommt nicht zu mir gerannt, wenn euch die Sache über den Kopf wächst. Ich sage euch nur soviel: im Süden von Vindara liegt ein uralte Gruft– geht einfach dem weissen Bach entlang. Ich glaube, sie wurde zu Ehren eines Feldherrn errichtet, dessen Name schon längst in Vergessenheit geraten ist. Dort halten sie sich manchmal auf – glaube ich jedenfalls. Auf alle Fälle haben sie mich einmal dorthin bestellt. Ihr könnt es nicht verfehlen; es gibt da nur Hügel, den Bach und die alte Strasse – mehr ist da nicht.“
Malgoth lächelte: „Danke, das werden wir dir hoch anrechnen; du hast uns sehr geholfen.“
Atamirenses machte nur einen ärgerlichen Laut und gab seinen Waffenknechten ein Zeichen. Diese hoben das Bild an und der kleine Trupp zog langsam davon.
Atamirenses drehte sich noch einmal um: „Merkt euch meine Worte: Wer sich mit diesen Leuten einlässt, der muss um seine Seele fürchten!“ Mit seinem Zeigefinger wies er auf die Vier: „Die Sache wird für euch nicht gut ausgehen – das habe ich im Gespür!“

Der Morgen war bereits vorbei. Die Sonne spendete schon ordentlich Wärme. Da aber immer wieder eine leichte Brise aufkam, war die Wärme nicht drückend. Die Scheune war von Kornfeldern umgeben, welche von einzelnen Bäumen durchsetzt waren. Ein paar Vögel flatterten aufgeregt umher. Der Wind spielte mit den schweren Ähren des Kornes. Hinter ihnen knarrte das halboffene Scheunentor langsam Hin und Her.

Die Vier Diebe schauten sich an und sagten lange Zeit kein Wort. Sie waren an einem Scheideweg angelangt und sie alle wussten es. Fragen, Ängste und Hoffnungen schwirrten ihnen im Kopf herum.

Die Elfe fasste sich als Erste wieder. Sie seufzte und sagte: „Wir müssen darüber abstimmen.“


3. Kapitel: Zu Besuch beim alten Meisterdieb

Der alte Mann streckte seine Füsse, die er auf einem Hocker vor seinem Stuhl platziert hatte. Es war wunderbar schattig hier auf der Veranda vor seinem Holzhaus.
Er verliess sein Haus nicht mehr oft. Zwar war es nicht weit bis zur Stadt, und er fühlte sich durchaus noch rüstig genug, um mit dem städtischen Treiben mitzuhalten, aber die Lust darauf war ihm gänzlich abhanden gekommen. Er hatte einfach genug gesehen – eine weitere Inspektion der Menschen und ihrer Marotten erschien ihm ganz und gar unnötig.
Der alte Mann befühlte seine Falten im Gesicht; ganz gemächlich eine nach der anderen.
Belustigt nahm er zur Kenntnis, wie sich das anfühlte: Wie altes Leder, kaum mehr Gefühl in den Wangen, harte borstige Stoppeln. Er lächelte; seine Gedanken entschwebten und fielen in sanfte Wogen von langsam wechselnden Erinnerungen. Er dachte zurück, wie sein Gesicht liebkost und geschlagen worden war; wie Wind und Wetter seine Haut bearbeitet hatten. Mit den Jahren war sein Gesicht vom Leben zu dem geformt worden, was es heute war. Bei den Göttern, damit hatte er seinen Frieden gemacht! Nicht mehr lange und diesem Kunstwerk seiner selbst würde der letzte Schliff verpasst werden. Dann würde dem Leben Hammer und Meissel einstweilen aus der Hand genommen.
So dem Leben nachsinnend – und den Dingen darüber hinaus – begann der alte Mann langsam einzudösen.

Doch gerade als seine Augen endgültig zuzufallen drohten, schreckte ihn etwas auf: Der Ruf einer Eule rüttelten die Sinne des alten Mannes wieder wach. Er war es, der diese Eule jeden Tag fütterte, der sie gelehrt hatte, bestimmte Dinge und Ereignisse zu ignorieren und andere nicht. Diese Eule war sein erstes Alarmsystem.
Der alte Mann horchte weiter. Er schien ein weiteres Geräusch zu erwarten. Doch es blieb still.
Aber dies konnte das Misstrauen des alten Mannes nicht zerstreuen; ganz im Gegenteil. Eine plötzliche Veränderung ging mit ihm vor. Er sprang auf und nahm einen Säbel an sich, der hinter seinem Stuhl versteckt gewesen war. Dann verliess er die Veranda und begab sich in den Schatten eines nahen Baumes. Hier wartete der alte Mann. Und während er wartete, schien er mehr und mehr mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Das Knarren der Äste der Bäume, das leise Rascheln der Blätter und das leise aber emsige Treiben der Insekten im Gras – alles schien sich mit ihm zu vermengen; am Ende war er ganz eins mit seiner Umgebung und beinahe unsichtbar.

„Wir sollten auf der Hut sein“, warnte Malgoth, während er mit den Anderen durch den lichten Wald stapfte, „dieser Stolperdraht, den Gartret gefunden hat, bedeutet nichts Gutes.“
„Er ist entschärft“, beruhigte Gartret, „von ihm droht keine Gefahr mehr.“
„Da ist das Haus“, meinte Siliah, „hoffentlich lebt eure Legende noch. Zum Glück ist Atamirenses so redselig. Schon bei unserem ersten Zusammentreffen hat er uns den Standort des alten Mannes preisgegeben.“
Kagor schüttelte den Kopf: „Die ganze Sache gefällt mir immer noch nicht – wir sollten es bleiben lassen. Es ist nicht gut, die Warnungen von Atamirenses einfach so in den Wind zu schlagen.“
Malgoth versuchte dem Hünen den Arm um die Schultern zu legen, was ihm aber nicht gelang: „Hör auf zu hadern und nimm es wie ein Mann – du hast die Abstimmung verloren.“
„Zwei Ja-Stimmen, eine Enthaltung und eine Nein-Stimme“, bestätigte Gartret, „wir werden die Silbertränen aufsuchen.“
„Vergesst aber nicht, womit ihr meine Enthaltung erkauft habt“, rief Siliah in Erinnerung, „ich habe keine Lust, mit euch ins offene Messer zu laufen.
„Ja, ja – gerade deshalb sind wir ja hier“, erwiderte Malgoth leicht verärgert.
„Eine tolles Haus und eine wirklich schöne Veranda – hier lässt es sich sicher gut leben“, meinte Gartret zu dem Haus, welches nun unmittelbar vor ihnen lag.
Sie wollten gerade das letzte Stück des Weges zurücklegen, da blieb Siliah plötzlich stehen: „Da stimmt was nicht!“
„Noch mehr Stolperdrähte?“, fragte Malgoth.
„Nein, schaut zu dem Baum hin da drüben.“
Gartret beschattete die Augen mit der Hand: „Da ist nichts.“
„Und ob da was ist“, entgegnete die Elfe, „da versteckt sich jemand!“
„Wo denn“, auch Kagor sah nichts. Malgoth erging es nicht besser.
Als sie alle angestrengt in dieselbe Richtung sahen, geschah dort etwas höchst Seltsames: Ein alter Mann trat da scheinbar aus dem Nichts heraus.
Gartret war starr vor Staunen: „Wie ist das möglich…?“
Der alte Mann hielt einen Säbel vor sich; und er trug ihn auf eine Weise, die grosse Übung und grosses Geschick vermuten liessen.
„Wir sollten verhandeln“, meinte Kagor, während er seine Waffe zog.
Der alte Mann blieb kurz ausser Angriffsreichweite stehen: „So habt ihr mich also entdeckt - ihr habt eine Elfe dabei! Und ich dachte schon, ich sei ausser Übung gekommen.“
„Bist du Alisan; jener Mann, den man die ‚goldene Hand’ nennt?“, fragte Malgoth.
„Ich war ‚die goldene Hand’“, bestätigte der alte Mann, „aber das ist viele Jahre her. Ist denn noch immer ein Kopfgeld auf mich ausgeschrieben?“
„Ich vermute ja, aber deshalb sind wir nicht gekommen“, erwiderte Malgoth.
„Nicht deswegen? Aber wieso dann?“
Malgoth schaute Siliah an und diese antwortete an seiner Stelle: „wir wollen von dir lernen.“
Alisan schaute verblüfft drein, dann fing er kurz zu lachen an, hörte aber rasch wieder auf: „Ich soll euch lehren? Wie seid ihr nur auf diesen Gedanken gekommen?“
„Ganz einfach - du bist der beste Dieb, der noch lebt“, erwiderte Gartret.
Alisan schaute seinen Säbel an, dann senkte er diesen langsam. „Und könnt ihr mir einen Grund verraten, wieso ich dies für euch tun sollte?“
„Wir haben bei einem Auftrag kürzlich etwas Geld eingenommen“, sagte Kagor, „den grössten Teil würden wir dir überlassen. Es handelt sich immerhin um einhundert Goldtaler.“
„Einhundert Goldtaler… eine ganz hübsche Summe.“ Der alte Mann überlegte und meinte dann: „Das liesse sich einrichten, aber über die Bezahlung müssen wir noch reden.“
„Wir haben nicht mehr Geld; den Rest unserer Einnahmen haben wir bereits ausgegeben“, gab Malgoth zu verstehen.
Der Meisterdieb betrachtete die vier Neuankömmlinge von oben bis unten. Er strich sich über die Wangen und meinte dann listig: „Dann lasst es uns auf folgende Weise regeln: Wenn ihr mir nicht mehr Geld geben könnt, dann müsst ihr den Rest eben auf andere Weise abbezahlen.“
„Und wie soll das geschehen“, fragte Siliah misstrauisch geworden.
„Ihr müsst Jemanden für mich töten.“
Die Vier waren so verblüfft, dass sie eine Weile gar nichts sagten.
„Was ist los – hat es euch die Sprache verschlagen.“
Malgoth räusperte sich und begann dann bedächtig: „Hör mal zu – Alisan: Was du da vorschlägst… Ich meine, wir sind Diebe, keine Mörder.“
Kagor nickte: „Unser Motto lautet ‚alles ausser Mord’ – wir tun so etwas nicht.“
Alisan lachte heiser: „Ideale! Wie schön für euch! Aber Ideale machen euch weder satt noch erlauben sie es euch, euer volles Potential auszuschöpfen. Ihr müsst euch entscheiden.“
„Und es gibt keine andere Art von Bezahlung, die du akzeptieren würdest?“, fragte Gartret, obwohl er die Antwort bereits kannte.
Alisan schüttelte den Kopf.
„Nur mal angenommen, wir würden unsere Grundsätze über Bord werfen und uns darauf einlassen“, fühlte Malgoth vorsichtig auf den Zahn, „wen müssten wir da genau ins Jenseits befördern?“
Siliah und Kagor schauten Malgoth empört an, sagten jedoch nichts.
„Es handelt sich um den Sekretär der Stadt – er hat mir sein Leben lang nur Ärger eingebrockt. Zu gerne würde ich sein Ableben aus der Ferne mitverfolgen. Versteht mich nicht falsch – ich könnte es auch selbst tun…“
„Und warum willst du uns dann die Drecksarbeit aufbürden?“, fragte Siliah mit aufkeimendem Zorn in der Stimme.
„Ganz einfach: Mein Leben hier ist friedlich und geruhsam. Ich bin nicht so dumm, dies alles aus Rache aufs Spiel zu setzen. Aber da sich jetzt die Gelegenheit ergibt, die Sache von Anderen regeln zu lassen... Wieso nicht?“
Siliah wollte etwas Unschönes erwidern, wurde jedoch von Malgoth unterbrochen. „Wir müssen uns besprechen – unter uns.“
Alisan lachte wieder: „Tut das! Aber braucht nicht zu lange, sonst könnte sich der Preis womöglich noch erhöhen.“
Die Vier zogen sich ausser Hörweite zurück.
„Ich werde dem auf keinen Fall zustimmen!“, meinte Siliah heftig. „Wir sollten gehen und den alten Gauner hier verrotten lassen!“
„Du warst es ursprünglich doch, die verlangt hat, dass wir unsere Fähigkeiten verbessern sollten“, warf Gartret ein.
Die Elfe beruhigte sich etwas: „Und das sollten wir auch tun. Es fragt sich nur, wie hoch der Preis dafür sein darf. Ich billige ja, dass wir eines Tages jemanden aus Notwehr umbringen müssen, oder vielleicht auch nur, um unsere Flucht zu ermöglichen. Aber ein Mord auf Auftrag – da mach ich nicht mit!“
„Ich stimme Siliah voll und ganz zu“, teilte Kagor mit.
„Na schön, na gut“, beruhigte Malgoth, „wir müssen einen andere Lösung finden.“ Der Zwerg überlegte einen Augenblick dann fuhr er fort: „Wie wäre es damit: Wir stimmen zum Schein zu, lassen uns ausbilden und versuchen dann irgendwie den alten Mann auszutricksen.“
„Und wie, wenn ich fragen darf?“, meinte Gartret dazu, „Alisan ist schliesslich nicht irgendwer – er ist in unseren Kreisen auf der ganzen Insel bekannt. Er wird auf der Hut sein.“
„Uns fällt schon etwas ein“, gab sich Malgoth hoffnungsfroh, „schliesslich werden wir bis dahin eine Menge gelernt haben.“
„Wenn es so funktioniert, dann bin ich einverstanden“, stimmte Kagor zu.
Siliah zögerte, dann meinte sie: „Dein Vorschlag klingt zwar nicht sonderlich schlau, aber mir fällt ehrlich gesagt auch nichts Besseres ein.“
Nur Gartret schien mit Malgoths Plan gar nicht glücklich zu sein: „Das wird nicht funktionieren; Alisan wird viel eher uns aufs Kreuz legen, als wir ihn – glaubt mir das einfach.“
„Vielleicht wird es für die ‚goldene Hand’ endlich Zeit, dass er mal den Kürzeren zieht“, sagte Siliah.
Malgoth nickte: „Wenn wir uns danach mit diesen Silbertränen einlassen wollen, dann sollten wir einer solchen Aufgabe gewachsen sein.“
Gartret hob sich ergebend die Hände: „Also gut: wenn alle von diesem so genannten Plan so begeistert sind, dann versuchen wir es eben.“
Malgoth ballte beide Fäuste: „Dann machen wir es so.“

„Alisan – wir stimmen zu.“
„Eine weise Entscheidung – Zwerg“, gab der alte Dieb zurück.
„Aber wir stellen eine Bedingung.“
„Und die wäre?“
Malgoth liess etwas Zeit verstreichen, dann hob er an: „Wir werden den Sekretär erst um die Ecke bringen, wenn du uns ausgebildet hast. Wir wollen die Sache gut über die Bühne bringen; und im Moment haben wir keinerlei Erfahrung mit solchen Dingen.“
Alisan lächelte: „Einverstanden – das sehe ich ein. Ich möchte nicht, dass ihr erwischt werdet – dies würde auch mich in Gefahr bringen.“
Malgoth, Siliah, Kagor und Gartret fiel es schwer, ihre Erleichterung zu verbergen.
Doch der alte Dieb hob drohend den Zeigefinger: „Aber merkt euch eines: Wenn ich ein Motto hätte, dann würde es lauten: ‚Erreiche deine Ziele’ Und bei den Göttern, genau daran werde ich mich halten!“

Was nun folgte, waren die wohl anstrengendsten Wochen im Leben der Vier; vor allem aber war es sicherlich ihre lehrreichste Zeit. Was der alte Mann an Wissen, Tricks und Kniffe aus seinem Repertoire hervorzauberte, war über alle Massen erstaunlich. Ihnen allen brachte er das Schleichen und das Verstecken und viele Techniken, sich möglichst unauffällig zu verhalten bei.
Von einer geradezu unheimlichen Energie beseelt, lehrte er seine neuen Schüler von früh bis spät. Dabei brachte er nicht etwa allen alles bei, sondern er unterrichtete oft nur Denjenigen, bei dem er das Gefühl hatte, dass das Wissen am Besten zur Anwendung gelangen könne.

Früh morgens – als es draussen noch kühl war - weckte er meistens Kagor als erstes. Am ersten Tag befahl er dem Hünen seine Waffe zu ziehen.
„Ein schönes Schwert – oder sagen wir besser: eine gute Waffe für einen Paladin“, meinte Alisan, während er den Zweihänder betrachtete. „Kannst du auch damit umgehen?“
Als Antwort zerschnitt Kagor mit einigen mächtigen Hieben die Luft vor ihm.
„Oh – nicht schlecht! Damit hättest du einen Kerl glatt in zwei geschnitten!“
Alisan umkreiste Kagor langsam, dieser blieb stehen, den Zweihänder noch immer kampfbereit erhoben.
„Du hast eine militärische Ausbildung genossen – nicht war?“
Kagor wollte nicht mit Alisan über seine Vergangenheit als Paladin reden, darum versuchte er so allgemein wie möglich zu bleiben: „In der Tat – das habe ich.“
„Ja - man sieht es deutlich. Deine Haltung – sehr lehrbuchmässig! In einer Schlacht würdest du dich sicher sehr gut machen. Aber das Leben ist keine Schlacht – es ist eher ein chaotisches Scharmützel im Dämmerlicht. Sieh her!“ Alisan, befand sich gerade im Rücken des Hünen. Mit einer blitzschnellen Bewegung zog er seinen Säbel und schlug seitlich mit aller Macht auf Kagors Schwert – gleich knapp oberhalb des Heftes. Der Zweihänder wurde dem Hünen auf den Händen geschleudert und landete unweit im Gras.
„Das war doch nur ein fauler Trick“, beschwerte sich Kagor während er seine Waffe wieder auflas, „einem wirklichen Gegner würde ich nie den Rücken zuwenden.“
„Vielleicht hast du Recht, aber du weisst nicht immer, ob sich ein Gegner hinter deinem Rücken befindet.“
„Was soll ich daraus lernen?“, fragte Kagor leicht verärgert.
„Hör mir zu – auf etwas musst du dich gefasst machen: einen Kerl wie dich werden die Meisten nicht offen angreifen. Also werden sie andere Wege wählen – und darauf solltest du dich vorbereiten.“
„Und wie soll ich das deiner Meinung nach tun?“
„Du solltest zum Beispiel deine Waffe wechseln. Sieh her: was immer du vorher gewesen bist - jetzt bist du ein Dieb. Und es ist als Dieb unwahrscheinlich, dass man einen schwer gepanzerten Reiter aus dem Sattel heben muss. Deshalb ist ein Zweihänder in deinem jetzigen Beruf die falsche Waffe.“
Kagor betrachtete seinen Zweihänder; der Gedanke, mit einer anderen Waffe zu kämpfen, gefiel ihm nicht. Dennoch musste er zugeben, dass an Alisans Worten etwas dran war. „Und was für eine Art Waffe würdest du mir vorschlagen?“
„Da – nimm meinen Säbel!“
Alisan warf Kagor seinen Säbel zu, dieser liess mit einer Hand sein Schwert los und fing damit die Waffe des alten Diebes auf. Der Säbel wog viel leichter und lag dem Hünen fast wie ein Spielzeug in der Hand.
„Ich weiss, aller anfang ist schwer“, munterte Alisan Kagor auf, als er dessen skeptischen Gesichtsausdruck sah, „aber versuche es doch einfach mal!“
Kagor rammte seinen Zweihänder in den Boden und wandte sich nun ganz dem Säbel zu. Er vollführte ein paar eher ungelenke Streiche und meinte dann: „Und was soll ich mit der anderen Hand tun, während ich kämpfe?“
„Damit sorgst du für das Überraschungsmoment. Aber dazu kommen wir noch – ganz am Schluss. Zuerst aber bringe ich dir die Grundkenntnisse bei. Und wenn du am Ende einsiehst, dass der Säbel für dich die bessere Waffe ist, dann kannst du ihn gegen dein Paladinschwert eintauschen. Ich weiss, Paladinschwerter sind teuer. Aber dies ist ein ganz besonderer Säbel – das wirst du noch herausfinden.“

Gegen Vormittag pflegte Alisan meist Gartret zu unterrichten. Diesen nahm er jeweils mit in seinen Keller, der erstaunlich gross war und aus mehreren Räumen bestand. In einem dieser Räume gab es eine Unmenge an Schlössern, Truhen, Fallen, Alarmsysteme, und Türen, nach deren Öffnen man bloss auf eine nackte Wand sehen konnte. Dazwischen gab es auch viele Gerätschaften und Anlagen, deren Sinn sich dem Betrachter sich nicht so recht erschliessen wollte.
„Hier, in diesem Raum, wird dein Training stattfinden“, gab Alisan bekannt.
„Schlösser öffnen kann ich bereits“, meinte Gartret dazu.
Alisan lachte heiser: „Ja – kannst du das? Aber bist du auch schnell genug? Kannst du auch Schlösser öffnen, die ausnahmsweise nicht von Idioten konstruiert wurden?“
„Wir werden sehen“, Gartret zog seinen Mantel aus und spreizte kampfeslustig die Finger.
Alisan nickte: „Ja, wir werden sehen – fang mit diesem Schloss an.“ Der alte Dieb zeigte auf das Schloss einer alten Tür.
Gartret holte sein Werkzeug hervor, kniete vor dem Schloss nieder und machte sich sofort daran zu schaffen. Bald knackte es. Gartret stand befriedigt auf. „Ich bin fertig.“
Alisan lachte: „Dann mach also jetzt die Tür auf!“
Gartret zog die Klinke doch die Tür liess sich nicht öffnen. „Was soll das, ich habe das Schloss doch geknackt!“
„Ja, das hast du – und in diesem Fall ist das ein Fehler gewesen. Dies hier ist ein so genanntes Doppelschloss. Siehst du nicht, dass das Schloss seltsam weit aus der Tür ragt? Hinter diesem relativ einfachen Schloss befindet sich ein weiteres. Und dieses hättest du knacken sollen! Doch wer das erste Schloss knackt, der löst einen Mechanismus aus, der das zweite Schloss eine ganze Stunde lang versiegelt.“
Gartret betrachtete den alten Meisterdieb mit düsterer Miene. „Was hätte ich tun sollen?“
„Es gibt zwei versteckte Schalter an der Tür. Wenn du beide gleichzeitig gedrückt hättest, dann hättest du das erste Schloss wegklappen können. Doch nun sind diese Schalter für eine ganze Stunde blockiert. Wärst du mit deinen Freunden auf der Flucht gewesen, hättest du sie jetzt gerade eben alle dem Galgen überantwortet – und dich selbst gleich mit.“
„Eine normale Türe funktioniert aber nicht so“, verteidigte sich Gartret.
„Wenn du die Zugänge zu Wohnhäusern oder Provinzmuseen öffnen willst, dann wirst du niemals mit einem solchen Schloss zu tun haben – das gebe ich zu. Aber solltest du eines Tages etwas wirklich Wertvolles stehlen wollen, dann musst du dich auf solche Dinge gefasst machen.“
Gartret blickte mürrisch auf die Tür mit dem Doppelschloss.
Alisan klopfte ihm gönnerhaft auf den Rücken: „Nimm’s nicht so schwer – du bist schliesslich hier um zu lernen.“

Den Nachmittag verbrachte Alisan meistens mit Malgoth. Ebenfalls im Keller besass der Dieb ein gut ausgerüstetes Labor, sowie eine angegliederte Bibliothek samt Schreibstube. Hier wurde der Zwerg unterrichtet.
„Du wirst von allen mit Abstand am Meisten lernen müssen“, eröffnete der alte Dieb Malgoth. „Die Dinge, die ich dir beibringen will, sind zudem recht unterschiedlicher Natur; von dir wird also eine grosse geistige Beweglichkeit verlangt.“
Malgoth betrachtete das Labor. Auf einem grossen Eichentisch standen einige Retorten, zwei Mörser, sowie verschiedene mechanische Gerätschaften zum Mahlen und Mischen. Auf einem Eisengestell in der Mitte des Tisches war eine grosse Destillationsapparatur aufgebaut; dessen oberes Ende sah seltsamerweise so aus, als habe jemand mehrere gläserne Hüte aufeinander gestapelt.
Auf einem grossen Regal gleich hinter dem Tisch befanden sich eine Unmenge von Substanzen, Tinkturen und Essenzen, die in kleinen oder grossen Glasgefässen oder offenen Schalen gelagert wurden.
„Du kennst dich damit aus – nicht wahr?“, bemerkte Alisan, der den prüfenden Blick Malgoths mitverfolgt hatte.
„Ich habe mich mit Alchemie befassen müssen, habe sie aber nie sehr gemocht“, bemerkte der Zwerg, ohne auf Näheres einzugehen.
„Und genau dies wirst du jetzt wieder tun. Ich werde dich lehren, wie man Gifte für die verschiedensten Zwecke zubereitet, wie man Knallpulver herstellt, welches den Gegner verwirren oder gar verletzen kann. Ausserdem wirst du lernen, wie man Alkohol behandelt, dass er entweder doppelt so schnell betrunken macht oder gar nicht. Glaub mir: solches Detailwissen kann ungemein nützlich sein. Es ist wichtig, dass du die Gefühlslage deiner Gegner für deine Zwecke manipulieren kannst. Ein gutes Schlafmittel, ein Aphrodisiakum oder Droge die Halluzinationen erzeugt, kann in vielen Fällen den Unterschied ausmachen.“
„Es fällt mir etwas schwer, mir eine solche Situation vorzustellen“, erwiderte Malgoth nicht überzeugt.
„Stell dir zum Beispiel den Ball einer hohen Gesellschaft vor. Nimm mal an, es würde dabei zu tumultartigen Zuständen kommen, weil irgendein Offizier plötzlich seinen Degen zieht und anfängt gegen schreckliche Kreaturen anzukämpfen, die leider nur er selbst sehen kann. Und wenn sich dann der Staub wieder gelegt hat, kann es dann nicht sein, dass da die eine andere Perlenkette plötzlich fehlt?“ Alisan lachte sein höhnisches Lachen; er schien in irgendeiner Erinnerung zu schwelgen, was ihn zutiefst belustigte.
„Dann wirst du mich also in der Alchemie unterweisen?“
Alisan nickte „Ja, aber nicht nur. Du bist so etwas wie der Kopf der Gruppe, auch wenn ich bezweifle, ob du dich immer wirst durchsetzen können. Aber dir obliegt die Planung im Voraus. Also musst du lernen, Pläne zu schmieden, Orte auszukundschaften und die richtigen Kontakte zu knüpfen. Diese Dinge gehören mithin zum Schwersten, das unser Handwerk so mit sich bringt – ich werde also viel Zeit mit dir verbringen müssen. Oft wirst du aber auch selbstständig studieren.“
Malgoth zeigte auf einen ungemein grossen, sehr massiv gefertigten Schrank. „Sind da die Bücher über Alchemie zu finden?“
„Nein, die sind gleich hier drüben in der Bibliothek zu finden.“
„Was befindet sich dann in dem Schrank?“
Alisan schmunzelte eine winzigen Augenblick lang. „Hmm - lasst uns das doch ein andermal besprechen…“
„Gib mir doch wenigstens einen Hinweis“, bat Malgoth.
„Also gut“, gab der alte Dieb klein bei, „man nennt es einen Entführungsschrank. Ein altes Sammlerstück – so etwas wird heutzutage nicht mehr gebaut; ein Jammer.“

Gegen Abend – als es meist schon zu dämmern begann – befasste sich Alisan mit Siliah. Der alte Mann schien grossen Respekt vor ihr zu haben, was vielleicht daran lag, dass sie in der Lage gewesen war, ihn bei ihrer Ankunft aufzuspüren.
„Du kannst mit deinem Bogen sicher gut genug umgehen – da werde ich dir nichts mehr beibringen können. Aber ich denke, du könntest mit deinen Talenten deine Freunden noch besser unterstützen.“
„Was schlägst du vor?“, fragte die Elfe vorsichtig. Siliah misstraute dem alten Dieb. Dass der alte Mann sie mit einem Mord für die Ausbildung bezahlen lassen wollte, gefiel ihr ganz und gar nicht. Immer war sie drauf bedacht, mindestens zwei Schritte Abstand zwischen sich und Alisan zu haben.
„Malgoth hat mir von dem Vorfall im Museum erzählt.“
„Welchen Vorfall?“
Alisan machte eine Handbewegung, ungefähr in der Richtung, in der Vindara lag: „Da hast du deine Freunde im Museum gerettet, indem du eine Kerze mit einem Pfeil zum erlöschen gebracht hast.“
Siliah blieb unverändert auf Distanz: „Und was ist damit?“
„Das war gut – wirklich gut!“, versuchte Alisan das Eis zu brechen, „diese Idee hätte von mir sein können. Aber du kannst mit deinem Bogen noch viel mehr anstellen – glaub mir.“
„Was soll ich sonst noch damit anstellen? Ein Pfeil ist ein Pfeil.“
„Eben nicht“, korrigierte Alisan die Elfe bestimmt. „Es gibt ganz verschiedene Arten von Pfeilen. Nicht alle besitzen eine stählerne Spitze.“
„Soll ich etwa Pfeile ohne Spitzen verschiessen?“
Alisan seufzte – die Elfe begann ihm auf die Nerven zu gehen. „Nein, das wäre wahrlich nicht sehr klug. Viel klüger wäre es hingegen, wenn du Pfeile mit ganz verschiedenen Spitzen im Köcher hättest.“ Der alte Dieb entrollte auf dem Boden ein Bündel, welches er die unter dem Arm gehalten hatte. Pfeile von unterschiedlicher Machart und mit den verschiedensten Spitzen kamen zum Vorschein; keiner schien dem anderen zu gleichen. Alisan hob einen der Pfeile in die Höhe: „Sieh dir dieses Prachtstück an! An seiner Spitze befindet sich eine Pfeife. Doch die Luftlöcher sind mit Blütenstaub verstopft. Aber wenn der Pfeil eine Weile fliegt, dann verflüchtigt sich der Blütenstaub und der Pfeil beginnt ein durchdringendes Geräusch zu machen. Und da er dies erst am Ende seiner Flugbahn tut, kann das Geräusch nicht zu dir zurückverfolgt werden – ist das nicht eine kluge Sache?“
Siliah schwieg, dann nickte sie wenigstens zögerlich.
„Oder sieh dir diesen Pfeil hier an“, Alisan hob einen schweren Pfeil auf, an dem allerlei Metall- und Lederteile hingen, „wenn du den knapp über steinernen Boden verschiesst, dann prallt er mehrmals auf – das Geräusch klingt fast genau wie die Schritte einer wegrennenden Person. Glaub mir – Ablenkung ist eine wichtige Sache.“
„Dann willst du mich also lehren, wie man mit Pfeilschüssen verwirrt.“
„Nicht nur – du siehst; hier liegen eine Menge Pfeile; und mit allen wirst du üben. Manche können eine Ladung Gift transportieren und beim Aufprall eine giftige Wolke versprühen, Andere sind gekrümmt und finden am Ende der Flugbahn wieder den Weg zurück zu dir. Diesen Pfeil könntest du kurz vor einem Nahkampf losschiessen und dann deine Position so ändern, dass dieses Geschoss bei seiner Rückkehr in den ungepanzerten Rücken deines Gegners trifft – um nur ein Beispiel zu nennen.“
„Und ausser diese spezielle Arten des Bogenschiessens wirst du mich nichts lehren?“
„Doch, dass werde ich!“, entgegnete Alisan der Elfe bestimmt. „Weisst du beispielsweise, wieso ich vor eurem Eintreffen gewarnt worden bin? Und dies, obwohl ihr den Stolperdraht gefunden habt?“
Die Elfe verneinte.
„Ich habe einige Vögel für diese Zwecke abgerichtet. Auch andere Tiere lassen sich abrichten – und man kann ihnen ganz verblüffende Fähigkeiten beibringen. Die Methode ist zwar etwas brutal, aber sie funktioniert dafür ausgezeichnet.“
„Also werde ich lernen müssen, wie man auf brutale weise Tiere abrichtet“, stellte die Elfe mit unterkühlter Stimme fest.
Alisan nickte: „Und noch etwas anderes werde ich dich lehren – meine teure Elfe: Wie du mit Menschen umgehen sollst. Genauer gesagt: wie du dich Verhalten musst, um unnötigen Ärger aus dem Weg zu gehen.“
„Ach - du willst mir Freundlichkeit beibringen?“
„Nein, nicht Freundlichkeit“, widersprach Alisan, „sondern, wie du mit Worten deine Ziele erreichen kannst, statt dir nur Widerwillen einzuhandeln“, und auf scheinbar ganz beiläufige Art meinte der alte Dieb noch: „Ja tatsächlich - diese Art des Umgangs ist vielleicht eher eine Frage der Intelligenz und weniger der Freundlichkeit.“


4. Kapitel: Der Wettstreit der Gifte

Alisan sprühte vor Energie; nie wurde er müde und er scheute keinen Aufwand. Es schien dem alten Dieb wirklich wichtig, seinen Schützlingen so viel wie möglich beizubringen. Dank seiner reichen Lebenserfahrung und seinen vielen Talenten hatte er für die Vier immer neue Dinge auf Lager, mit denen er sie überraschen konnte. Und nach ihrem anfänglichen Misstrauen nahmen sie sein Wissen begierig auf und begannen es durch stetiges Üben zu verinnerlichen. Immer wenn Alisan gerade mit jemand beschäftigt war, mussten die Anderen alleine trainieren – doch nie schien ihnen diese Zeit zu lang zu sein.
Kagor lernte mit jedem Tag besser mit dem Säbel umzugehen. Immer eleganter wurden seine Bewegungen und immer trickreicher seine Finten, Angriffe und Paraden. Alisan brachte ihm bei, mit seiner zweiten Hand überraschend einen Wurfdolch aus dem Ärmel zu ziehen und zu werfen, oder einem Gegner eine Hand voll Glasscherben ins Gesicht zu schleudern. Er lehrte dem Hünen auch mittels mit schwerem Sand gefüllten Säckchen – dem so genannten Todschlägern – dem Gegner einen betäubenden Schlag aus dem Hinterhalt zu verpassen. Kagors Kampfstil begann sich zu verändern, wurde hinterhältiger, weniger brachial, dafür umso exakter und zielgerichteter. Alisan war sehr zufrieden, mit seinem ‚Kämpfer der Nacht’ wie er den ehemaligen Paladin immer öfter zu nennen beliebte.
Gartret lernte nicht nur alle möglichen Schlösser zu öffnen, sondern diese danach auch so zu präparieren, dass sie nur noch für ihn brauchbar waren. Dies, so meinte Alisan, schränkte die Möglichkeiten für den Gegner ein und erhöhe so die Chance zur Flucht. Gartret lernte auch Alarmsysteme und Fallen nicht nur zu entschärfen, sondern auch selber welche herzustellen und einzusetzen. Gartret und Alisan wurden sich nie sehr grün, stritten sich aber auch nie wirklich. Gartret mochte den Gedanken nicht, dass der alte Dieb über ihr gemeinsames Handwerk so viel mehr wusste als er. Aber er sah ein, dass es für ihn das Beste war, so viel wie möglich von Alisans Wissen aufzunehmen.

Wie vom alten Dieb vorausgesagt, hatte Malgoth von allen am Meisten zu lernen. Nicht, dass er sich nur Nächtelang durch die Werke der grossen Alchemisten kämpfen musste, er wurde von Alisan auch noch dazu ermuntert, sich über Architektur kundig zu machen. Der alte Dieb bestand darauf, dass der Zwerg studierte, wie Gebäude aufgebaut waren. Dazu musste er mehr über Baustile und Architektur lernen. Allerdings wusste der Zwerg gerade über diese Themen schon sehr gut bescheid – allerdings musste er sie jetzt unter einem neuen Gesichtspunkt betrachten. Wo lag die Schwachstelle eines Gebäudes, wo konnte man am besten hineingelangen oder daraus entfliehen? Dies – so meinte Alisan – würde die Planung eines Diebstahls erleichtern. Natürlich musste Malgoth auch viel über Planung eines Raubzuges selbst lernen; wie er Objekte auszuwählen hatte, wann er auf welche Weise zuschlagen sollte und welche Umstände es dabei zu beachten galt.

Die Nachmittage verbrachte Malgoth mit praktischen Arbeiten der Alchemie, genauer gesagt, mit der Giftmischerei. Doch einmal machte er in Anwesenheit des alten Diebes einen Versuch im Labor. Dabei kam eine Retorte ins Trudeln und die darin befindliche Flüssigkeit kam mit der darunter liegenden Flamme in Berührung. Da ein Teil der Flüssigkeit aus alkoholischen Essenzen bestanden hatte, wurde das Feuer für einen Moment hell lodernd angefacht. Da geschah etwas Überraschendes: Bevor Malgoth sich versah, schnellten seine Hände nach vorne – das Feuer begann zu flackern und erlosch kurz darauf.
Malgoth und Alisan blickten eine ganze Weile auf die Stelle, wo das Feuer gebrannt hatte. Endlich meinte der alte Dieb: „Da war Magie im Spiel – nicht wahr?“
Der Zwerg nickte nur.
„Kannst du noch mehr? Und kannst du es kontrollieren?“
Malgoth blieb eine Weile stumm, dann verneinte er leise.
Alisan blickte auf den Zwerg hinunter: „Dann bist du also einer jener Halbmagier, die von den normalen Leuten gemieden und von den richtigen Zauberwirkern nie als ihresgleichen angesehen werden. Immer wirst du an die Tore der grossen Schulen klopfen, und nie wird dir aufgetan werden – ein trauriges Schicksal.“
Malgoth biss sich auf die Lippen, dann zuckte er mit den Schultern: „Das Leben eines Zwergen ist lang. Vielleicht gibt es ja noch eine Möglichkeit für mich.“

Siliah konnte von allen Vier am Wenigsten profitieren. Zwar übte sie fleissig Kunstschüsse mit den neuen Pfeilen – und sie fand manche Dinge auch ganz brauchbar – doch dieses Wissen veränderte sie nicht wirklich. Und wenn Alisan von seinen Methoden berichtete, wie er Tiere dressierte, hörte die Elfe am liebsten weg. Was der alte Dieb da an Wissen feilbot, erschien ihr zutiefst grausam, abstossend und auch absurd. Alisan dressierte seine Tiere, in dem er sie von klein auf von ihren Artgenossen absonderte und in einen dunklen Raum einsperrte. Nur wenn er erschien, kam mit ihm Licht, Essen und sogar eine Art von Zuwendung. So waren die Tiere nur auf ihn fixiert, versuchten ihm zu gefallen, und passten sich ihm so gut sie konnten an. Alisan trat seinerseits einen Schritt auf die Tiere zu und imitierte das Verhalten und die Bewegungen des Ranghöchsten Tieres der jeweiligen Art. Oft auf allen Vieren kriechend oder hüpfend, dabei komische Geräusche von sich gebend, versuchte er nach und nach für das Tier einen Platz in der Rangordnung einzunehmen, von dem aus er absolute Gehorsamkeit verlangen durfte.
Siliah tat meist nur so als würde sie diese Methoden üben. Meist wählte sie dabei Vögel, die weniger unter dieser Methode zu leiden schienen als andere Tiere. Heimlich missbilligte sie Alisans Dressurmethoden zutiefst.
Aber etwas Anderes hatte die Elfe dafür gelernt: Sie konnte sich mit der Zeit trotz ihres Missfallens jegliche Kritik verkneifen. Nicht, dass sie zu einer Diplomatin wurde, doch sie gab sich tatsächlich Mühe, den alten Mann nicht mehr vor den Kopf zu stossen.

Nachts schliefen sie alle Vier im selben Raum, der nur ein kleines Fenster besass. Meist schliefen sie recht schnell ein, denn die Tage waren lang und anstrengend. Doch mit zunehmender Dauer ihrer Lehrzeit gewöhnten sie sich und die geistigen und körperlichen Strapazen. Öfter erzählten sie sich gegenseitig, was sie tagsüber getan und erfahren hatten. Besonders Malgoth war recht mitteilungsbedürftig; er schien regelrecht seinen Kopf leeren zu müssen. Auch Kagor und Siliah erzählten – Gartret rezitierte viel lieber aus dem Kopf einige Gedichte oder Teile von Theaterstücken. Die Anderen waren begeistert – der ehemalige Schauspieler hatte ihnen seine Kunst bislang völlig vorenthalten. Gartret konnte mit seiner Stimme regelrecht spielen und auf eine Weise sprechen, welche die Anderen von diesem oft etwas einfach wirkenden Mann nie und nimmer erwartet hatten. Aber in der Schauspielerei schien er Quellen anzapfen zu können, die seinen Charakter für kurze Zeit ungeahnt bereicherten.

Gartret wollte soeben ein weiteres Gedicht rezitieren als er plötzlich von Siliah unterbrochen wurde: „Wartet! Da ist etwas! Da draussen!“
Augenblicklich waren alle still und schauten ängstlich zu dem kleinen Fenster hin.
Eine Weile geschah nichts und Malgoth wollte schon Entwarnung geben; da huschte auf einmal ein sehr grosser Schatten am Fenster vorbei. Ihnen stockte der Atem.

*****

Atamirenses hatte das Bild schon längst in Sicherheit gebracht. Den versteckten Zugang zu der trockenen Höhle ausserhalb Vindaras würde so schnell niemand finden. Hier bewahrte der stets elegant gekleidete Hehler das Diebesgut auf; solange, bis es an andere Händler, Auftragsgeber oder direkt an Kunstinteressierte weitergereicht werden würde. Aus diesen Transaktionen resultierte meist ein satter Gewinn. Aber es war nicht nur das Geld, welches Atamirenses in dieser Branche hielt; ihn faszinierte das komplizierte Beziehungsgeflecht, zwischen jenen, die Kunst beschafften, die sie weiterverschacherten und solchen, welche sie haben wollten. Dass das Ganze im Verborgenen ablaufen musste, steigerte Atamirenses Faszination noch. Und er hatte durchaus Talent; dies zeigte nicht zuletzt der ständig steigende Profit, den er erzielte. Nur ein Laster hatte er, welches seinen Erfolg immer wieder in Frage zu stellen drohte: seine verdammte Geschwätzigkeit!
Atamirenses hätte sich manchmal selbst ohrfeigen können.
Nur zum Beispiel sein Verhalten gegenüber den vier anfängerhaften Dieben, mit denen er manchmal zusammenarbeitete: Schon bei ihrem ersten Zusammentreffen hatte er ihnen den Aufenthaltsort des Meisterdiebs Alisan verraten. Hoffentlich nahm die legendäre‚Goldene Hand’ ihm das nicht eines Tages übel. Dabei hatte er für diese Informationen eine ganze Stange Geld bezahlt; ohne dass ihm dieses Wissen bislang etwas Zählbares eingebracht hatte. Was auch kein Wunder war, solange er kostenlos verteilte, was sich vielleicht versilbern liess. Aber er hatte eben seinen Mund nicht halten können.
Und nachdem die vier Diebe ihren letzten Auftrag mehr schlecht als recht zu Ende gebracht hatten, musste er ja unbedingt seine Verbindung zu den Silbertränen herausposaunen. Dies war nicht nur geschäftsschädigend, sondern konnte für ihn gar lebensgefährlich werden. Mit diesen Maskenträgern war nicht zu spassen. Wer weiss, ob sie dies nicht als Verrat auffassen würden – falls ja, dann wehe ihm!
Atamirenses graute vor dem Gedanken, die Silbertränen wieder zu sehen. Bald würde es soweit sein: in neun Tagen war die Übergabe des gestohlenen Bildes geplant. Er würde viel Geld einnehmen – falls alles gut ging. Dennoch wäre Atamirenses liebend gerne von diesem Auftrag zurückgetreten; aber dadurch würde er sich nur noch weiter in Schwierigkeiten bringen – dies wusste er. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als diesen Handel so gut wir möglich über die Bühne zu bringen. Am Besten war vielleicht, er würde den Silbertränen einfach offen legen, dass er den vier Dieben von ihnen erzählt hatte. Er glaubte nicht, dass er in der Lage wäre, dies vor den unheimlichen Maskenträgern zu vertuschen. Spätestens, wenn die Diebe die Silbertränen aufsuchten, würde alles auffliegen. Besser er sprach es jetzt selbst aus und rettete, was noch zu retten war. Und dann würde er versuchen, die Geschäftsbeziehungen zu diesen unheimlichen Wesen zu kappen – er wollte nie wieder etwas mit ihnen zu tun haben. Kein Geld der Welt war es wert, dass er sich noch länger diesen Silbertränen aussetzte.

*****

Der Schreck war ihnen allen tüchtig in die Glieder gefahren.
„Das… Das kann kein Mensch gewesen sein“, fing sich Gartret als Erster wieder. „Dafür ist es zu gross gewesen.“
Malgoth nickte, wagte jedoch nicht den Blick vom Fenster zu nehmen.
„Wie kann so etwas Grosses so leise sein?“, fragte sich Siliah ängstlich, “ich habe es fast nicht gehört.“
„Wir sollten uns besser auf alles gefasst machen“, befand Kagor, während er im Bett liegend fest den Griff seines Säbels umklammerte.
„Weisst du, was das gewesen sein könnte?“, fragte Malgoth Siliah.
Die Elfe schüttelte den Kopf: „Ich weiss nur, dass es auf vier Beinen ging; und dass es sicher kein Mensch war.“
„Natürlich war es kein Mensch, wenn es auf vier Beinen gegangen ist“, erwiderte Gartret leicht verärgert.
„Vielleicht ein herumstreuendes Tier?“, spekulierte Malgoth.
„Wenn es so gross ist und schleichen kann, dann muss es sich um ein Raubtier handeln – alles andere würde keinen Sinn ergeben“, spann Siliah den Faden weiter.
„Wir sollten auf der Hut sein“, meinte Kagor bestimmt, „gut möglich, dass es zurück kommt.“
Malgoth nickte: „Wir sollten keineswegs des Nachts nach draussen gehen.“
Sie blieben alle eine Weile ruhig, doch an Schlaf war nicht zu denken. Unruhig wälzten sie sich hin und her.
Schliesslich hielt es Gartret nicht mehr aus; er richtete sich auf und sagte: „Da wir sowieso nicht schlafen können, sollten wir jetzt besser etwas klären.“
„Was meinst du?“, fragte Malgoth.
„Wir wissen immer noch nicht, wie wir Alisans Auftrag ausführen sollen, ohne den Sekretär zu töten.“
„Wieso laufen wir nicht einfach davon?“, wollte Kagor wissen, „glaubst du, Alisan würde uns verfolgen?“
„Das wäre die beste Lösung“, stimmte Siliah zu, „und wir sollten möglichst bald gehen, zum Beispiel gleich morgen früh.“
„Unsere Ausbildung ist noch nicht beendet“, warf Gartret ein.
„Was ich von dem alten Mann lernen will, dass hat er mir bereits beigebracht – und auf den Rest lege ich keinen Wert“, entgegnete die Elfe.
Kagor war anderer Ansicht: „Alisan hat mir viel beigebracht – man kann sagen was man will, aber er ist ein guter Lehrer, auch wenn ich seine Ideen oft für grausam und unmoralisch halte.“
„Sag du doch endlich etwas“, bat Gartret Malgoth.
„Es ist nicht einfach…“, begann der Zwerg bedächtig, „wir lernen hier enorm viel. Ich glaube, Alisans Lektionen haben uns sehr verändert. Dieser Mann weiss vom Diebeshandwerk vermutlich mehr, als jeder andere Mensch. Keine List und kein Trick scheint ihm fremd. Und genau dies macht mir Sorgen – wie sollen wir diesen Mann überlisten?“
„Vielleicht müssen wir das gar nicht“, wandte Siliah ein, „wenn wir uns einfach aus dem Staub machen, dann wäre das Problem gelöst.“
Malgoth schüttelte den Kopf: „Je länger ich von ihm lerne, desto mehr zweifle ich daran; Alisan hat bestimmt Vorkehrungen getroffen.“
Gartret pflichtete bei: „Es kann doch nicht sein, dass Alisan uns die besten Sachen lehrt, aber selbst ein Dummkopf ist. Er wird wissen was er tut. Und vergesst nicht: wir haben es hier mit einer lebenden Legende zu tun. Nicht umsonst nennt man ihn ‚Die goldene Hand’. Niemand ist geschickter und listenreicher gewesen als er.“

Sie schwiegen und lagen wach in ihren Betten. Sie alle sahen immer deutlicher das Dilemma, welches sich vor ihnen auftat. Und innerlich spürten sie: die Stunde der Wahrheit würde nicht mehr fern sein.

Noch eine Woche trainierten sie.
Malgoth sprach manchmal davon, dass er so etwas wie eine Idee habe, wie man Alisan überlisten könne. Meist verdrängten sie aber den Gedanken an den Mord, den sie gemäss der Vereinbarung mit dem alten Dieb hätten ausführen sollen. Dann aber war ihre Zeit abgelaufen.

Ein grosser Schrank stand vor der Veranda. Siliah hatte ihn zuerst entdeckt und auch Gartret war bald dazu gestossen.
„Und was - bitteschön – soll das sein?“, fragte Gartret, während er an dem Schrank hoch schaute, der mehr als mannshoch und sehr stabil gebaut war.
Siliah kniff die Augen zusammen, so, als wolle sie den Schrank mit ihrem scharfen Blick regelrecht durchleuchten, dann schüttelte sie den Kopf: „Ich weiss es nicht.“
Eben trat Malgoth aus dem Haus. Er hatte im Labor zu tun gehabt und wollte nun an der frischen Luft eine kleine Pause machen. Als er den Schrank sah erbleichte er.
„Malgoth, was hast du?“, rief die Elfe fragend, „du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“
Der Zwerg lief die wenigen Treppenstufen der Veranda herunter: „Oh – ihr Götter lasst es nicht wahr sein!“
„Was regst du dich so auf?“, fragte nun auch Gartret, „weisst du, was es mit dem Schrank auf sich hat?“
Da ertönte ein heiseres Lachen. Alisan trat zwischen den Bäumen hervor. „Natürlich weiss Malgoth das!“, meinte er als er näher kam, „und ich glaube er ahnt bereits, wohin die Reise geht – ein guter Schüler!“
„Kann mir endlich jemand erklären, was hier gespielt wird?“, fragte Gartret verärgert.
Der alte Dieb hob noch immer lachend die Hände: „Was hier gespielt wird? Eure Lehrzeit ist beendet und nun werdet ihr euren Teil der Abmachung erfüllen – das wird hier gespielt!“
„Wo ist Kagor?“, fragte Siliah. Sie hatte plötzlich ein sehr ungutes Gefühl und eine schlimme Ahnung hatte sie ergriffen.
Alisan wies mit seinem Zeigefinger direkt auf die Elfe: „Das ist eine gute Frage! Nun kommen wir der Sache näher.“
Gartret wurde immer ärgerlicher: „Was hat das alles mit Kagor zu tun?“
„Das… Das ist ein Entführungsschrank - Gartret“, stammelte Malgoth nur.
Dieser schüttelte verständnislos den Kopf.
„Du verstehst nicht? Dann komm und schau her!“, Alisan winkte Gartret heran – die anderen Zwei folgten ihm.
Alisan ging zu dem Schrank und öffnete eine kleine Schiebetür – dahinter befand sich eine Glasscheibe. “Schaut hinein!“
Gartret und Siliah drängelten sich um die Glasscheibe und schauten hinein. Weil es im Schrank drin sehr dunkelt war, brauchten sie eine Weile, bis sie etwas sahen.
„Kagor!“, rief Siliah.
Tatsächlich befand sich im inneren des Schrankes der stehende aber leblose Körper des Hünen.
„Was soll das – alter Mann?“, rief Gartret wutentbrannt aus.
„Wir müssen ihn befreien!“ Siliah machte sich an der Scheibe zu schaffen.
Alisan hob die Hand: „Wenn dir das Leben deines Freundes etwas bedeutet, würde ich das besser bleiben lassen.“
„Lass es“, meinte auch Malgoth, „das kann nicht gut ausgehen.“
Alisan nickte: „Wenn die Scheibe zerbricht, dann wird dadurch ein Gift freigesetzt, welches euren Kagor auf der Stelle tötet. Dasselbe geschieht auch bei jedem anderen Versuch, den Schrank zu öffnen.“
Gartret und Siliah waren kurz davor, sich wutentbrannt auf Alisan zu stürzen.
Doch dieser lachte nur: „Ihr wollt mich in Stücke reissen? Na bitte, tut es doch! Aber damit werdet ihr Kagor nicht retten. Er ist betäubt und kann nicht ewig in diesem Schrank überleben – mehr als ein paar Tage kann er unmöglich durchhalten. Ich bin der einzige, der den Schrank öffnen kann. An eurer Stelle würde ich mir also gut überlegen, was ihr tut.“
Gartret konnte sich nur mühsam zurückhalten. Er ballte die Faust und streckte sie Alisan hilflos entgegen: „Ich wusste es! Ich wusste die ganze Zeit: am Ende würde er uns aufs Kreuz legen!“
Alisan hielt den Kopf etwas schräg: „Aufs Kreuz legen? Ich euch? Ihr wolltet euch doch von mir ausbilden lassen und mich dann um meinen Lohn prellen! Tut jetzt bloss nicht so heuchlerisch!“
Siliahs Stimme zitterte vor Wut: „Wenn Kagor auch nur ein Haar gekrümmt wird, dann schwöre ich dir…“
„Ja, ja – dann wirst du mir dies und das… Was damit auch schon gesagt wäre. Tatsache ist, dass ihr jetzt losziehen und den Sekretär von Vindara töten werdet – und zwar jetzt gleich!“
Siliah machte Anstalten, einen Pfeil anzulegen.
„Willst du deinen Freund töten?“, fragte Alisan nur.
„Lass es – Siliah!“, Malgoth legte seine Hand auf den Bogen der Elfe, diese liess ihre Waffe zögernd sinken. Zu Alisan meinte der Zwerg. „Wir werden deinen Sekretär töten.“
Alisan lächelte: „Eine weise Entscheidung.“
„Aber wir brauchen Ausrüstung.“
Der alte Dieb nickte Malgoth zu: “Holt euch, was ihr braucht. Aber ich warne euch, keine faulen Tricks. Glaubt mir, ich werde auf der Hut sein. Und egal wie gut ich euch ausgebildet habe - an mir kommt ihr nicht vorbei.“

Sie warfen einen letzten Blick durch die Glasscheibe. Kagors Gesichtszüge wirkten seltsam verkrampft. Sie hätten alles gegeben, um ihn jetzt aus dieser misslichen Lage zu befreien. Stattdessen waren sie gezwungen, sich von ihm abzuwenden und ihn seinem Peiniger zu überlassen.
Siliah konnte die Tränen der Wut und der Verzweiflung nur mühsam zurückhalten, während sie Alisan keines Blickes würdigte. Gartret und Malgoth holten im Haus ein paar Ausrüstungsgegenstände.

„Es ist zu schade, dass ihr ausgerechnet während eures ersten Mordauftrages euren besten Kämpfer zurücklassen müsst!“, diese spöttischen Worte und sein raues Lachen waren das Letzte, was sie von Alisan mit auf den Weg bekamen.

„Wir müssen den Sekretär töten“, meinte Gartret dumpf, „es bleibt uns keine andere Wahl. Wie sonst sollen wir Kagor retten?“
Malgoth seufzte: „Wir werden den Sekretär zumindest finden müssen.“
Siliah sagte nichts.

*****

Emalus zündete die Kerzen des Kandelabers an. Es war schon spät geworden; vielleicht schon nach Mitternacht. Höchste Zeit, sich schlafen zu legen. Aber Emalus mochte das stille Arbeiten nach Einbruch der Nacht. Dazu bot sich jetzt immer mehr Gelegenheit; der Herbst hatte begonnen und die Sonne ging nun schon merklich früher unter.
Emalus lächelte – es war ein guter Tag gewesen. Sowieso bestand sein Leben zu grossen Teilen aus einer Aneinanderreihung von guten Tagen; wahrlich ein Grund zum Lächeln. Zwar war aus ihm kein Herrscher und erst recht kein Held geworden. Doch er war der Sekretär der Stadt Vindara; dies wog viele Jugendträume auf.
Sekretär zu sein bedeutete eine äusserst einträgliche Stellung inne zu haben. Und eine äusserst beständige obendrein; die Bürgermeister und Ratsmitglieder dieser Stadt kamen und gingen - er blieb. Seit Jahrzehnten war er der ruhende Pol dieser Stadt. Er war der Hüter der dunklen Geheimnisse der Stadt, welche die herrschende Ruhe erst ermöglichten. Und noch wichtiger: Jeder der ein Geschäft mit der Stadt selbst abschliessen wollte, der eine Bewilligung brauchte oder der sein Sündenregister gesäubert sehen wollte, musste sich unweigerlich mit ihm arrangieren. Nur er besass diese mannigfaltigen Möglichkeiten, sich Einkommensquellen zu erschliessen. Alleine seine geniale Idee, ehemalige Verbrecher in der Umgebung der Stadt leben zu lassen – und natürlich dafür ein ganz ordentliches Entgelt zu kassieren – verschaffte ihm Monat für Monat eine nicht zu verachtende Summe.
Mochten andere klangvollere Titel haben und vermeintlich über mehr Macht verfügen - Emalus wusste: In Wirklichkeit hatte er die Leiter bis zur obersten Sprosse erklommen – er war die graue Eminenz der Stadt Vindara.
Eingedenk dieser Tatsachen, die in froh, ja, beinahe beschwingt stimmten, ging Emalus die Treppe hinauf. Er besass eine Wohnung im zweitobersten Stockwerk des Ratshauses – direkt unter den vielen Erkerdächern, welche die Fassade des hohen Hauses gegen oben hin abschlossen.
Er gähnte; es war höchste Zeit sich zurückzuziehen. Normalerweise arbeitete er nicht so lange. Aber seit dem Einbruch im Museum der Stadt herrschte noch immer eine gewisse Unruhe. Dies war wohl das herausragenste Ereignis der letzten Jahre gewesen; jedenfalls seit der Weisse Bach das letzte Mal über die Ufer getreten war. Und die Bürger dieser Stadt mochten keine herausragenden Ereignisse; sie mochten überhaupt keine Überraschungen – seien es nun gute oder schlechte.
Emalus seufzte müde – manchmal hätte er sich lieber in eine der grossen Städte an der Küste gewünscht. Aber solche Momente zogen rasch vorüber. Denn er wusste – dort würde er nur Einer von Vielen sein; ein Speichellecker in einer unübersichtlichen Bürokratie, voller Schlangengruben und Fallstricke. Nein, hier war er eindeutig besser aufgehoben – hier in der verschlafenen Provinz der Weinstadt.
Emalus war angekommen. Eben wollte er den Schlüssel hervorkramen, um seine Wohnungstür zu öffnen. Doch er hielt mitten in der Bewegung inne – die Tür stand bereits einen Spaltbreit offen. Er schüttelte den Kopf – er war sich völlig sicher, dass er seine Wohnung beim Verlassen sicher verschlossen hatte.
Vorsichtig stiess er die Tür auf, den Kandelaber schützend vor sich haltend. Drinnen herrschte ein furchtbares Durcheinander. Bücher waren aus den Regalen gezerrt worden und lagen wild verstreut auf dem Boden. Schreibutensilien, Kleider, Schuhe – einfach alles bildete einen chaotischen Reigen auf dem Boden und auf den Möbeln. Sein Schreibstuhl war umgekippt worden, gleich daneben verteilte sich Tinte aus einem zerbrochenen Tintenfässchen und begann sich mit dem übrigen Durcheinander zu vermischen.
Diebe – in seiner Wohnung!
Doch was haben sie gewollt?
Dann fiel es Emalus wie Schuppen von den Augen: Der Pokal!
Zum dreissigsten Dienstjubiläum hatte der treue Diener der Stadt einen wunderschön gefertigten Pokal bekommen, welcher aus massivem Gold bestand. Auf diesen mussten es die Diebe abgesehen haben! Er hatte ihn stets stolz auf seinem Schreibtisch aufgestellt gehabt. Es durfte nicht wahr sein! Dieser Pokal bedeutete ihm alles.
Mit zitternden Händen und mit Tränen in den Augen begann er das Durcheinander zu durchwühlen. Fest umklammerte er sich an den beinahe irrigen Gedanken, die Diebe könnten den Pokal vielleicht übersehen haben.
Dann stutzte er plötzlich – sein Blick fiel zum offenen Fenster hin. Da, am Rande des Fenstersimses stand der Pokal. Emalus konnte es nicht glauben und schaute genauer –tatsächlich: sein liebstes Stück war da.
Ein Windstoss fegte durchs Zimmer. Der Pokal schien gerade noch so zu stehen, dass er nicht die vier Stockwerke in die Tiefe fiel. Noch so ein Windstoss und der Pokal würde hinunterfallen und unweigerlich zerstört werden!
Emalus stürzte zum Fenster hin. Er schien noch gerade rechtzeitig gekommen zu sein. Mit beiden Händen griff er nach dem Pokal und versuchte ihn an sich zu nehmen – doch es ging nicht. Der Pokal schien am Fenstersims zu haften. Emalus öffnete den Mund – er verstand die Welt nicht mehr. Doch was jetzt geschah, war noch viel Seltsamer: Von oben schob sich plötzlich etwas in Emalus Blickfeld. Und bevor er sich versah, hing da eine zierliche Gestalt kopfüber direkt vor ihm. Eine Schrecksekunde verharrte Emalus, dann prallte er zurück. Er wollte schreien, doch er kam nicht mehr dazu: Mit einer ungeheuren raschen Bewegung zog die Gestalt einen Bogen und legte einen Pfeil an. Emalus wurde mitten im Gesicht getroffen. Doch keine Pfeilspitze drang in ihn ein; stattdessen hörte er das Geräusch eines zerbrechenden Glasgefässes. Dämpfe traten aus. Emalus hustete und versuchte mit dem Arm sein Gesicht zu schützen, doch es war zu spät. Die Welt um ihn herum begann sich zu drehen. Er fühlte, wie seine Lebenskraft schwand. Er sank zu Boden. Noch ein letztes kurzes Aufbäumen – dann versank alles in Dunkelheit. Nie wieder würde Emalus der Stadt Vindara als Sekretär dienen.

„Zieh sie hoch!“
„Was glaubst du, was ich tue – Malgoth!“, erwiderte Gartret vor Anstrengung keuchend, während er an dem Seil zog.
Siliahs zusammengebundene Füsse kamen zum Vorschein, dann der Rest ihres Körpers. Sicher bugsierte Gartret sie durch das Dachfenster.
„Und – hat es geklappt?“, fragte Malgoth aufgeregt die Elfe.
Diese nickte: „Du hast recht gehabt mit dem angeklebten Pokal. Er ist tatsächlich darauf reingefallen.“
Der Zwerg lächelte erleichtert: „Wie heisst das Sprichwort doch: ‚Der Kopf hört auf zu denken, wo das Herz dran hängen bleibt.’“
„Das gilt leider auch für uns“, erwiderte Siliah, „schliesslich haben wir dieses Verbrechen für Kagor begangen. Mit einem kühlen Kopf hätten wir vielleicht anders gehandelt.“
„Wenn Kagor frei ist, dann kann der alte Mann etwas erleben!“, grollte Gartret.
„Ich bin schon froh, wenn Alisan sein Versprechen einlöst und uns ziehen lässt“, meinte Malgoth dagegen, „ich würde mich nicht wundern, wenn er weitere böse Überraschungen auf Lager hat.“
„Es ist Zeit zu gehen“, forderte Siliah.
„Wenn wir Glück haben, steht die Leiter an der Rückseite des Rathauses noch“, hoffte Gartret.

*****

Kagor erwachte langsam aus dem Dämmerschlaf. Verzweifelt versuchte er klar zu denken. Aber in seinem Kopf summte es, als habe sich ein ganzer Schwarm Bienen darin verirrt. Was war bloss geschehen? Er hatte einen Stich in seiner Schulter gespürt, und als er sich umgedreht hatte, hatte er Alisan mit einem dünnen Dolch aus Glas gesehen.
„Nimm es nicht persönlich – mein Kämpfer der Nacht“ – diese Worte hatte er noch gehört und dann war der Strom seiner Erinnerung abgebrochen.
Wo befand er sich jetzt bloss? Es war eng hier – er konnte sich kaum bewegen. Und seine starken Glieder gehorchten nur zitternd und verzögert seinen Befehlen.
Alisan musste ihn in diese missliche Lage gebracht haben. Einen Moment lang versuchte Kagor all seine Kraft zu sammeln, aber dann liess er es doch bleiben. Eine tiefe Traurigkeit umfing ihn. Selbst in dieser drückenden Enge fühlte er sich verloren. Er war alleine und abgeschnitten von der Welt. Hatte es nicht so enden müssen?

Kagor konnte sich noch gut erinnern, wie er - ein halbes Kind noch - dem Orden der Paladine beigetreten war. Er hatte förmlich geglüht, so voller Ideale war er gewesen. Sein Inneres – besonders seine Herzgegend - hatte sich weit und licht angefühlt; beinahe wie der Innenraum einer Kathedrale.

Aber die wirkliche Welt ist ein strenger Lehrmeister: je weiter man sich in Gedanken und Gefühlen von ihr entfernt, desto härter fallen ihre Lektionen aus. Am Ende waren es der Verrat seines Mentors und eine verbotene Liebe gewesen, die ihn zu Fall gebracht hatte.

Nun zog er, der einst stolze Paladin, als Dieb mit anderen Dieben umher – versuchte sich Dinge anzueignen, die ihm nicht gehörten, verletzte Leute, die ihm nichts getan hatten. Und dies all dies nur für einen verrückten Plan, der so unerhört albern war, dass er niemanden davon zu erzählen wagte.

Vielleicht hatte er zuviel vertraut und sein Herz zu sehr geöffnet - und nun war er in seinem Inneren schwer verwundet. Mochte er äusserlich noch so stark erscheinen - er war von einer Schwäche befallen, die sich seiner aus Enttäuschung und Verzweiflung spies.
Sein Herz war eng geworden und das Licht hatte aufgehört ihn zu erfüllen.

Ein glucksendes, bitteres Lachen überkam ihn. Was für eine traurige Geschichte er doch war! Und mochte das Ende dieser Geschichte ihn jetzt ihn dieser Enge auch ereilen – vielleicht wäre es nur gerecht. Er hatte genug. Kagor war einfach zu erschöpft um zu kämpfen.

Etwas tickte neben ihm – eine Art von Mechanik. Dann geriet Irgendetwas in Bewegung. Ein zischendes Geräusch ertönte. Was war dies wieder für eine neue Teufelei?
Was für eine Gemeinheit ihn hier gefangen zu halten; und was war Alisan für ein Schuft, ihn hinterrücks anzugreifen! Wenn es etwas hasste, dann war es Verraten zu werden. Sollte sein ‚Lehrmeister’ wirklich damit durchkommen?
Wut und Widerspenstigkeit regte sich Kagor. Wie war es überhaupt so weit gekommen, dass er sich so kampflos seinem Schicksal ergab? Er dämpfte seine Gefühle und versuchte ruhiger zu werden.

Kagor wollte mehr Klarheit über sich selbst zu erlangen. Er besah sich vor seinem geistigen Auge die Ereignisse, die ihm zu dem hatten werden lassen, was er jetzt war. Erneut empfand er die Schicksalsschläge, die ihn so schwer getroffen hatten. Aber diesmal war er auch Beobachter, der zu verstehen versuchte, was geschehen war. Und er sah auch seinen Hochmut und seinen verbohrten Glaube an die reine Rechtschaffenheit, die zu seinem Fall beigetragen hatten. Er hatte sich einfach verrannt und dies hatte nicht gut ausgehen können. Auch wenn der Gedanke schmerzhaft war: Die Welt hatte es sich zu Recht herausgenommen, ihn, den Verblendeten, wieder auf den Boden der Wirklichkeit fallen zu lassen.

Kagor konnte wieder freier atmen. Seine Herzgegend fühlte sich weiter an; auch wenn sich das Gefühl jetzt mehr mit dem Innenraum einer Kapelle als mit demjenigen einer Kathedrale vergleichen liess.

Nun begann sich Kagors Kampfgeist zu regen. Sein Selbstmitleide von vorhin war wie weggeblasen. Er würde den Kampf gegen seinen Peiniger aufnehmen – dieser ehrlose alte Dieb sollte nicht gewinnen!
Aber er war noch immer schwach und seine Sinne begannen bereits wieder zu schwinden – ein seltsamer Geruch stach ihm in die Nase. Es musste etwas mit dem Zischen vorhin zu tun haben. Und bevor Kagor sich versah, hatte ihn die dumpfe Dämmerung wieder fest umschlungen.

*****

Alisan stand vor seinem Entführungsschrank und beobachtete diesen besorgt. Schon mehrmals hatte er Kagor in dessen inneren Stöhnen und einmal sogar seltsam Lachen hören. Einfach unglaublich, wie viel Betäubungsmittel notwendig waren, um den Hünen auch nur einigermassen ruhig zu stellen. Wenn es so weiter ging, dann war er gezwungen, den ehemaligen Paladin durch das Einleiten von Gift zu töten. Alisan wusste, falls Kagor ganz aus seiner Betäubung erwachte, dann würde selbst der äussert massiv gebaute Entführungsschrank nicht lange Schutz bieten. Kagor hatte die Möglichkeit sich mit Wut und seiner Kraft den Weg nach draussen bahnen; allerdings würde er dadurch ein tödliches Gift auslösen.
Alisan konnte nur hoffen, dass Malgoth, Gartret und Alisan ihren Auftrag bald erfüllten.
Nur ungern hätte er Kagor getötet. Nicht, dass er etwas gegen das Ermorden eines Entführungsopfers gehabt hätte; Drohungen mussten nun mal wahr gemacht werden. Aber er hatte Kagor ausgebildet – und er hatte sich wirklich Mühe dabei gegeben. Ihn jetzt zu töten wäre Alisan wie eine sinnlose Verschwendung seiner eigenen Lebenszeit vorgekommen.

Eine Eule kam angeflogen und unterbrach Alisans Gedankengang. Das Tier war äusserst gut dressiert und zudem überraschend intelligent. Es war ein seltsames Phänomen, das Tiere oft über ihre eigenen Grenzen hinaus wuchsen, sobald man ihren Umgang nur allein auf Menschen einschränkte. Alisan nannte es ‚Abfärbung’ und er nutzte diesen Umstand oft. Mit dieser Eule hatte er es darin wahrlich zur Meisterschaft gebracht. Alisan liess sie oft in die Stadt fliegen und dort Dinge und Ereignisse ausspähen. Die Eule hatte den Auftrag gehabt, zurückzukehren, sobald sich im Ratshaus von Vindara etwas Ungewöhnliches ereignen würde.
Alisan ging ins Haus und holte dort ein Fernrohr, welches länger als ein Arm war und zur Benutzung eine Stütze benötigte.
Als sich der alte Dieb auf den Weg machen wollte, fiel sein Blick nochmals auf den Entführungsschrank. Er musst eine Vorsichtsmassnahme treffen – oder besser gleich deren zwei. Er ging zu dem Schrank und hantierte daran herum. Alisan änderte den Ablauf der Mechanik ein weiteres Mal, dass das Betäubungsgift in kürzeren Intervallen ausgestossen werden würde. Dann liess er von dem Schrank ab, schaute in die Ferne, steckte zwei Finger in den Mund und stiess einen schrillen Pfiff aus. Es dauerte nicht lange, da raschelte es im Unterholz – etwas sehr Grosses schien sich darin zu bewegen. Alisan lächelte beruhigt; gegen diese Bewachung würde selbst Kagor nichts ausrichten können.

*****

Gemäss der Sitte fand in Vindara die Beerdigung so rasch wie möglich nach dem Ableben statt. Bereits Stunden vor Sonnenaufgang hatte eine Haushälterin den lebelosen Körper des Sekretärs gefunden. Und so trat schon am frühen Morgen eine mehrhundertköpfige Trauergemeinde zusammen. Nicht, dass Emalus viele Verwandte oder viele wirkliche Freunde gehabt hätte, aber es hatte sich bei dem Sekretär doch um eine hochrangige Persönlichkeit gehandelt. Zudem hatte der Sekretär einige Jahrzehnte in den Diensten der Stadt verbracht – die Leute hatten sich an ihn gewöhnt gehabt. Und dass nun so viele Leute erschienen waren, war auch als stiller Protest zu werten, dass man diese Gewohntheit nun auf so plötzliche wie brutale Weise unterbrochen hatte. Vindara trauerte weniger um einen Mann, es trauerte vielmehr um einen Verlust an geliebter Beständigkeit.

Die Zeremonie begann – wenn dieses eher schlichte Ritual diese Bezeichnung überhaupt verdient hatte. Der aufgebahrte Leichnam wurde von vier kräftigen Männern emporgehoben. Vor dem liegenden Toten schritten zwei Frauen – eine in weisse, die andere in violette Gewänder gehüllt. Sie stellten die Göttinnen des Weissen- und des Kirschbaches dar. Diese Beiden waren keine traditionellen Göttinnen, sondern eher so etwas wie Neuerfindungen. Es glaubte dann auch niemand wirklich an sie – aber es bestand zu bestimmten Zeiten doch das Bedürfnis, wenigstens symbolisch das Übersinnliche anzurufen. Hierzu eigneten sich die Göttinnen der beiden Bäche ganz gut. Und niemand brauchte die Sache zu ernst zu nehmen, da sie auch niemand wirklich zu Herzen ging. Die Leute waren dankbar für diese Neuschöpfungen und wussten, was sie an ihnen hatten.
Ganz anders war doch die traditionelle Religion Vindaras gewesen – die noch bis vor zweihundert Jahre in aller Öffentlichkeit gepflegt worden war. Der Weingott war ein wirklicher Gott gewesen, mit mächtigen Ritualen und grosser Ausstrahlungskraft. Doch die Sache war mit der Zeit aus dem Ruder gelaufen. Oft schien es damals zu Gewalttätigkeiten, Plünderungen und Übergriffen aller Art gekommen zu sein. Man redete nicht mehr viel darüber und war froh, dass diese wilde Zeit vorbei war. Was aus den Anhängern des Weingottes geworden war, hätte niemand zu sagen gewusst; und es fragte sich dies auch niemand ernsthaft. Wenn die Stadt ein dunkles Geheimnis in seiner Geschichte verbarg, dann sollte sie dies gefälligst dort lassen, wo ein solches hingehörte – in der Dunkelheit versteht sich.
Doch manchmal gab es Gerüchte, von nächtelangen Orgien und Ausschweifungen, die weiterhin stattfanden.

Der Zug setzte sich also in Bewegung. Niemand sang oder sprach auch nur ein Wort. Kein Instrument spielte und auch keiner hob zu Wehklagen an. Sie hatten ja auch nicht weit zu gehen: Nach wenigen Minuten waren sie bereits am Ziel angelangt. Der Zug blieb stehen und ein paar Leute öffneten eine Tür, die zu einem Kellergewölbe hinabführte. Hier, in diesem ehemaligen Weinkeller, wurden verstorbene Berühmtheiten der Stadt regelrecht in der trockenen Luft gelagert. Dennoch stieg dem Trauerzug ein leicht modriger, und mit etwas Phantasie auch ein süss-säuerlicher Geruch entgegen. Nur die vier Männer mit dem Leichnam machten sich auf dem Weg nach unten. Bald kamen diese wieder und die Versammlung blieb noch eine Weile stehen. Einige tuschelten noch leise miteinander. Dann zerstreute sich der Trauerzug in alle Winde.

Alisan klappte sein Fernrohr zusammen. Er hielt nicht viel von Vindara, aber die unaufgeregte Art ihrer Bewohner in diesen Dingen gefiel ihm.
Der alte Dieb lächelte zufrieden. Dank des Sekretärs Tod würde er kein Schutzgeld mehr zu zahlen haben. Und es würde Anderen eine Lehre sein. Ihn, den man einst zu Recht ‚die goldene Hand’ genannt hatte, für das blosse Bleibrecht Geld abzupressen, war eine schlechte Idee gewesen. Nun war das Problem gelöst, ohne dass er auf direkte Weise hatte eingreifen müssen.
Alisan machte sich auf, den Hügel, auf welchem er das Begräbniszeremoniell beobachtet hatte, so schnell wie möglich zu verlassen. Zum Glück hatte er sein schnelles Reitpferd dabei, welches auch in unwegsamem Gelände sehr gut zu recht kam.
Der Meisterdieb wollte keineswegs, dass Malgoth, Siliah und Gartret vor ihm beim Entführungsschrank eintrafen. Falls es ihnen gelingen sollte, Kagor zu befreien, würden sie ihm einen üblen Empfang bereiten. Aber dazu würde es eine Menge Hindernisse geben. Alleine die Bewachung des Schrankes liess sich kaum überwinden. Ausserdem würden sie nicht zuerst dort sein. Wollten sie sich nicht verlaufen, dann mussten sie die Strasse entlanggehen, die gewundene Wege schlug.
Alisan kannte kürzere Wege, die ihm einen deutlichen Vorsprung verschaffen sollten.

„Wieso rennst du wie ein Verrückter?“, fragte Siliah Malgoth, „dafür ist dein Körper nicht gebaut. Das führt doch zu nichts!“
Malgoth blieb kurz stehen und musste ein paar Mal Atem nehmen, um der Elfe Antwort geben zu können. „Wir müssen vor Alisan wieder zurück sein.“
„Vor Alisan? Wieso sollte er sein Haus verlassen?“
„Glaubst du, er wird einfach unserem Bericht vertrauen wollen? Nein – er wird ganz sicher nachprüfen, ob der Sekretär auch wirklich das Zeitliche gesegnet hat.“
„Wenn dem so ist“, warf Gartret ein, „dann brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Nehmen wir an, er wäre einige Stunden nach unserer Tat aufgekreuzt – dann müssten wir eigentlich einen deutlichen Vorsprung haben. Schliesslich haben wir uns gleich unsere Spuren verwischt, sind aus der Stadt geschlichen und rennen nun schon seit den frühen Morgenstunden in Richtung Alisans Haus. Das müsste doch reichen.“
Malgoth schüttelte seinen völlig verschwitzten Kopf: „Da bin ich mir nicht sicher. Ich weiss, wie Alisan vorgehen wird, aber er weiss vermutlich, wie ich dagegen vorzugehen versuche. Wir zehren von demselben Erfahrungsschatz – dem seinen!“
„Vielleicht sollte ich vorauseilen“, meinte Siliah.
„Du würdest viel riskieren“, wandte Gartret ein.
„Es geht um Kagors Rettung – dafür wäre mir so ziemlich jedes Risiko wert“, gab sich die Elfe überzeugt.
„Nein – tu das nicht!“, meinte Malgoth bestimmt, „wir kreuzen besser alle drei auf; Alisan ist ein gefährlicher Gegner. Ausserdem würdest du mich und Gartret brauchen um den Entführungsschrank zu öffnen.“
Siliah schaute ungeduldig dem Horizont entgegen, dann schaute sie auf ihre beiden Kumpane: „Dann bleibt nur eines – nehmt gefälligst die Beine in die Hand! Wir müssen Kagor befreien!“
Sie rannten los – doch sie hielten nicht lange durch. Bald zeigte es sich, dass sie ein zu forsches Tempo angeschlagen hatten. Besonders Malgoth hatte Mühe, mitzuhalten. War sein Oberkörper beinahe so gross wie derjenige eines Menschen, so waren seine Beine dafür umso kürzer geraten. So sehr er sich auch bemühte: er konnte nur schwer mit Gartret und Siliah mithalten.
„Zwerge haben es beim Langstreckenlauf wohl schwer“, bemerkte Gartret und versuchte dabei nicht zu spöttisch zu klingen, „auch wenn du für einen Zwergen ziemlich gross geraten bist.“
„Ich… Ich bin gar kein reiner Zwerg“, erwiderte Malgoth zwischen seinen heftigen Atemstössen, „es gibt praktisch keine reinrassigen Zwerge mehr. Wir sind… Wir sind alle nur noch teilweise Zwerge. In ein paar hundert… Jahren wird es wohl überhaupt keine mehr von uns geben.“
„Ein Schicksal, dass vielleicht nicht nur euch blüht“, meinte Siliah, während sie Malgoth traurig anblickte. „Zwar gibt es noch immer Elfen, aber ohne das Land unserer Clane sieht auch unsere Zukunft düster aus.“
„Habt ihr euch nicht gewehrt, als man euch das Land wegnahm?“, fragte Gartret.
Siliah wollte etwas darauf antworten, dann besann sie sich anders, zuckte nur mit den Schultern und meinte dann: „Vielleicht sollten wir jetzt aufhören zu reden und uns aufs Laufen konzentrieren.“
Malgoth nickte: „Ich hoffe nicht, dass wir Kagor bloss wegen meiner zu kurz geratenen Beine verlieren. Das würde ich mir nie verzeihen.“

Nach Stunden bogen sie endlich von der Strasse ab. Sie waren nun ganz nahe bei Alisans Haus. Vorsichtig bewegten sie sich durch den lockeren Wald. Stets fürchteten sie, in irgendeine Falle zu tappen, oder sich plötzlich einer sonstigen Teufelei des alten Diebes gegenüber zu sehen.
Doch nichts geschah und sie konnten durch das lockere Laubwerk der Bäume die Umrisse von Alisans Haus sehen.
„Ist er da?“, fragte Malgoth Siliah.
Diese machte ein säuerliche Miene: „Es sieht nicht gut aus.“
Gartret stiess einen unterdrückten Fluch aus.
„Es hat keinen Sinn sich hier zu verbergen“, sagte Malgoth, „er wird bereits wissen, dass wir hier sind.“
Ohne sich weiter zu verstecken legten sie das letzte Stück des Weges zurück.
Vor der Veranda stand immer noch der Entführungsschrank – und daneben stand Alisan.
Er hob mit einer überschwänglichen Begrüssungsgeste die Arme: „Ich grüsse euch, meine gelehrigen Schüler! Ihr habt grossartige Arbeit geleistet! Die Kunde eures Erfolges ist bereits bis zu mir gedrungen. Ihr habt meine Erwartungen voll und ganz erfüllt.“
„Ich würde ihn am Liebsten…“, grollte Gartret halblaut, ohne die Drohung jedoch ganz auszusprechen.
„Gib Kagor frei!“, forderte Siliah, „so wie du es versprochen hast!“
Alisan beschwichtige mit Händen und Worten: „Gemach, gemach – alles zu seiner Zeit.“
„Was soll das – Alisan!“, rief Malgoth mit mühsam unterdrückter Wut, „wir hatten eine Abmachung – und unseren Teil haben wir erfüllt.“
Der alte Dieb lachte spöttisch auf: „Gewiss doch – aber seht her: Ihr habe euch bewährt. Eigentlich gäbe es noch viel zu erledigen. Vielleicht würde es mir gefallen, wenn ihr noch ein wenig länger für mich arbeiten würdet.“
Mit einer blitzschnellen Bewegung zog Siliah ihren Bogen. Und bevor noch irgendjemand etwas tun konnte, war schon ein spitzer Pfeil auf den alten Dieb gerichtet. „Gib Kagor frei!“
Alisan versuchte die Bedrohung abzuschätzen, dann lächelte er: „Nur ich kann das tun. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Wenn du mich tötest, dann wird auch Kagor sterben – versuche dir das zu merken.“
Ailsan schien die Lage wieder im Griff zu haben, doch da geschah etwas Unerwartetes – der Schrank begann sich zu bewegen; zuerst nur wenig und ruckweise, dann immer heftiger.
„Kagor versucht sich zu befreien!“, rief Gartret hoffnungsfroh.
„Dieser Narr!“, meinte Alisan dagegen, „er wird noch das tödliche Gift auslösen- welches zur Sicherung des Schrankes dient!“
„Dann öffne denn Schrank jetzt“, meinte Malgoth ruhig, „wenn Kagor stirbt, dann wirst du keinen Faustpfand mehr haben und wir werden dich töten.“
Der Schrank schwankte mittlerweile so heftig, dass er umzufallen drohte. Ein polterndes Geräusch wurde laut. Kagor begann im Inneren gegen die Wände zu schlagen.
Alisan überlegte kurz, dann machte er sich fluchend an dem Schrank zu schaffen.
„Und wehe, du machst etwas anderes als ihn zu öffnen!“, meinte Siliah. Die Pfeilspitze zeigte noch immer unbarmherzig in Alisans Richtung.
Endlich glitt die Tür auf und Kagor fiel hustend heraus. Er versuchte auf die Beine zu kommen, fiel aber wieder um. Erst im zweiten Versuch gelang es ihm. Alisan zog sich sicherheitshalber ein paar Schritte zurück.
Malgoth, Gartret und Siliah waren erleichtert. Sie eilten zu ihrem Freund ihn, der sich immer noch nur schwankend auf den Beinen hielt.
„Kagor – geht es dir gut?“, fragte Siliah, während sie den Hünen besorgt anblickte.
Kagor schaute sich um: „Wo war ich bloss gefangen? Was ist das nur für ein Ort gewesen?“
„Du warst in einem Schrank“, antwortete Malgoth. „Alisan hat dich in einem Entführungsschrank gefangen gehalten.“
Plötzlich ertönte ein schriller Pfiff. Sie hatten den alten Dieb einige Sekunde aus den Augen gelassen und dieser hatte den Moment genutzt. Er hatte etwa zwei Dutzend Schritte Abstand gewonnen – schien aber nicht fliehen zu wollen.
„Und jetzt zu dir!“, grollte Siliah, „das ist deine letzte Schandtat gewesen!“
„Das bezweifle ich“, meinte Alisan nur.
Etwas sehr Grosses sprang aus dem Unterholz und schob sich zwischen die vier Diebe und Alisan.
„Was für ein Monstrum!“, Gartret erbleichte und wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück.
Was sie da mit feurigen Augen ansah – schien in der Tat ein Untier sondergleichen zu sein. Es ähnelte einer Raubkatze, war aber viel grösser. Ein sandfarbenes Fell schimmerte samten im Sonnenlicht. Die spitzen Ohren des Tieres waren eng am Kopf angelegt – es schien zum Sprung bereit zu sein. Jeder Moment konnte ihr letzter sein.
„Das ist es also gewesen, was wir in jener Nacht gesehen haben“, murmelte Siliah, während sie den Bogen hilflos sinken liess.
Alisan lachte wieder: „So geht es, meine Freunde! Dies hier ist eine gute Übung für euch – wenn vielleicht auch die letzte – wir werden sehen.“
„Was ist das für ein… Biest?“, fragte Malgoth noch immer fassungslos.
„Es ist ein Höhlenlöwe“, erwiderte Alisan, während das Untier geduckt und mit angespannten Muskeln noch immer zum Sprung bereit war. “Sie gelten als ausgestorben, aber einige Exemplare gibt es noch. Wenn man sie nur ordentlich füttert, wachsen sie enormer Grösse heran – wie ihr unschwer sehen könnt. Hätte sich Siliah etwas mehr für Aufzucht und Dressur interessiert, dann wüsste sie jetzt, wie man zu so einer Leibwache kommt. Aber nicht alle klugen Worte fallen auf fruchtbaren Boden.“
„Du hast diesem Tier sicher schlimme Dinge angetan, dass es dir auf diese Weise dient“, vermutete Siliah, während sie dem Bogen wieder hob.
Alisan lachte: „Wärt ihr noch während der Ausbildung geflohen, dann hätte euch der Löwe in Stücke gerissen. Ihr seht: Ich habe die Lage stets unter Kontrolle gehabt. Und dass du – meine teure Elfe – die jetzt auf den Löwen zielst, ist völlig sinnlos. Selbst du würdest mindestens ein Dutzend Pfeile brauchen, um ihn auch nur ernsthaft zu verletzen.“
„Ich ziele nicht auf den Löwen, ich ziele auf dich“, erwiderte Siliah prompt, während sie ihrem Bogen eine andere Richtung gab.
Alisan nickte: „Nicht schlecht. Du erfüllst deinen Lehrer doch noch mit etwas Stolz. Lass mich raten: Wenn ich den Löwen angreifen lasse, dann wirst du mir als deine letzte Handlung noch einen tödlichen Pfeil senden. Habe ich Recht?“
„Du hast Recht.“
Alisan überlegte kurz: „Also gut – meine Schüler – dann also folgender Vorschlag: Wir alle haben bekommen, was wir wollten. Ihr habt eure Ausbildung und Kagor zurück, ich habe meinen toten Sekretär. Eigentlich könnten wir es dabei bewenden lassen. Sagen wir doch diesmal einfach: Unentschieden! Und wir alle können unserer Wege gehen. Ihr dürft sogar die Ausrüstung mitnehmen, mit der ich euch trainiert habe.“
Malgoth fixierte den alten Dieb mit zusammengekniffenen Augen: „Und keine faulen Tricks?“
„Keine faulen Tricks – versprochen! So ist es mir auch lieber. Wieso sollte ich euch ausbilden und dann gleich danach töten? Ich will lieber noch eine Weile zuschauen, wir ihr euch in dieser Welt schlagt. Lasst es uns mit einem Patt enden – diesmal jedenfalls. Aber ich bin mir sicher: unsere Wege werden sich wieder kreuzen. Es ist noch nicht vorbei!“

Sie zogen sich ganz langsam zurück, ohne dabei Alisan oder den Höhlenlöwen aus den Augen zu verlieren.
Nur Schritt für Schritt rückwärtsgehend kamen sie voran. Doch in Anbetracht ihres listenreichen Gegners schien ihnen diese Vorgehensweise ratsam.
Schliesslich geriet Alisan und seine monströse Leibwache ausser Sichtweite.
Siliah liess ihren Bogen sinken. Mit raschen Schritten machten sich die Diebe davon.
Malgoth schaute noch einmal zurück. Sie hatten es geschafft – diesmal waren sie ‚der goldenen Hand’ entkommen.


5. Kapitel: Vom Entstehen der Menschheit

„Dann habt ihr es also getan? Ihr habt einen Menschen getötet, um mich freizubekommen?“
Malgoth legte Kagor seine Hand auf den Arm: „Es ist noch nichts entschieden.“
„Es ist noch nichts entschieden?“, fragte Kagor, „Was meinst du damit?“
„Wir haben immer noch die Möglichkeit, Alisan zu überlisten – wenn wir uns jetzt beeilen“, meinte Gartret dazu.
Kagor schüttelte den Kopf: „Ich verstehe kein Wort.“
„Wir müssen zurück nach Vindara – dort wird sich alles entscheiden“, drängte Siliah Kagor, der noch immer eher zögerlich vorwärts stapfte.
„Ihr wollt zurück in die Stadt, in welcher ihr gerade einen Mord begangen habt?“, fragte der ehemalige Paladin.
Statt neuerlichen Erklärungsversuchen, zog Malgoth Kagor am Arm und eilte voraus. Von weitem hätte es tatsächlich so ausgesehen, als würde der Zwerg den Hünen hinter sich her ziehen; aber in Wirklichkeit war es natürlich Kagor, der Malgoth mehr oder weniger bereitwillig folgte.

Als sie gegen Abend in die Nähe der Stadt kamen, blieb Siliah plötzlich stehen: „Wir sollten vielleicht besser warten, bis es ganz dunkel ist.“
„Sie hat Recht – Malgoth“, stimmte Gartret zu. „In dieser Stadt haben wir bereits genug ausgefressen – wir sollten vorsichtig sein.“
Der Zwerg seufzte: „Wir müssen wohl… Aber ihr wisst beide, dass dies gefährliche Folgen haben kann.“
Kagor öffnete den Mund und wollte etwas fragen, doch dann schloss er ihn wieder und machte stattdessen eine wegwerfende Handbewegung. Nach beinahe zwei Tagen der Gefangenschaft, fühlte er sich nun plötzlich in einen Strudel der Ereignisse hineingeworfen, welche er nicht recht verstehen konnte. Die Welt hatte sich weitergedreht, während er betäubt im Schrank gewesen war – nun musste er versuchen, sich das Verpasste irgendwie Stück für Stück zusammenzureimen.

Die Sonne ging unter und der dunkelrote Streifen am westlichen Horizont verglomm allmählich; Malgoth gab das Zeichen zum Aufbruch.
Obwohl Vindara keine Stadtmauer besass, sah die Stadt jetzt in der Dunkelheit abweisend aus. Die Balken der Fachwerkshäuser wirkten nun in der Nacht pechschwarz und hoben sich gut den hellen Stein dazwischen ab. All die Gebäude der Stadt, die am Tage lieblich anzuschauen waren, trugen jetzt in der Dunkelheit mit ihren Fachwerken ein schwarzes Gitter über ihren Fassaden. Es war still in Vindara - zu still für eine Stadt, in der doch so viele Menschen lebten.
Sie schlichen sich im Schutze der Dunkelheit gebückt bis zu den ersten Häuserreihen der Stadt.
Nur ein blasser Viertelmond leuchtete – sonst gab es kein Licht. Sie sahen weiterhin keine Menschenseele. Obwohl die Nacht noch jung war, schien niemand mehr wach zu sein.
Malgoth liess es sich dennoch nicht nehmen, vorsichtig um jede Häuserecke zu spähen.
Einmal sahen sie ein paar Strassenzüge weiter eine bewaffnete Patrouille; das Rascheln von Kettenhemden und der unverständliche Nachhall von Befehlen drangen zu ihnen. Doch einen Moment später war bereits nichts mehr davon zu sehen oder zu hören.

Endlich kamen sie zu ihrem Ziel.
„Gartret – mach die Tür auf!“, gebot Malgoth in ungewohnt befehlendem Ton.
Gartret, blickte den Zwerg an, runzelte die Stirn, stieg die zwei Stufen nach unten und macht sich an der Gewölbetür zu schaffen. Nach kurzer Zeit hatte er das Schloss geknackt. „Es ist offen“, gab er bekannt.
„Sehr gut – lasst uns hineingehen.“

„Was wollen wir in diesem Weinkeller?“, fragte Kagor.
„Das ist kein Weinkeller – jedenfalls jetzt nicht mehr“, gab Malgoth bekannt. „Hier werden die berühmten Toten Vindaras zur Ruhe gelegt.“
„Man riecht es“, meinte Siliah, während sie ihren rechten Ärmel schützend vor die Nase hielt.
„Hoffentlich modern nicht alle, die hier liegen“, hoffte Malgoth.
Kagor ging plötzlich ein Licht auf: „Ihr habt den Sekretär gar nicht wirklich getötet - nicht wahr?“
Gartret und Malgoth schauten sich gegenseitig an. „Das wissen wir noch nicht“, gab Malgoth ehrlicherweise zu.
Kagor wusste nicht, was er von Malgoths Antwort halten sollte. Er schaute zuerst den Zwerg an, dann Gartret und schliesslich Siliah.
„Schau nicht mich so fragend an!“, protestierte die Elfe, „Ich habe nur den Pfeil abgefeuert – Malgoth hat das Gift gemischt.“
„Das Gift stammt von aus der Drüse einer Schnecke, die nur in der Tiefsee vorkommt“, erklärte Malgoth. „Ich habe etwas davon in einer alten Flasche in Alisans Labor gefunden. Es sollte Amnesie und Scheintot bewirken. Aber das Gift ist alt; und die Berichte darüber waren mit allerlei Wundergeschichten und abergläubischem Zeug gespickt gewesen.“
„Mit anderen Worten, du hast so gut wie keine Ahnung, was das Gift wirklich bewirkt. Und du hast es auf einen Menschen angewandt?“
„Sieh doch her – Kagor“, versuchte sich Malgoth händeringend zu rechtfertigen, „Alisan hat uns die Hölle heiss gemacht. Was hätten wir tun sollen? Wir wollten dich nicht verlieren!“
Kagor seufzte: „Hoffentlich habt ihr nicht mein Leben gerettet, indem ihr ein anderes Leben mit diesem obskuren Gift beendet habt. Mit dieser Schuld würde ich nur schwerlich fertig werden.“
„Wer braucht überhaupt so ein Gift?“, fragte Siliah.
„Laut den Berichten wurde es vor sehr langer Zeit von Schamanen benutzt. Sie liessen mit diesem Gift ungehorsame Leute ‚sterben’. Dann – zur grossen Verblüffung des gemeinen Volkes – standen die Totgeglaubten als willenlose Sklaven wieder auf.“
Siliah verdrehte die Augen. „Als willenlose Sklaven - wie? Vielleicht wäre es besser, der Sekretär wäre tatsächlich tot.“
„Lasst uns endlich nachsehen“, meinte Gartret nur.

Viele Leichnahme waren – eingepackt in Tücher - in seitlich in den Stein gehauenen Nischen bestattet.
Eine der Nischen war mit einem Rahmen aus Gold versehen. Dies erweckte Malgoths Interesse. Als er näher heranging, blieb er plötzlich stehen. „Oh!“, entfuhr es ihm überrascht.
„Was ist denn?“, fragte Gartret; er und die Anderen gesellten sich zu dem Zwerg; dann wussten sie was er meinte:
„Ein seltsames Gefühl hat mich eben gestreift“, bemerkte Kagor.
Siliah nickte: „Es war wie ein kurzes Schaudern – aber nicht unangenehm. Was das zu bedeuten hat?“
„Ich weiss es nicht“, gab Malgoth zu, dann las er die Inschrift, die zu dem Grab gehörte. „Es ist das Grab Ilians“, gab der Zwerg ehrfürchtig bekannt, „er war einer der Volkshelden, welche den Grossen Herrscher zur Strecke gebracht hatten. Er ist also in seiner Heimatstadt Vindara begraben.“
„Er war derjenige, den wir auf diesem Bild im Museum gesehen haben – nicht wahr?“, fragte Kagor.
Malgoth nickte, steckte die Hand aus und befühlte das schwere Brokattuch, in welchem der Leichnam des Volkshelden eingewickelt war.
Gartret machte eine wegwerfende Handbewegung: „Lasst uns lieber nach Emalus Ausschau halten.“
Sie mussten nicht lange suchen und sie fanden den Sekretär. Sein Körper war der einzige, der noch keine sichtbaren Zeichen der Verwesung trug.
Malgoth zog ein Säckchen hervor und nahm aus diesem ein paar dürre Zweige. Diese hielt er dem Sekretär unter die Nase. Es geschah nichts.
„Das war’s dann wohl“, meinte Gartret, „der Körper ist auch stocksteif. Ich glaube, wir sollten uns damit abfinden. ‚Alles ausser Mord’ – ich habe das sowieso nur als eine generelle Richtlinie, und nicht als eine absolute Regel angesehen. Und so ist es nun auch gekommen. Lasst uns gehen.“
„Nein – warte noch!“, bat Malgoth. Er begann die dürren Zweige der Pflanze zu zerreiben, direkt über der Nase des Sekretärs.
Plötzlich ging ein Zittern durch den vermeintlichen Leichnam, dann ein tiefes Luftholen; gleich darauf ein heftiger Hustenanfall
Siliah legte Malgoth die Hand auf die Schulter, der den Sekretär noch immer mit den Stücken des Zweiges berieselte: „Nicht so viel! Sonst stirbt er noch wegen des Gegengiftes.“
Emalus – der todgeglaubte Sekretär der Stadt Vindara – hob seinen Oberkörper, soweit jedenfalls es die enge Grabnische erlaubte. Seine Augen flackerten wild und schienen nichts wirklich sehen zu können. Aus seinem halboffenen Mund rann Speichel.
Malgoth hob triumphierend die Arme: „Es hat funktioniert! Gelobt seien die Schamanen der archaischen Zeit! Ihr Gift hat funktioniert!“
„Ja, ja“, meinte Siliah halb belustigt, halb ernst, „lasst einen Todeskult hochleben. Die Wirklichkeit ist doch: Du hast einfach nur Glück gehabt.“
„Wir haben Glück gehabt – schliesslich können wir jetzt alle erleichtert Aufatmen.“
Kagor nickte und lächelte befreit: „Ich bin froh, das es so gekommen ist. ‚Alles ausser Mord’ – wir sind unserem Motto treu geblieben. Wir sind keine Mörder.“
Siliah betrachtete den Sekretär, der noch immer völlig ohne Verstand zu sein schien: „Wir sind vielleicht keine Mörder, aber viel mehr ist uns nicht geblieben. Schaut ihn euch an!“
„Ich glaube, nicht alles von ihm ist aus dem Reich der Toten zurückgekehrt“, meinte Kagor, während er den Sekretär ebenfalls in Augenschein nahm.
„Wir müssen ihn hier raus bringen“, Malgoth wandte sich an Kagor, „erledige du das bitte.“
Der Hüne musterte den Sekretär noch einmal kurz, dann packte er ihn an den Hüften und warf ihn mit einem einzigen Schwung über seine Schultern. Emalus stöhnte vor Schmerz und lallte dann etwas Unverständliches.
„Hoffentlich bleibt er einigermassen ruhig“, meinte Gartret, „andernfalls wird er uns noch die Wachen auf den Hals hetzen.“
Sie verliessen den ehemaligen Weinkeller. Unschlüssig standen sie eine Weile draussen in der Dunkelheit und blickten umher.
„Und was jetzt?“, fragte Siliah.
„Ich habe keine Ahnung – so weit habe ich noch nicht gedacht“, gestand Malgoth.
„Zuerst sollten wir mal die Stadt verlassen – danach können wir überlegen, was wir mit dem Sekretär anfangen sollen“, forderte Gartret.
Sie schlichen wieder durch die Strassen der Stadt. Emalus wurde auf Kagors Rücken immer unruhiger. Er sabberte, lallte und manchmal kreischte er sogar regelrecht.
„Wir sollten ihm das Maul stopfen“, meinte Gartret besorgt.
Doch bevor sie etwas tun konnte, drang aus der nächsten Querstrasse das Stampfen vieler schwerer Stiefel. Als sie auch das metallische Klappern von Waffen und Rüstungsteilen hörten, bestand kein Zweifel mehr: Sie waren einer Patrouille direkt in die Arme gelaufen. Sie drückten sich an die Hauswand. Keiner machte einen Laut – selbst der Sekretär war zum Glück für einen Moment ruhig.
Sie versuchten mit ihrer Umgebung so zu verschmelzen, wie es ihnen Alisan gezeigt hatte. Sie bemühten sich, mit jeder Faser ihres Körpers ganz Hauswand und völlig Kopfsteinpflaster zu sein. Es gelang ihnen tatsächlich einigermassen. Solange sie über den Schutz der Dunkelheit verfügten, konnten sie sich vielleicht im Verborgenen halten.
Vorne weg gingen zwei Mann mit Fackeln – ihnen auf dem Fusse folgten mindestens zwei Dutzend bis an die Zähne bewaffnete Wachen. Die Vier Diebe drückten sich noch enger an die Hauswand. Der Schein der Fackeln kam immer näher – jeden Moment würden sie entdeckt werden.
Dann gellte ein Befehl, der Trupp blieb plötzlich stehen. „Durchzählen!“
Jede Wache schrie eine fortlaufende Nummer in die Nacht hinaus.
„Rechtsum kehrt!“
Der ganze Trupp wendete und machte sie im Marschschritt davon. Der Fackelschein verebbte bald in der Ferne.
Malgoth griff sich an die Brust. „Dieser Beruf ist einfach schlecht für mein Herz“, ächzte er.
Emalus begann wieder Geräusche von sich zu geben.
„Nicht schlecht, wie du dich mit dem Sekretär auf dem Rücken verstecken konntest“, meinte Gartret anerkennend zu Kagor.
Dieser nickte: „Alisan mag ein Schuft sein. Und beinahe hätte er mich getötet. Aber als Lehrer war er wirklich zu gebrauchen.“
Siliah trat von der Hauswand weg: „Wir verschwinden jetzt besser.“

Sie bewegten sich jetzt schneller vorwärts, denn sie wollten unbedingt so schnell wie möglich aus der Stadt kommen.
Plötzlich hob Siliah die Hand; sie alle stoppten.
„Wieder eine Patrouille?“, fragte Gartret raunend.
Die Elfe hielt den Kopf schräg und horchte. „Ich glaube nicht“, sagte sie dann, „es hört sich eher wie ein Wagen an, welcher ein paar Strassen weiter über das Kopfsteinpflaster holpert. Etwa in dieser Richtung.“ Siliah zeigte nach Norden.
„Lasst uns nachschauen – vielleicht können wir diesen Wagen irgendwie für unsere Flucht benutzen“, meinte Gartret und pirschte bereits los. Die Anderen folgten ihm notgedrungen.
Bald sahen sie den Wagen. Es war zwar nur ein Zweispänner, doch die beiden Pferde mussten ein ziemlich grosses, kastenartiges Gefährt hinter sich her ziehen.
„Es ist ein Postwagen“, stellte Malgoth sofort fest.
Tatsächlich war auf der Seite des Wagens das Symbol eines fliegenden Falken angebracht; ein allgemein bekanntes Zeichen.
„Wollt ihr wirklich einen Postwagen überfallen, um darin zu fliehen?“, fragte Siliah besorgt, „ich habe gehört, die Postbehörde verfüge über eigene Truppen, die Banditen bis aufs Blut verfolgen.“
Malgoth nickte: „Sie haben eigene Truppen – eisenharte Kerle, kann ich euch sagen. Ich hatte einst das Missvergnügen, mit ihnen zu tun zu haben. Wehe sie halten dich für einen Wegelagerer, dann ist es aus mit dir.“
„Also was ist nun?“, fragte Gartret ungeduldig, „wir können dem Wagen nicht ewig folgen.“
„Ich habe eine bessere Idee“, meinte Kagor plötzlich. Er beschleunige seinen Schritt und ging ans vordere Ende des Wagens. Nachdem er mit dem Kutscher ein paar Worte gewechselt hatte, hielt das Gefährt an.
„Was hat er vor?“, fragte sich Gartret und die Anderen.
„Er wird wissen, was er tut – kommt mit“, die anderen folgten Malgoth und schlossen zu Kagor auf.
„Du willst, dass ich den da mitnehme?“, fragte der Kutscher, während er mit dem Stiel seiner Peitsche auf den Sekretär zeigte, welcher auf Kagors Schultern lag.
„So ist es“, bestätigte Kagor.
Der Postkutscher strich sich sein schlecht rasiertes Kinn: „Passagiere nehme ich sehr wohl auf, aber der da scheint mir betrunken zu sein; oder schlimmer.“
„Er ist krank und zwar hier“, meinte Malgoth, während er sich an den Kopf fasste.
„Ein Verrückter also…“, der Kutscher lachte laut. Die vier Diebe schauten erschrocken um; sie fürchteten, dass das Gelächter einen der Wachtrupps der Stadt auf sie aufmerksam machen würde.
Endlich hörte der Kutscher auf. „Was ist das bloss für eine Stadt!“, meinte er stattdessen empört, „zuerst musste ich diesen sündhaft teuren Wein an diesen übergeschnappte Kult abliefern…“
„Wo war denn das?“, unterbrach Gartret neugierig.
Der Kutscher zeigte mit seiner Peitsche hinter sich: „Na gleich hier drüben. Im Hinterhof dieses Gebäudes gibt es offenbar einen geheimen Zugang. Ich sage euch, die Leute sind wirklich etwas vom seltsamsten…“
„Ich glaube, ich weiss was das für Leute sind“, unterbrach Malgoth den Kutscher, „sie haben in Sindra Mall, der Hauptstadt der Insel einen Tempelhain.“
„Wirst du den Passagier mitnehmen?“, lenkte Siliah wieder auf die eigentliche Frage zurück.
Dieser wog den Kopf Hin und Her: „Versteht mich nicht falsch: Ein paar Sonderlinge tragen mitten in der Nacht einen Verrückten zu mir und sagen, ich solle ihn mitnehmen. So etwas will überlegt sein… Wo soll er denn überhaupt hin?“
„Fährst du nach Mandakir – der grossen Stadt an der Küste?“, fragte Kagor.
„Ja sicher fahre ich dorthin“, meinte der Kutscher, „aber…“
„Dort haben die Paladine ein Hospital“, fuhr Kagor unbeirrt fort, „bring ihn dorthin – nur dort kann man ihm helfen.“
Der Kutscher überlegte: „Ja, ja – das macht Sinn. Aber dennoch, das ist kein normaler Passagier. Wer sagt mir, dass er mir nicht die Kutsche vollsuhlt? Und füttern müsste ich den armen Kerl wohl auch noch.“
Malgoth seufzte: „Was kostet die Fahrt nach Mandakir normalerweise?“
„Fünf Goldstücke, aber…“
„Wir geben dir zehn – guter Mann. Und eine gute Tat hast du damit auch noch vollbracht“, meinte Kagor schnell.
Der Kutscher erwog ihr Angebot, dann meinte er: „Also gut – ich lass mich darauf ein.“
Hastig – bevor es sich der Kutscher vielleicht doch anders überlegte – nahm Kagor Emalus von den Schultern, öffnete die Tür zum Wagen und legte ihn hinein. Der Sekretär stöhnte wegen dieser eher groben Behandelung ein weiteres Mal auf.
Malgoth zahlte dem Kutscher zehn Goldtaler, wobei er nicht vergass, Kagor mehrere wütende Seitenblicke zuzuwerfen.
Der Kutscher verabschiedete sich und trieb mit der Peitsche seine Pferde an, die eher widerwillig den Postwagen wieder in Bewegung setzten.

„Das war unser letztes Geld“, seufzte Malgoth, „wir stehen wieder ganz am Anfang.“
„Vielleicht geht es uns bald noch dreckiger“, meinte Siliah plötzlich, „seht, da vorne!“
Etwas weiter in der Strasse, welche die Postkutsche gerade eben verliess, tauchten Wachen auf.
„Verdammt! Werden wir die nie los?“, knurrte Malgoth.
Sie wollten sich eben in die andere Strassenrichtung zur Flucht wenden, da hob Siliah erneut die Hand: „Geht nicht – ein anderer Trupp!“
„Und was jetzt?“, fragte Gartret, während er ständig Hin und Her schaute.
„Wie sind zwischen Hammer und Amboss“, meinte Kagor resignierend.
In beiden Richtungen kamen die Wachtrupps näher.
„Gleich werden sie uns entdecken!“, warnte Siliah verzweifelt, „Malgoth – lass dir etwas einfallen, aber schnell!“
Der Zwerg überlegte nur kurz: „Wir müssen in ein Haus – einen anderen Weg gibt es nicht.“
„Und in Welches?“, fragte Gartret.
Malgoth entschied rasch: „Wir nehmen das, zu welchem der Kutscher den Wein geliefert hat.“
„Du willst zu diesen Kultisten?“, fragte Siliah.
„Vielleicht haben sie auch etwas zu verbergen und melden uns deshalb nicht – das ist unsere einzige Chance!“
Sie rannten die paar Schritte zu dem Haus hin. Als sie die massive Eichentür öffnen wollten, zeigte es sich, dass sie verschlossen war.
„Das ist das Ende!“, seufzte Kagor.
Gartret liess ein seltsam irres Lachen hören: „Erwischt von ein paar lumpigen Wachen – wir machen ‚der goldenen Hand’ wirklich Schande! So wenig hat seine Ausbildung also gefruchtet!“
Plötzlich ging eine kleine Klappe an der Tür auf. Die dahinter befindliche Person blieb unsichtbar, lediglich ihre Stimme war hörbar: „Wie lautet die Losung?“
Malgoth ballte die Fäuste, dann fasste er sich mit beiden Händen an den Kopf: „Bei den Göttern - ich weiss es nicht! Doch lasst uns rein! Wir müssen von der Strasse!“
„Ohne Losung kein Einlass“, erwiderte die Stimme im strengen Tonfall, und dann wieder: „wie lautet die Losung?“
„Die Wachen sind gleich hier! Dann ist alles aus!“, meinte Siliah mit zunehmender Panik, „eine Elfe kann in einem Gefängnis nicht überleben! Bitte tut mir das nicht an!“
„Ich weiss es nicht... ich… es tut mir so leid…“, stammelte Malgoth nur noch.
Kagor schüttelt den Kopf: „Ich kann die Tür nicht aufbrechen – und selbst wenn ich es könnte, die Wachen würden dadurch nur noch schneller auf uns aufmerksam“,
Plötzlich hörten sie von hinten eine laute und schneidende Stimme: „Ihr da! Geht endlich in euer Haus! Und wenn ihr nicht hierher gehört – dann kommt her und ergebt euch!“
„Die Losung… Ich weiss sie einfach nicht…“, stammelte Malgoth noch immer, während er hilflos auf die Tür schaute.
„Sieg den Menaden“, sagte Gartret plötzlich.
Die Tür ging auf.
Sie gingen hinein.
Die Tür wurde hinter ihnen wieder geschlossen.
Malgoth schaute Gartret mit dem Ausdruck der völligen Verblüffung an: „Woher… Wie bist du bloss darauf gekommen?“
Gartret wischte sich den kalten Schweiss von der Stirn: „Es ist aus einem Theaterstück. ‚Sibyliea und die Orgie der Menaden’ – ein altes und nur noch selten gespieltes Stück. Doch es kommt ein Weingott darin vor, der mit diesen Worten hervorgelockt wird – so dachte ich…“
„Danke – du hast uns gerettet!“, unterbrach ihn Siliah mit zitternder Stimme. Die Elfe sah immer noch wie ein Häufchen Elend aus. Die drohende Gefangenschaft hatte ihr sehr zugesetzt.
Ein dicklicher Mann, der bloss mit einem Lendenschurz bekleidet war, begrüsste sie mit einer halben Verbeugung und einem schiefen Lächeln. „Tretet ein – geliebte Brüder; und auch du, teure Schwester. Die Festivitäten werden in Kürze beginnen – der Wein wurde bereits geliefert. Geht in den Hof – dort kennt ihr ja den Weg.“ Der Mann machte eine einladende Handbewegung.
Kagor wollte den seltsamen Mann genauer in Augenschein nehmen, doch Malgoth zog ihn am Ärmel.

Gleich hinter der Tür begann ein Durchgang, der durch das Haus zum Hinterhof führte. Dahinter befand sich ein kleiner Garten, der von keiner Seite von der Strasse einsehbar war. Es gab hier nur ein paar Bete mit Pflanzen, drei oder vier Obstbäume sowie einen Ziehbrunnen, welcher sich in der Mitte des Gartens befand.
„Ein geheimer Eingang?“, fragte Gartret
Malgoth nickte: „Es muss der Brunnen sein.“
Gartret nickte – beide gingen zielstrebig auf den Brunnen zu – Kagor und Siliah folgten ihnen.
Tatsächlich führte eine Leiter in den Brunnenschacht hinab. Was sich dort in der Tiefe befand, liess sich in der Dunkelheit nicht erkennen.
„Müssen wir da runter?“, fragte Kagor, „wir könnten doch einfach warten, bis die Wachen draussen wieder fort sind.“
Gartret zuckte mit den Schultern: „was hast du gegen ein kleines Abendteuer? Ausserdem führt von da unten vielleicht ein Gang aus der Stadt – wir sollten es versuchen.“
„Was meinst du – Siliah?“, fragte Malgoth, während er mit zusammengekniffenen Augen das Ende des Schachtes zu erspähen versuchte.
„Mein Bedürfnis nach Abenteuer ist zwar vorerst gedeckt, und ich gehe nicht so gerne in die Tiefe. Aber vielleicht gibt es unten tatsächlich einen Gang. Diese Kultisten haben sicher vorgesorgt, falls sie selber einmal in Schwierigkeiten kommen sollten.“
Kagor schüttelte den Kopf: „Ich ahne nichts gutes; ich lehne solche sinistren Kulte ab.“
„Ich glaube, sie sind harmlos“, befand Malgoth, „vielleicht ergibt sich ja irgendetwas für uns. Vergiss nicht – seit der Sache mit der Postkutsche sind wir vollkommen pleite.“
„Falls wir endlich aus der Stadt kommen, sollten wir so schnell wie möglich diese Silbertränen aufsuchen“, meinte Gartret dazu, „wie brauchen dringend Aufträge.“
„Und wieso fragen wir nicht einfach wieder bei Atamirenses nach?“, fragte Kagor, der sich mit dem Gedanken an eine Zusammenarbeit mit diesen Silbertränen noch immer nicht angefreundet hatte.
Malgoth schüttelte den Kopf: „Das würde nichts bringen – Kagor. Atamirenses arbeitet ebenfalls für die Silbertränen. Wir würden also dieselben Aufträge ausführen – bloss würde der Hehler einen Anteil von unseren Gewinn abzwacken.“
Gartret machte sich daran, in den Brunnenschacht zu klettern: „Wir müssen einen Weg aus der Stadt finden.“
Kagor seufzte: „Wenn ihr glaubt, dass es da unten irgendetwas für uns zu finden gibt, dann gehen wir – an mir soll es nicht scheitern.“ Er folgte Gartret als Nächster.

Bald standen sie alle in einem dunklen Korridor, in welchem der Brunnenschacht gemündet hatte. Von den Wänden tropfte Wasser. Von oben liess sich nur noch knapp ein wenig Sternen- und Mondlicht erspähen, welches durch den Brunnenschacht hindurch schien.
„Ein seltsamer Ort für ein Fest“, meinte Gartret.
„Vielleicht nicht“, erwiderte Siliah, „ich höre etwas – es klingt als ob da viele Leute sind.“
Malgoth entzündete seine kleine Laterne. Die Elfe ging voran und die Anderen folgten ihr.
Der Korridor machte mehrere Biegungen, dann wurde es plötzlich heller und Gelächter und andere Geräusche einer grossen Gesellschaft drangen zu ihnen.
Noch eine Biegung, dann tat sich ein grosses Höhlengewölbe vor ihnen auf. Viele Stalaktiten hingen an der Decke und ein Teil der Höhle war von einem kleinen See ausgefüllt, welcher von einem Wasserfall gespiesen wurde. An den Wänden waren viele Fackeln angebracht, welche das Gewölbe hell erleuchteten.
In der Höhle befanden sich beinahe vierhundert Menschen – viele von ihnen waren ganz oder teilweise nackt. Einige der Männer hatten ihr Haar mit Rebenblättern und –Zweigen geschmückt. Nicht wenige der Frauen trugen gewundene Hörner auf ihrem Kopf, welche sie auf irgendeine Weise dort befestigt hatten. Sie alle waren in fröhliche und angeregte Gespräche vertieft. Die Stimmung schien heiter bis ausgelassen zu sein. Alle hielten einen Becher aus gebranntem Ton in der Hand.

„Da wären wir“, meinte Gartret befriedigt, „es dürfte kein Problem sein, sich hier unters Volk zu mischen. Wir sollten hier einige Stunden verweilen. Dann wird die Luft oben sicher wieder rein sein.“ Und bevor die Anderen reagieren konnten, war er bereits auf die Menge zugegangen und bald von dieser verschluckt worden.
Malgoth seufzte: „Na, dann mal los…“
„Gartret scheint diese Gesellschaft fast schon zu geniessen“, knurrte Kagor.
„Ach komm – so schlimm ist es doch nicht“, meinte Siliah, „wir zwei bleiben besser zusammen, dann ist dir vielleicht wohler.“
Kaum hatten sie sich unter die Leute gemischt, bekam jeder von ihnen einen tönernen Becher. Ihnen wurde Wein einschenkt mit der seltsamen Bemerkung: „Es ist normaler Wein. Aber keine Angst – wenn die Zeremonie beginnt, bekommt ihr von dem elesaischen Wein; damit sich Vindros Worte sich für euch auch so richtig erschliessen.“
Siliah und Kagor fanden im Gewimmel Malgoth und Gartret. Letzterer hatte vom Wein schon ausgiebig gekostet, schien aber noch immer weit davon entfernt, angetrunken zu sein. „Na, was haltet ihr von der Sache hier?“, fragte er.
Kagor schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.
„Ich finde es ein wenig seltsam“, meinte Malgoth, „wie wissen nicht genau, was das für Leute sind. Wir sollten auf der Hut sein.“
Siliah schaute um sich: „Ich glaube kaum, dass dieser Kult einen offiziellen Platz in dieser verklemmten Stadt hat. Dieses Treffen ist sicher nicht umsonst geheim. Was sollen diese Hörner, Zweige und Blätter in den Haaren der Leute?“
„Das sind Symbole der Fruchtbarkeit, der Lust und des Weines“, erklärte Gartret, „“wartet nur, bis das Ritual beginnt – ihr werdet schon sehen.“
„Du scheinst einiges darüber zu wissen – was soll das hier?“, fragte Malgoth.
Gartret hob den Becher: „Ich habe schon einmal an einer solchen Veranstaltung teilgenommen – allerdings auf einer Bühne und nur gespielt. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie nahe Theaterstücke an die Wirklichkeit kommen. Einer der Stückeschreiber muss ein Anhänger dieses Glaubens gewesen sein.“
„Und was geschieht jetzt?“, fragte Siliah Gartret.
Bevor Gartret antworten konnte, begann das Ritual.
Luftblasen begann in dem See des Gewölbes emporzusteigen – zuerst nur vereinzelt, dann immer zahlreicher.
Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Anwesenden.
Strudel und Wirbel entstanden im See. Auf dessen Grund schien etwas Grosses nach oben drängen zu wollen.
„Sieg den Menaden! Sieg den Menaden!“ Die Anhänger des Weingottes hatten ihre Becher erhoben, während sie immer wieder diesen Ruf skandierten.
Siliah beugte sich vor: „Ich kann nicht sehen, was da im See ist. Vielleicht…“
Die Wirbel vereinigten sich zu einem wilden Gebrodel; Gischt spritzte auf; die Wasseroberfläche teilte sich. Ein riesiger Mann von enormem Körperumfang kam zum Vorschein. Auf seinem Kopf trug er sowohl Hörner, wie auch Rebenzweige. Er wurde von fantastisch kostümierten Menschen getragen, die auf den ersten Blick tatsächlich so aussahen, als würde es sich bei ihnen um Mischwesen zwischen Tieren und Menschen handeln.
Das Volk jubelte und liess ihren Gott hochleben.
Kagor öffnete den Mund und liess in grenzenloser Überraschung seinen Becher sinken: „Das… Das kann doch wohl nicht wirklich dieser Weingott selbst sein?“
Gartret schüttelte den Kopf: „Wohl kaum – aber ich muss zugeben: das Ganze ist unheimlich gut gemacht. Alle Achtung – diese Leute wissen, wie man etwas inszeniert; wirklich sehr überzeugend!“
Siliah schlang ihre Arme um sich, so, als friere sie: „Hoffentlich ist das alles wirklich nur Schau – es sieht beunruhigend echt aus…“
Malgoth kniff die Augen zusammen, er versuchte das Ganze zu durchschauen: „Wie sie die Leute bloss vom Grund des Sees hier herauf gebracht haben?“
Doch bevor sie sich weiter fragen konnten, ging das Ritual bereits weiter: Der Mann, der den Weingott Vindros darstellte oder war, hob einen Becher aus Ton; dieser sah fast gleich aus, wie derjenige, welche jeder der Versammelten bekommen hatte, nur war er deutlich grösser. „Brüder und Schwester des Rausches: Es ist soweit! Der elesaische Wein soll ausgeschenkt werden!“
Ein unbändiger Jubel brandete auf.
Plötzlich sprangen drei Wesen aus dem See. Es schienen Männer zu sein und doch wieder nicht. Einer ging auf Bocksbeinen, ein Anderer war am ganzen Körper behaart und der Dritte war ganz mit Schuppen bedeckt und liess immer wieder seine schlangenartige Zunge hervorschnellen. Jeder der Drei trug einen grossen verschlossenen Krug bei sich.
„Das geht zu weit! Das ist doch kein Gaukelspiel mehr!“, beschwerte sich Kagor.
Malgoth schaute zu Gartret hinüber: „Und wie erklärst du dir das hier?
Gartret schaute nur mit geweiteten Augen die drei Wesen an. Als Antwort auf Malgoths Frage zuckte er lediglich mit den Schultern.
Die drei Wesen öffneten ihre Krüge – und mit unglaublicher Geschwindigkeit jagten sie durch das Gewölbe und füllte eiligst alle Becher der Anwesenden.
Es dauerte nicht lange und eines der Wesen stand vor den vier Dieben. Ungeduldig tänzelte es auf seinen Bocksbeinen Hin und Her.
„Was sollen wir tun?“, fragte Siliah flüsternd in Malgoths Richtung.
Die Leute rundherum begannen schon verwundert zu schauen. Während alle ungeduldig auf den elesaischen Wein warteten, schienen die vier Neuankömmlinge nicht an dem göttlichen Saft interessiert zu sein.
Malgoth schaute beunruhigt um sich, dann sah er keine andere Möglichkeit mehr und bot seinen Becher dar; die anderen Drei taten es ihm gleich.
Nur sehr kurze Zeit später waren alle bedient.
Wieder hob Vindros oder sein Darsteller den Becher: „Trinkt ihn bis zur Neige! Haltet ihn über eueren geöffneten Mund, damit wir sicher sind, dass kein Tropfen meiner Frucht vergeudet wurde!“
„Das heisst, wir müssen wohl wirklich trinken“, knurrte Malgoth.
„Gegen ein bisschen Wein ist nichts einzuwenden“, meinte Gartret beinahe fröhlich.
„Sei nicht so naiv – Gartret!“, brauste Siliah auf, „das ist sicher kein gewöhnlicher Wein.“
„Ich werde nicht trinken“, sagte Kagor trotzig.
„Kagor – willst du, dass wir alle auffliegen?“, fragte Malgoth.
Der Hüne schwieg, doch sein missmutiger Gesichtsausdruck sprach Bände.
„Trinkt jetzt, um meine Worte empfangen zu können! Taucht ein und seid willkommen in Vindros Armen!“
Die Becher wurden gehoben und so schnell wie möglich geleert. Nur Kagor zögerte.
„Verdammt – Kagor!“, zischte Gartret, „tu es einfach!“
„Ich fürchte, wir müssen jetzt da durch. Bitte tue es!“, bat Siliah inständig.
Mit einer ruckartigen Bewegung führte Kagor den Becher an seine Lippen und leerte ihn in einem Zug.
„Hebt jetzt die Becher empor und dreht sie um! Empfangt die letzten Tropfen daraus! Vergeudet nichts – meine Freunde!“
Alle taten, was von ihnen verlangt wurde.
Die Versammelten senkten die Becher wieder; ein leiser Singsang ertöne und hallte fremdartig von den Wänden des Gewölbes wider.
Die drei Wesen mit den Krügen sprangen in den Höhlensee und verschwanden sofort darin.
„Euer Mund hat empfangen, aber es wir etwas Zeit vergehen, bis euer Körper die Wirkung meiner Frucht spüren kann. Wehrt euch nicht!“
Siliah wollte etwas sagen, doch sie konnte nur noch den Mund öffnen, dann kippte sie seitlich weg.
Kagor bückte sich, um ihr zu helfen. „Ich wusste es – wir hätten den Wein nicht trinken sollen.“
Gartret wollte eben sagen, dass er gar nichts von der Wirkung spüre, da begann er zu schwanken und musste sich setzen. Auch vor Malgoths Augen begann sich alles zu drehen. Die Welt schien plötzlich seltsam verzerrt zu sein. „Es ist nur ein Rausch, hervorgerufen von dem Wein… oder was immer sich darin befand… Es wird vorübergehen – macht euch keine Sorgen…“, sagte er noch. Dann war es auch für ihn Zeit, sich hinzulegen. Als Letzter spürte Kagor die Wirkung. Er kämpfte dagegen an und schaffte es für eine ganze Weile, auf den Beinen bleiben. Vor seinen Augen zog ein wilder Reigen aus Farben und Formen vorüber. Als er sich auf eine Wand abstützen wollte, die gar nicht da war, glitt auch Kagor zu Boden.
Doch sie verloren ihr Bewusstsein nicht; lediglich die Herrschaft über ihren Körper war ihnen abhanden gekommen. Und ihre Sinne schienen sich ganz von der Wirklichkeit getrennt zu haben. Sie sahen nur noch wage Muster und ein Gewirr von Farben. Kein Gedanke machte mehr Sinn. Sie drohten in ein tiefes Nichts zu stürzen. Doch sie wurden am Fallen gehindert. Der Anker in der Wirklichkeit war gelichtet, aber ein neuer Halt bot sich ihnen jetzt an.
Vindros Predigt begann. Und während er redete, formten sich seine Gesten und Worte in Bilder um. Sie sahen was er sprach. Vindros erzählte, was vor vielen Zeitalter geschehen war; und er berichtete vom Entstehen seines Kultes. Ob sie wollten oder nicht – sie wurden gezwungen ganz in diese Geschichte einzutauchen.
Sie wurden Zeuge von Ereignissen am Anbeginn der Zeit. Der Himmel war tiefrot gefärbt. Es schien keine Sonne, kein Mond und auch keine Sterne. Es gab nur eine staubige Ebene – und darauf tobte eine grausame Schlacht. Es kämpften auf der einen Seite schöne und geschmeidige Wesen. Sie waren voller Kraft und Anmut und man konnte spüren, dass sie von göttlicher Natur waren.
Ihnen gegenüber standen abscheuliche Wesen– entsetzliche Dämonen deren Anblick alleine einem das Blut in den Adern gefrieren liess.
In unbändigem Hass ineinander verkeilt, bekämpften sich diese beiden Armeen auf engstem Raum. Der Krieg forderte unbarmherzig seinen Tribut; Dämonen wie göttliche Wesen sanken in den Staub; immer weniger der Kämpfenden standen sich gegenüber. Am Ende überlebte nur einer der Göttlichen. Doch bevor er dem Gottvater für seinen Sieg danken konnte, fiel auch er nieder und erlag seinen tödlichen Verletzungen.
Die Ebene war getränkt von dem Blut der Göttlichen und der Dämonen. Niemand war übrig und die Ebene von jeglichem Leben verlassen.
Nun schritt die Zeit vorwärts; erst langsam, dann immer schneller und schliesslich mit rasender Geschwindigkeit. Wolken entstanden, Mond und Sonne erschienen – zuerst noch roh und unfertig, dann immer mehr der heutigen Form ähnelnd. Die Ebene begann sich zu wölben; Hügel wurden geboren. Dann begannen die Pflanzen zu spriessen. Zuerst nur Gras, dann auch Büsche und Bäume. Schliesslich begannen auf den Hügeln die Reben zu wachsen. Die Trauben wuchsen gross und saftig.
Da geschah etwas Unerwartetes: Nebel bildete sich über den Reben, der sich allmählich zusammenballte. Daraus entstand eine Gestalt, die sich langsam zur Erde senkte und auf ihr ging. Es war unverkennbar der Weingott Vindros. Er streckte die Hand aus; und alle Trauben wurden von den Reben genommen und waren bei ihm und wurden von ihm zerdrückt. Mit der anderen Hand stiess er tief in die Erde; und als er sie wieder herauszog, hatte er eine Handvoll Staub aus der Ebene von damals. Dieser Staub vermengte Vindros mit dem Saft der Trauben. Aus dieser Masse formte er geschwind zwei Figuren, die er mit seinen kundigen Händen bildete. Zuletzt flüsterte er seinen Werken noch jeweils ein Wort ins Ohr. Dann war die Arbeit des Weingottes getan. Er löste sich auf und bald war nichts als Nebel von ihm übrig, welcher vom Wind langsam auseinander getrieben wurde. Seine Werke jedoch erwachten aus ihrem unbelebten Zustand. Sie bewegten ihre Muskeln und reckten zum ersten Mal ihre Glieder. Dann schauten sie sich staunend gegenseitig an. Sie waren da – sie waren am Leben – und sie waren Menschen.

Kagor versuchte stöhnend seine Benommenheit abzuschütteln. Alles, was er gesehen hatte, war ihm wie ein Traum von seltsamer Klarheit vorgekommen. Er setzte sich auf und schaute um sich. Die Gläubigen Vindros lagen umschlungen auf dem Boden. Sie alle befanden sich noch im Traumschlaf, welcher der elesaische Wein ihnen eingeflösst hatte.
Rasch schaute Kagor zu dem See hin – Vindros und seine Genossen waren verschwunden.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sich endlich die ersten Kultisten erhoben - das Ritual war beendet.

Gartret fasste sich an den Kopf: „Was hat das zu bedeuten? Ich begreife es einfach nicht!“
„Was meinst du mit: ’bedeuten’?“, fragte Siliah stöhnend, die noch immer nicht aufstehen konnte.
„Diese Schlacht und dann Vindros, schliesslich die Menschen - was will uns das alles sagen?“
„Vindros will wohl behaupten, dass er die Menschen erschaffen hat – eine dreiste Lüge!“, erboste sich Kagor.
„Das ist nicht unsere Sache – wir sollten einfach von hier wegkommen“, meinte Malgoth.
Gartret beharrte: „Ich will wissen, was es damit auf sich hat. Vorher gehe ich nirgendwohin.“
„Vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten“, sinnierte Siliah, „vielleicht sollten wir bloss beeindruckt sein.“
„Ich bin beeindruckt“, gab Gartret zu, „und ich möchte mehr darüber erfahren.“
„Glaubst du wirklich, dass das unsere Aufgabe ist?“, fragte Malgoth.
„Meine ist es jetzt auf jeden Fall“, gab Gartret bestimmt zurück.
„Das kam doch nur von diesem schreckliche Gebräu, welches uns die Sinne vernebelt hat – lass dich davon nicht einlullen“, forderte Kagor.
Gartret schüttelte den Kopf: „Tut mir leid, aber ich habe nie zuvor so etwas gefühlt; und ich spüre, dass noch mehr dahinter steckt.“
„Was willst du denn – noch mal einen Becher von diesem Wein?“, fragte Siliah, während sie langsam aufstand.
„Nein – ich habe diese Vision bereits nicht verstanden; was soll ich also mit einer nächsten?“
„Und, was schlägst du nun vor?“, fragte Malgoth, während er noch immer seine steifen Glieder streckte.
Gartret überlegte einen Moment, dann meinte er: „Ich habe euch noch nie um etwas gebeten, doch jetzt tue ich es: Bitte helft mir herauszufinden, um was es bei der Geschichte geht. Ich kann es nicht recht erklären, doch es ist für mich wirklich wichtig.“
„Was ist denn bloss los mit dir Gartret?“ fragte die Elfe, „am Ende läufst auch du noch halbnackt mit ein paar Rebenzweigen im Haar herum.“
„Versteht doch: bislang ist alles in meinem Leben Schauspiel gewesen; Schabernack und durchschaubare Tricks. Doch das hier ist anders! Ein Teil davon ist echt – ich kann es spüren!“
Malgoth seufzte: „Nicht genug damit, dass wir kein Geld und keinen Auftrag haben, und dass uns die Häscher auf den Fersen sind: Du möchtest auch noch den Sinn eines Kultes ergründen; wirklich fabelhaft!“
„Bitte Malgoth – es ist mir wichtig! Ich habe hier etwas gefunden, dass mir entspricht; ich weiss nur nicht genau, was es ist. Helft mir, den Sinn dieser Vision zu begreifen.“
Malgoth fasste sich an die Stirn und schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Immerhin habe ich euch gerettet – vor wenigen Stunden erst. Vergesst das nicht; ohne mich würdet ihr überhaupt nicht hier sein“, gab Gartret zu bedenken.
„Was vielleicht besser wäre“, warf Kagor ein.
Malgoth suchte den Blickkontakt zu Siliah und Kagor.
„Er hat uns gerettet - damit hat er recht“, meinte Siliah.
„Na gut“, stöhnte Malgoth resignierend, „wir werden sehen, was wir tun können. Aber jetzt machen wir uns erst mal aus dem Staub.“

Nachdem sie den Brunnenschacht verlassen hatten, machten sie sich behutsam auf den Weg aus der Stadt. In diesen frühen Morgenstunden waren nur noch wenige Wachen unterwegs. Ohne Schwierigkeiten erreichten sie schon nach kurzer Zeit den Stadtrand. Von hier aus schlugen sie sich querfeldein durch die Weinreben der nahen Hügel. Und als die Sonne aufging, hatten sie die Stadt schon einige Meilen hinter sich gelassen.


6. Kapitel: Die Silbertränen

Sie schliefen ein paar Stunden, dann gingen sie weiter.
Ihr Weg führte sie noch immer durch die Rebberge. Es war schon Herbst geworden und die Ernte hatte bereits begonnen. Doch die Winzer und ihre Helfer nahmen keine Notiz von ihnen; sie waren zu beschäftigt. Die Zeit der Weinlese nahm jede Arbeitskraft in Anspruch, die nur irgendwo aufzutreiben war. Jede Staude musste gepflückt werden, ausser denjenigen, welche erst bei der Spätlese für den Süsswein geerntet werden würden.
Die Trauben wurden in hölzernen Gefässen gesammelt, welche man wie Rucksäcke auf den Rücken schnallen konnte. Kräftige Männer brachten sie ins Tal. Dort befanden sich grosse steinerne Wannen. Hier zerstampften barfüssige Frauen die Trauben zu einem Brei. Sollte aus den roten Trauben roter Wein hergestellt werden, dann wurde der ganze Brei samt Kernen und Schalen in grosse, hölzerne Rundtürme abgefüllt. Diese verschliessbaren Rundtürme standen oft gleich neben den Winzereien und überragten diese meist. Hier würde die rote Farbe der Schalen und der bittere Geschmack der Kerne langsam in den Saft übergehen. In ein paar Tagen konnte dann dieser ganze Brei in einer riesigen Presse – der so genannten Kelter - ausgepresst werden. Dann konnte der Rebensaft endlich in Fässer abgefüllt werden um dort zu gären. Am Ende würden die Fässer nach Wein riechen und der Wein nach dem Eichenholz der Fässer.

Die vier Diebe wanderten durch diese Welt der harten und ehrlichen Arbeit. Still fragten sie sich, wie ein solches Leben sich wohl anfühlen würde. Wie sehr sich doch die Sorgen und Nöte dieser Menschen von den ihren unterschieden! Und doch gab es auch eine ganze Menge, welche sie mit den Winzern und ihren Helfern gemein hatten: Für sie alle war das Leben im Grunde genommen ein Kampf um das tägliche Brot. Die Welt der Winzer schien im Vergleich zu der ihren berechenbarer, war aber zugleich auch eintöniger und vorbestimmter. Im Leben der vier Aussenseiter war alles offen; doch es fehlten auch die schützenden Gewissheiten, auf welchen sich das Leben der Sesshaften stützen konnte.

Als es langsam Abend wurde, legte sich das emsige Treiben auf den Rebbergen langsam. Die Winzer kehrten in ihre Häuser heim, welche meistens in den Tälern lagen. Licht wurde angezündet und ein warmes, goldgelbes Leuchten drang bald aus so gut wie jedem Fenster; Lachen und das Schreien von Kindern drang zu den Dieben hinauf.
Kagor, Malgoth, Gartret und Siliah setzten sich und verköstigten sich mit ein paar Trauben. Schweigsam sassen sie eine Zeitlang da und schauten ins Tal. Sie alle schwelgten in schönen, aber unerreichbaren Erinnerungen aus früheren Tagen.
Schliesslich brach Malgoth das schweigen: „Wir müssen endlich Aufträge finden. Wir können uns nicht ewig von ein paar Trauben ernähren.“
Wieder herrschte für eine Weile Schweigen, dann meinte Kagor: „Vielleicht gehen wir alle den falschen Weg. Niemand wird als Dieb geboren – also hätten auch wir die Wahl.“
Siliah schaute auf: „Ja – haben wir die?“
Gartret schüttelte den Kopf: „Ich weiss nicht, ob ich anders wählen würde – selbst wenn ich könnte.“
Siliah stiess Gartret an: „Vielleicht würdest du lieber ein Priester Vindros werden. Dann könntest du noch weiter von diesem Wein trinken und dich verrückt machen lassen.“
Gartret hob den Blick nicht. „Ich weiss: Es ist einfach zu spotten – ich selbst habe das oft getan. Aber ich bin letzte Nacht von etwas berührt worden; bitte gesteht mir das zu. Ich verlange nicht, dass es euch ebenso ergeht.“
Eine Weile sagte wieder niemand ein Wort.
„Nicht dass es mir gefällt…“, meinte Kagor dann zögerlich, „du weisst, dass ich nicht viel von diesem Vindros und seinen Anhängern halte. Aber wir Paladine wissen: Wenn man einen Ruf vernimmt, dann wäre es wirklich töricht, ihm nicht zu folgen. Du solltest deine Bestimmung ernst nehmen – Gartret. Finde heraus, woraus sie besteht. Und sei dein Weg auch, diesem Vindros zu folgen.“
Gartret schaute zu dem Hünen herüber: „Danke – Kagor; es bedeutet mir viel, dass du mich aufmunterst.“
Malgoth schaute Gartret fast ein wenig misstrauisch an: „Du scheinst mir irgendwie verändert – kein Zweifel. Ich weiss nur noch nicht, was ich davon halten soll. Was immer du tust, bitte lass deine Freunde jetzt nicht im Stich.“
Gartret lächelte: „Keine Angst – Malgoth. Ich werde weiter bei euch bleiben – was sollte ich sonst auch tun? Und morgen ziehen wir los und holen uns neue Aufträge. Nichts wird uns dann noch aufhalten.“


*****

Atamirenses schaute mehrmals ängstlich um sich. Es war Nacht und er stand alleine in einer Lichtung des Waldes. Und ausgerechnet die Leute, die er am Meisten fürchtete sollte er hier treffen: Die Silbertränen.
Sie hatten ihn hierher bestellt. Die Nachricht war eindeutig gewesen: nur er allein sollte zur vorbestimmten Stunde hier sein. Das Bild hatte er wie gefordert mitgebracht.
Ein Glück, dass die vier Diebe – welche er beauftragt hatte – am Ende doch noch erfolgreich gewesen waren. Zwar hatten sie ihm keinen sehr sicheren Eindruck gemacht. Und der Tumult nach dem Diebstahl war gross gewesen. Doch das spielte jetzt alles keine Rolle mehr. Das Bild war hier und damit war die Forderung der Silbertränen erfüllt. Atamirenses hatte seinen Teil der Abmachung damit eingehalten und dies beruhigte ihn doch etwas. Nichts hätte seine Angst mehr steigern können, als die Sorge, diese Silbertränen auf irgendeine Weise zu verärgern.
Atamirenses rieb sich nervös an seinem Schnurrbart. Er hatte sich besonders fein gemacht; sich gekämmt, sauber gepflegt und seine elegantesten Kleider angelegt. Natürlich glaubte er nicht ernsthaft, die Silbertränen damit zu beeindrucken. Aber er nutzte sein Erscheinungsbild oft wie eine Maske, hinter der er sich verstecken konnte. Dies empfand er in gewisser Weise als Schutz. Und gerade jetzt spürte er: er konnte jeden Schutz gebrauchen, der sich nur irgendwie finden liess.

Während er wartete wurde sein Blick immer wieder von dem Bild angezogen, von welchem er jetzt in der Nacht nur Konturen wahrnehmen konnte. Hatte sich nicht schon der Hüne unter den vier Dieben gewundert? Was bedeutete dieses Bild?
Atamirenses strich sich seine Kleider glatt. Vom Wert der Kunst verstand er viel, ihr Sinn blieb ihm aber oft auf beunruhigende Weise verborgen. Ein leerer Stuhl in einem Kornfeld? Was hatte das zu bedeuten? Wieso bezahlten die Silbertränen soviel Geld für ein Bild, welches nicht besonders wertvoll schien?
Ein leises Rascheln von samtenen Tüchern liess Atamirenses herumfahren – die Silbertränen waren da! Drei waren es an der Zahl. Die Vorderste ging ein paar Schritte auf ihn zu und hob ihre rechte Hand, welche in einem schwarzen Handschuh steckte. Die Gesichter aller drei Silbertränen waren wie immer von silbernen Masken verhüllt. Sie trugen allesamt samtene Umhänge mit Kapuzen.
Atamirenses konnte es in der Dunkelheit nicht sehen, aber er wusste: Unter dem linken Auge jeder Maske war eine Träne aus Silber angebracht – das Symbol ihrer geheimnisvollen Vereinigung.

Eine Kälte schien von den Silbertränen auszugehen. Als die Vorderste von ihnen noch einen Schritt auf Atamirenses zuging, musste dieser seinen ganzen Willen aufbieten, um nicht unwillkürlich zurückzuweichen.
Waren das Menschen?
Was immer sie waren – sie verströmten etwas Ungesundes; etwas, dass die menschliche Seele zutiefst ablehnte und zu erstarren lassen drohte.
„Ich habe euer… Bild“, sprach Atamirenses mit unsicherer Stimme.
Mit einer blitzschnellen Bewegung drehte die vorderste Silberträne den Kopf in die Richtung, in welcher Atamirenses Knechte das Bild vor ein paar Stunden gegen einen Baum gelehnt hatten.
Mit einer ebenso schnellen Bewegung wandte sich die silberne Maske wieder Atamirenses zu: „Du hast gut gehandelt – und weise“, hauchte eine Stimme, die wie von vielen Leuten zugleich geflüstert schien.
Atamirenses sprach schnell und hastig: „Ich habe mich an unsere Vereinbarung gehalten – jeden Punkt davon habe ich erfüllt. Das Bild ist unzerstört – vollkommen unzerstört…“
Die Silberträne blieb für einige Augenblicke erstarrt wie eine Statue, dann bewegte sich sein Kopf plötzlich wieder und er sprach: „Unzerstört? Bist du dir dessen ganz sicher?“
Atamirenses nickte einige Male, er fühlte kalten Schweiss im Gesicht: „Ja, ja – seht doch selbst; kein Kratzer, kein Makel – ich bürge dafür.“
„Mit deinem Leben?“, fragte die Silberträne, und einige der flüsternden Stimmen zischten plötzlich bedrohlich.
Atamirenses nickte zögerlich.
„Es fehlt etwas – siehst du es nicht?“
Atamirenses war, als würde ihm der Boden unter den Füssen weggezogen. Er begann zu zittern und versuchte vergeblich dagegen anzukämpfen. Es fehlte etwas? Was konnte da fehlen? Etwas am Rahmen? Nein, der war vollständig da. Ein Teil des Bildes? Aber er hatte doch alles genau überprüft.
„Dass du es nicht sieht, zeigt nur deine Gewöhnlichkeit“, spann die Silberträne ihren rätselhaften Faden fort. Dann schien eine plötzliche Spannung in den Körper des Silbertränen zu fahren: Seine ganze Gestalt reckte sich und sein Arm schoss hervor – ein spitzer Finger zeigte auf Atamirenses: „Steh nicht herum! Schau dir den Schaden an!“ Die Stimmen der Silberträne flüsterten nicht mehr, sie kreischten geradezu.
Der Hehler zögerte einen Sekundenbruchteil, dann eilte er zu dem Bild hin. Er schaute es genau an; jedenfalls so genau, wie es seine Nervosität und die Dunkelheit erlaubten. Doch er fand beim besten Willen nichts.
„Ihr habt es gestohlen – ihr alle! Diebe seid ihr – ihr Menschen der heutigen Zeit!“
Atamirenses verstand kein Wort. Angestrengt schaute er weiterhin das Bild an. „Ich kann… Es tut mir Leid… Ich kann nichts finden!“, rief er beinahe flehentlich.
„Schau den Stuhl an!“
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Atamirenses verstand, dass der Silberträne den gemalten Stuhl auf dem Bild meinte: „Er ist… leer.“
Der Silberträne nickte: „Er sollte da sitzen, doch ihr habt ihn gestohlen. Aus der Mitte eures Herzens habt ihr Ihn entfernt. Das ist die Trauer, die das Bild in sich birgt. Er selbst ist gestohlen.“
Der Hehler blickte fahrig umher – er hatte nicht die geringste Ahnung, was er darauf antworten sollte.
Der Silberträne war wieder wie erstarrt. Dann bewegte er seinen Arm und warf Atamirenses etwas zu. „Hier ist das Geld – 200 Goldtaler. Möglicherweise haben wir einen neuen Auftrag für dich. Wir wünschen den silbernen Beinschienen unseres Herrschers nahe zu sein. Sie haben einst Seinen Körper bedeckt. In Vindara werden die Beinschienen bald wieder dem Spott der Menschen ausgesetzt – während des Erntedankfestes. Dort können geschickte Hände zugreifen. Wir ziehen in Erwägung, deine Dienste für diese wichtige Aufgabe in Betracht zu ziehen.“
Die zwei hinteren Silbertränen kamen herbei und nahmen das Bild an sich. Die drei geheimnisvollen Gestalten wollten sich schon abwenden, da wurden sie von Atamirenses zurückgehalten: „Da ist noch etwas… Wie soll ich es euch sagen….“
Die Silbertränen verharrten still.
„Die vier Diebe, die ich für den Diebstahl des Bildes angeheuert habe, wollen mit euch zusammenarbeiten. Ich habe dummerweise… Ich habe leider die Gruft des Feldherrn verraten – sie wollen euch dort treffen.“
Noch immer verharrten die Silbertränen stumm. Atamirenses wäre nicht überrascht gewesen, wenn die Worte, die er soeben gesprochen hätte, seine letzten gewesen wären. Erst jetzt begriff er gänzlich, wie dumm es gewesen war, den Dieben von den Silbertränen zu erzählen. Doch es war vielleicht seine letzte Chance, die Karten auf den Tisch zu legen. Die vier Diebe würden sowieso aufkreuzen – und der Treffpunkt konnte nur von ihm verraten worden sein.
Unendlich scheinende Sekunden verstrichen. Alles schien auf Messers Schneide zu stehen. Würden die Silbertränen ihm seinen Fehler verzeihen? Oder hatte er mit dem Verrat des Treffpunktes sein Leben verwirkt?
Die eine Silberträne trat näher an ihn heran. Er hielt den Kopf seitlich, so, als lausche er. Dann wandte er sich ganz Atamirenses zu. Die silberne Maske stand nun ganz nah bei ihm. Das geriebene Metall schimmerte leicht im diffusen Mondlicht, welches in die Lichtung drang. Die Maske erlaubte keinerlei Rückschlüsse, welche Regung der Silberträne empfand. Was stand ihm da gegenüber – ein Mensch? Eine Maschine? Atamirenses war ganz den rätselhaften Launen dieser geheimnisvollen Kreatur ausgesetzt.
„Es ist bedauerlich“, sprach der Silberträne endlich, „aber vielleicht nicht zu unserem Nachteil. Wir werden bereit sein. Die Diebe werden geprüft werden. Wer nicht würdig ist, uns zu dienen, wird nicht länger leben dürfen.“
Die Silbertränen zogen sich zurück.
Atamirenses blieb allein auf der Lichtung. Seine Kleidung war von Schweiss durchnässt. Seine Knie zitterten und er musste sich zuerst einmal setzen. Aber er hatte es geschafft – er hatte einmal mehr überlebt. Und seine Hände umklammerten den schweren Geldbeutel. Er hatte heute viel Geld eingenommen. Doch war es die Sache wert? Wie lange konnte das noch gut gehen? Er wünschte, er wäre den Silbertränen nie begegnet.


****

Die Winzereien waren spärlicher geworden; und viele Hänge hier waren nicht mehr vollständig von den endlosen Reihen der Weinreben bedeckt. Da und dort zeigte sich auch schon Wald und Brachland.
Als die Zeichen der Zivilisation noch dünner wurden, gab Malgoth das Zeichen und sie stiegen ins Tal hinab.
Hier floss der Weisse Bach, der von hier aus nach Norden nach Vindara verlief. Der Fluss wand sich in engen Biegungen und sie hatten Mühe ihm zu folgen. Doch auf die Hügel konnten sie auch nicht mehr, denn die Flanken zum Tal fielen immer schroffer hinab und waren nicht mehr zu erklimmen.
„Wie weit ist es noch?“, fragte Gartret.
Malgoth schüttelte den Kopf: „Ich habe keine Ahnung – aber es kann nicht mehr allzu weit sein.“
„Und was machen wir, wenn wir dort sind?“, fragte Kagor.
„Atamirenses hat gesagt, dass wir die Silbertränen bei der Gruft dieses Feldherrn treffen können.“
„Und wenn niemand da ist?“ Es war deutlich herauszuhören, dass Kagor hoffte, dass genau dies gesehen würde.
„Dann werden wir wohl wieder umkehren müssen“, gab der Zwerg zu, „aber vergiss nicht – wir sind völlig blank. Und diese Silbertränen sind vorerst unsere einzige Chance, wieder ins Geschäft zu kommen. An deiner Stelle würde ich hoffen, dass wir sie dort finden.“
Kagor erwiderte nichts darauf.
Siliah plagten ganz andere Sorgen: „Seid ihr sicher, dass wir noch lange weitergehen können?“
Tatsächlich wurde der Uferstreifen am Weissen Bache immer dünner und die Hügel schoben sich immer dichter heran. Bald waren sie gezwungen mehr zu klettern als zu gehen. Einige Stellen mussten sie sogar über kurze Strecken durch den Bach zu waten; das Wasser war eisig kalt.
„Atamirenses hat doch etwas von einer alten Strasse erzählt“, begann Siliah wieder, „doch ich sehe hier keine.“
Gartret hörte einen Moment zu klettern auf: „Und, was sollen wir deiner Meinung nach tun?“
Die Elfe zuckte mit den Schultern: „Ich wollte euch ja nur darauf hinweisen.“
Nach einer Weile meldete sich Siliah wieder: „Vielleicht sind wir doch nicht falsch.“
„Sag schon: was macht dich plötzlich so optimistisch?“, ächzte Malgoth, dem das Klettern langsam zu anstrengend wurde.
„Schaut mal da drüben – auf der anderen Seite des Flusses.“
Sie wandten sich in die besagte Richtung: Tatsächlich – auf der Kuppe des gegenüberliegenden Hügels stand eine Ruine.
„Vielleicht ist es das“, meinte Gartret hoffungsfroh.
„Wir sind auf der falschen Seite. Wie kommen wir jetzt über den Bach?“, fragte Kagor die Anderen.
Der Bach war von den Hügeln in ein enges Bett gezwungen worden. Das Wasser floss dadurch wild und ungestüm. Gischt spritzte überall da auf, wo das Teile des Bachs auf steinerne Hindernisse traf. Wirbel und quer verlaufende Strömungen unterbrachen die eigentliche Fliessrichtung an vielen Orten. Der Bach bot den Anblick eines chaotischen und wild brodelnden Durcheinanders. Es sah so aus, als sei der Inhalt eines riesigen Topfes voll mit kochendem Wasser ausgeleert worden. Der Weisse Bach machte seinem Namen alle Ehre.

„Da können wir unmöglich durchwaten – und schwimmen können wir auch nicht“, schloss Gartret rasch.
„Wir müssen einen anderen Weg finden“, meinte Malgoth entschlossen.
„Du willst zurück?“, fragte Siliah.
„Ich bin kein allzu guter Schwimmer“, gab Malgoth zu, „selbst wenn wir zurückgehen würden, wo der Bach etwas ruhiger ist, würdet ihr ohne mich gehen müssen.“
Kagor überlegte: „Die nächste Brücke liegt in Vindara – dort können wir uns im Moment unmöglich blicken lassen.“
Malgoth nickte: „Da hast du recht. Aber wir könnten etwas anderes versuchen – es ist allerdings nicht ganz ohne Risiko.“
„Sag schon – was schwebt dir vor?“, fragte Gartret, der einem neuen Abenteuer nicht ganz abgeneigt war.
„Wie viel Seil hast du dabei – Gartret?“
Dieser schnallte seinen Ruchsack los und förderte zwei Seile zutage. „Sie sind beide etwa gleich lang. Beide würden von der Länge her gut über den Bach reichen. Aber einer von uns müsste sich ins Wasser wagen. Nimm’s mir nicht krumm – aber ich werde nicht Derjenige sein.“
„Nein“, gab Malgoth zurück, „das wäre auch nicht sehr klug. Jeder, der sich in dieses Wasser begeben würde, würde mit Bestimmtheit gleich abgetrieben werden – oder Schlimmeres.“
„Wir gehen wir die Sache dann an?“, fragte Siliah.
„Wir brauchen zwei Bäume, die sich an beiden Seiten des Baches gegenüberstehen“, antwortete der Zwerg.
„Du willst eine Art Bücke bauen – nicht war?“, erriet Kagor Malgoths Gedanken.
„Vielleicht nicht gleich eine Brücke, aber zumindest ein Übergang.“

Sie suchten nun die zwei Bäume, welche für Malgoths Plan vonnöten war. Dies erwies sich als schwieriger als gedacht. Sie mussten mehr als eine Meile weiter das enge Tal hinauf gehen. Endlich zeigte Siliah auf eine Stelle: „Ich fürchte, dass ist unsere beste Chance.“
An ihrem Ufer stand eine Trauerweide, deren herabhängende Äste schon fast das Wasser berührten. Die Weide besass zwar eine etwas seltsame Form – wahrscheinlich war ihr Wuchs durch die regelmässigen Überschwemmungen des Baches durcheinander geraten – aber sie schien stabil zu sein. Das Problem lag am anderen Ufer: Hier stand eine kränklich wirkende Kiefer, die mehr tod als lebendig erschien.
Gartret beschattete die Augen mit der Hand: „An dieses moderige Stück Holz sollen wir unser Leben hängen? Das ist doch etwas mehr Aufregung als ich mir gewünscht habe.“
„Du sieht doch selbst: Es wachsen hier nicht allzu viele Bäume“, gab Malgoth zurück, „wir müssen es wohl oder übel mit diesen da versuchen.“
Auch Kagor musterte die Kiefer am anderen Ufer mit wachsendem Unbehagen. „Vielleicht sollte ich doch besser versuchen, über den Bach zukommen. Egal was passieren würde, ich würde es vermutlich überleben. Am anderen Ufer könnte ich das Seil halten“
„Danke für das Angebot“, erwiderte Malgoth, „aber selbst wenn du nur verletzt werden würdest, wie könnten wir dich von hier fort transportieren. Nein – Kagor; wir müssen es mit diesen Bäumen versuchen. Siliah – du machst den Anfang.“
Die Elfe liess sich von Gartret das dünnere der beiden Seile geben. Dann nahm sie einen der Pfeile, welche sie von Alisan bekommen hatte. Dieser besass hinten eine Öse, woran sich das Seil befestigen liess. Siliah rollte das Seil locker am Boden aus, so, dass es dem fliegenden Peil einen so geringen Widerstand wie möglich bieten würde. Dann legte sie den Pfeil an, spannte den Bogen so fest sie nur konnte und liess nach kurzem Zielen das Geschoss von der Sehne. Der Pfeil sauste über den Bach, hielt auf die Kiefer zu und grub sich tief in deren Holz ein.
„Der erste Akt ist über die Bühne“, murmelte Gartret.
Die Elfe übergab das Seilende Kagor: „Spanne es, aber nicht zu fest. Der Pfeil wird schon genug damit zu tun haben, mein Gewicht zu tragen.“
Kagor tat wie ihm geheissen.
„Hoffentlich hält das auch“, meinte Malgoth besorgt.
„Drückt mir die Daumen“, meinte Siliah noch, dann hängte sie sich an Armen und Beinen an das Seil und zog sich mit grosser Geschwindigkeit vorwärts.
„Ich würde dieser vermaledeiten Kiefer bloss raten, stabil zu bleiben“, knurrte Kagor, während er das Seil hielt.
Gartret versuchte optimistisch zu klingen: „Sie wird es schon schaffen – sie ist leicht wie eine Feder.“
Der Pfeil in der Kiefer wurde durch die Belastung des Seiles gefährlich nach unten gebogen. Malgoth wollte Siliah warnen, da geschah es auch schon: Der Pfeil löste sich vom Holz – das Seil verlor augenblicklich an Spannung. Die drei Diebe am Ufer schrieen auf.
Die Elfe fiel; doch noch im Flug drehte sich ihr Körper und sie landete mit den Füssen voran. Das Wasser ging ihr nur bis zu den Knien. Zwei rasche Schritte und sie hatte das andere Ufer erreicht.
Malgoth atmete hörbar auf: „Bei den Göttern! Wieso ist bloss jeder Klafter unseres Weges mit Gefahren gespickt?“
Kagor lächelte zufrieden „Sie hat es geschafft und scheint unverletzt – nur das zählt.“
Siliah hatte ihr Seilende zum Glück nicht losgelassen; schnell ging sie zu der Kiefer hin und band es fest.
Nun befestigte Gartret das zweite Seil an seinem Enterhaken und warf dieses über den Bach. Siliah versuchte erst gar nicht, den Haken aufzufangen; dieses metallene Ungetüm war ihr zu wuchtig. Der Haken prallte auf die Steine vor ihren Füssen. Nun löste sie das Seil vom Haken und befestigte auch dieses an der Kiefer. Kagor und Gartret gingen mit ihren Seilenden zu der Trauerweide. Kagor musste ein paar Äste von dem unförmigen Baum abbrechen, dann konnten sie die Seile sicher befestigen. Der Übergang stand.
Gartret machte sich als erstes daran, den Übergang zu passieren. Die beiden Seile waren so gespannt, dass er mit den Füssen darauf balancieren konnte, während er sich mit den Händen am oberen Seil hielt.
Der Weisse Bach toste gefährlich unter ihm. Ein- oder zweimal kam er etwas ins Schwanken und musste kurz innehalten. Doch dann hatte er es geschafft und die gefährliche Passage hinter sich gebrach.
Als nächstes erklomm Malgoth mit Kagors Hilfe das Seil. Da er als Zwerg ziemlich kurz geraten war, konnte er das obere Seil nur mit Mühe fassen.
„Besser als schwimmen“, knurrte er und bewegte sich tapfer vorwärts. Doch gegen Mitte der Wegstrecke hin wurde es für ihn immer schwieriger, das obere Seil zu halten. Bald hielt er sich nur noch mit den obersten Gliedern seiner Finger daran fest. Dann rutschte er mit einer Hand weg. Und als ob es damit nicht genug war, glitt er auch mit seinen schweren Stiefeln vom unteren Seil. „Oh ihr Götter – lasst es nicht so ein klägliches Ende sein!“, stöhnte er.
Kagor am einen und Gartret und Siliah am anderen Ufer blickten beobachteten voller Angst und Sorge den Zwergen; sie waren zur Hilflosigkeit verdammt.
Malgoth hielt sich nur noch mit den oberen Fingergliedern seiner rechten Hand fest. Seine Beine ruderten, doch sie konnten das untere Seil nicht mehr erreichen. Dann verharrte der Zwerg plötzlich ruhig. Nach einigen Sekunden der Konzentration ging ein kräftiger Ruck durch seinen Körper. Er schwang vor und zurück und bekam mit der linken Hand das obere Seil zu fassen. Nur Sekunden später hielt er sich mit beiden Händen fest. Nun bewegte er sich langsam vorwärts. Nie liess er mit einer Hand ganz los, sondern lockerte nur den Griff und schob sich jeweils vorwärts. Bange Sekunden vergingen, dann war Malgoth endlich am Ziel. Völlig erschöpft liess er sich fallen. Gartret und Siliah fingen ihn auf so gut es ging. Dann legten sie ihn vorsichtig auf die Steine des Ufers.
„Das hat du gut gemacht – Malgoth“, meinte Siliah, während sie sich fürsorglich über den Zwerg beugte.
Gartret fasste ihn bei den Schultern: „Kräftige Arme – wer hätte das gedacht!“
Nun machte sich Kagor auf den Weg. Er schien keine Probleme zu haben. Kräftig und ausdauernd schob er sich rasch voran. In kurzer Zeit hatte er mehr als die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Doch dann übertönte plötzlich ein Knall das Tosen des Wassers: Der morsche Stamm der alten Kiefer war gebrochen. Beide Seile sackten in sich zusammen; Kagor fiel mitten in das aufgewühlte Wasser. Sofort wurde er von der starken Strömung mitgerissen. Ein paar Mal tauchte er noch auf, dann verschwand er.
Die Drei am Ufer schauten ungläubig auf das wütende Auf und Ab des Weissen Baches; sie konnten es nicht fassen.
„Ein einfacher Bach hat uns also aufgehalten… – nur ein einfacher Bach…“, murmelte Gartret.
Malgoth war plötzlich von neuen Kräften beseelt. Er sprang auf: „Schnell – wir müssen den Bach hinunter! Vielleicht können wir ihn noch retten!“
Sie liefen dem Verlauf des Baches entlang, was eigentlich sinnlos war, denn der raschen Strömung konnten sie in keiner Weise folgen. Doch sie wollten nichts unversucht lassen. Sie rannten ohne auch nur die geringste Spur von Kagor zu entdecken. Besonders Malgoth drohte die Puste auszugehen.
Der Bach machte eine Biegung, und als sie diese hinter sich gelassen hatte, sass da ein völlig durchnässter Hüne auf einem Stein am Ufer.
„Es hat es geschafft!“, rief Siliah triumphierend.
„Kagor! Kagor.. wie hast du bloss…“, japste Malgoth.
Kagor wandte sich ihnen zu und lächelte. Seine Stirn blutete und seine Kleidung war zerschlissen. Dann stand er auf und kam den anderen Drei entgegen; ein leichtes Humpeln begleitete seinen Gang. Aber Kagor hatte nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Säbel sowie einen grossen Teil seiner übrigen Ausrüstung retten können.
„Sag schon – mein Grosser – bist du verletzt?“, wollte Gartret wissen.
„Ein wenig angeschlagen, doch nichts ernsthaftes“, beruhigte Kagor die Anderen.
„Du hast wirklich Glück gehabt; beinahe hätten wir dich verloren“, meinte die Elfe streng, so, als wäre Kagor durch irgendeine Ungezogenheit selbst Schuld an dem Unfall.
„Ich habe doch…“ Kagor wollte sprechen, doch Siliah legte ihm den Finger auf den Mund.
„Wir sollten versuchen, irgendwie auf den Hügel über uns zu klettern und dann dort das Nachtlager aufzuschlagen“, schlug Malgoth vor, „hier am Bach sollten wir besser nicht bleiben. Wer weiss, was mit uns passieren würde, wenn ein Hochwasser hier über uns hereinbricht.“

Auf dem Rückweg fanden sie ein aufgegebenes Lager; Malgoth untersuchte neugierig einen zerschlissenen Vogelkäfig, welcher sich unter den Sachen befand.
„Da gibt es nichts zu holen“, urteilte Gartret rasch“, lasst lieber endlich näher an diese Ruine gelangen – wir sind schliesslich nicht zum Spass hier.“
Sie mussten glücklicherweise nicht lange suchen und sie fanden ein kleines Seitental, welches tief in den Hügel hinein schnitt. Dieses stieg vergleichsweise nur langsam an und mit etwas Mühe gelangten sie auf diesem Weg auf die flache Kuppe des Hügels.
„Wir sind nicht weit – die Ruinen sind gleich hier drüben“, gab Siliah bekannt.
Tatsächlich befanden sich verfallene Mauerüberreste auf dem nächstgelegenen Hügel – gleich unterhalb dessen Spitze. Eine alte Strasse schlängelte sich dort empor; doch leider führte diese nicht in ihre Richtung, sondern seitlich von ihnen weg. Aber dafür verband ein Kamm die beiden Hügel miteinander. Es schien also kein Problem sein, die Ruinen von hier aus zu erreichen.
„Ob das die Gruft ist, von der Atamirenses gesprochen hat?“, fragte sich Gartret.
„Es könnte durchaus sein“, meinte Malgoth, „die Ruinen scheinen sehr alt zu sein. Sehr aussergewöhnlich gebaut – schaut zum Beispiel nur diese Kuppel an; da sind Leute am Werk gewesen, die etwas von Baukunst verstanden.“
Die Kuppel machte einen grossen Teil der Ruinen aus; sie war eingestürzt und man konnte in ihr inneres Blicken. Dort glaubten sie die Umrisse von Verzierungen – Säulen, Statuen und Fenster mit Emporen zu sehen; allerdings schien vieles stark beschädigt.
„Dieser Feldherr muss ein wichtiger Mann gewesen sein“, mutmasste Siliah, „wieso sonst hätte man so etwas für ihn errichten sollen?“
Gartret kratzte sich am Kinn: „Ich habe jedenfalls nie etwas von einem wichtigen Herrn gehört, der hier begraben sein soll. Vielleicht ist seine Familie bloss reich gewesen; und er irgendein aufgeblasener Wichtigtuer.“
„Schon möglich“, meinte Malgoth, ohne den Blick von den Ruinen zu nehmen, „aber ich würde nicht darauf wetten; ganz gewiss nicht.“
„Ob diese Silbertränen sich hier irgendwo verstecken?“, fragte sich Siliah.
Kagor setzte sich: „Ich muss mich ausruhen. Morgen können wir uns meinetwegen mit dem alten Gemäuer auseinandersetzten. Doch heute bin ich für nichts mehr zu gebrauchen.“
Malgoth drehte sich um: „Du hast recht – Kagor. Wir sollten uns ausruhen.“

Am nächsten Morgen überquerten sie den Kamm und näherten sich der Ruine. Eine verfallene Mauer aus grauem Gestein stellte sich ihnen in den Weg. Die Zeit und die Witterung hatten dem Mauerwerk übel mitgespielt und sie hatten keine Probleme, eine Lücke zu finden. Dann standen sie in einem Innenhof. Gleich vor ihnen lag die eingestürzte Kuppel; sie war das grösste Gebäude der Anlage. Zu ihrer Rechten und Linken standen einige halb zerfallene Säulen, welche wie vor Fäulnis kranke Riesenzähne in den Himmel ragten. Hier hatten vermutlich einst überdachte Arkaden gestanden. Doch von den Bögen oberhalb der Säulen waren nur noch einige Fragmente übrig. Überall in den Ruinen waren Vogelnester und herumfliegende Vögel zu sehen; und an vielen Stellen drohten Efeuranken das Mauerwerk fast gänzlich zu überwuchern. Trotz dieser teilweisen Rückeroberung durch die Natur herrschte eine unheimliche und beinahe bedrohliche Stimmung. Vielleicht lag es daran, dass hier das Licht wegen des grauen Steins ziemlich düster wirkte.
„Es scheint niemand hier zu sein“, flüsterte Malgoth den Anderen zu, „am Besten wir durchsuchen die Überreste der Kuppel. Wenn hier etwas Interessantes zu finden ist, dann vermutlich dort.“
„Vielleicht sollten wir zuerst die übrigen Ruinen in Augenschein nehmen“, schlug Gartret vor, „er wäre ungünstig, wenn uns jemand in den Rücken fällt, während wir auf den Trümmern der Kuppel herumklettern.“
Sie schauten sich um; unter den fast vollständig zerstörten Arkaden gab es allerdings überhaupt nichts zu sehen. Sie wollten sich eben der Kuppel zuwenden, da entdeckte Siliah einen kleinen Eingang. Vorsichtig gingen sie darauf zu.
Siliah riskierte einen kurzen Blick hinein. „Dahinter befindet sich nur eine kleine Kammer“, gab sie bekannt.
Sie gingen hinein, noch immer langsam und nach allen Seiten Ausschau haltend. Drinnen empfing sie nur eine kahle Kammer, die so niedrig war, dass Kagor gebückt gehen musste.
„Hier ist nichts Interessantes“, meinte der Hüne dann auch rasch, „lasst uns lieber gehen.“
Doch Gartret und Siliah entdeckten nahezu gleichzeitig etwas in einer Ecke. Vermutlich hatte dort einst ein Tisch aus Holz gestanden, denn Trümmer aus vermodertem Holz bedeckten den Boden. Doch darunter konnte man bei genauerem Hinsehen Metallgegenstände sehen.
„Waffen“, meinte Gartret und zog als Beweis ein kurzes Rapier hervor. Er betrachte die Klinge, die nach dem Heft erst schmal verlief und dann gegen Ende hin immer breiter wurde, um schliesslich in einer gefährlichen Spitze zu münden. Eine kleine Parierstange bot Schutz für die Schlaghand.
Gartret wog die Waffe in der Hand: „Eine schöne Klinge – und zudem äusserst gut erhalten. Ich glaube, ich werde sie behalten.“
Siliah blickte skeptisch: „Vielleicht sind das Grabbeigaben. Sind für euch Menschen eure Gräber nicht heilig?“
„Dieses nicht“, entschied Gartret ohne Umschweife, „dieser Feldherr soll doch schon Ewigkeiten tot sein.“ Der ehemalige Schauspieler steckte sich das Rapier in seinen Gürtel und zeigte damit an, dass für ihn die Sache damit erledigt war.
Als sie die Kammer verlassen hatten, hielten sie auf die zerstörte Kuppel zu. Viele hohe Trümmer stellten sich ihnen in den Weg und sie waren an manchen Stellen gezwungen, über die Mauerreste mit ihren scharfkantigen Bruchstellen zu klettern. Malgoth riss sich den rechten Ärmel seines Gewandes auf, doch sonst geschah ihnen nichts.
Dann standen sie in den Überresten der Kuppel.
Der Boden war mit Bruchstücken übersäht, die teilweise einst zu Statuen gehört hatten. Ein Ellbogen, ein Stück eines Fusses und eine linke Wange mit einem Auge obendrauf waren gut aus dem Gewirr von Steinen heraus auszumachen.
Die Wände des einst zylinderförmigen Kuppelfundamentes bestanden aus grauen Gesteinsquadern. Aber jetzt war fast die Hälfte davon eingestürzt und das einst runde Gebäude bestand aus nicht viel mehr als aus einem Halbkreis. Doch auf der halben Höhe der Mauer verlief ein Ring aus Wandreliefen, die noch erstaunlich gut erhalten waren. Gleich oben an der Mauer schlossen die Überreste der Kuppel selbst an. Vom Dach waren nur einige dünne Steine von oranger Farbe übrig, die sich wie riesige Blätter über das Gebäude legten und einst eine hoch gewölbte Kuppel gebildet haben mussten.
Siliah entdeckte ein kleines Bündel nahe einer Mauer: "Da liegt ein toter Mann - oder besser gesagt: das Wenige, dass die wilden Tiere noch übrig gelassen haben. Er scheint erst vor wenigen Tagen gestorben zu sein."
„Die Gegend ist also doch nicht so verlassen, wie es denn Anschein hat“, befand Kagor, „wir sollten auf der Hut sein.“
Sie untersuchten sie spärlichen Überreste des Leichnams; sie fanden einige kleine Werkzeuge bei ihm und auch ein paar Schreibutensilien. Malgoth untersuchte einige Papiere, die mit Notizen voll gekritzelt waren: „Da sind exakte Aufzeichnungen und Beobachtungen vermerkt. Der Mann scheint Mitglied einer Art Expedition gewesen zu sein.“
Siliah warf den Überresten einen besorgten Blick zu: „Wir sollten zusehen, dass wir hier nicht ebenso enden.“
Weil nichts mehr zu holen war, wandten sie sich wieder Kuppel selbst zu.
Malgoth wies nach oben: „Die Steine des Dachs sind lichtdurchlässig. Besonders in der Mittagssonne muss das ein aussergewöhnlicher Anblick gewesen sein.“
Auch Gartret deutete nach oben: „Was zeigen diese Wandreliefe eigentlich? Für mich sieht das wie eine Geschichte aus. Vielleicht können wir anhand dieser Reliefe etwas in Erfahrung bringen.“
„Ich werde es versuchen“, murmelte Malgoth, während er die Augen zusammenkniff.
Einige Zeit studierte der Zwerg die Wandreliefe – manchmal öffnete sich sein Mund, als wolle er etwas sagen, doch dann schloss er ihn jeweils nur wieder und setzte seine Betrachtungen fort.
„Und, was ist jetzt?“, fragte Gartret ungeduldig, dessen Begeisterung über die Kuppel bereits gänzlich verflogen war.
Malgoth senkte seinen Blick endlich wieder. „Es geht um die Einheitskriege – und die Kriege danach.“
„Du meinst, das Gebäude stammt aus der Zeit, in welcher die Reiche der Menschen geeint worden waren?“, fragte Siliah.
„Seht her“, der Zwerg zeigte auf ein Relief, auf dem Soldaten zu sehen waren, die aus Löchern aus den Bergen zu strömen schienen.
„Was soll dass?“, fragte Gartret, „sind das irgendwelche Höhlenmenschen?“
„Nein, Gartret“, erwiderte Malgoth, „das in den Bergen sind keine Höhlen sondern Bergwerke. Du musst das symbolisch verstehen: die Soldaten kommen nicht wirklich aus den Bergen.“
„Ich verstehe kein Wort“, erwiderte Gartret stur.
„Sieh doch – es geht hier um historische Ereignisse vor langer Zeit, die künstlerisch umgesetzt worden sind. Die Einheitskriege bilden einen schwer fassbaren Abschnitt der Geschichte; es gibt nur wenige gesicherte Erkenntnisse aus jener Epoche.“
„Die Einheitskriege waren eine verworrene Zeit“, bestätigte Kagor aus seinem Wissen, „wenn man damals für das Gute hätte kämpfen wollen, so wäre es schwierig gewesen, eine geeignete Seite zu wählen“,
„Da hat Kagor nicht ganz unrecht“, gab Malgoth zu. „Die Soldaten hier“, der Zwerg wies wieder auf das Relief, „gehörten zu der Armee des Grossen Herrschers – bevor er das Dunkle Zeitalter auslöste.“
„Sie wurden also angeführt von Jenem…“, Siliah war vorsichtig. Sie wusste, dass sie nun ein für Menschen schwieriges Terrain betrat.
„…Von dem Grossen Herrscher, an den wir uns nur ungern erinnern.“, beendete Malgoth rasch den Satz.
„Ich finde - es ist doch seltsam“, gab Gartret bekannt, „diese Geschichte kennt jedes Kind, auch wenn sie angeblich nicht gerne erzählt wird.“
Kagor nickte: „Das stimmt schon – das Böse fasziniert eben immer. Am Anfang hat der Grosse Herrscher vielleicht auch etwas Gutes bewirkt – die Einigung der Reiche. In Wirklichkeit hat er wohl nur seine eigenen Pläne verfolgt. Ströme von Blut sind seinetwegen geflossen; das Licht möge ihn bestrafen!“ Kagors Fluch hallte seltsam laut in der Kuppel und wurde beinahe noch lauter auf sie zurückgeworfen; unwillkürlich zuckten sie zusammen. Eine Weile schwiegen sie.
Dann unterbrach Siliah endlich die Stille: „Zurück zu dieser Armee…“
„..des Grossen Herrschers…“, warf Malgoth ein.
„…was hat es damit auf sich?“
„Es war eine riesige Armee, wie es sie bis dahin noch nie gegeben hatte“, führte Malgoth aus. „Sie besassen Waffen aus Stahl, was damals höchst ungewöhnlich war. Manche nannten sie darum auch ‚die glitzernde Horde’. Kein Wunder, waren sie ihren Gegnern haushoch überlegen. Wie eine Springflut überrannten sie die kleinen Fürstentümer und Markgrafschaften der Insel. Niemand hatte ihnen etwas entgegenzusetzen. Ihre Entschlossenheit, ihre Tapferkeit, aber auch ihre Grausamkeit schienen nicht von dieser Welt zu sein.“
„Dann hat dieser Feldherr – dem dieses Grab gewidmet ist - zur Armee des Grossen Herrschers gehört“, schloss Siliah.
„Ich denke ja“, teilte Malgoth diese Vermutung.
„Dann hat er dem schrecklichen Tyrann gedient“, flüsterte Kagor, während er die Reliefe reihum betrachtete. „Der Grosse Herrscher wollte mehr, als einem Sterblichen zustand.“
„Ist er nicht vernichtet worden?“, fragte Siliah.
„Er ist am Ende des Dunklen Zeitalters getötet worden – lange nachdem er die Fürstentümer vereinigt hatte.“
„Die fünf Helden des Volkes – ich habe davon gehört“, murmelte Siliah.
Malgoth nickte: „Natürlich haben sie nicht alleine gekämpft, doch sie haben den Grossen Herrscher selbst vernichtet.“
„Seht mal da drüben!“, unterbrach Gartret das Gespräch über längst vergangene Zeiten. Der ehemalige Schauspieler stand in einer Ecke der Kuppel, dessen Boden auffallend leer von Schutt und Trümmern war.
„Sieht so aus, wäre nur gerade hier sauber gemacht worden“, meinte Kagor als er sich zu Gartret gesellte.
„Das ist noch nicht alles – schaut euch diese Wand an.“
Malgoth ging ganz nahe heran: „Kratzspuren im Stein. Da hat sich jemand daran zu schaffen gemacht.“
Gartret nickte: „Ich wette, hier gibt es einen geheimen Eingang.“
Kagor schaute sich um: „Und wie öffnet man diesen?“
„Vielleicht kommen wir so tiefer in die Gruft hinein“, meinte Gartret hoffnungsfroh. Er betastete mit den Händen jede Furche und jede Unebenheit.
„Ist der Zugang mit Magie versperrt?“, fragte sich Siliah.
Malgoth schüttelte den Kopf: „Nein – das ist er nicht. Hier ist nichts Magisches.“
„Hier ist was!“, Gartret hatte mit dem Fuss einen Stein am Boden ertastet, der bei Druck etwas nachgab.
„Hier ebenfalls“, gab Siliah bekannt; auch sie hatte einen solchen Stein am Boden gefunden.
„Setzt mal gleichzeitig Druck auf“, forderte Malgoth.
Siliah und Gartret taten wie geheissen. Ein leises Klicken ertönte und ein grosser Steinquader löste sich von der Wand und schwenkte leicht zur Seite.
Kagor und Gartret stemmten den Steinquader noch weiter auf – der Geheimgang war geöffnet.
„Wir werden wohl kriechen müssen“, murmelte Kagor nicht gerade begeistert.
Siliah streckte eine Hand in Richtung des Geheimgangs hin: „Ein kalter Lufthauch – es wir vermutlich noch einen anderen Zugang geben. Der Gang führt von hier aus steil bergab.“
„Da die Silbertränen nicht hier oben zu finden sind, müssen wir wohl oder übel da unten unser Glück versuchen“, sagte Malgoth.
Gartret nahm eine Fackel aus seinem Ruchsack und entzündete sie.
„Muss das sein?“, fragte Siliah, „ohne dieses grelle Licht würde ich viel besser sehen.“
„Du bist mit Menschen zusammen – Siliah – und mit einem Zwerg“, belehrte Gartret die Elfe, „drei zu eins – du wirst dich anpassen müssen.“
Den ersten Teil der Strecke mussten sie kriechen – Kagor passte gerade noch so durch. Doch dann verbreiterte sich der Gang und gewann auch an Höhe. Bald konnten sie bequem stehen und kamen jetzt viel rascher voran. Wände, Decke und Boden bestanden aus grob behauenen Quadern.
„Es geht stetig nach unten – wo das wohl enden wird?“, fragte die Elfe, welcher unterirdische Gänge nicht gerade lagen.
„Oft sind die eigentlichen Grabkammern bei Grüften unterirdisch angelegt“, liess Malgoth die Anderen an seinem Wissen teilhaben.
„Dann werden wir wahrscheinlich bald auf eine Grabkammer stossen“, meinte Gartret seltsam fröhlich.
Siliah schaute den ehemaligen Schauspieler misstrauisch an: „Du willst dich doch nicht an den Grabbeigaben vergreifen wollen? Du hast schon dieses Rapier mitgehen lassen.“
Gartret antwortete nichts, sondern zuckte nur mit den Achseln.
„Die Toten sollten ruhen“, meinte Kagor bestimmt.
„Und wieso bist du dann hier unten?“, fragte Gartret.
Kagor seufzte nur.
Malgoth hob plötzlich die Hand: „Bleibt mal stehen!“
„Gartret – deck für einen Moment mal das Licht deiner Fackel ab“, bat Siliah.
Als das Licht fast ganz verschwunden war, wechselte die Elfe zu ihrer Dunkelsicht.
„Es tut mir leid Malgoth – ich kann nichts sehen. Hier ist nichts“, meinte Siliah nach einer Weile.
„Aber ich fühle etwas“, beharrte der Zwerg, „vorhin hast du mich gefragt, ob der Geheimgang vielleicht auf magische Weise verschlossen sei. Doch ich habe keine Magie gespürt – aber hier spüre ich sie!“
„Vielleicht eine unsichtbare Kreatur“, mutmasste Gartret, „oder eine magische Falle.“
Kagor zog seinen Säbel und begann die Luft vor ihm zu zerschneiden.
„Hör’ schon auf – das bringt nichts!“, forderte die Elfe.
„Vielleicht doch eine Falle.“ Gartret nahm ein paar kleine Steine aus seinem Rucksack und begann sie in den Gang zu werfen.
„Meinst du etwa, eine Falle wird dadurch ausgelöst?“, fragte Siliah ungläubig.
„Kommt drauf an, wie sie aufgebaut ist“, meinte Gartret, der sich nicht beirren liess und weiterhin Steine warf.
„Seht mal!“, rief Malgoth plötzlich.
Der letzte Stein, den Gartret geworfen hatte, war plötzlich vom Boden verschluckt worden.
„Beim Kraft unseres Ordens…“, entfuhr es Kagor.
„Da ist stimmt etwas ganz und gar nicht“, flüsterte die Elfe.
Gartret ging ganz vorsichtig weiter den Gang entlang. Plötzlich trat sein linker Fuss ins Leere – er konnte sich gerade noch auffangen.
„Da kann doch nicht sein! Ich sehe doch den Boden direkt vor mir!“, beschwerte er sich.
„Es ist eine Illusion“, gab Malgoth ruhig bekannt, „es sieht aus wie ein Stück steinerner Boden, ist aber nur ein Gaukelbild, welches von einem Zauberwirker erzeugt worden ist. Ich habe so etwas schon mal gesehen.“
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Kagor, „wenn es stimmt, was du sagst, dann kann der wirkliche Boden hundert Klafter tiefer liegen.“
Gartret warf einen Stein; nach ein paar Sekunden hörten sie das schwache Geräusch eines Aufschlags auf felsigen Grund. „Hundert Klafter vielleicht nicht, aber sicher genug für einen tödlichen Sturz.“
„Wir müssen herausfinden, wie gross das Stück ist, welches nur aus einer Illusion besteht.
Gartret nickte und warf fleissig Steine – die ersten wurden noch verschluckt, doch schon bald trafen sie wieder auf den harten Steinboden auf. „Wir können springen“, gab er sich überzeugt.
„Ihr vielleicht“, gab Malgoth zurück.
Gartret schaut den Zwerg an: „Tut mir leid – Malgoth – wir haben kein Seil mehr.“
Dieser schüttelt fluchend den Kopf.
Siliah legte dem Zwerg die Hand auf die Schultern: „Du kannst es schaffen – es ist nicht sehr weit.“
Malgoth stöhnte: „Ich werde es wohl versuchen müssen.“
Siliah sprang als erste. Behände sprang sie hoch und landete sicher und erst deutlich hinter dem Punkt wo der richtige Boden wieder begann. Auch Gartret und Kagor meisterten den Sprung ohne grössere Probleme. Malgoth holte viel Anlauf, zögerte lange und lief dann endlich los. Er spornte seine kurzen Beine an und sprang dann so gut er konnte. Sein kurzer Körper segelte durch die Luft und er landete genau an der gegenüberliegenden Kante. Mit wirbelnden Armen taumelte er zwischen sicherem Boden und Abgrund. Doch Kagor packte ihn am Kragen und zog ihn endgültig in Sicherheit. „Ich hasse springen!“, schrie Malgoth zwischen zwei rasselnden Atemzügen.
„Geschafft ist geschafft“, meinte Gartret nur.
Nachdem sich Malgoth ein Wenig erholt hatte, gingen sie weiter.
Schon nach wenigen Klaftern endete der Gang plötzlich und sie traten in eine grosse Kammer ein. Der Schein von Gartrets Fackel traf auf Wände, die aus viel glätterem Gestein gefertigt waren als diejenigen des Korridors zuvor. Ausserdem waren die Wände mit Bildern bemalt – jede Seite wurde von jeweils einer Szenerie fast vollständig eingenommen. In der Mitte der Kammer stand ein Sarkophag, welcher aussah, als bestünde er ganz aus Bernstein. Das versteinerte Harz war leicht lichtdurchlässig; im Inneren des Sarkophags liess sich schemenhaft eine liegende Gestalt erkennen.
„Wir sind am Ziel“, meinte Siliah, „doch wo sind die Silbertränen?“
Gartret ballte die Faust: „Atamirenses – dieser alte Hehler – hat uns reingelegt!“
Malgoth biss sich auf die Lippen: „Keine Silbertränen bedeutet keine Aufträge – wir haben wirklich ein Problem, Freunde“
Kagor – der sowieso nicht gerade auf ein Treffen mit den Silbertränen erpicht gewesen war – betrachtete die Bilder an den Wänden: „Schon wieder Schlachtenszenen – der Feldherr scheint nicht viel anderes als Krieg im Kopf gehabt zu haben.“
Tatsächlich kämpften auf den Wandgemälden Soldaten und Ritter in glänzenden Rüstungen gegen verwildert und hässlich aussehende Gestalten.
Weil es nichts Besseres zu tun gab, trat Gartret zu Kagor und betrachtete die Wandgemälde ebenfalls: „Es sieht fast so aus, wie die Schlacht, welche wir in der Vision von Vindros gesehen haben. Die Göttlichen gegen die Dämonen – erinnert ihr euch?“
„Fragt sich nur, wer hier die Dämonen und wer die Göttlichen sind“, erwiderte Malgoth vielsagend.
Gartret wandte sich überrascht an den Zwergen: „Was meinst du damit?“
„Ich glaube, hier werden die Schlachten der Silbernen Horde gegen die Naturvölker gezeigt. Leider haben Letztere den Ansturm der fanatisch kämpfenden Truppen des Grossen Herrschers nicht überlebt.“ Und mit einem geradezu zynischen Lächeln zuckte der Zwerg mit den Schultern: „Es können halt nicht alle überleben – nicht wahr?“
Kagor nickte: „Der Sieger nimmt sich alles – die Verlierer überleben nur noch als Fratzengesichter auf deren Triumphgemälden.“
Plötzlich stiess Siliah einen Schrei aus: „Es hat sich bewegt! Ich bin mir ganz sicher – es hat sich bewegt!“
Die Anderen eilten die paar Schritte zu ihr. „Was ist los?“, fragte Malgoth.
Siliah zeigte auf den Sarkophag: „Da drinnen! Das Ding da drin hat sich bewegt!“
Kagor eilte um den Sarkophag, dann schüttelt er den Kopf: „Da ist alles fest verschlossen – niemand kann da drin überleben.“
„Wenn ich es doch sage! Ich bin mir ganz sicher!“, erwiderte die Elfe aufgeregt.
Malgoth wollte gerade etwas Beruhigendes zu Siliah sagen, da nahm er aus den Augenwinkeln eine winzig kleine Lichtveränderung war, die nicht vom tanzenden Schein der Fackel zu kommen schien. Etwas hatte sich im Sarkophag für einen Sekundenbruchteil bewegt. „Bei den Göttern…“, entfuhr es dem Zwerg.
Gartret wandte sich fragend an Malgoth: „Hast du es auch gesehen?“
Der Zwerg wich zwei Schritte vom Sarkophag zurück: „Da geht es nicht mit rechten Dingen zu! Seid auf der Hut – Freunde!“
Kagor zog seinen Säbel, Gartret sein Rapier.
Nun sahen sie es alle: Etwas bewegte sich da – gut sichtbar hinter der Sarkophagwand aus Bernstein.
„Vielleicht ein untotes Wesen?“, fragte Siliah ängstlich. Ihr war gar nicht wohl bei dem Gedanken, hier unter der Erde und auf engstem Raum einer möglichen Gefahr ausgesetzt zu sein.
„Es ist nicht auszuschliessen“, meinte Kagor und hielt seinen Säbel noch fester.
„Da die Silbertränen nicht hier sind, sollten wir vielleicht an Rückzug denken“, meinte Gartret, der den Blick nicht vom Sarkophag zu nehmen getraute. „Wir sollten uns keinesfalls auf einen unnötigen Kampf einlassen.“
Doch Kagor widersprach mit entschlossener Stimme: „Wenn der Feldherr untot ist, dann müssen wir diesen bösen Spuk beenden! Das sind wir der Welt schuldig!“
„Der Welt schuldig?“, fragte die Elfe überrascht zurück, „was sind wir der Welt bloss schuldig?“
„Wir haben das Geschenk des Lebens empfangen – aber dieser da anscheinend nicht! Doch die Welt ist ein Ort für Lebende – wir dürfen nicht zulassen, dass hier Untote ihr jämmerliches Dasein fristen!“ Kagor ging einen Schritt näher an den Sarkophag heran.
„Kagor, ich weiss nicht…“, Malgoth war sichtlich unwohl bei der Sache.
Doch der Hüne ging mutig noch einen Schritt näher heran.
„Verdammt – Kagor!“, fluchte Gartret, „du führst hier keinen Trupp Paladine durch die Unterwelt! Denk doch an uns Andere!“
„Zieht euch zurück, wenn ihr wollt. Oder bleibt und helft mir!“
Gartret und Malgoth murmelten viele Flüche, doch sie machten keine Anstalten, die Kammer zu verlassen. Siliah zog leise und rasch ihren Bogen.
Kagor war jetzt ganz nahe bei dem Sarkophag. Plötzlich regte sich darin wieder etwas – diesmal stärker als zuvor. Der ehemalige Paladin zuckte vor Schreck kurz zurück, fing sich aber rasch wieder.
„Das kann nicht gut gehen… Das kann unmöglich gut gehen…“, murmelte Malgoth in einem fort.
Kagor presste beide Fäuste seitlich auf den Deckel des Sarkophags – seinen Säbel liess er dabei nicht los. Mit einem plötzlichen Ruck drückte er den Deckel weg - dieser fiel vom Sarkophag und landete krachend auf dem steinernen Boden.
Dann herrschte wieder Ruhe – niemand wagte zu atmen.
Vorsichtig – ganz langsam – beugte sich Kagor über den Rand des Sarkophags und spähte hinein. Zuerst sah er nicht viel, dann kam Gartret zögernd mit seiner Fackel etwas näher. Drinnen lag ein Skelett, welches den ehemaligen Paladin mit seinen leeren Augenhöhlen entgegenstierte. Noch vorsichtiger streckte Kagor seine Hand in den Sarkophag und fasste das Skelett am Arm und hob diesen hoch. Als er diesen wieder fallen liess, war nur ein klapperndes Geräusch zu hören.
Kagor drehte sich zu den Anderen um: „Es ist alles in Ordnung. Wir haben uns geirrt – es ist nur…“ Weiter kam er nicht mehr. Ein kurzes Rascheln, dann wurde das Skelett emporgehoben und aus dem Sarkophag geschleudert. Am Boden zerbarst dieses in viele kleine Knochenstücke.
Kagor wandte sich wieder um. Starr vor Entsetzten musste er zusehen, wie sich direkt vor ihm aus dem Sarkophag Etwas erhob und immer grösser wurde; halb durchsichtig - weder richtig körperlich noch ganz körperlos. Zwei schreckliche Zangen erwuchsen der Kreatur, die gefährlich zuschnappten. In der Mitte erhob sich ein scheusslicher Kopf, der mehr zu einem Raubfisch als zu einem Wesen auf Land zu gehören schien.
„Es ist eine Grabschrecke!“, schrie Malgoth aus vollem Hals, „wir müssen fliehen! Alles andere wäre Wahnsinn!“
Kagor schien einen Moment zu brauchen, um sich zu besinnen – zu lange, wie sich herausstellte. Die Grabschrecke holte aus uns schlug dem Hünen mit voller Wucht eine ihrer Zangen ins Gesicht. Kagor wurde zurückgeworfen und landete erst mehrere Klafter weiter hinten auf dem Steinboden.
Mit einem raschen Sprung gelangte die Grabschrecke aus dem Sarkophag und erreichte mit wenigen Schritten ihrer dürren, vogelähnlicher Beine den einzigen Ausgang aus der Kammer – der Fluchtweg war versperrt.
Gartret schaute sich verzweifelt um: „Und was jetzt? Verdammt - ich habe keine Lust, so zu enden!“
Die Kreatur warf triumphierend den Kopf zurück und entblösste ein grosses Maul mit vielen kleinen, aber spitzig-scharfen Zähnen.
Ein Pfeil sirrte von Silias Bogen, doch gerade als dieser die Grabschrecke treffen sollte, wurde diese plötzlich schemenartig und verlor an Kontur; ohne Schaden anzurichten schnellte der Pfeil durch sie hindurch. Augenblicklich wurde die Grabschrecke wieder von festerer Konsistenz. Ein schadenfrohes Kreischen erklang, welches durch Mark und Bein ging. Dann sang die Grabschrecke mit einer kindlich-überdrehten, Stimme: „Immer vom selben Mann gegessen! Lange, viel zu lange – doch jetzt ist’s Zeit! Tote sind gut – Lebende sind besser!“
Blitzschnell war das Monster bei Gartret. Dieser wehrte sich verzweifelt: er fuchtelte mit dem Rapier um den immer wieder bedrohlich zuschnappenden Mund der Bestie auf Distanz zu halten. Rasch wurde er zurück gedrängt. „Ich will nicht sterben! Nicht jetzt!“, schrie er in höchster Not.
Malgoth war geradezu gelähmt vor Schreck; er konnte einfach nicht fassen, was sich da vor seinen Augen abspielte. Siliah zielte mit ihrem Bogen auf die Grabschrecke; obwohl sie wusste, dass ihre Waffe wirkungslos war.
Dann kam endlich Kagor wieder auf die Beine. Er schaute sich um; eine Sekunde lang wusste er nicht wo er war. Endlich erblickte er die Grabschrecke. Rasch nahm er seinen Säbel wieder vom Boden auf. Und als er wieder aufsah, waren seine Augen von einem gefährlichen Glühen erfüllt. Er hob seine Waffe, er reckte seine ohnehin hohe Gestalt: „Untote Kreatur – empfange deine Strafe!“ Der ehemalige Paladin stürmte voran und Gartret wurde beiseite geschleudert. Selbst die Grabschrecke musste ein paar Schritte zurückweichen. Was nun folgte, war ein wilder Kampf auf engstem Raum. Kagors Säbel schien mit geradezu übernatürlicher Schnelligkeit und Kraft zuzuschlagen. Aber die Zangen und Zähne der Grabschrecke waren gefährliche Waffen; immer wieder wurde der Hüne getroffen. Kagor schrie jeweils kurz auf; kämpfte aber nur umso entschlossener weiter. Doch auch er traf immer wieder; es schien der Grabschrecke unmöglich, durch teilweise Verflüchtigung ihres Körpers Kagors Schlägen zu entkommen; dennoch schien das untote Monster siegesgewiss. Mit kindlicher Stimme singend unsinnige Wortbrocken von sich gebend, setzte sie zum Gegenangriff an. Trotz Kagors furchtbarem Wüten schien das Monster langsam die Oberhand zu bekommen. Dann bekam die Grabschrecke mit einer ihrer Zange fast Kagors Hals zu fassen. Doch der ehemalige Paladin schrie laut und zornig auf, drehte sich blitzschnell um die eigne Achse und schlug mit einem gewaltigen Schlag die Zange ab. Ungläubig betrachtete die Grabschrecke den Stumpf ihrer rechten Gliedmasse. Das war ihr Ende. Zwei ebenso gewaltige Schläge und der fischähnliche Kopf zerbarst. Der Monster fiel zu Boden. Kindliche Stimmen umsummten die gefallene Schrecke, dann wurden deren Überreste immer durchsichtiger und verschwanden allmählich. Das Leben hatte über dessen schreckliche Verballhornung triumphiert.

Aus vielen kleinen Wunden blutend, musste sich Kagor geschwächt gegen die Wand lehnen.
Malgoth wischte sich mit dem Handrücken die Stirne ab: „Das hätte vielleicht ins Auge gehen können!“
„Wie geht es dir? Kommst du zu recht?“, fragte Siliah Kagor besorgt.
Dieser nickte nur.
Auch Gartret trat zu ihm: „Ich hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass ein Mensch dieses Vieh besiegen könnte. Du bist wirklich ein aussergewöhnlicher Kämpfer.“ Dann schüttelte der ehemalige Schauspieler den Kopf: „Aber eines muss ich dir auch sagen: Du hast unser aller Leben auf Spiel gesetzt; und das nehme ich dir durchaus übel. Dieses Ding hätte mich beinahe gefressen!“
Siliah warf Gartret einen bösen Blick zu: „Hör nicht auf ihn – Kagor; du hast getan, was du für richtig hieltest. Setz dich erst mal, dann kann ich mir deine Wunden anschauen.“
Der ehemalige Paladin fügte sich bereitwillig – dabei schaute er die Elfe mit einem traurigen Blick an: „Gartret hat recht – ich hätte euch da nicht hineinziehen dürfen. Ich bin kein Paladin mehr. Die Jagd auf Untote ist nicht eure Sache – und die meinige auch nicht mehr. Ich bin jetzt nur mehr ein Dieb – zu gerne vergesse ich das manchmal.“
Malgoth lächelte dem am Boden sitzenden Hünen zu: „Nur ein Dieb? Ich denke, dieser Kampf hat uns mehr von dir gezeigt – der Paladin steckt noch immer in dir. Wer ausser dir hätte das gekonnt? Und dennoch stimmt, was Gartret gesagt hat: du solltest dich mässigen. Wir hätten mehr verlieren können, als nur unser Leben. In dieser Welt frisst die Grabschrecke die Körper, doch in der jenseitigen soll sie noch viel grausamer zu Werke gehen. Wir alle haben gesehen, wie sie sich verflüchtigt und wieder verfestigt hat; die Grabschrecke ist ein Wanderer zwischen den Welten – sie ernährt sich nicht nur von Fleisch und Knochen.“
„Zum Glück ist das Biest besiegt“, seufzte Siliah, die sich die Bedeutung von Malgoths Worten lieber gar nicht ausmalen wollte.
Gartret lächelte plötzlich: „Ja es ist besiegt - also Schwamm drüber. Ich bin dir nicht mehr böse – mein Grosser. Aber zu bemerken bleibt leider doch, dass alles ganz vergebens war. Dies ist eine Sackgasse – und diese Silbertränen sehe ich hier auch nirgends.“
„Ich spüre noch immer den Luftzug“, gab Siliah bekannt.
„Du meinst, das ist hier gar keine Sackgasse?“, fragte Malgoth.
„Man kann von Elfen halten was man will“, brummte Gartret, „doch ihren Sinnen sollte man vertrauen.“ Damit begann er die Wände der Kammer zu durchsuchen.
Kagor stand auf – er schien sich einmal mehr rasch zu erholen.
Malgoth kniff die Augen zusammen und suchte mit seinem Blick die Wände der Kammer ab.
„Der Luftzug kommt eher von hier“, gab Siliah bekannt und zeigte in die Mitte der Kammer.
„Der Sarkophag also…“, murmelte Malgoth.
Gartret nahm die Sache genauer in Augenschein: „Wohl eher unter dem Sarkophag – helft mir mal!“
Kagor, Siliah und Malgoth kamen heran; gemeinsam versuchten sie auf Gartrets Kommando den Sarkophag auf die Seite zu schieben. Der massive Block aus einem einzigen Stück Bernstein liess sich zuerst gar nicht bewegen, dann schafften sie es aber doch, ihn Stück um Stück beiseite zu schieben. Ein schmaler Treppenabgang wurde sichtbar, welcher sich bereits nach wenigen Stufen in der Dunkelheit verlor.
„Also sind wir doch noch nicht am Ende“, meinte Gartret hoffnungsfroh.
„Und was, wenn wir weitere Grabschrecken aufscheuchen?“, fragte Malgoth bang.
Kagor schüttelte den Kopf: „Mit mir dürft ihr heute nicht mehr rechnen. Ich kann zwar gehen, aber einen wirklichen Kampf stehe ich nicht mehr durch. Dazu müsste ich erst eine Nacht ausruhen und in einen Heilschlaf fallen.“
„Und, was ist jetzt? Wagen wir es?“, fragte Siliah neugierig.
„Gartret geht voran“, bestimmte Malgoth.
Dieser grinste. „Also gut; dann sollten wir uns viel Glück wünschen. Auf gute Geschäfte; auf unsere Gruppe – alles ausser Mord!“
„Alles ausser Mord!“, stimmten die Anderen mit ein.
Mit der Fackel in der einen und dem Rapier in der anderen Hand machte sich Gartret an den Abstieg. Siliah folgte ihm, dann kamen Malgoth und Kagor.

Sie waren erste wenige Stufen hinunter gestiegen, da zischte ihnen Siliah zu: „Da unten ist eine weitere Lichtquelle! Vermutlich eine Fackel!“
Bald sahen es auch die Anderen.
Dann kamen sie an das Ende der Treppe, welche sie in einen grossen Raum mit hoher Decke entliess. Mehrere Fackeln waren an den Wänden angebracht und in der Mitte der kleinen Halle loderte ein Feuer mit einer seltsam blauen Flamme, welches aus einem Loch aus dem Boden flackerte. Auf der anderen Seite des Feuers standen drei Gestalten, die ihnen allesamt den Rücken zugewandt hatten. Sie alle trugen Roben aus schwarzem Samt. Die Gestalten waren wie erstarrt und machten nicht die geringste Bewegung.


7. Kapitel: Das Fest und der Aufstand


Zögernd blieben die vier Diebe am Treppenabsatz stehen.
„Und – sind das die Silbertränen?“, fragte Siliah flüsternd.
„Woher soll ich das wissen?“, gab Malgoth zurück.
„Vielleicht hat da jemand bloss ein paar Statuen mit schwarzem Samt bekleidet und will uns damit Angst einjagen?“, fragte sich Kagor.
Gartret schüttelte den Kopf: „Glaube ich nicht – irgendjemand muss ja das Feuer und die Fackeln an den Wänden unterhalten.“
„Lasst uns näher herangehen – aber vorsichtig“, beschloss Malgoth.
Gerade als sie ein paar Schritte näher an die Gestalten heran gelangt waren, blieb Siliah plötzlich stehen: „Seht die Flamme!“
Tatsächlich gewann die blaue Flamme immer mehr an Kraft. Sie loderte bereits schon fast bis an die Decke empor. Ein Welle von brennender Hitze schlug den Vier entgegen – sie mussten zurückweichen.
„Verdammt! Was soll das?“, fluchte Gartret lautstark, „wir sind hier, um für euch zu arbeiten. Wieso treibt ihr uns zurück?“
Plötzlich ging eine Veränderung in der Flamme vor; sie wurde breiter und immer mehr Ausläufer züngelten an den Seiten. Feine Strukturen entstanden im Feuer, welche Muster bildeten, die sich immer wieder veränderten. Mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgten die Vier die Veränderungen der Flamme. Aus dem Formenspiel ging etwas Hypnotisches aus. Alles andere ausser der Flamme wurde nach und nach aus ihrem Geist ausgeblendet. Die ganze Welt schien sich auf dieses lodernde Schauspiel zu verengen. Unwillkürlich erstarrten sie und konnten nicht mehr anderes als immer nur auf die Flamme zu schauen.
Doch in Malgoths Geist regte sich etwas – eine warnende Stimme riss ihn aus dem hypnotisierten Zustand. Er wandte den Kopf und schaute Kagor, Gartret und Siliah an, die sich weiterhin völlig gebannt der sich ständig veränderten Flamme hingaben. Er wollte die Anderen warnen: „Passt auf! Hier ist üble Zauberei am Werk! Lasst euch nicht einlullen!“
Kagor schreckte auf und blickte erstaunt den Zwerg an. Dann fasste er Siliah am Arm, die neben ihm stand. Auch sie konnte ihren Blick von der Flamme lösen.
„Gartret - Hör auf das Feuer anzustarren!“, rief Malgoth zu dem ehemaligen Schauspieler hinüber. Doch dieser regte sich nicht.
„Ich erledige das“, meinte Kagor, steckte seinen Säbel ein und ging zu Gartret hinüber; er schüttelte diesen leicht, und als das nichts half packte er ihn an beiden Schultern und rüttelte ihn regelrecht durch. „Er reagiert nicht!“
„Tritt zwischen ihn und die Flamme – er darf nicht mehr hineinschauen!“, forderte Malgoth.
Der Hüne trat direkt vor Gartrets Augen. Dieser begann sich wieder zu regen. „Endlich kommst du wieder zu dir“, seufzte Kagor erleichtert.
Doch der ehemalige Paladin hatte sich zu früh gefreut: Gartret regte sich zwar wieder, aber seine Bewegungen wirkten wie diejenigen einer mechanischen Puppe. „Malgoth, Siliah – mit ihm stimmt etwas nicht!“
Der Zwerg und die Elfe kamen herbei. Gartret öffnete mehrmals den Mund, bis er endlich zu sprechen anfing – und seine Stimme klang seltsam hohl und blechern: „Ihr habt den Weg gefunden. Ihr seid würdig, uns bei unserem grossen Werk zu helfen. Wir, die unseren grossen Lebensspender verehren, wollen Ihn durch die Zeit wieder sichtbar machen. Die Kunst und die Artefakte sollen dabei unser Mittel sein.“
„Gartret – was redest du da bloss?“, fragte Siliah befremdet.
„Ich bezweifle, dass da Gartret spricht“, sagte Malgoth.
„Wer aber dann?“, fragte Kagor.
Gartret, oder dass, was von ihm Besitz ergriffen hatte, hob erneut zum Sprechen an: „Wir, die Silbertränen, tragen unseren Namen nicht zu unrecht. Wir sind voller Trauer, da wir das tragende Element der Welt vermissen. Doch das Andenken schafft uns Linderung; und deshalb verlangt es uns nach den Dingen, die von Ihm durchdrungen sind.“
„Von wem sprecht ihr?“, verlangte Siliah zu wissen.
Gartret bewegte ruckartig seinen Kopf in Richtung der Elfe.
„Ihr meint damit den Grossen Herrscher von einst – nicht wahr?“, warf Malgoth ein.
Gartrets Kopf bewegte sich wieder zurück: „Voller Angst sprecht ihr von Ihm – und ihr tut gut daran. Wie gross wäre Sein Zorn, wenn er euch heutige Wesen sehen könnte! Wie hat eure Schwäche und eure Undankbarkeit Sein grosses Werk vergiftet! Doch was geschehen ist, ist geschehen. Uns bleibt nur das Andenken.“
„Was wollt ihr nun wirklich von uns?“, fragte Malgoth vorsichtig, dem das ehrerbietige Gerede über den Grossen Herrscher unheimlich war.
„Geht und besorgt uns die Artefakte und Kunstwerke, die uns Ihm nahe sein lassen. Die Belohnung wird fürstlich ausfallen, dessen könnt ihr euch gewiss sein.“
„Und wo können wir diese Artefakte und Kunstwerke finden?“, wollte Malgoth weiter wissen.
„Das Bild aus dem Museum habt ihr uns bereits gebracht. Sein fehlen auf dem Stuhl, inmitten der Herbstlandschaft, die sich bald in den Winter fügen muss, sagt alles über unsere Sehnsucht aus.“
„Was können wir euch sonst noch bringen? Und welche Belohnung können wir dafür erwarten.“ Malgoth, versuchte, das Gespräch wieder in die Bahnen von Geben und Nehmen zu lenken. Diese Schwärmerei, die einen seltsam bedrohlichen Unterton in sich zu bergen schien, wollte er so weit wie möglich dämpfen.
Plötzlich hob Gartret mit einer ungelenken Bewegung die Arme: „Wir wollen diesmal mehr als nur ein Kunstwerk! Wir wollen etwas, dass einst Ihm gehört hat.“
Malgoth stöhnte: „Ein Gegenstand, des Grossen Herrschers selbst also… Und wo können wir so etwas finden?“
„In Vindara – doch nur zu einem bestimmten Zeitpunkt.“
„Wie ist das gemeint?“, schaltete sich Kagor in das Gespräch ein.
„Zum Erntedankfest wird ein Herold in dieser Stadt gekürt; eine lächerliche Figur, die dem einfältigen Volk der Weinstadt zu gefallen sucht. Und in ihrer Dummheit kleiden die Oberen der Stadt den Herold mit Etwas, dessen Wert sie nicht ermessen können.“
„Und das wäre?“, fragte Siliah.
Aus Gartrets Mund sprach es wieder: „Der Herold ist jedes Jahr bedeckt von allerlei Tand und Unrat – dies alles ist wertlos. Doch er trägt silberne Beinschienen – welche die Oberen der Stadt das ganze Jahr hindurch in einem sicheren Versteck bewahren. Die Beinschienen haben einst Ihm gehört – ihr müsst sie uns bringen.“
„Das wird nicht ganz einfach sein…“, meinte Malgoth, „schliesslich sind an diesem Erntedankfest vermutlich viele Leute unterwegs – und der Herold wir wahrscheinlich deren volle Aufmerksamkeit auf sich ziehen.“
Gartret trat plötzlich wie mechanisch einen Schritt auf Malgoth zu, dieser wich überrascht zurück: „Tut es! Ihr müsst die Beinschienen zu uns bringen! Sie in den Händen von Narren zu wissen, ist unerträglich! Ihr müsst es tun, denn wir selbst haben im Verborgenen zu bleiben – nicht zu allen Zeiten kann alles gezeigt werden. Wir sind erst vor kurzer Zeit erwacht und wir sind noch schwach. “
„Und was bekommen wir, wenn wir tatsächlich das Risiko auf uns nehmen und euch diese Beinschienen besorgen?“
„1000 Goldtaler – davon ein Fünftel im Voraus“, war die prompte Antwort.
Für einen Moment waren die Drei zu verblüfft, als das sie etwas hätten erwidern können.
„Das... Das ist tatsächlich eine Überlegung wert“, meinte Malgoth schliesslich, „diese Beinschienen müssen euch wirklich viel bedeuten.“
„Wir vertrauen auf euer Können. Enttäuscht uns nicht – unsere Belohnungen sind grosszügig, doch ein Versagen dulden wir nicht.“
„Soll das etwa eine Drohung sein?“ knurrte Kagor.
„Lass es gut sein - Kagor“, unterbrach Malgoth rasch, „wir freuen uns über die Aussicht auf euer grosszügiges Entgelt. Trotzdem würden wir gerne mehr über euch erfahren. Schliesslich wollen wir unsere Auftragsgeber gerne etwas näher kennen lernen…“
Gartrets Körper hob die Hand: „Dafür müsst ihr euch beweisen. Wissen muss verdient werden. Darum genug für heute; eure Aufgabe ist euch bekannt. Handelt in unserem Sinn. Wenn ihr alles erledigt habt, dann geht nach Norden.“
Gartret blieb nun einfach schweigend stehen. Der ehemalige Schauspieler war weder ansprechbar doch zeigte er von sich aus irgendeine Regung.
Kagor schüttelte Gartret an den Schultern, doch dessen glasiger Blick wich nicht.
„Es ist diese vermaledeite Flamme!“, rief der Hüne aus, „sie hält Gartret gefangen!“ Kagor drehte sich um und hielt direkt auf die blaue Flamme zu, die zwischen ihnen und den Silbertränen stand. Malgoth und Siliah versuchten ihm zu folgen; doch die Hitze des Feuers drängte sich rasch zurück.
„Kommt nicht näher!“, kam eine eindeutige Warnung aus Gartrets Mund, „wir werden es nicht erlauben!“
Doch Kagor hörte nicht; er hielt sich die Arme schützend vors Gesicht und versuchte noch näher heran zu gelangen.
Da loderte die blaue Flamme hell auf. Das Feuer züngelte in alle Richtungen und wuchs bedrohlich. „Rennt um euer Leben!“, rief Malgoth, doch sie kamen nur ein paar Schritte weit. Das Feuer loderte noch ein letztes Mal auf, dann wurde sie von einer heftigen Explosion zerfetzt. Malgoth, Kagor, Siliah und Gartret wurden augenblicklich von den Beinen gerissen. Dunkelheit umgab sie.


*****

Atamirenses rannte durch den Wald. Seine Lungen schmerzten – er würde das Tempo nicht mehr lange halten können. Er musste fliehen – aber wohin?
Sie würden ihn überall finden, davon war er überzeugt. Bislang hatten sie ihn gebraucht, doch nun war er überflüssig geworden.
Heute Morgen war er im Gasthof ‚zur Kirschbrücke’ in Vindara aufgewacht – und auf seinem Nachttisch hatte er eine silberne Münze gefunden. Ein kleiner, kläglicher Körper war darauf abgebildet gewesen, durchbohrt von sieben Dolchen. Atamirenses hatte sofort instinktiv gespürt, dass damit sein Leben verwirkt war. Er hatte die Silbertränen an die Diebe verraten und sich damit obendrein noch überflüssig gemacht. Atamirenses hätte sich für seine Dummheit Ohrfeigen können. Doch er wusste: seinen eigentlichen Fehler hatte er viel früher begangen – nie hätte er sich mit den Silbertränen einlassen dürfen. Nun war alles verloren – sein Tod war nur noch eine Frage der Zeit.
Atamirenses konnte nicht mehr; er musste anhalten. Der Hehler stemmte beide Hände auf seine Knie und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Ihm war speiübel; er hätte sich übergeben können. Atamirenses versuchte seine panische Angst zurückzudrängen, um nachdenken zu können. Wieso hatten ihn die Silbertränen nicht gleich getötet und ihm stattdessen eine Warnung in Form einer Münze überbracht? Vielleicht wollten sie ihn nur einschüchtern und nicht gleich töten?
Nein – er war sicher, dass er es mit den Silbetränen verscherzt hatte. Wahrscheinlich hatten sie ihn nur aus der Stadt treiben wollen, um ihn hier ohne grosses Aufsehen beseitigen zu können. Es war dumm von ihm gewesen, Vindara zu verlassen, um nun hier alleine im Wald sein Glück zu versuchen. Er war kein Druide oder Waldläufer, sondern fühlte sich den Städten zugehörig. Wenn es für ihn eine Möglichkeit gab, unterzutauchen, dann nur inmitten des Gewimmels des urbanen Lebens. Atamirenses machte kehrt. Er musste zu einer grossen Stadt gelangen – nur dort würde er eine Chance haben, den Silbetränen zu entkommen.

*****

„Malgoth?!“
„Was ist… passiert?“, stöhnte die Stimme des Zwerges aus der Dunkelheit.
„Gerade wollte ich dich dasselbe fragen“, erwiderte Gartret.
„Geht es dir wieder gut – Gartret?“, fragte aus einer anderen Richtung Kagor mit etwas benommener Stimme.
„Was meinst du damit?“ fragte Dieser zurück, „ich habe in dieses blaue Feuer geschaut; und nun liege ich plötzlich hier in der Dunkelheit. Ich schätze, euch ist es nicht viel besser ergangen.“
„Und du kannst dich nicht erinnern?“, bohrte Kagor nach, der seine Benommenheit schon fast ganz abgeschüttelt hatte.
„Was meinst du bloss damit?“, fragte Gartret ärgerlich.
„Wo ist Siliah?“, wollte Malgoth wissen.
„Hoffentlich ist sie nicht… verletzt“, bangte Kagor.
Malgoth suchte seine Laterne, konnte sie jedoch nicht finden.
Die Drei tasteten in der Dunkelheit ihre Umgebung ab, ohne jedoch die Elfe zu finden.
„Wir brauchen Licht, und ich kann meine Fackel nirgends finden“, bemerkte Gartret.
Kagor rief fortwährend nach Siliah, aber niemand antwortete auf seine Rufe.
„Vielleicht kann ich helfen – es dauert allerdings eine Weile“, meinte Malgoth.
„Beeile dich besser“, sagte Gartret.
„Es… ist nicht so einfach für mich. Ich versuche es.“
Einige Minuten geschah gar nichts, dann glomm ein kleines, grünes Licht auf, welches sich in den Händen des Zwerges befand.
„Was ist das – Malgoth?“, fragte Kagor verwundert.
„Macht schnell – sucht eine Fackel!“, forderte Malgoth, „ich kann das Licht nicht lange am Leben erhalten!“
Gartret fand seine eigene Fackel zwar nicht, doch er konnte eine aus einer der Wandhalterungen an sich bringen. Rasch hatte er sie entzündet.
Das grüne Licht wurde schwächer und ging schliesslich ganz aus. Erleichtert schaute der Zwerg auf: „Dank an die Götter – das klappt nicht immer.“
„Siliah!“, Kagor hatte die zierliche Elfe an einer Wand liegend entdeckt.
Die Elfe stöhnte nur leise, als sich die drei Anderen über sie beugten.
„Wo ist sie verwundet?“, fragte Gartret.
„Wie können wir dir helfen?“, fragte Malgoth die Elfe direkt.
Diese wollte sprechen, hustet aber nur.
„Sag uns schon, wie wir dir helfen können!“, rief Kagor in höchster Besorgnis.
Siliahs Lippen zitterten, dann brachte sie endlich ein paar Worte heraus: „Bringt mich… zu einem grossen Ahornbaum… Er muss gesund sein. Ahorn.. kein anderer - schnell…“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren hob Kagor den zierlichen Körper der Elfe auf.
Gartret fand an der Stelle, wo Siliah gelegen hatte, einen Lederbeutel. Er zeigte diesen den Anderen und nahm ihn an sich. So schnell sie konnten machten sie sich auf den Weg.

Sie rasteten auf dem gegenüberliegenden Hügel, dort, wo sie schon einmal genächtigt hatten. Hier stand etwas seitlich ein grosser Ahornbaum, unter den sie Siliah legten. Die Elfe nickte schwach und zeigte damit an, dass sie den richtigen Platz für sie ausgesucht hatten. Auch Kagor war am Ende seiner Kräfte. Er legte sich hin und schloss die Augen. Und obwohl er zu schlafen schien, bewegten sich seine Lippen unaufhörlich – er sprach flüsternd Heilgebete.
Malgoth und Gartret waren durch die Ereignisse zu sehr aufgewühlt und konnten nicht schlafen. Seite an Seite sassen sie beisammen und schauten in die Richtung der Gruft. Die Sonne verschwand langsam hinter einen von Wolken fleckigen Horizont. Ein leichter Wind ging und spielte mit Gartrets langem, schwarzem Haar. Sie empfanden die Weite des Himmels und die schwache Brise als angenehme Erholung und als einen willkommenen Gegensatz zu den dunklen und stickigen Gängen und Kammern, welche sie soeben verlassen hatten. Hier konnten sie wieder befreit aufatmen und ihre Gedanken in Ruhe ordnen.
Malgoth erzählte Gartret alles, was während seiner Besessenheit passiert war. Dieser konnte kaum glauben, was er da von dem Zwergen hörte. „Dann sind die Silbertränen also Zauberwirker“, schloss er.
„Jedenfalls mindestens eine von ihnen“, bestätigte Malgoth, „ausserdem muss dieser Jemand sich einen Deut um die erlaubten Praktiken scheren.“
Gartret schaute Malgoth verständnislos an: „Die erlaubten Praktiken?“
Malgoth nickte: „Es gibt ein Buch, welches von der Regierung der Insel und einer Kommission von Zauberwirkern herausgegeben wird: ‚Die erlaubten Praktiken’. Hierin wird aufgelistet, welche Art von Magie erlaubt ist und welche nicht.“
„Und was sagt diese Buch über Besessenheit?“, fragte Gartret.
„Alles was nur irgendwie damit zu tun hat, ist strengstens verboten.“
„Und die Zauberwirker halten sich an die Regel dieses Buches?“, hakte der ehemalige Schauspieler nach.
„Eigentlich schon – es liegt in ihrem Interesse. Nur dank dieses Buches wird die Zauberei überhaupt geduldet. Wer dagegen verstösst, droht damit alle Zauberwirker an den Rand der Gesellschaft zu drängen; das kann nicht das Ziel eines normalen Menschen sein.“ Doch Malgoth wollte noch über ein anderes Thema sprechen: „Sag mal Gartret – was ist in dem Lederbeutel, den du nach der Explosion unter Siliah gefunden hast?“
Gartret schaute zuerst überrascht, dann fasste er mit einer langsamen Bewegung in seine Robe und brachte den Lederbeutel zum Vorschein. „Er ist schwer und hart“, stellte er fest. Und als er ihn öffnete, zeigte es sich, dass sich viele Goldtaler in ihm befanden.
„All dieses Geld wolltest du uns doch nicht vorenthalten – oder?“, fragte Malgoth halb im Scherz.
Gartret blickte den Zwerg seltsam säuerlich an: „Natürlich nicht! Ich schätze, dass ist die Anzahlung der Silbertränen, damit wir ihnen diese Beinschienen besorgen. Wir sind also immer noch im Geschäft; obwohl Kagor auf die blaue Flamme losgegangen ist. Werden wir den Auftrag ausführen?“
Malgoth liess sich etwas Zeit, bevor er antwortete: „Das sollten wir alle zusammen besprechen. Wahrscheinlich werden wir abstimmen müssen. Kagor wird vielleicht nicht begeistert sein. Und auch Siliahs Glücksgefühle dürften sich in Grenzen halten, nachdem sie durch die Explosion fast umgekommen ist.“
Gartret nickte: „Dann werden wir also abstimmen müssen.“ Und nach einer Weile fragte er: „Was hältst du eigentlich von diesen Silbetränen?“
Der Zwerg wog den Kopf: „Schwierig zu sagen: Bislang habe ich nur drei schwarz gekleidete Gestalten von hinten gesehen; und einen Kerl, der von ihrem Zauber besessen gemacht worden war.“
Gartret lachte leise und stiess Malgoth in die Seiten. „Und sonst? Sonst hast du nichts gesehen, aus dem du dir einen Reim machen kannst?“
Malgoth stöhnte: „Oh doch – aber ich halte mich mit Vermutungen lieber zurück, bis ich mir sicher bin. Doch über eines bin ich mir völlig im Klaren: Wir haben es hier bestimmt nicht mit Kunstliebhabern oder harmlosen Schwärmern zu tun; da steckt wesentlich mehr dahinter.“
Gartret nickte zustimmend: „Tausend Goldtaler Belohnung – da steckt mehr dahinter.“
Sie schauten noch eine Weile nach Westen dem verblassenden Abendrot entgegen. Dann wurde das Rot immer dunkler und veränderte sich Nach und Nach zu einem unfreundlichen Grau. Schliesslich begannen sich die Umrisse der Wolken im umgebenden Dunkel des freien Himmels aufzulösen; die Nacht hatte begonnen.
Malgoth schaute noch einmal nach Siliah, die unter dem Lindenbaum schlief. Dann machte er und Gartret sich selber daran, sich schlafen zu legen.

Sie wachten erst gegen Mittag auf. Siliah und Kagor schienen sich gut erholt zu haben; auch wenn die Elfe noch ein wenig bleich wirkte und etwas unsicher auf den Beinen stand.
„Können wir weitergehen?“, fragte Malgoth.
„Wohin wollen wir denn?“, fragte Siliah mit müder Stimme.
„Richtung Vindara – unser Auftrag wartet dort; wisst ihr nicht mehr?“, fragte Gartret in einem so selbstverständlichen Tonfall wie er nur konnte.
„Haben wir den Auftrag denn angenommen?“, fragte Siliah bereits wesentlich wacher.
Gartret nahm den Lederbeutel hervor: „Fünfzig Goldstücke für jeden – das ist doch ein guter Anfang?“
„Ein guter Anfang?“, meinte die Elfe fragend und rieb sich ihre geschundenen Glieder, „na, ja, ich weiss nicht…“
„Und was meinst du – Kagor?“, fragte Malgoth.
„Für mich ist klar: Diese Silbertränen sind ein ehrloses Gesindel. Sie sind unheimlich und rücksichtslos – ausserdem sind sie in irgendeine dunkle Sache verstickt, die ich nicht genau erkennen kann; das spüre ich genau! Aber…“
Gartret horchte auf: „Sprich ruhig weiter – mein Grosser.“
„Aber wir sind nun mal Diebe“, stellte der Hüne fest, „und wir können wohl kaum erwarten, irgendwo redliche und rechtschaffene Auftragsgeber zu finden – dies schliesst sich bei unserem Handwerk vermutlich aus.“
„Dann bist du also dafür – Kagor?“, wollte Malgoth wissen, der von den Worten des Hünen genauso überrascht wie erfreut war.
Der ehemalige Paladin dachte kurz nach, dann meinte er: „’Alles ausser Mord’, dass ist in diesen Tagen leider unsere einzige Moral. Und hier geht es nur um Diebstahl, sofern...“, Kagor hob seinen Zeigefinder, „…sofern wir dabei niemanden töten!“
„Also ein ‚Ja’“, stellte Gartret befriedigt fest.
Kagor nickte zögerlich.
„Jedem dieser Schufte würde ich am liebsten einen Pfeil zwischen die Rippen jagen!“, ereiferte sich die Elfe, „aber wir brauchen Geld. So bin ich etwas Hin und Her gerissen. Ich enthalte mich der Stimme.“
„Dann haben wir also drei Ja-Stimmen und eine Enthaltung!“, triumphierte Gartret.
Malgoth lächelte: „Du irrst dich – Gartret: Ich enthalte mich ebenfalls der Stimme.“
Diese unerwartete Antwort dämpfte Gartrets Stimmung etwas: „Aber die Entscheidung bleibt trotzdem gleich – zwei Ja-Stimmen und zwei Enthaltungen also.“
Malgoth nickte: „So ist es. Da wir den Auftrag angenommen haben, sollten wir jetzt so rasch wie möglich Richtung Vindara ziehen. Das Erntedankfest wird bald beginnen.“
Siliah stöhnte: „Schon wieder Vindara… Dann bekommen die Häscher dort eine weitere Gelegenheit, uns endlich zu erwischen.“
„Ein echtes Problem“, stellte Malgoth fest, „eigentlich sollten wir uns dort keinesfalls noch einmal blicken lassen. Wir sollten uns etwas einfallen lassen. Aber zuerst müssen wir wenigstens in die Nähe der Stadt gelangen.“

Sie gingen wieder in die Nähe der Gruft. Schaudernd warfen sie einen Blick auf die Ruine – keiner von ihnen würde wohl je vergessen, was ihnen dort in den dunklen Gängen und Kammern alles widerfahren war.
Aber statt wieder das Gemäuer der Gruft selbst zu betreten, schwenkten sich ab und betraten die alte Strasse, die sie den Hügel hinunterführte. Die Strasse schien schon vor langer Zeit aufgegeben worden zu sein; allerlei Pflanzen drängten sich durch die Risse und Spalten des Pflasters. Der schon an vielen Stellen gesprungene Stein schien kurz davor zu sein, den Kampf gegen die Natur endgültig aufzugeben. Nur noch wenige Menschenalter und die Strasse würde kaum mehr als eine solche zu erkennen sein. Dieser Teil des Landes war aufgegeben und der Verwilderung preisgegeben worden; und es schien undenkbar, dass tätige Hände dies in absehbarer Zeit wieder rückgängig machen würden.

Als sie den Fuss des Hügels erreicht hatten, schwenkte die alte Strasse nach Norden – in die Richtung, in welche auch Vindara lag.

Nach einer Weile wurde die Gegend zunehmend belebter. Und nach einigen weiteren Stunden der Wanderschaft waren die umliegenden Hügel wieder fest in der Hand der Weinbauern.
Die Vier Diebe waren jetzt auf dem Rückweg etwas weniger vorsichtig; sie gingen diesmal nicht den mühsamen Weg über die Hügelflanken, sondern bewegten sich bequem über die festen Wege im Tal. Noch immer war der letzte Rest der Ernte im vollen Gange. Manch einer der Weinbauer sah sie, hielt kurz inne, beobachtete sie etwas stutzig geworden, und nickte dann einen mürrischen Gruss, nur um sich umso emsiger wieder der Arbeit zu widmen. Man hiess sie zwar nicht gerade willkommen, doch sie durften ohne Fragen passieren.

Als sich der Tag schon dem Ende zuneigte, kamen sie zu einer grossen Winzerei. Mehre Lagerhäuser, ein Stall für Pferde und ein kleiner Gemüsegarten mit einem gläsernen Treibhaus schmiegten sich eng an ein durchaus ansehnliches Haupthaus.

„Wir müssen irgendeine Möglichkeit finden, in die Stadt zu gelangen“, meinte Malgoth, „vielleicht sollten wir uns als Erntehelfer verdingen. So könnten wir vielleicht Anschluss finden und uns unter die Winzer mischen.“
Gartret stöhnte: „Das klingt anstrengend; und ausserdem ist die Ernte fast schon vorbei. Aber versuchen können wir es mal.“
„Etwas ehrliche Arbeit wird uns gut tun – auch wenn ich dabei nur wenig über das Diebeshandwerk lerne“, meinte Kagor dazu.
„Eines Tages wirst du uns endlich verraten müssen, wieso ausgerechnet du das Diebeshandwerk erlernen willst – Kagor“, sagte Siliah.
„Eines Tagen, doch bestimmt nicht heute“, murmelte der Hüne.
Sie gingen zu dem Haupttor, man liess sie auch hier passieren. Nun standen sie innerhalb der Umzäunung, welche alle Gebäude des Hofes umschloss. Rasch hielten sie auf das Haupthaus zu. Eine schwarze Tür versperrte den Eingang, an welcher ein bronzenen Ring befestigt war, mit welchem man anklopfen konnte.
„Dann wollen wir mal“, sagte Malgoth etwas zweifelnd und griff nach dem Ring.
„Schaut mal!“, unterbrach ihn Gartret und zeigt auf den steinernen Türfirst. Dort war ein Horn sowie ein Rebenzweig überkreuzt angebracht.
Malgoth lächelte hoffnungsfroh: „Gut, Gartret – das könnte uns von nutzen sein.“ Dann klopfte der Zwerg mit dem Türring.
Nach kurzer Zeit öffnete ein Knecht, der fast so gross wie Kagor war und mürrisch dreinblickte. Er betrachtete die vier Diebe und konnte sich ein schräges Grinsen nicht verkneifen: „Was immer ihr wollt, hier seid ihr falsch.“
„Wir wollen deinen Herrn sprechen“, gab Malgoth ungerührt zurück.
Der Knecht blickte betont verachtungsvoll auf Malgoth hinunter: „Und wenn er nicht nicht mit dir sprechen will – Zwerg?“
„Ich glaube aber doch, dass du uns zu ihm vorlassen solltest“, mischte sich Gartret ein, „es geht um eine... Sache des Glaubens“ Er blickte vielsagend zu den Symbolen, die am Türfirst angebracht worden waren.
Der Gesichtsausdruck des Knechtes änderte sich augenblicklich – das hämische Grinsen war wie weggewischt und seine Augen weiteten sich etwas, so, als hätte ihn eine Ahnung gestreift. „Wartet einen Augenblick“, meinte er dann und schloss die Tür und verschwand.
„Ihr glaubt, wir haben es hier mit einem Anhänger dieses…“, begann Siliah zu fragen, doch sowohl Malgoth wie auch Gartret unterbrachen sie, indem sie ihre Zeigefinger vor ihre Lippen legten.
„Macht was ihr wollt“, meinte Kagor, „ihr könnt ihn belügen; mich dauern diese verblendeten Säufer nicht.“
„Bitte, Kagor!“, zischte Malgoth.
„Sie sind ausserdem weit mehr als nur irgendwelche Säufer“, erwiderte Gartret bestimmt.
„Dies sollten wir doch bitte später besprechen!“, bat Malgoth inständig und mit gefalteten Händen.

Die Tür ging wieder auf und vor ihnen stand ein spindeldürrer Mann mittleren Alters. Er trug einen Hut aus geflochtenem Stroh und sehr einfache Kleider. Man hätte ihn beinahe für einen Knecht halten können; einzig sein Blick und seine aufrechte uns stolze Haltung liessen etwas Anderes vermuten.
Malgoth hob grüssend die Hand: „Sieg den Menaden.“
Der Mann musterte die Vier, dann schmunzelte er: „Ja, ich kenne euch nur zu gut – ihr seit berühmt. Sieg den Menaden und herzlich willkommen!“
„Wir sind dir gut bekannt?“, kam Siliah nicht umhin zu fragen.
Der Mann nickte: „Ja, das seid ihr. Doch lasst mich euch zuerst einmal vorstellen: Ich bin Badrus, der Meisterwinzer. Und euch habe ich zuletzt im Gewölbe gesehen, wo wir zu Vindros Ehren gefeiert haben. Ihr könnt gar nicht ahnen, wie wichtig euer Erscheinen für uns dort war.“
„Davon haben wir nichts bemerkt“, gab Gartret ehrlicherweise zu.
„Wir sind Auswärtige und haben Vindros zuvor an einem anderen Ort verehrt“, versuchte Malgoth ihnen eine Geschichte zu recht zu zimmern.
„Wir sind neu in der Gegend und haben zum ersten Mal hier an den Feierlichkeiten teilgenommen“, bestätigte Gartret
Badrus nickte: „Ja das weiss ich – und die Anderen auch. Doch ihr habt mit eurem Erscheinen etwas Wichtiges bewirkt.“
„Was denn?“, fragte Kagor geradeaus.
Badrus schaute um sich: „Kommt, wir sollten solche Dinge nicht hier besprechen. Lasst uns besser in den Keller gehen, da sind wir ungestört.“
Der Meisterwinzer geleitete sie in das Haupthaus und dort zu einer Treppe, die sie in einen grossen Weinkeller führte. Die Luft hier war trocken und es roch erdig.
Badrus musterte sie im Halbdunkel des Kellers alle der Reihe nach: „Ihr seid es also, die uns vollzählig gemacht haben.“
„Ihr wolltet eine bestimmte Zahl von Anhängern erreichen?“, fragte Malgoth.
Der Meisterwinzer nickte: „Die wahre Religion der Stadt Vindara musste sich in dunkle Gewölbe zurückziehen. Doch diese Zeit ist bald vorüber und der Mummenschanz mit diesen ‚Bachgöttinen’ wird ein Ende finden.“
„Was macht dich so sicher, dass die Zeit gekommen ist?“, fragte Gartret.
Badrus breitete die Arme aus und seine Augen leuchteten hoffnungsfroh auf: „Na, ihr macht mich sicher! Mit euch haben wir die Zahl von vierhundert Anhängern endlich überschritten. Nun werden wir stark genug sein; so hat es uns Vindros prophezeit.“
Kagor murmelte Etwas, dass zwar Unverständlich war, aber irgendwie beleidigend und feindselig klang.
„Dann werdet ihr also eure Feste nicht mehr länger im Verborgenen feiern und wieder zur offiziellen Religion der Stadt werden?“, fragte Malgoth schnell, um Kagors Verhalten zu überspielen.
Badrus nickte: „Ja – und schon sehr bald.“
Malgoth überlegte kurz, danach meinte er: „Dann sollten wir Pläne schmieden.“
Badrus schmunzelte wieder: „Ich wusste es: Vindros hat euch zu mir geschickt. Ihr werdet mir dabei helfen.“
„Ich habe da so eine Idee…“, begann Malgoth vorsichtig.
„Dann sprich sie aus!“, forderte der Meisterwinzer.
„Wir sollten für einen gewaltigen Schock sorgen – so können wir unsere Gegner mit einem Schlag an den Rand drängen. Wenn wir die Bachgöttinen mitsamt ihrer harmlosen Festivitäten mit einem Rausch Vindros begegnen würden, dann hätten wir wohl bereits gewonnen.“
„Das klingt gut“, erwiderte Badrus, „doch ich weiss ehrlich gesagt nicht, wie du das meinst.“
„Wir wählen das Erntedankfest für unseren Auftritt. Und zuvor bringen wir heimlich soviel von dem elesaischen Wein wie möglich unter die Leute“, schlug Malgoth vor.
Badrus öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch dann brach er ab, ging zu Malgoth, umarmte ihn und hob ihn in die Höhe: „Ich wusste es! Ihr würdet die Lösung haben!“ Dann stellte er Malgoth wieder ab: „Dem Plan fehlen noch die Details – doch darum werde ich mich kümmern.“
„Es gibt da noch ein Problem...“, schaltete sich Gartret ein, „wir sind in der Stadt nicht mehr allzu gerne gesehen. Um mitwirken zu können, bräuchten wir einen Weg, um nach Vindara gelangen zu können.“
„Das dürfte kein Problem sein“, gab sich Badrus überzeugt, „ich bin - wie alle Meisterwinzer – zum Erntedankfest eingeladen. Man erwartet sogar, dass ich an diesem verdammten Umzug teilnehme – aber dieses Jahr bekommen die hohen Herren der Stadt ihre Rechnung präsentiert!“ Badrus hatte sich in Rage geredet, beruhigte sich aber rasch wieder: „Ihr werdet auf dem Umzugswagen mitfahren und entsprechend verkleidet sein.“ Und zu Siliah meinte er augenzwinkernd: „Dieses Jahr werden wir neben meiner Tochter noch eine elfische Weinprinzessin haben – wahrlich eine seltene Attraktion!“
Siliahs bedrohlicher Blick liess vermuten, was sie davon hielt, doch sie sagte nichts.
„Ich werde euch ein Nachtlager zuteilen; es soll euch an nichts fehlen. Und Morgen planen wir weiter. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, denn schon am Tag darauf müssen wir aufbrechen. Noch heute werde ich Boten aussenden und den Anderen Bescheid geben.“
Die Diebe verliessen den Keller. Knechte führten sie in ein schmuckes Gästezimmer. In einer Ecke brannte ein Feuer in einem Kamin und vier weiche Betten luden zum Ausruhen ein. Sie legten sich hin und schwiegen eine Weile und hörten einfach dem Knistern des Feuers zu. Als sie alle ihre Gedanken etwas sortiert hatten meinte Gartret: „Eines müsst ihr mir versprechen: Wir werden nichts tun, was den Anhängern Vindros auf irgendeine Weise schaden könnte. Bitte, versprecht es mir!“
Malgoth wälzte sich im Bett in Gartrets Richtung: „Es wird schwer abzusehen sein, was aus diesem Aufstand wird. Die Menaden könnten dabei gewinnen oder verlieren. Aber eines ist sicher: Beim Erntedankfest wird ein gewaltigen Chaos entstehen. Und vielleicht ergibt sich in dem ganzen Durcheinander die Chance, unseren Auftrag auszuführen.“
„Niemand wird wohl auf ein paar Beinschienen aufpassen, wenn während des Umzuges plötzlich die Anhänger Vindros in Erscheinung treten….“, „…und niemand wird sich mehr um diesen Herold kümmern, wenn jeder mit der Wirkung des elesaischen Weins zu kämpfen hat“, vervollständigte Malgoth Kagors Vermutung.
„Und ich darf eine Weinprinzessin spielen – meine Rolle scheint nicht gerade sehr anspruchsvoll zu sein“, warf Siliah ein.
„Wir werden uns wohl alle für diesen Umzug hergeben müssen“, beschwichtigte Malgoth. „Wir Anderen werden bestimmte irgendwelche Winzer mimen müssen.“
„Gibt es zwergische Winzer?“, fragte Kagor.
Malgoth hob die Schultern: „Ich habe keine Ahnung; während des Erntdankfest wird es jedenfalls Einen geben.“
Gartret stöhnte und drehte auf den Rücken: „Hoffentlich werden die Menaden ihre Ziele erreiche. Ich mag ihren Kult; und es gefällt mir nicht, dass wir als falsche Anhänger die ganze Sache ins Rollen gebracht haben.“

Am nächsten Morgen fuhr ein festlich geschmückter Wagen vor dem Eingang des Haupthauses vor. Und aus diesem Wagen stieg eine prächtig gekleidete junge Frau mit einem Diadem im Haar. Badrus eilte ihr entgegen; die vier Diebe versuchten sich unauffällig im Hintergrund zu halten.
Der Meisterwinzer breitete beide Arme aus: „Matila, du bist kaum wieder zu erkennen!“
Die junge Frau lächelte scheu und drückte dann Badrus einen Kuss auf die Stirne, der sich dafür allerdings bücken musste. „Danke – Vater; aber das alles“, sie deutete auf ihre Kleider und das Diadem, „ist nur Kram – nichts von Bedeutung. Meine Tante hat sich allerdings ganz schön ins Zeug gelegt; sie hat mich wirklich aufgetakelt.“
Badrus lachte froh, während er seine Tochter betrachtete: „Das hat sich richtig gemacht; schliesslich bist du unsere Weinprinzessin.“
Matila machte eine wegwerfende Handbewegung: „Hör’ schon auf! Du weisst selbst am Besten, dass das alles nur Mittel zum Zweck ist. Ich wünschte, meine Mutter könnte diesen grossartigen Tag miterleben.“
Badrus Lachen erfror und er blickte bedrückt zu Boden. Auch über Matilas Gesicht huschte ein Schatten. Doch Beide fingen sich rasch wieder – der Meisterwinzer winkte die vier Diebe herbei: „Ich muss dir eine paar Mitstreiter vorstellen. Das sind Malgoth, Siliah, Gartret und Kagor - sie werden an dem Umzug teilnehmen.“
Matila betrachtete die Vier und sie schien erfreut zu sein: „Aha – die geheimnisvollen Fremden! Es ist recht, dass ihr dabei seid – schliesslich habt ihr das grosse Ereignis erst möglich gemacht.“
Malgoth schaute fragend zu Badrus auf. Matila, die den Blick des Zwerges bemerkte, lachte hell auf: „Keine Angst – ich weiss über alles Bescheid. Ich gehöre zu den Menaden – genau wie mein Vater und bis vor kurzem meine Mutter auch.“
Malgoth begriff und senkte den Blick: „Es tut mir leid, dass ihr einen solchen Verlust erlitten habt.“
Matila presste die Lippen zusammen und sagte dann: „Es ist nicht einfach. Doch sie war einfach zu unvorsichtig und hat versucht Anhänger mitten auf den Strassen anzuwerben. Die Stadtoberen haben ihre Häscher ausgesandt und sie verschleppen lassen. Wahrscheinlich… wurde sie in irgendeinem Wald ermordet; wir haben sie nie gefunden.“ Die junge Frau musste ihren Blick abwenden und ihr Atem stockte.
Badrus ballte die Faust: „Die so genannt ehrbaren Bürger von Vindara haben diese Schlangen an ihrer Brust genährt! Sie wollen bloss ihre Ruhe haben und dafür tolerieren sie jede Schandtat, die in ihrem Namen begangen wird!“
Matila legte zärtlich ihre Hand auf die Schulter ihres Vaters. „Das wird jetzt alles enden. Und euer Erscheinen hat das erst möglich gemacht.“
Badrus schluckte schwer, dann nickte er: „Morgen wird der Umzug sein.“
Matila musterte Siliah: „Oh, eine Elfe! Es ist mir erst gar nicht aufgefallen, weil deine Kapuze fast dein ganzes Gesicht verdeckt.“
Malgoth trat einen Schritt vor: „Ja – Siliah ist eine Elfe; wir haben auch einen Zwergen in unseren Reihen, wie du zweifellos sehen kannst.“
Matila beachtete ihn gar nicht: „Du musst mir alles über eure Kultur und eure Lebensweise erzählen! Stimmt es, dass es auf der Insel keine Clans mehr gibt?“ Und während sie auf Siliah einredete, hakte die Tochter des Meisterwinzers sich in ihren Arm ein und zog sie weg von den Anderen.
Badrus schaute den Beiden mit einem frohen aber zugleich auch etwas traurigen Blick nach: „Es ist gut, dass meine Tochter etwas Zerstreuung findet – sie hat es nicht einfach gehabt in letzter Zeit.“
Mit vereinten Kräften nahmen sie die letzten Vorbereitungen in Angriff. Zwei weitere Gespanne wurden herbeigeschafft und mit Weinfässern beladen. Badrus versicherte, dass es sich dabei um elesaischen Wein handelte. „Es gibt eine Wurzel, die in etwa die Form eines Menschen hat. Und unter diesen gibt es wiederum Solche, welche eher einem Mann oder einer Frau ähnlich sehen. Und zuletzt existieren ganz Seltene, welche Körpermerkmale beider Geschlechter in sich vereinigen – nur Diese eigenen sich zum Herstellen des elesaischen Weines; nur sie rufen Vindros Visionen hervor“, erklärte der Meisterwinzer, „andere Anhänger Vindros werden ebenfalls elesaischen Wein mitbringen. Und gemeinsam werden wir den Menschen die Augen öffnen.“
Kagor hielt mit der Arbeit inne; er schaute zur Seite und musste sichtbar mit seiner Abscheu kämpfen. Doch er drängte seinen Empfindungen zurück und verlud weitere Fässer auf die Gespanne.

Am nächsten Morgen wurden sie früh von Badrus geweckt. Er schien hellwach und seine Augen glühten vor Vorfreude und Begeisterung. „Steht endlich auf!“, spornte er die vier Diebe an, „ihr habt doch nicht etwa schlafen können? Also ich bin viel zu aufgeregt gewesen.“ Sie bekamen vom Meisterwinzer Kostüme ausgehändigt. Kagor musste sich in eine ‚Ritterrüstung’ zwängen, die allerdings nur aus dünnem Blech bestand. Malgoth erhielt die Toga eines Parlamentsabgeordneten der Insel, dazu einen Schriftrolle sowie einen Spiegel, in welchem er sich selbstgefällig betrachten konnte. Gartret bekam die Kutte eines Mönches, samt einer Geissel zur Selbstkasteiung. Siliahs Kostüm war bei weitem das Aufwändigste – wenn auch nicht gar so fein und sorgfältig gearbeitet wie dasjenige von Matila. Die Elfe bekam ein Kleid ganz in weiss; und auf den Rücken waren zwei ebenso weisse Flügel aufgenäht. Dazu gehörte ein kleiner Stab mit einem gläsernen Diamantimitat an der Spitze.
“Wir haben uns anders entschieden“, erklärte Badrus Siliah, „anstatt als Weinprinzessin gehst du besser als Fee – hinter diesem Kostüm können wir deine Art besser verbergen; die Leute werden denken, du hättest dich so… elfisch verkleidet.“
Siliah zeigte sich davon unberührt: „Ganz wie du willst – aber ich möchte meinen Bogen in der Nähe haben, auch während des Umzuges.“
Badrus nickte: „Ja, deinen Bogen, Kagors Säbel und Gartrets Rapier werden wir auf dem Wagen verstecken – ebenso eure Kleider.“
„Das beruhigt mich ungemein“, meinte Malgoth, „wenn es zu Auseinandersetzungen kommen würde, dann wäre Gartrets Peitsche und Kagors Blechschwert unsere einzige Verteidigungsmöglichkeit – da hätten wir schlechte Karten.“

Sie gingen nach draussen, wo Matila und viele Knechte schon bereitstanden. Die Tochter des Meisterwinzers, Badrus und die vier Diebe machten es sich auf den geschmückten Wagen bequem – die Knechte nahmen die beiden Gespanne mit dem Fässern des elesaischen Weines. Die ganze Kolonne nahm bedächtig Fahrt auf.
Sie verliessen den Hof und bogen auf einen mit Schotter ausgelegten Weg ein. Etwa eine halbe Meile vor ihnen konnten sie eine weitere Wagenkolonne sehen, die eine grosse Staubwolke hinter sich herzog. „Das ist Janoch – ein Nachbar; leider kein Anhänger Vindros“, erklärte Badrus, „aber seht mal da!“, er zeigte auf eine abzweigende Strasse. Von dort kamen mehrere Gespanne auf sie zu. „Das ist Mandelbart – ein Mitstreiter! Er wird uns helfen. Nur schade, dass er seine alte Frau in das Kostüm der Weinprinzessin stecken muss – er hat keine Tochter.“ Tatsächlich sass auf dem vordersten Gespann neben einem dicklichen Mann mittleren Alters eine mindestens ebenso beleibte Frau. Ihr Körper drückte mit vielen Wülsten und Ausbeulungen gegen das viel zu enge Prinzessinnenkostüm.
„Sieht schrecklich aus“, flüsterte Badrus, und laut, „hallo Mandelbart – ich grüsse dich!“
Der Mann grüsste zurück und zwinkerte Badrus verschwörerisch zu.

Die Gespanne beider Familien kamen gut voran und holten bald die Kolonne von Nachbar Janoch ein. Dieser schaute vom vordersten Gespann zurück und grüsste eher mürrisch von weitem.
„Wir sollten vielleicht verhindern, dass dieser Janoch mit seinem normalen Wein die Stadt betritt“, meinte Malgoth.
Badrus wandte sich dem Zwergen zu: „Gute Idee, aber wie willst du das tun?“
Malgoth drehte sich zu Siliah um und lächelte: „Ich hätte da einen Wunsch…“
Die Elfe stöhnte: „Ich bin die gute Fee – also sag schon, was willst du?“
„Siehst du den Gurt am hintersten Gespann, der die Fässer daran hindert, herunterzukullern?“
„Ja“, mischte sich Matila listig ein, „das scheint sehr fahrlässig gemacht; so ein einzelner Gurt kann rasch aufplatzen. Das wäre wirklich verheerend – all der gute Wein!“
„Ihr seid mir vielleicht Bösewichte“, warf Badrus ein, „besonders von meiner Tochter hätte ich das nicht erwartet.“
Matila blickte ihren Vater treuherzig an: „Lass uns doch – es wird uns bestimmt helfen!“
Badrus lachte kurz auf. Matilas Tatendrang schien ihm etwas gefährlich, aber gleichzeitig war er auch stolz auf seine Tochter. „Also gut, aber wartet wenigstens eine Stelle ab, wo wir gut überholen können. Wir wollen Nachbar Janoch aufhalten, nicht uns selbst und die Mandelbarts.“
Sie mussten etwas eine halbe Stunde abwarten, bis die langsamen Wagen sich zu einer geeigneten Stelle vorwärts gequält hatten.
„Jetzt!“, meinte Malgoth in Siliahs Richtung. Diese holte blitzschnell ihren versteckten Bogen hervor und nahm einen von Alisans Pfeilen zur Hand, an welchem am hinteren Ende eine stabile, geflochtene Seidenschnur befestigt war. Die Elfe zielte kurz, um das holprige Auf und Ab der beiden Gespanne auszugleichen. Der Pfeil schoss von der Sehne, und kaum hatte dieser getroffen, zog Siliah an der Schnur und hatte ihr Geschoss nur Sekunden später wieder in der Hand; es würde keinen Beweis für die nun eintretenden Folgen geben:
Es Ächzte und knarrte, dann ein Rumpeln und ein Fass nach dem anderen rollte vom Wagen. Die eisernen Ringe brachen auf und die Dauben fielen fächerförmig auseinander; tieffroter Wein lief in grossen Mengen aus und tränkte den Boden.
Matila blickte Siliah bewundernd an; sie wollte etwas sagen, doch sie wurde von lauten Flüchen unterbrochen – Janochs Kolonne stoppte.
Badrus liess den Wagen nach rechts hin ausscheren und zog vorbei, ohne seinem Nachbarn eines Blickes zu würdigen.

Als sie sich nur noch wenige Meilen von der Stadt befanden, wandte sich Gartret an Badrus: „Ich möchte dich um Etwas bitten.“
„Und das wäre?“
Gartret brauchte eine Weile, bis er die richtigen Worte fand: „Wir sind erst vor recht kurzer Zeit eurem… unserem Glauben beigetreten. Doch vieles hat uns bereits sehr beeindruckt, insbesondere mich. Es wurde uns viel offenbart; allerdings glaube ich, bereits mehr gesehen zu haben, als ich im Moment verstehen kann.“
Badrus lachte: „Sicher sprichst du von der Vision, die du nach dem Trinken des elesaischen Weins empfangen hast – nicht wahr?“
Gartret nickte.
„Ein paar Worte genügen da leider nicht. Du musst Schritt um Schritt in das gewaltige Gedankengewölbe Vindros eintreten. Und glaube mir – es ist eine wunderbare Welt voller Verheissungen, die dich erwartet.“ Der Meisterwinzer schaute Gartret lange beobachtend an, dann fuhr er fort: „Irgendwie beneide ich dich sogar – ein herrliche Strecke des Weges liegt vor dir. Alles wird neu sein; jedes Geheimnis eine unbekannte Blüte von noch nie gesehener Art.“ Er legte Gartret gönnerhaft die Hand auf die Schulter, dann beugte er sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: „Du bist anders als deine Freunde. Sie glauben nicht so, wie ich es mir wünsche. Aber du bist voller Offenheit; darum nimm das hier“, er reichte Gartret ein Buch, „es ist das Buch Vindros. Vertiefe dich in das Studium dieses Buches. Es wird dir viele Fragen beantworten. Und jedes Mal wenn du es aufs Neue liest, wird es sich in einem neuen Licht zeigen.“

Die Stadt Vindara hatte sich prächtig herausgeputzt. Aus den Fenstern der Fachwerkhäuser hingen unzählige Flaggen und Wimpel. Rote und blaue Blumenblätter lagen auf dem Kopfsteinpflaster links und rechts der Fahrrinnen. Und das Volk selbst wartete gespannt auf die Ankunft der ersten Wagen. Alle trugen ihre besten Kleider, und nicht Wenige hatten sich für das grosse Ereignis sogar gewaschen. Haare waren geflochten und Fingernägel vom Dreck des Jahres befreit worden.
Das Erntedankfest war das wichtigste Ereignis im Kalender des Jahres. Die Arbeit auf dem Land war getan; und in der Stadt selbst hatten die Kaufleute ihr Feilschen und Wetten auf den Wein, der erst noch reifen musste, beendet. Nun war die Zeit gekommen, sich selbst und der Natur für alles Erreichte zu danken.
„Sie kommen!“ Bald gellte dieser Ruf durch sämtliche Strassen und Gassen der Stadt.
Tatsächlich erreichten die ersten Wagen die Stadt; und bald wurden es immer mehr. Die Bauern der grösseren und kleineren Winzereien rund um die Stadt fuhren kostümiert und voller stolz die Frucht ihrer reichen Ernte durch die Strassen.
Wie es Tradition war, so warfen die Winzer und ihre Helfer getrocknetes Weizenkorn hoch in die Luft. Überall waren die gelb-braunen Fontänen der Körner zu sehen. Das Volk jubelte und war glücklich; nur zu gerne liessen sie sich von den Symbolen der Fruchtbarkeit berieseln. Kindergesichter strahlten und auch die Erwachsenen gaben sich ganz der Festfreude hin.
Die Wagen fuhren quer durch die Stadt in Richtung Ratshausplatz. Hier waren viele Bankreihen aufgebaut – und eine grosse Bühne mit einem Vorhang davor. Der eigentliche Festakt würde hier nach dem Umzug stattfinden.
Kaum liess der Strom der Wagen und Gespanne nach, da drängte auch das Volk von Vindara zum Ratshausplatz. Das Gedränge in den umliegenden Strassen wurde immer dichter; manch einer begann zu stossen und zu fluchen. Aber alle Sorge war unbegründet. Nach einer kurzen Zeit der Konfusion zeigte es sich, dass jeder und jede einen Platz auf den Bankreihen fand; dicht an dicht zwar, aber gerade genug zum Sitzen.
Die Winzer rollten ihren Wein heran – von jedem Hof ein Fass.
Doch bevor man sich den Gaumenfreuden widmen konnte, musste zuerst der Festakt beginnen. Nach einigen Minuten gespannten Erwartens teilte sich der Vorhang auf der Bühne. Die hohen, und oftmals auch alten Herren der Stadt machten dem Volk ihre Aufwartung, welches höflich Beifall zollte. Einer hielt eine Rede, was aber nicht weiter von Belang war. Es ging um die Ernte, und darum, wie wundervoll doch alles sei, insbesondere dank der umsichtigen und klugen Regierungskunst der hohen Herren.
Viel wichtiger war aber, dass endlich der Wein ausgeschenkt wurde. Das es dabei zu einem seltsamen Gerangel kam, und dabei mehrere Fässer zu Bruch gingen, hielt die Sache nur unwesentlich auf.
Dann traten zwei Frauen auf – verkleidet als die Flussgöttinnen. Die Eine trug ein weisses Gewand, die Andere ein kirschfarbenes. Sie Beide besassen Zauberstäbe, mit denen sie jetzt auf den Boden zeigten. Ein blendender Blitz erschien – das Volk rief erschrocken auf, obwohl die Meisten diese Darbietung schon viele Male gesehen hatten.
Und an der Stelle, wo der Blitz seinen Ursprung gehabt hatte, lag da ein Wesen von kurzer Gestalt, welches sich langsam aufrappelte. Es war ein Zwerg, der über und über geschminkt war, viele farbige Tücher am Körper trug und ein Paar silberne Beinschienen an hatte. Es war der Herold, von welchem behauptet wurde, er sei der Herrscher über die Stadt am heutigen Tage.
Die Kinder lachten über die komische Gestalt, die Faxen machte und seltsame Geräusche von sich gab. Und nachdem der Zwerg seine Sprache gefunden hatte und ein paar Witze riss, stimmten auch die Erwachsenen verhalten in das Gelächter mit ein. Als die Stimmung bereits wieder einzuschlafen drohte, liess der Zwerg seine Hose herunter und entblösste für einen Sekundenbruchteil sein Hinterteil.
Und so ging die klägliche Vorstellung eine Weile weiter. Dann aber hielt der Herold mit seinem Possenspiel plötzlich inne. Auch die Zuschauer wurden still und wendeten die Köpfe hierhin und dorthin: Von allen Seiten war ein leises Singen zu hören, welches sich langsam dem Rathausplatz näherte. Das Erntedankfest verlief immer gleich; und dies gehörte ganz gewiss nicht dazu.
Das Singen war jetzt ganz Nahe, es war ausgelassen und vielstimmig. Dann betraten die ersten Menaden den Ratshausplatz. Sie waren nur notdürftig mit ein paar Rebzweigen an den Lenden bedeckt. Viele hatten ihre Haare mit Rebenzweigen und mit Hörnern geschmückt. Sie all trugen einen Becher aus Ton in der Hand.
Die Wachen wollten Einschreiten, um dieses Treiben unverzüglich zu beenden. Doch der Boden unter ihren Füssen schien zu schwanken wie auf einen Schiff; die Bewaffneten hatten ebenfalls von dem Wein gekostet.
Die Menge stöhnte – Köpfe wurden schwer und sanken auf Tische; Leiber sackten zusammen und rollten von den Bänken: Der elesaische Wein begann zu wirken.
Und dann traf der Hauptzug der Menaden ein. Zuvorderst wurde ein ungeheuer fettleibiger Mann auf einem riesigen Schild getragen. Davor und darum herum rannten drei seltsame Wesen. Eines davon ging auf Bocksbeinen, das zweite war ganz von Schuppen bedeckt und das dritte war am ganzen Körper behaart wie ein Tier. Der ganze Zug hielt direkt auf die Bühne zu. Hier wurde die Gestalt Vindros abgesetzt. Die geheimnisvollen Wesen sprangen ebenfalls auf die Bühne. Dort umhüpften sie mit wildem Gekreische die Flussgöttinnen. Sie schnappten nach ihren Zauberstäben und entwendeten sie. Dann begann sie an deren Kostümen herumzuzerren und rissen es nach und nach in Fetzen. Schliesslich besprengten sie das, was noch übrig war, mit Wein. Aus den zwei Flussgöttinnen wurden zwei verängstigte Frauen, die sich nur noch mit dem Rest ihrer zerrissenen und besuhlten Kleidung retten wollten. Sie und der heroldische Zwerg versuchten die Bühne zu verlassen.
Vindros, oder sein Darsteller, hob seine fleischigen Arme. Er begann von seiner Religion zu predigen, und davon, dass er es gewesen sei, welcher einst die Stadt Vindara gegründet hatte.
Er erzählte von der Schlacht der Göttlichen gegen die Dämonen und vom Land, das Jahrtausende später den Wein gebar. Und im Rausch konnten die Leute von Vindara sehen, wie Vindros als Nebel aus den Reben aufstieg und den Menschen aus Wein und Staub erschuf.
Die Bürger stöhnten unter der Last der ungewohnten Eindrücke, doch sie konnten sich ihrer nicht erwehren; die Macht des elesaischen Weines war zu stark. Jetzt herrschte nur Vindros und die Macht seines Rausches war unmittelbar.

Hinter der Bühne hielten sich Malgoth, Gartret, Kagor und Siliah versteckt. Doch der zwergische Herold schien den Hinterhalt bemerkt zu haben. Er sprang vorne von der Bühne und rannte durch das Spalier der Bänke, an welchen die berauschten Bürger Vindaras sassen.
„Er will sich davonmachen!“, schrie Siliah und flitzte dem Herold hinterher – die anderen folgten ihr so gut sie konnten.
Der Herold war schnell – er verliess den Rathausplatz und rannte über die Kirschbachbrücke.
„Er darf die engen Gassen nicht erreichen!“, rief Malgoth keuchend, „dort würden wir ihn unweigerlich verlieren!“
Der Zwerg hatte die gegenüberliegende Seite erreicht – und diesem Moment betrat von der anderen Seite eine grosse Gruppe Vindrosanhänger die Brücke. Die Vier Diebe rannten gegen eine Wand aus menschlichen Leibern.
„Verdammt!“, knurrte Gartret, „das war’s dann wohl.“
„Siliah, du musst es mit deinem Bogen versuchen! Schnell, bevor er ausser Sichtweite ist!“, forderte Malgoth.
„Da sind einfach zu viele Leute…“
„Versuche es!“
Siliah nahm mit einer raschen und geschmeidigen Bewegung den Bogen von ihrem Rücken. Sie legte einen von Alisans Pfeile an, der an der Spitze in einer metallenen Kugel mündete. Die Elfe versuchte eine Lücke durch das Getümmel zu finden. Der Pfeil schnellte von der Sehne. Er flog haarscharf an vielen Armen und Köpfen vorbei und hatte in einem Sekundenbruchteil die Menschenmenge hinter sich gelassen. Dann jagte der Pfeil auf den fliehenden Zwergen zu, der eben in eine seitliche Gasse einbiegen wollte. Der Herold wurde von hinten in den Rücken getroffen und flog durch die Wucht des Geschosses aufs Pflaster. Verzweifelt versuchte er aufzustehen, aber seine Lunge war durch den Pfeil gequetscht worden. Nach Luft schnappend blieb er liegen. Als er sich endlich etwas erholt hatte und unsicher aufstand, beugte sich eine grosse Gestalt über ihn. Er wurde am Kragen gepackt und in die Gasse gezogen, durch welche er eben noch hatte fliehen wollen.

Als der heroldische Zwerg zappelte und in einem fort schrie, sah sich Kagor gezwungen, ihn niederzuschlagen. Dann schleppte er den Bewusstlosen noch tiefer in die Gasse.
Der Herold kam rasch wieder zu sich und hielt sich stöhnend den Kopf.
Gartret kniete sich nieder und begann, die silbernen Beinschienen abzunehmen. „Ich hoffe, es stört dich nicht“, meinte er voller Spott, „die sind dir sowieso viel zu gross.“
Als Gartret die Beinschienen an sich gebracht hatte, betrachtete er diese. „Sie sind seltsam leicht“, stellte er fest, „ausserdem scheint irgendeine Wärme… oder eine Art von Vibration von ihnen auszugehen.“
„Zeig mal her.“ Gartret gab Malgoth die Beinschienen. „Du hast recht“, bestätigte dieser, „da liegt irgendein mächtiger Zauber darauf – vielleicht auch mehr…“
„Was kann es mehr geben als einen mächtigen Zauber?“, wollte Siliah wissen.
„Es gibt mehr unter der Sonne als wir uns vorstellen können – glaub mir“, bekräftigte Malgoth seine Worte.“ Er gab die silbernen Beinschienen an Kagor weiter, der sie in seinem Gepäck verstaute.
Der Herold begann sich langsam aufzurappeln, doch die Zeit der Schmerzen war noch nicht vorbei. Malgoth trat vor und schlug ihm mitten ins Gesicht; der bunt gekleidete Herold taumelte zurück. „Ich hasse Zwerge, die sich als lächerliche Clowns betätigen! Du bist einfach nur jämmerlich und verachtenswert!“, schrie Malgoth den anderen Zwerg an. Dieser schaute seinen Peiniger einfach nur verständnislos an und klappte dann wieder zusammen. Zu den Anderen gewandt meinte Malgoth: „Lasst uns verschwinden, bevor der Rausch der Bürger endet.„
Kagor nickte zustimmend: „Niemand weiss, ob der Erfolg der Menaden über die Wirkung des elesaischen Weins bestand haben wird.“
„Ich wüsste zu gerne, wie es hier in Vindara weitergeht“, sinnierte Gartret, „Ich würde es Vindros Anhänger so sehr gönnen, ihren Kult wieder in Freiheit leben zu dürfen.“
„Wir haben diesen Verrückten schon genug geholfen – mehr könnte ich unmöglich verantworten“, meinte Kagor dagegen.
„Aber wir haben unseren Auftrag erledigt – ohne allzu viel Aufwand“, zeigte sich Siliah erfreut, „hoffentlich sind alle Aufträge der Silbertränen so einfach zu bewältigen.“
„Wir haben auch viel Glück gehabt“, gab Malgoth zu bedenken, „wir werden nicht überall ganze Hundertschaften für unsere Zwecke einspannen können. Doch genug geredet – lasst uns endlich gehen.“
Malgoth, Siliah und Kagor machten sich auf den Weg aus der Stadt. Gartret schaute sich etwas unschlüssig um, dann folgte er den Anderen.


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Tag der Veröffentlichung: 20.10.2010

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