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Zu Spät?



Es war an einem Freitag, allerdings kein 13-ter, ein ganz normaler Freitag. Der Chemieunterricht war fast vorbei. Ausnahmsweise durften die Schüler heute früher gehen, da alle die Aufgaben des Protokolls schon gelöst hatten. Einige machten sich bereits auf den Heimweg während andere noch zum Mittagessen gingen. Heute gab es Milchreis mit Zucker und Zimt, oder besser Zimt mit Zucker, und etwas zerlassener Butter. Nach dem Essen ging das Mädchen auf ihr Zimmer und packte ihre Tasche. Schnell hatte sie ihren Kram zusammengepackt. Dann musste sie warten. Ihre Freundin war noch nicht da, es würde noch ein bisschen dauern bis die Beiden von einem Bekannten abgeholt werden würden. Kurz vor 13.00Uhr kam ihr Großvater und sie fuhren gemeinsam nach Hause. Dort sprang sie schnell aus dem Auto, brachte ihre Taschen nach oben und zog sich eine schwarze Jacke an. Sie war nun komplett schwarz gekleidet. Sie verabschiedete sich von ihrem Bruder und ihrer Großmutter und ging dann zur Kirche. Sie würde heute bei einer Trauerfeier Kreuzträgerin sein. Nach wenigen Minuten erreichte das Mädchen die Kirche und bekam noch einen weitern Job aufgedrückt. Sie verteilte die Liedzettel unter den ankommenden Trauergästen. Wenig später begann die Orgelmusik. Die Pastorin betrat die Kirche und der Gottesdienst begann. Sie setzte sich auf einen Stuhl am Rand, direkt neben der Tür und wartete. Dabei betrachtete das Mädchen das Licht, welches durch die Fenster auf den Steinfußboden der Kirche fiel. Die Pastorin sprach über das Leben des Verstorbenen, seine Familie und über die Trauer, wenn man geliebte Menschen verliert. Doch das Mädchen hörte kaum zu. Sie beobachtete die tanzenden Lichtflecken auf dem Boden und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Wieder begann der Kantor mit dem Orgelspiel. Nur die Pastorin und einige wenige Gemeindemitglieder sangen das Lied mit. Kurz darauf beendete die Pastorin den Gottesdienst mit dem Satz: „Wir wollen uns jetzt gemeinsam auf den Friedhof begeben.“ Daher stand das Mädchen auf, ging nach vorne und nahm das Kreuz in die Hand. Langsam schritt sie den Gang entlang zum Haupteingang und nach draußen. Alle folgten ihr gemächlich nach draußen. Hinter ihr kamen ein Mann vom Bestattungsinstitut mit der Urne, dahinter die Pastorin, die Familie und weitere Freunde des Verstorbenen. Der Weg durch das Dorf dauerte recht lange, denn die gesamte Prozession schlich förmlich dahin. Manchmal schielte das Mädchen nach hinten, um herauszufinden, ob ihr Tempo angemessen war. So liefen sie alle den längeren Weg zum Friedhof. Als sie dort ankamen, öffnete ihr jemand das Tor und sie stellte sich schweigend neben das offene Grab. Der alte Mann sollte mit im Grab seines vor einigen Jahren verstorbenen Sohnes bestattet werden. Ohne viele Regungen beobachtete sie die Pastorin, welche den traditionellen Segen sprach als die Urne ins Grab hinab gelassen wurde. Sie hörte einige der Anwesenden schluchzen. Vorsichtig hob sie den Blick und schaute sich unter den Trauergästen um. Einer nach dem anderen traten sie nun an das Grab heran und verabschiedeten sich nochmals von dem Verstorbenen. Manche weinten, andere legten nur stumm ihre Blume auf das Grab. Wieder andere redeten noch leise mit dem Toten, wünschten ihm viel Glück, baten um seinen Schutz oder wollte ihn zurück haben. Die Trauer der Menschen schwappte über das Mädchen hinweg und auch sie wurde traurig. Nicht wegen des Verstorbenen, sondern wegen den trauernden Angehörigen und Bekannten an seiner letzten Ruhestätte. Sie dachte an ihren Großvater zurück und plötzlich traten auch ihr Tränen in die Augen. Als er gestorben war, hatte sie es als einen Segen für ihn empfunden, denn er war schwer krank gewesen. Es hatte sie nicht gestört, das sie sich nicht von ihm hatte verabschieden können, da sie zur Trauerfeier im Ausland war. Sie hatte für ihn gebetet und an ihn gedacht und das hatte ihr gereicht. Jetzt aber weinte sie stille Tränen für ihn. Warum konnte ich mich nicht von dir verabschieden? Warum musste ich damals wegfahren? Die Gedanken hafteten sich in ihrem Kopf fest und sie bemerkte kaum die Pastorin, die sie bat, kurz die Bibel festzuhalten, da sie noch den Segen aussprechen wollte. Danach gingen das Mädchen und die Pastorin zurück zur Kirche. Einhändig fischte das Mädchen ein Taschentuch aus der Jackentasche und wischte sich die Tränen weg. Auf die Fragen der Pastorin antwortete sie nur noch einsilbig. Vor der Kirche verabschiedete sie sich, gab ihr das Kreuz mit und ging nach Hause. Sie setzte sich in ihr Zimmer und schrieb einen Brief, einen Brief an ihren Großvater. Ihre Trauer verflog den ganzen Tag über nicht und sie war sehr schweigsam.
Am nächsten Morgen stand sie kurz nach Sonnenaufgang auf, zog sich schnell an, nahm den Brief und machte sich auf den Weg zum Friedhof. Unterwegs pflückte sie einen Strauß Gänseblümchen. Sie ging langsam zum Grab ihres Großvaters, kniete sich davor hin und legte den Brief und den kleinen Blumenstrauß auf das Grab. Leise begann sie mit ihm zu sprechen und wieder liefen ihr die Tränen die Wangen hinunter, tropften auf den Brief. Nach einer halben Ewigkeit stand sie wieder auf. Ihr Gesicht war feucht von Tränen und ihre Hose vom nassen Gras. Sie hob den Blick zum Himmel und lächelte. Die Sonne schien ihr ins Gesicht. Wenig später machte sie sich auf den Heimweg. Ihre Trauer war fast verschwunden und Frieden hatte sich um ihr Herz gelegt.

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Texte: Die gesammte Geschichte und das Foto sind von mir.
Tag der Veröffentlichung: 12.05.2010

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