Heimat oder Fremde und die Lebenssituation in Afrika, betrachtet durch die Augen von Afrikanern, die viele Jahre in Europa gelebt haben - das sind die Themen, mit denen sich der Autor André Ekama in seinem vierten Erzählband beschäftigt. Dabei verfasst er seine bewegenden Geschichten stets so, als hätte er selbst sie erlebt, und schlägt damit die Leser in seinen Bann.
Wie ergeht es jemandem, der nach Jahren in Europa wieder seine afrikanische Heimat besucht? Und wie kann es möglich sein, dass die Bewohner eines fruchtbaren afrikanischen Landes, dass sehr reich an Bodenschätzen ist, in bitterer Armut leben, obwohl eigentlich alle Voraussetzungen für eine Verbesserung ihres Lebensstandards vorhanden wären?
Andreas Drobnitza
Obramkuza ist reich an Bodenschätzen. Aber trotzdem fällt es seiner Bevölkerung schwer, zu einem Neuanfang in würdigen Lebensverhältnissen zu kommen. Ernüchtert halten viele die Illusion des begehrten Wohlstands "von oben herab" nicht mehr durch. Sie resignieren und wenden ihre Sinne stattdessen geistlichen Hoffnungsgebern zu. „Wann werden alle am Reichtum des Landes Anteil haben können?“, fragen die Kritiker des Regimes, die ihm die Schuld an der Misswirtschaft geben. Das Volk verdient diese Lethargie nicht. Es könnte mit dem, was ihm die Natur schenkt, schon längst eine rasante Entwicklung eingeschlagen haben, werfen Landsleute vor, die nach mehreren Jahren wieder ins Land zurückgekehrt sind.
Eine von ihnen, die Afrika-Korrespondentin Akila, die für einen norwegischen Sender arbeitet und nach vielen Jahren wieder in der Heimat eintrifft, will tatsächlich alles mit eigenen Augen anschauen, um sich ein Bild von der Realität sowie dem Ausmaß der Probleme zu machen. Sie begibt sich auf eine Reise durch das Land und begegnet Menschen und Kulturen. Sie schaut sich das Panorama an und staunt über die Schätze, die in ihrem Land ruhen und die doch letztlich in so vielen Bereichen Motor des Fortschritts werden könnten.
In Obramkuza ist die Kluft zwischen Arm und Reich besonders groß, obwohl immerzu neue Ölvorkommen entdeckt werden. Als Akila das Ibane-Tal besucht, trifft sie auf eine Konfrontation zwischen Ansässigen und Vertretern der Landesverwaltung. Hier werden immer neue Pipelines gebaut und dafür will das Volk endlich eine Entschädigung bekommen. Die Regierung sieht dies aber durch ihre Machtlupe und versucht die Alteingesessenen schließlich auch mit Gewalt von dort zu vertreiben.
Gelankoje sowie andere Figuren in den Erzählungen beweisen sich und widerstehen dem Manöver der Regierung. Akila blickt in die Tiefe der Gesellschaft und gewinnt dadurch, wie kaum eine andere, Einblicke, die ihrer Reportage ein Echo geben. Sie denkt laut und sagt, was in vielen Ländern, die reich an Bodenschätzen sind, geschieht: „Einige wenige mit den entsprechenden Beziehungen bereichern sich an den natürlichen Ressourcen und lassen die Masse der Bevölkerung arm.“ Umso bitterer ist Akilas Erkenntnis, wie die Armut im Ölland die Menschen hier erdrückt.
Dies stellt sich in den Forderungen vieler nach Infrastrukturen durch den Staat dar, die den Menschen aber helfen sollten, anstatt sie weiterhin zu spalten.
Wenn die unterirdischen Pipelines schon so viel schwarzes Gold zu Tage bringen, so wollen die Menschen in Obramkuza doch wenigstens sauberes und trinkbares Wasser bekommen. Dieses Volk hat trotz seiner ihm verbliebenen Armut einfach kein verschmutztes Wasser verdient.
Die ersehnte Rückkehr in sein Geburtsland Obramkuza erwies sich für Bamdjom nach fast zehn Jahren in der Ferne als große Genugtuung, denn er hatte in all den Jahren immer darunter gelitten, dass er nicht ausreichend sparen konnte, um einmal eine Reise in sein Heimatland zu unternehmen. Oft ging er in ein Reisebüro und informierte sich über die Reisekosten, die auf ihn zukämen. Während der Hochsaison stolperte er aber immer über die beeindruckenden Flugpreise und in der Nebensaison konnte er nicht verreisen, da er dann als Saisonarbeiter zu beschäftigt war und Geld verdienen musste. So erging es ihm seit vielen Jahren und andauernd fühlte er sich hin und her gerissen zwischen seinen Erwägungen. Aber trotz der schönsten Reisepläne, die er sich immer am Jahresbeginn ausmalte, hielt ihn die weite Entfernung seines Geburtslandes von der Realisierung seiner Pläne ab. Die Mutter rief ständig bei Bamdjom an und fragte ihn, warum er so lange nicht zurückkäme, obwohl er doch bestimmt gut in Europa verdiene. Er schob die Schuld dann jedes Mal auf den Arbeitsstress, der ihn von einem Besuch seiner Heimat abhielte.
Und so waren dann inzwischen schon zehn Jahre vergangen, als die ersehnte Reise endlich doch noch stattfinden sollte. Er hatte sich ein Flugticket besorgt und auch zahlreiche Geschenke, die die vielen Verwandten so haben wollten. Vom Düsseldorfer Flughafen sollte also die Maschine starten, dann in Calpe des Ardoises zwischenlanden und von dort würde er dann mit der nächsten Maschine nach Obramkuza fliegen.
Während seines langen Fluges lernte Bamdjom auch andere Landsleute kennen, die wie er schon seit vielen Jahren nicht mehr die Heimat besucht hatten. Diese waren einhellig der Meinung, bestens über die heute herrschenden Lebensumstände in Obramkuza informiert zu sein, denn schließlich verfügten sie alle über einen Internetzugang, was ihnen gestattete, sich über Onlineforen mit Obramkuza reichlich und regelmäßig in Debatten zu üben. So nahmen die Diskussionen über die politische und wirtschaftliche Situation dieses Landes kein Ende und selbstredend auch die soziale Misere nicht, die die meisten Menschen dort in fatale Schicksale trieb, ähnlich der Folgen eines Tsunami. Dies geschah aber unbehelligt, obwohl das Land mit seinen reichen Bodenschätzen nicht zu den Ärmeren im Diskurs hätte zählen müssen.
Schon waren wieder neue Rohstofferkundungen im Gange und so, wie es bereits die Bohrungen auf der Oberfläche des Segenspiegels zu Tage gebracht hatten, gab es die neuen Blüten also nur im Übermaß zu erwarten. Mit einem gerechteren und innovativen Anstoß würde vielleicht eines Tages der ganze Landstrich erblühen und jeder könnte dann in diesem ehrlichen Glanz leben! Oder wäre es verkehrt, motivierte Leute von unten an den Staatsgeschäften zu beteiligen? Jedoch von der unauslöschlichen Hoffnung, dass ihnen doch noch einmal Anteil an dem echten Glanz ihres Landes gewährt würde, blieben bislang nur die gut gemeinten Zeichen jenes allmächtigen Himmelshüters zu erwarten.
Das Ibane-Tal erwies sich trotz seiner reichen Erdölvorkommen als eines der schmerzenden Beispiele für dies Dilemma und nur die wenigsten Menschen durften darauf hoffen, hiervon eine Ernte einzufahren. Dieser Missstand setzte sich, einer Lawine gleich, in viele Bereiche fort. Die Bevölkerung war empört und bedauerte, dass einige Mächtige die großen Geschenke einfach für sich allein behielten, obwohl doch die Natur allen Menschen in diesem wunderschönen Land ihre reichen Gaben darbot. Widersacher wurden hier mit Härte bestraft, wenn nicht sogar für immer eingesperrt. Ob man jenen im Käfig, der es gewagt hatte, seinen kleinen Finger in die große Wunde des Ibane-Tals zu legen, besser unter Kontrolle haben wollte? Und konnte jener damit wirklich als Staatsfeind gelten?
Bamdjom flog. Er sah sich um und freute sich sehr über seinen Besuch im Heimatland, obgleich er in dieser Zeit auch vielen Gegensätzen begegnete. Die Dinge waren vielleicht auch in seiner Vorstellung noch nicht so, wie sie einmal werden mussten? Nach den vielen Jahren des schmerzlichen Heimwehs wollte er jetzt nur eines, nämlich die Eintracht mit der vertrauten Natur genießen und darin zusammen mit alten Freunden den altvertrauten Bund der Harmonie und der guten Gefühle wieder aufleben lassen. Alles andere bedeutete eine harte Konfrontation mit der Obrigkeit, die er wegen der Kürze der Zeit zu vermeiden suchte.
Täglich hatten Bamdjom schlimmere Nachrichten aus seiner afrikanischen Heimat erreicht. Das bekümmerte ihn sehr und er blieb oft sprachlos deswegen. Er versuchte sich in die Situation der Menschen dort hineinzuversetzen. Ob er die gleichen Empfindungen hatte wie jemand vor Ort, vermochte er kaum zu ergründen. Aber auch in Europa blieb sein Herz in all den Jahren offen. Zwar litt es oft an traurigen Momenten, zugleich erfreute es sich aber auch immer wieder der schönen Dinge, die ihm widerfuhren. Dennoch: Wurde Bamdjom hier Unverstand vorgeworfen, fühlte er sich immer mehr als Opfer denn als Täter?
Seine alte Großmutter dachte jeden Tag an ihn. Sie war gerade neunzig Jahre alt geworden. Als er sie zuletzt gesehen hatte, war sie mehr als zehn Jahre jünger gewesen. Das Bild, das er von ihr besaß, zeigte eine starke, tapfere Frau, die gerne zusammen mit ihren Enkelkindern aß und für diese jederzeit da zu sein schien. In jungen Jahren hatte Bamdjom von ihr unzählige Lebensweisheiten gehört. Die zahlreichen Überlieferungen der Vorfahren behielt er zwar nicht alle, aber die wichtigsten blieben ihm als ein Teil seines Kulturgutes für immer in Erinnerung. Es half ihm sehr, sie kraft seiner Gedanken nach Europa mitnehmen zu können. Bamdjoms Oma schien gebildet, als hätte sie eine höhere Schule besucht. Ihm kam ihr reicher Erfahrungsschatz zugute, von dem auch jeder andere profitieren konnte. Dass sie trotz ihres hohen Alters noch auf dem Feld arbeiten ging, überraschte zwar, war aber wohl ihrer körperlichen Fitness sehr zuträglich. Forderte man sie auf, damit endlich mal aufzuhören, antwortete sie stets: „Mein Leben lang habe ich auf dem Feld gearbeitet. Trotzdem habe ich immer noch viel Lust auf diese Arbeit. Wahrscheinlich werde ich bis ans Ende meiner Tage so weitermachen und meinen Enkeln die Früchte des Bodens schenken, solange mein Körper es noch zulässt. Denn, meine Kinder: Wer sich auf die Schuhe eines Toten verlässt, läuft Gefahr, am Ende ohne Schuhe laufen zu müssen.“ Sie fand immer noch den Weg, der zu ihrem Haus führte, und mochte es gar nicht, wenn jemand sie beim Laufen zu stoppen versuchte. Die Enkel wollten sie aus Gefälligkeit gerne stützen, aber das lehnte sie kategorisch ab: „Ich kann es allein. Sorgt euch nicht zu sehr um mich!“ Geprägt vom Selbstbestimmungswillen und dem Drang, noch mitten im Leben zu stehen und vieles noch erreichen zu wollen, rief sie von Zeit zu Zeit alle Kinder und Enkelkinder zu sich, um mit ihnen zu reden. Diejenigen unter ihnen, die sich nicht in der Heimat aufhielten, bekamen die Nachricht durch Verwandte übermittelt.
Bamdjom lebte nun schon lange im deutschen Kragefeld, als sein Onkel ihn anrief und zur Familienversammlung einlud. Es war beiden klar, dass Bamdjom nicht sofort kommen konnte wie jemand, der in unmittelbarer Nähe wohnte. Aber natürlich fühlte der längst, dass es für ihn Zeit war, den Ort seiner Wurzeln aufzusuchen, die uralte Wiege seiner Väter und Vorväter. Auch wollte er durch seinen Besuch endlich der Großmutter die ihr gebührende Ehre erweisen und ihre große Rechtschaffenheit noch zu ihren Lebzeiten würdigen. Dies würde seine tiefe Verbundenheit zu ihr noch stärken. Also entschied er sich trotz mancherlei Widrigkeiten nach Obramkuza zu reisen. Zwar waren seine Ersparnisse immer noch nicht so hoch, wie er es sich gewünscht hätte, doch wollte und konnte er jetzt nicht mehr länger warten.
So traf er seine Reisevorkehrungen. Dann hatte er noch Geschenke für seine Familienangehörigen zu besorgen. In dieser Hinsicht war die Erwartungshaltung bei allen erfahrungsgemäß sehr hoch. Der ganze Clan würde auf seine Koffer schauen, ob nicht etwas für jeden Einzelnen zum Vorschein käme. Es war keine leichte Aufgabe, eine Strichliste über alle Familienmitglieder zu führen. Zu groß und zu unübersichtlich waren die Familien in Afrika.
Als jungen Mann schon hatte ihn deshalb seine Mutter gewarnt, dass er stets prüfen solle, ob die Frau, mit der er sich einließe, nicht zufällig eine seiner Cousinen sei. So wurde es ihm bald zur Angewohnheit, sich nie nur auf den Vornamen allein zu beschränken, wenn er die Bekanntschaft einer Frau machte. Aus jener Zeit kam es, dass ihm der Nachname eines Menschen viel bedeutete, und er mochte es daher überhaupt nicht mehr, wenn er nur einen Vornamen gesagt bekam. Selbst bei Europäern achtete Bamdjom manchmal auf mögliche Ähnlichkeiten mit seinen Familienangehörigen in Afrika. Dadurch entwickelte er sich mit der Zeit zu einem guten Beobachter, der es liebte, Menschen und ihr Handeln zu studieren. Gelegentlich traf er dabei auf Weiße, die sich in seinen Augen nicht so sehr von einigen seiner Verwandten und Freunde in Obramkuza unterschieden.
Einmal sagte Bamdjom zu einem rumänischen Kollegen, dass dieser seinem Cousin ähnele. Der Rumäne wusste zuerst nicht, wie er darauf reagieren sollte, und antwortete verlegen: „Wie kommst du denn darauf? Dein Cousin muss doch viel dunkler sein als ich.“ Es waren aber die inneren Werte, die Bamdjom verglich und die ihn dazu bewogen hatten, eine Ähnlichkeit zu finden. Also erwiderte er, dass Menschen wohl verschiedene Hautfarben haben, aber sich dennoch ihre Charaktere ähneln könnten. Er hatte dabei das Bild seines Cousins vor sich als jemanden, der durch seine Generosität überzeugte. In der Tat war der rumänische Kollege in seinen Augen genauso. Das große Entgegenkommen, das der Kollege ihm oft erwiesen hatte, war für Bamdjom manchmal rätselhaft und er fragte sich, ob jener sich nicht auch aus Sarkasmus so verhielt. Als er ihn allerdings näher kennen lernte, erfuhr er, dass es gelegentlich doch noch Leute wie ihn gab, die in ihrer Großzügigkeit etwas schenken wollten.
Schließlich war Bamdjom in Obramkuza eingetroffen und es ergab sich auf dem Landweg nach Bakpori eine Verzögerung durch den Busfahrer. Bamdjom fühlte eine leichte Nervosität in sich aufsteigen, da er wegen einer Verabredung unbedingt vor 13:00 Uhr in Bakpori ankommen wollte. Der Fahrer bat ihn um mehr Geduld, obwohl diese doch schon fast am Ende war. Er hatte sich in all den Jahren in Europa eben schon an Pünktlichkeit gewöhnt. Die Abfahrt in Igabe sollte eigentlich um 8.00 Uhr erfolgen, aber mittlerweile waren sie schon zwei Stunden im Verzug. Der gut gelaunte Busfahrer, der noch warten wollte, um unbedingt weitere Fahrgäste auf die Tour mitzunehmen, konnte das Problem nicht nachvollziehen, wechselte, um sich zu beschäftigen, ständig die Musik-CDs und kommentierte vergnügt die Melodien, die ihm besonders gefielen. Dass die anderen Fahrgäste ihn auch ständig fragten, wann er denn endlich vorhabe, den Bus zu starten, schien ihn ebenso wenig zu kümmern. Er erwiderte dann nur relaxt, dass sie doch Geduld haben sollten, denn dies hier wäre wohl kaum ein Grund, verärgert zu sein. Stattdessen könnten sie doch lieber seine tolle Musik genießen und sich derweil mit kühlen Getränken erfrischen, die immer wieder von fliegenden Händlern an den offenen Busfenstern angeboten wurden.
Einmal sitzend, mussten die Fahrgäste nämlich im Bus ausharren, wohingegen der Fahrer öfter mal ausstieg. Immerhin versuchte er die bereits Anwesenden zu beruhigen, indem er sagte, sie würden schon bald über die Berge fahren und damit die sonst übliche Fahrzeit verkürzen. Er war in der Tat sehr von seinem Handeln überzeugt und der merklich stolze Fahrer einer neuen Generation von Reisebussen, die seit kurzer Zeit hier und da in Obramkuza eingesetzt wurden. Die neuen Busse vermochten es tatsächlich, Strecken in zwei anstatt in dreieinhalb Stunden zu bewältigen. Aber endlich stieg der Fahrer dann doch noch ein und machte ernsthafte Anstalten, den Bus zu starten. Er schloss alle Türen, zündete sich noch eine Zigarette an und schon fuhren sie los. Da hörte Bamdjom dann auch im ganzen Bus so etwas wie ein kollektives Aufatmen. Zwar entschuldigte sich der Egoist noch für die Verzögerung, doch für jemanden wie Bamdjom, der eine andere Zeitmoral gewöhnt war, schien seine gesamte Tagesplanung schon komplett beeinträchtigt. Er wollte sich bereits um 13.00 Uhr in Bakpori mit einem Bekannten treffen. Das konnte er nun vergessen, da sein Bus bestimmt erst um 17.00 Uhr dort ankommen würde. Als er sich dann mit einem anderen Fahrgast darüber unterhielt, schaute dieser ihn an und sagte erstaunt: „Sie sind an unser Chaos wohl nicht mehr gewöhnt? So läuft doch alles von je her in unserem Land und da wird sich wohl auch nie mehr was daran ändern. Jeder und jede machen nur, wie und was ihnen so passt, und sie halten es auch so für ihr Recht. Und glauben Sie doch ja nicht, dass der andere tatsächlich um 13.00 Uhr auf Sie wartet!“ Bamdjom hörte ihm verunsichert zu und schüttelte nachdenklich den Kopf. Ob der andere tatsächlich Recht hätte, würde er ja noch erfahren, wenn er endlich in Bakpori ankäme. Sie fuhren ohne weitere Verzögerungen durch und waren um 16.30 Uhr am Ziel.
Mit seinem deutschen Handy rief Bamdjom über Callbox einen so genannten Betreiber an, um pflichtbewusst seinen Bekannten wissen zu lassen, dass er in der Busstation aufgehalten worden war. Zuerst plärrte wie immer eine afrikanische Musik aus dem Gerät. Und wie immer hatte Bamdjom auch noch ein paar Minuten zu warten, bis er die Person in der Leitung hatte. Für ihn selbstverständlich, entschuldigte er sich zuallererst für seine Verspätung, noch in Igabe habe der Busfahrer sie alle aufgehalten. Entspannt kam die Antwort aus dem Lautsprecher, dass es egal wäre, denn Hauptsache sei doch, dass der Besuch aus Europa nun wohlbehalten zurück in der Heimat ankäme. Er selbst sei um 13.00 Uhr auch nicht am vereinbarten Treffpunkt gewesen, denn er habe schließlich einen anderen Termin gehabt.
Bamdjom nahm dies zuerst mit gelassenem Humor und freute sich nur, dass er nicht zu früh eingetroffen war. Aber dann fragte er sich doch, wo er denn sei, dass die Leute hier ihre Verabredungen einfach nicht einhielten. Spätestens jetzt musste er sich eingestehen, dass er hier in einer anderen Welt war, in der sich die Menschen über Zeitplanung keine großen Gedanken machten. Vielleicht wollten sie auch bewusst keine Hektik aufkommen lassen und vermieden Stress, indem sie sich einfach keinen machten? Wäre es vielleicht besser, so zu leben? Der Gedanke, sich für immer an die hier vorherrschende Zeitmoral anpassen zu müssen, widerstrebte Bamdjom inzwischen sehr, denn er hatte es sich in Europa eben schon anders angewöhnt.
In Nuam, dem Stadtteil von Bakpori, in dem er ausgestiegen war, fragte er einen Passanten, wie er am besten nach Simeyon kommen könne, um dort seinen Bekannten endlich zu treffen. Der Ortskundige empfahl ihm, sich ein Taxi dorthin zu nehmen, es sei denn, er hätte viel Geld für einen Privatchauffeur übrig. Auch schlug er Bamdjom vor, einen so genannten „Course“ auszuhandeln. Hierbei ginge es um einen Deal mit dem Taxifahrer, der dann eben einen auszuhandelnden Festpreis bekäme und außerdem keine weiteren Fahrgäste mehr hinzunähme. Bamdjom fragte dann verschiedene Fahrer nach diesem “Course“ und da er bei dem dritten Versuch erfolgreich verhandelt hatte, wollte ihn dieser Wagen direkt nach Simeyon bringen.
Kaum eingestiegen, wurde Bamdjom mit Fragen bombardiert, denn der Taxifahrer wollte unbedingt von ihm wissen, ob sein Fahrgast in Europa lebe. Das verneinte Bamdjom. Darauf antwortete der Mann lakonisch, dass sein Gast es ihm doch nicht verheimlichen könne. Er merke es ihm doch an. Ihnen hier in Obramkuza ginge es sehr schlecht. Sie ackerten wie verrückt und hätten doch kaum drei Euro am Tag zum Leben, klagte er. Viele seiner Bekannten und auch andere hätten sogar ein Vordiplom von der Universität, fänden aber trotzdem nichts auf dem gesättigten Arbeitsmarkt. Ernst zu nehmende Stellenangebote erführen sie erst aus internen Quellen, wie z.B. bei großen Familientreffen. Läsen sie hingegen eine Stellenausschreibung in der Zeitung, könnten sie sicher sein, dass die Stelle schon seit Monaten oder gar seit Jahren vergeben sei. Der Taxifahrer schimpfte, sie alle fühlten sich dadurch betrogen und man wolle ihnen diesen feinen Sand nur in die Augen streuen, um ihnen noch zusätzlich Briefmarken für die Bewerbungsschreiben abzuknöpfen. Er redete noch weiter und bremste plötzlich scharf. Bamdjom schrie vor Schreck und reagierte ungehalten. Wollte dieser Kerl ihn umbringen? Doch der Taximann schrie auf einmal laut los. Er maulte und jammerte gleichzeitig, dass er nicht mehr könne. Sein Kleingeld reiche nicht mal für Zigaretten. Dann flehte er eindringlich, Bamdjom solle ihm doch bitte, bitte helfen.
Still geworden saß dieser auf dem Rücksitz und betrachtete den Mann im Rückspiegel. Durch das nervende Gezeter des Fahrers eigentümlich beklommen, entwickelte er so seine eigene Meinung. Während der weiteren Fahrt unternahm der Taxifahrer noch etliche Versuche, Bamdjom mit seinen wirtschaftlichen Problemen zu überhäufen, um ihn so von seiner bitteren Notlage zu überzeugen.
Bamdjom versuchte indes abzuschalten. Auf einmal sah er schöne Landschaftsgemälde, die an einer bröckelnden Fassade am Straßenrand hingen. Fasziniert fragte er sich sofort, ob der Künstler seine Arbeit auch selbst zu würdigen wusste, und bat deshalb den Fahrer anzuhalten. Er wollte sich die Malereien näher anschauen. Sofort rief der Fahrer: „Oh, Monsieur, dann wird es mehr kosten, in dieser Zeit könnte ich noch andere Strecken fahren, die so wegfallen werden. Sie können auch jetzt zahlen und ich komme in etwa einer Stunde zurück und hole Sie ab. Der Tag hat leider nur vierundzwanzig Stunden und es sind nur noch sechs übrig.“
Zuerst überlegte Bamdjom noch, ob er sich wirklich an einem so maroden Ort aufhalten wollte, wo er zudem niemanden kannte. Aber er kannte und erkannte doch sowieso nicht einmal mehr alle in der eigenen Familie, nach so vielen Jahren der Abwesenheit. Als leidenschaftlicher Kunstgenießer fühlte er sich allerdings von den sehenswerten Malereien angezogen und beschloss, sie in Ruhe anzuschauen. Er ließ das Taxi daher weiterfahren. Beim Bezahlen meckerte der Fahrer natürlich, da er den Fünftausender, den er in die Hand bekam, nicht wechseln wollte. Er meinte, dass er kein Kleingeld habe und für diese Strecke auch fünftausend Afrimoney angemessen seien. Bamdjom reagierte entsetzt und beharrte darauf, dass aber Tausend ausgemacht waren und er die restlichen Viertausend natürlich noch brauche. Er sei doch nicht Rockefeller, nur weil er in Europa lebe, versuchte er einen vergeblichen Einwand. Aber unbeirrbar hartnäckig protestierte der Taximann, es sei in diesem Falle schließlich zu berücksichtigen, dass es sich umgerechnet um noch nicht mal sieben Euro handeln würde. Ein Klacks für einen „Europäer“! Bamdjom gab ihm schließlich Zweitausend, um nicht länger zu diskutieren. Der Fahrer hatte seinen Landsmann aus Europa von vornherein als reichen Heimkehrer eingestuft und somit konnte Bamdjom nichts mehr tun, um selbst auch nur annähernd die landesüblichen Fahrpreise zahlen zu müssen.
Bamdjom betrat den kleinen bunten Kunstladen und traf dort auch auf die Künstlerin. Sie sprach gerade mit drei Männern darüber, wie sie zu ihrer Inspiration finden würde. Er wartete geduldig und fragte sie im folgenden Gespräch, ob sie von ihrer Kunst leben könne, worauf sie die Gegenfrage stellte, ob er vielleicht irgendeine Arbeit für sie habe, denn Geld habe man hier ja nie ausreichend. Wachsam geworden, lächelte er nur und blieb ganz ruhig. Einer der umstehenden Männer mischte sich schließlich ein und vermutete sogleich, dass dieser Herr hier bestimmt von Übersee käme. Bamdjom sähe so amerikanisch aus. Und er wollte unbedingt gleich wissen, ob er denn auch Recht damit habe. Da musste Bamdjom aber doch lachen, auch wegen des Akzentes und der Art, wie der Mann ihn so holprig auf Englisch anredete. Ein amüsanter Kerl schien ihm dieser auf alle Fälle. Aber nach der abschreckenden Erfahrung mit dem Taxifahrer erzählte Bamdjom lieber nichts weiter. Er lobte nur die Künstlerin, dass ihm die Bilder sehr gut gefielen, und fragte, ob sie für das rechte Bild dort einen guten Preis machen könne. Beherzt verlangte sie dafür einhundert Euro. Er wunderte sich und entgegnete, warum sie ihm denn den Preis nicht in ihrer Landeswährung angeben würde, worauf sie sagte: „Das ist doch egal, die Bank arbeitet doch mit jeder Währung fleißig.“ Bamdjom empfand es als eine tückische Falle, wenn er ihr vor den Augen der drei ärmlich wirkenden Männer gleich einhundert Euro in bar geben würde, und reichte ihr deshalb sechzigtausend Afrimoney als Gegengebot. Das entsprach zwar nicht den geforderten einhundert Euro, aber darum schien es der Künstlerin plötzlich auch gar nicht mehr zu gehen.
Ohne weitere Worte war der Kauf abgemacht. Ihm wurde langsam mulmig in dem Laden. Er hatte den Eindruck, der erste Käufer der Malerin in dieser Woche gewesen zu sein. So bat er, das Gemälde gut zu verpacken, und sie steckte es ihm anschließend noch in eine schöne Plastiktüte. Damit verließ Bamdjom dann rasch den Laden und rief gleich ein Taxi nach Simeyon. Diesmal blieb er allerdings hart in der Verhandlung und bestand darauf, dass es eine normale Strecke sei und er nur den üblichen Preis zahlen würde. Dieser Fahrer schien ein ruhiger Vertreter und schaute Bamdjom, der hinten eingestiegen war, nur über den Rückspiegel an.
Langsam hatte jener diese Art der Abzocke hier begriffen. Er verstand schnell und stellte sich auf die Gegebenheiten in Obramkuza ein. Er lernte frech zu sein, um sich besser durchsetzen und verteidigen zu können. Ohne die gewisse Portion Cleverness käme ein jeder hier leicht unter die Räder, dachte er noch. Sein höfliches Benehmen hatte ihn bislang nur mehr Geld gekostet. Die Einheimischen merkten daran auch sofort, dass er nicht mehr in der Heimat lebte.
Als er später bei seinen Verwandten ankam, erzählte er seinem Bruder, wie der erste Tag seiner Rückkehr verlaufen war. Sein Bruder lachte nur darüber und sagte, er wolle gern dabei sein, wann immer Bamdjom Einkäufe tätigen wolle. Er, Bamdjom, könne ja doch nicht so verhandeln wie die Leute, die hier zu leben gewohnt seien. Er ergänzte, in Europa feilsche man ja auch nicht so sehr wie hier, allenfalls in der Türkei.
Als Gast nahm Bamdjom das Angebot gerne an und am Tag darauf gingen sie gemeinsam zum Marché Central, dem größten Markt in der Hauptstadt. Dort waren die Durchgänge eng und kaum zu durchqueren. Sie mussten sich den Weg durch das Getümmel mit Drücken und Rufen freikämpfen. Ständig kontrollierte der Bruder Bamdjoms Taschen und ermahnte ihn, sie gut festzuhalten, denn hier gebe es außer Kunden auch viele Taschendiebe. Wenn die Tasche erst einmal weg sei, dann nütze es auch nichts, die Polizei zu rufen. Dies sei vergebliche Liebesmüh.
Endlich kamen sie an einen großen Stand, der verschiedene Stoffe und afrikanische Bubus anbot. Der Verkäufer hatte ein beachtliches Sortiment an Textilwaren und dennoch waren keinerlei Preise daran zu sehen. Als Händler verließ er sich einfach auf seine Erfahrung und behielt seine Preiskalkulation im Kopf. Geschickt fragte er nur immerzu: „Wie viel sind Sie bereit zu zahlen, Asso?“ Mit dem Wort “Asso“, was so viel wie “Vertrauter“ bedeutete, wollte er Sympathien zum Käufer aufbauen, denn hier duzten die Händler normalerweise die Kunden.
Bamdjom interessierte sich für einige Gewänder und wollte wissen, ob deren Stoffe heiß zu waschen wären, ob er die Bubus anprobieren könne und wo denn eine Umkleidekabine sei. Der Händler musste lachen und meinte, Bamdjom könne ja dort hinten hineingehen, da könne ihn niemand sehen. Also ging er und begann damit, sich in dem hinteren Bereich des Basarstandes umzuziehen.
Kaum aber hatte er sich seiner Hose entledigt, kam eine Frau vorbei und schaute Bamdjom von oben bis unten an. Schnell versuchte er, seine Hose wieder überzuziehen. Zudem entschuldigte er sich rasch, weil er so halbnackt vor ihr stand. Die Frau erwiderte nur, es sei doch ganz und gar nicht tragisch, was habe sie nicht schon alles gesehen und sein kleines wohlgenährtes Bäuchlein gefalle ihr doch richtig gut. Dabei drangen ihre Blicke förmlich in ihn ein und er bekam das einengende Gefühl, in einem Hinterhalt gefangen zu sein. Seine innere Stimme riet ihm, jetzt besonders wachsam und vorsichtig zu sein.
Plötzlich erinnerte er sich wieder an die Warnung eines guten, alten Schulfreundes und er wollte nicht wie dieser damals in eine so genannte Liebesfalle geraten. Der Kamerad hatte ihm nämlich folgenden Vorfall geschildert: Während einer Fahrt in einem Taxi hatte sich eine Frau zunächst etwas aufreizend verhalten. Der Freund ahnte nichts Böses dabei, stellte aber beim Aussteigen überraschenderweise fest, dass er kein Portemonnaie mehr besaß. Sie hingegen war schon längst vor ihm ausgestiegen und hatte ihm noch ganz harmlos ein Küsschen auf die Wange gedrückt. Das musste der Moment gewesen sein, in dem sie seine Geldbörse an sich genommen hatte. Durch den Kuss hatte sie auch noch einen dicken roten Abdruck auf seiner Wange hinterlassen, was der Arme erst bemerkte, als ihm seine Freundin deshalb eine Szene machte. Er bestritt natürlich jede Mitschuld, aber der rote Abdruck auf der Wange, den der Unerfahrene erst im Spiegel sehen konnte, war ein starkes Beweismittel, das er nicht so ohne weiteres entkräften konnte. Seine Freundin jedenfalls glaubte ihm die ganze Geschichte nicht so recht.
Nun gut - letztendlich hatte Bamdjom, dank des Beistands seines Bruders, einen günstigen Einkauf gemacht. Allein hätte er viel zu viel für seinen Bubu bezahlt. Er fühlte sich nach so langer Zeit der Abwesenheit von der Heimat wie ein Greenhorn. Für seinen Bruder, der das Land noch nie verlassen hatte, waren die hier geltenden Spielregeln hingegen klar. Beim Kauf von Waren gab es eine einfache Strategie: Zuerst einmal Desinteresse wegen des hohen Preises vortäuschen und nicht gleich zugreifen, sondern ein wenig später noch mal an den Verkaufsstand zurückkommen. Ab dem Moment, wo der Händler selbst in ruhigem Ton zu fragen begann, wie viel geboten würde, konnte dann der günstige Einkaufspreis erzielt werden, der meist weit unter dem erstgenannten lag. Solche einfachen Tricks kannten selbstverständlich auch die Händler. Die dreisten unter ihnen setzten ihre Anfangspreise direkt so hoch an, dass sie trotz des niedrigen Endpreises einen beachtlichen Gewinn machen konnten. Bamdjom staunte immer mehr. Obramkuza erschien ihm schon nach zehn Jahren so fremd, als ob er das Land mit seinen Menschen wieder neu zu entdecken hätte. Es kam ihm manchmal sogar so fremd vor, als ob er niemals zuvor da gewesen wäre. Klar, er hatte es immer wieder vorgehabt, Obramkuza zu bereisen. Aber die schnelllebige Zeit in Europa verging so rasant, dass er es gar nicht bemerkt hatte, dass inzwischen schon 10 Jahre vergangen waren.
In seiner Jugend, ja, da war sein Leben noch beschaulicher verlaufen. Damals blieb er meist nur an Orten, an denen sich seine Eltern aufhielten. Bakpori, die Hauptstadt, kannte er deshalb auch nur flüchtig. Er lief oder fuhr von der Schule nach Hause oder besuchte gelegentlich den Marché Central, um dort neue Schuhe zu kaufen. Jede weitere Entfernung von seinem Elternhaus überlegte er sich als Jugendlicher genauestens, bevor er sich auf den Weg machte. Der Grund lag nicht darin, dass Bamdjom in Bakpori kaum Bekannte gehabt hätte, sondern vielmehr darin, dass ein Besuch der Hauptstadt für ihn eine weite und teuere Anfahrt mit dem Taxi oder dem Bus bedeutete. Er verkniff sich diese vergnüglichen Ausflüge lieber, denn mit dem so gesparten Fahrgeld konnte er anders planen. Aber das war damals und lange her.
Jetzt, da er schon längst in Europa lebte, war in Bamdjom allmählich das tiefe Bedürfnis gewachsen, der geliebten Familie endlich wieder seine Aufwartung zu machen. Er wollte unbedingt seine Verwandten wieder sehen, die er so vermisst hatte. Aber es ging ihm mit seinen Sehnsüchten und Problemen nicht nur alleine so. Seine lange Abwesenheit von der Ursprungsheimat war leider auch keine seltene Ausnahme unter den anderen, ebenfalls emigrierten Brüdern und Schwestern.
Auch Mituba konnte erst wieder nach zwanzig Jahren im französischen Exil seine alte Heimat besuchen. Wenn er in dieser langen Zeit sein Herkunftsland und die Familie auch unheimlich vermisste, durfte er dennoch niemals dorthin reisen, da er in all den Jahren von den Behörden keine gültigen Papiere hatte bekommen können. Diese bürokratischen Schwierigkeiten ergaben damals für ihn und für seine nette französische Frau Bouclette, mit der er ein gemeinsames Kind hatte, eine schlechte Startsituation, dort in der Kleinstadt. Viele Menschen ohne gültige Papiere traten aus ähnlichen Gründen in den Hungerstreik und forderten damit die Behörden auf, eine Lösung für dieses Problem zu finden. Unter diesen Umständen konnten die Betroffenen jedenfalls weder nach vorn noch nach hinten blicken.
Dennoch war der sehnsüchtige Traum, die Heimat irgendwann einmal wiedersehen zu dürfen, bei Mituba stets allgegenwärtig. Etwa zwanzig Jahre kämpfte er für sein legales Aufenthaltsrecht, das ihm dann auch das Reisen ermöglichen würde. Eine mit juristischer Hilfe erstellte Korrespondenz von etwa einhundert Briefen hatte sich inzwischen angehäuft. Schließlich, nach langen, zähen Verhandlungen, bekam er einen Sonderstatus. Es war eine Art Zutrittsausweis, ein sog. „Laisser passer“, was ihm die Behörden da ausstellten. Offiziell durfte Mituba zwar damit nach Obramkuza, aber noch nicht in seinen Distrikt Okeleyam einreisen. Glücklicherweise konnte er jedoch diese Hürde umgehen, indem er, als es so weit war, nach Bakuzam flog, von wo aus er mit dem Auto weiter in die Heimatstadt Akyubet fuhr. Immerhin, der Flug über Düsseldorf verlief reibungslos. Die Zwischenlandung in Tamares aber zog stundenlanges Warten auf den Anschlussflug nach sich. Grund dafür war ein technischer Defekt seiner Maschine. Die Zeit für die Reparatur wurde mit der Suche nach versteckten Schmuggelgütern überbrückt und den Passagieren bot die Fluggesellschaft kostenlose Zeitschriften für ihre Unannehmlichkeiten an.
Mituba jedoch nutzte diese Zeit zum Briefe schreiben, die er sofort verschicken wollte, sobald er am Reiseziel angekommen war. Er hatte bisher allerdings nicht sehr viel zu berichten. Richtig interessant würde es für ihn erst werden, wenn er seine ersten Eindrücke über die verlassene Heimat schildern könnte. Also schrieb er zunächst nur über den bisherigen Flug. In seinem Brief erzählte er von dem Himmel über den Wolken und über seine große Bewunderung für die moderne Flugtechnik, die so vielen Menschen gleichzeitig ein so schnelles, bequemes Reisen ermöglichte. Mituba war überzeugt, dass die Menschheit noch weitere großartige Dinge leisten und vollbringen würde, von denen sie derzeit noch nicht einmal zu träumen wagte.
Er hatte in seinem Bordgepäck Maniokblätter und Pistazienkuchen, den seine Mutter in Obramkuza für ihn gebacken hatte. Zwei Wochen war das Päckchen unterwegs gewesen. Er aß sofort alles auf, obwohl die Stewardess ihn darauf aufmerksam machte, dass bald das Mittagessen serviert würde. Er war halt hungrig.
Viel Zeit war sprichwörtlich ins Land gegangen und Mituba hatte inzwischen graues Haar bekommen. Wehmütig erinnerte er sich daran, wie er damals ausgesehen hatte. Vielleicht würden ihn seine Familienangehörigen nicht wiedererkennen, wenn er am Flughafen von Bakuzam auf sie wartete? Schließlich hatte er sich auch auf der Bewusstseinsebene stark verändert. Er war gereift und strahlte Selbstsicherheit aus. Die Jahre im Ausland hatten ihn geprägt. Wollte er in seiner neuen Heimat zurechtkommen, musste er sich mit der ihm fremden Kultur auseinandersetzen. Und so näherte sich Mituba dieser in seinem Verhalten immer mehr an, was ihm in Europa ungemein half. Dennoch fühlte er die tiefe Überzeugung, seine afrikanische Kultur nicht vergessen zu haben. Ob seine Familie das auch so wahrnehmen würde, blieb abzuwarten.
Seine Maschine hatte noch etwa vier Stunden bis zur Landung im Zielflughafen. Mal war der Himmel klar und mal wolkig durch das kleine Fenster zu sehen. Mituba hätte am liebsten da draußen ein Sonnenbad genommen, um dabei die ganze, ungeheuer faszinierende Erde aus dieser ungewohnten Perspektive zu bewundern. Leider war dies nicht machbar in zehn Kilometern eiskalter Höhe und dabei kaum Luft zum Atmen. Aber die träumerischen Gedanken beflügelten seine Phantasie. Nur - die Realität war manchmal sehr lebensfeindlich. Mituba konnte zwar keine Einzelheiten aus dieser Höhe erkennen, aber dafür erstaunliche Strukturen. Versunken hing er seinen grüblerischen Gedanken nach und ihm fiel auf, dass ein Pilot ja täglich das tun müsse, was andere Menschen in verantwortungsvollen Positionen gar nicht immer wollten: Selbstbeherrschung üben und die Verantwortung für das Leben und die Sicherheit der Passagiere stets im Auge behalten.
Einige Tage nach Bamdjoms Ankunft im Land Obramkuza erfuhr sein alter Freund Gerald von dessen Rückkehr. Der Mann hatte inzwischen geheiratet und beide hatten beschlossen, diese seltene Gelegenheit zu nutzen, ihre alte Freundschaft wieder aufzufrischen. Deshalb lud Gerald Bamdjom zu einem Abendessen zu sich nach Hause ein. Das Ehepaar wohnte in Okwazum, einem Vorort von Bakpori, und Bamdjom war gespannt darauf, die neue Gastgeberin kennen zu lernen. Er fragte danach, welches Lokal in der Nähe ihres Hauses lag, damit er mit dem Taxi dorthin finden konnte. Der Freund sagte, dass er an der Tonton-Bar aussteigen müsse, und von dort würden sie ihn dann leicht abholen können. Gegen Abend setzte Bamdjom sich in ein Taxi, das ihn nach Okwazum bringen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 30.07.2014
ISBN: 978-3-7368-2862-9
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich möchte mich recht herzlich bei meiner Familie bedanken, die viel Geduld aufbrachte, damit ich genug Zeit und Ruhe für meine Inspiration und Gedankenflüsse beim Schreiben finden konnte. Mein Dank gilt ebenso allen anderen, die mich bei der Korrektur dieses Manuskripts tatkräftig unterstützt haben. Mein besonderer Dank geht an Katharina Davids für das sehr ausführliche Lektorat. Bei Andreas Drobnitza sowie Horst Walter bedanke ich mich ebenfalls, denn sie haben mich stark durch ihre Kritik gefördert, eine fundierte Analyse der Lage einzubringen. Besten Dank auch an das Designstudio Michael Margos für die Covergestaltung des Buches.