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„Du hast uns doch verstanden!?“

Pia gehört zu meiner Kindheit. Sie ist eine schöne Erinnerung – ein zartes Mädchen, das es nicht mehr gibt – ein Engel. Sie war – obwohl älter als wir – die kleine Pia, unsere Nachbarin in der Wohnung über uns. Wir Kinder besuchten sie oft, denn sie war ein Zwilling und ihre Geschichte faszinierte uns. Ihre Zwillingsschwester starb schon im Babyalter und Pia – die als schwerstbehindertes Kind galt – schien irgendwie nie aus dem Babyalter zu kommen. Sie trug Windeln und wir fragten: „Warum darf Pia nie ihren Kinderwagen verlassen wenn wir draussen mit ihr spielen möchten?“ Im Zimmer war es uns egal, dass unsere dünne Freundin im Bett lag. Wir konnten trotzdem mit ihr spielen und Stundenlang reden und lachen. So war es unverständlich wenn die Erwachsenen immer wieder erklärten, Pia sei schwerstbehindert, spastisch, gelähmt und geistig so behindert, dass sie leider nichts verstehe und auch nicht antworten könne. „Sicher versteht Pia uns, und sie antwortet auch“, behaupteten wir und es war uns nicht bewusst, dass es ihr unvergessliches Lächeln und ihre Blicke waren, die tausend Worte sprachen. Wenn sie glücklich war oder wir ein Spässchen machten, dann lachte Sie und wir hörten ein Glucksen. Mit der Zeit magerte Pia mehr und mehr ab, sie wurde ganz zerbrechlich und durfte nicht mehr in den Garten. Wir vermissten sie - ihr Lächeln - und unsere Besuche bei ihr wurden immer kürzer, denn sie brauchte viel Ruhe und schlief fast den ganzen Tag. Eines Tages waren die Erwachsenen traurig und erzählten uns die kleine Pia sei jetzt erlöst, ein Engel das in den Himmel geflogen sei. Wir weinten nicht, denn irgendwie hatten wir es ja bereits gespürt und fühlten trotzdem ihre Nähe.
Ich erzähle euch von Pia, weil ich kürzlich die Geschichte eines jungen Mannes las. Jahrelang galt er als schwerstbehindert, körperlich und geistig. Er ist taub und stumm und es gab keinen Weg mit ihm zu kommunizieren. Bis ein Freund der Familie einen Computer entwickelte, den er bedienen konnte. Bald schon hatte er die Buchstaben erlernt und konnte sie zu Wörtern und Sätzen aneinanderreihen. So konnte er sich nach jahrelanger Stille plötzlich mitteilen. Zu welchen Gedanken und Gefühlen er fähig war, merkten die Eltern als kurz darauf ein Kind aus der Nachbarschaft bei einem Unfall ums Leben kam und ihr Junge einen wunderschönen Brief an dessen Eltern schrieb. Als ich diesen Bericht las, war mir klar; was Pia betraf waren die Erwachsenen im Unrecht, denn sie verstand uns und wir sie! Vielleicht weil wir noch Kinder waren? Denn Kinder lassen sich in solchen Sachen nicht behindern. „Pia, Du hast uns doch verstanden – wir vergessen dich nie.“

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Tag der Veröffentlichung: 12.07.2011

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