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Kapitel eins
Funkelaugen


In seiner Phantasie war sie hübsch, und wenn sie lächelte, blieb die Zeit stehen. Dann passierte meist, dass die Uhr nicht mehr lief, der Lehrer und seine Schulkameraden sich auflösten, alles einfach in den Hintergrund trat. Thomas verlor sich in den grünen Augen, die zwischen all den kleinen Sommersprossen hervor blitzten, wurde umschlungen von den roten Haaren... doch immer wenn er sie küssen wollte, lachte sie keck und verschwand. Er kannte ihren Namen nicht, aber das machte nichts, sie war ein Produkt seiner Phantasie, mehr nicht. Thomas war sehr sensibel, er spürte, dass sie für ihn da war, dass sie ihn küssen würde, wenn es soweit war, wenn er sie tatsächlich traf.
Die Uhr zeigte kurz vor eins, Schulschluss. Er spürte etwas Hartes an seinem Kopf, ein Radiergummi war geflogen, gefolgt von schallendem Gelächter. Er war zusammengezuckt, und das freute sie, die Jungs wurden vom Hempel zurechtgewiesen, die Mädchen kicherten leise, sie konnten ihn nicht leiden. Niemand hier mochte ihn, er war nicht von hier, er kam von weiter weg, seine Eltern waren mit ihm in dieses Nest gezogen, und es war nicht schön hier. Ja, die Natur vielleicht, die war hübsch, die Bäume, die sich im Wind beugten, die kleinen Seen, die es hier gab und auch die Stille des Waldes. Manchmal schaute er den Vögeln nach, wie sie ihre Kreise flogen, sich auf ihre Beute stürzten.
«Hey du Tomate!» kam es von hinten, es war Stefan, der Anführer dieser Clique, sie nannten sich die Panther. Es war Schwachsinnig, fand er, aber das hätte er ihnen mal sagen sollen. So sagte er nichts, er sagte nie etwas. Hempel unterbrach sein Algebra, machte das Zeichen zum packen. Thomas stopfte die Bücher und die Hefte in seinen Rucksack und wartete auf die Klingel. Hempel war noch einer, der recht freundlich war. Er winkte die Klasse meistens ein oder zwei Minuten früher raus. So auch jetzt. Thomas stand auf und ging zur Tür. Da er ganz vorne saß war er mal wieder der erste und hatte ein paar Sekunden Vorsprung. Er verließ die Klasse 6a und fing an zu rennen. Noch waren sie nicht hinter ihm. Sie verließen die Klasse als er schon das halbe Treppenhaus bewältigt hatte. Er nahm drei Stufen auf einmal, zwei zu viel. Kurz vor dem Erdgeschoss stürzte er und landete mit einem Schmerzensschrei auf seinen Knien. Da fiel ihm etwas ins Auge, etwas, das glänzte und an einer Kette hing. Er steckte es einfach ein, es war ein Amulett oder so was. Dann rappelte er sich schnell auf, unterdrückte den Schmerz, der aus den Knien kam, stürmte durch die Aula, die sich gleich füllen würde, aber noch war er allein. Mit etwas zu viel Wucht stieß er die Glastüre auf, seine Handgelenke knackten. Er hörte die anderen ein paar Sekunden später gegen das Glas laufen. Wieder einmal war er etwas schneller gewesen, sie würden ihn aber doch irgendwann kriegen, das wusste er mit Sicherheit. Er rannte an den Schulbussen vorbei, um die Ecke, dann noch mal um eine andere Ecke, weiter bis zum Supermarkt, bis ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er hatte keine Kondition mehr übrig. Sie waren nicht da. Natürlich nicht, sie verfolgten ihn nie weiter als bis zum Schulbus. Sie würden niemals die sechs Kilometer laufen, sie spielten sich nur im Sport immer so auf, wie toll sie doch Fußballspielen konnten. Thomas verlangsamte seine Schritte und sah in den Himmel. Schwarze Wolken zogen sich zusammen, es sah stark nach einem Gewitter aus. Das auch noch, dachte er. Manchmal wünschte er sich, dass er wenigstens Geld für ein Taxi hatte, aber das war nicht möglich. Wenn er welches hatte, dann nahmen sie es ihm ab. Er nahm den Feldweg zwischen den beiden Orten, die Straße war gefährlich, außerdem würden ihn dann die anderen sehen, was sehr peinlich war. Die Fahrt in dem Schulbus war eigentlich noch schlimmer, aber er dachte jetzt nicht daran, das würde erst morgen früh wieder kommen. Und heute war erst Montag. Er erreichte den Anfang des Feldweges, es hatte schon gestern geregnet und so war der Weg voller Schlamm. Seine Schuhe wurden dreckig, was ihm eigentlich egal war, aber seiner Mutter nicht, außerdem würden sie ihn fragen, warum er wieder eine Stunde später kam. Er würde wieder schweigen und sie würden dann mit der Psychologin sprechen, die an Thomas beinahe verzweifelte. Das wusste er und musste lächeln. Auch er hatte seine kleinen Erfolge. Ja, auch er. Der kleine Thomas mit den Segelohren und der Zahnspange.
Es fing erst an zu tröpfeln, dann kamen etwas dickere Tropfen, und schließlich donnerte es, der Himmel wurde schwarz, die Sonne war nicht mehr da und wich einem Platzregen. Thomas lief weiter, er spürte die Naturgewalt und war glücklich, allein zu sein. Insgeheim mochte er Gewitter, sie hatten etwas Bedrohliches. Meistens schaffte er die sechs Kilometer von Allershausen nach Hohenkammer über Eglhausen in etwa einer Stunde. Heute aber hatte er Gegenwind. Einmal hatte er nicht mehr gekonnt und hatte auf halbem Weg einfach bei einem Bauernhof um eine Mitfahrgelegenheit gebeten. Der Mann war freundlich gewesen und war gleich mit ihm losgefahren. Doch heute wollte er nicht dort klingeln. Er war bereits durchnässt und stemmte sich gegen den Wind.
«Heute nicht!» schrie er die Wolken an.
Thomas war wütend. Immer versauten ihm die anderen die im Gegensatz zu dem Scheißwetter komfortable Busfahrt. Sie drangsalierten ihn immerzu. Machten dumme Bemerkungen, die nun wirklich keinen Sinn ergaben. Aber alle lachten. Sie fanden sogar das Wort Tomate lustig. Thomas bedauerte es manchmal, nicht dumm zu sein. Dumme leben leichter, dachte er. Das hatte er schon früh kapiert. Stefan, seine übelster Feind brachte ihm schon seit Anfang August immer blaue Flecken ein. In der fünften war er noch nicht da gewesen. Stefan und seine Freunde Michael und Peter waren alle sitzen geblieben. Und Thomas durfte darunter leiden. Es gab wirklich niemanden, der nicht lachte. Oder er sah es nicht. So marschierte er mit einer kleinen schwarzen Wolke über dem Kopf nach Hause. Die war immer da. Wie die in den Comicfilmen.

Als er zu Hause ankam und mit seinem Schlüssel die Tür aufsperrte warteten sie bereits mit Sorgen erfüllten Gesichtern. Mutter legte ihre Zeitschrift weg und stand auf. Er wusste, dass Vater extra aus München hergekommen war, nur um ihn in Empfang zu nehmen. Dass es heute mal keine Ohrfeige von Mutter gab hatte er dem Gewitter zu verdanken, denn er machte einen erbärmlichen Eindruck. Vater kam mit einer dicken Wolldecke. Sie führten ihn an den schweren Esstisch und setzten sich ihm gegenüber, Thomas bekam eine Tasse Kakao.
«Warum bist du wieder so spät aus der Schule gekommen? Wir machen uns Sorgen! Bist du mal wieder gelaufen? Oh Gott, siehst du aus!» schimpfte sie.
Es war der typische Vorwurf von Mutter, sie sagte das immer. Vater sah meistens etwas bedrückt drein, aber mischte sich ungern in den Streit ein, weil er es dann abbekam.
«Ich wollte nicht mit dem Bus fahren.» sagte Thomas und nippte an seinem Kakao, er zitterte immer noch etwas von der Kälte, die so ein Herbstgewitter mit sich brachte.
«Aber das ist sicherer! Du könntest überfahren werden.» fauchte sie und klopfte mit der Faust auf den Tisch. Sicherer, Thomas hätte sie auslachen können. Soll sie sich doch mit seinem Gesicht in diesen verdammten Bus setzen. Die Schule alleine war schon schlimm genug, die Pausen, wenn die Lehrer ihn mit raus schickten und ihn dann auf dem Hof drei Schläger oder mehr mit grinsenden Gesichtern erwarteten. Er verdrängte den Gedanken und sah seine Eltern an. Er sagte nichts, warum auch. Den Versuch hatte er schon abgehakt, sie glaubten ihm nicht. Ihrer Ansicht nach waren Kinder einfach nur süß. Thomas wusste es besser, sie waren nur so lange süß, solange Erwachsene dabei waren. Er war erst zwölf Jahre alt, aber er wartete nur darauf, wieder auszuziehen, an einen Ort, der garantiert nicht in Bayern lag. Irgendwo in Frankreich. Oder auf Lanzarote. Dort war es schön, und die Leute waren freundlicher.
«Wir haben heute einen Termin mit Doktor Hoffmann. In einer halben Stunde fahren wir.» sagte Vater lustlos und jetzt wusste Thomas, dass er sich geirrt hatte. Den Montagstermin hatte er einfach vergessen.
Vater mochte die Pychologin auch nicht. Sie war auch aus Hohenkammer, aber sie mussten immer nach München in die Praxis fahren, was seine Eltern im Anschluss mit einem endlos langen Einkaufsbummel verbanden. Er sah sich jetzt schon langweilen.
Wortlos stand er auf und kippte den restlichen Kakao in den Ausguss, anschließend räumte er die Tasse in den Geschirrspüler. Er wollte nichts tun, was Mutter noch mehr aufregte. Einmal war er mit Vater alleine gewesen, da hatte sich das Geschirr hoch gestapelt. Irgendwann war der Turm aus Geschirr dann zusammengebrochen, und sie konnten ihr dann eine Geschichte auftischen, wo denn das ganze Geschirr geblieben war. Seitdem hatten sie eine Spülmaschine. Aber nur weil Vater faul war.
«Ich gehe mich umziehen.» sagte er tonlos und ging mit hängendem Kopf nach oben, sah in das Zimmer seines Bruders Simon, sah wie er gerade mit seinen Bauklötzen spielte. Er ging in sein Zimmer, machte die Tür hinter sich zu. Er warf die Decke zu Boden, streifte sich die nassen Sachen ab, da fiel ihm etwas ein. Das silberne Amulett. Er nahm es aus der Tasche und versteckte es unter der Matratze. Dann nahm er frische Kleider aus dem Schrank und zog sich wieder an. Er dachte an Doktor Marie Hoffmann, eine Frau, so etwa vierzig, mit einem funkelndem Blick und einer Randlosen Brille. Oh, wieder München, dachte er betrübt. Eigentlich mochte Thomas große Städte, aber München nicht. Dort war alles irgendwie edel, gehoben, luxuriös. Die Termine mussten ein Vermögen kosten. Aber Vater hatte ja genug. So konnte er es auch nicht verstehen, warum er kein Taschengeld bekam. Er machte das Radio an. Es lief Musik, die ihm zu fröhlich war und so machte er es wieder aus. Er setzte sich an den Schreibtisch und nahm sein Tagebuch und den schwarzen Stift. Doch er wusste nicht was er schreiben sollte, also ließ er es bleiben. Er steckte es in die Schublade zurück. Er legte sich auf sein Bett und dachte nach. Es hatte noch achtzehn Stunden bis er erneut in diesen Bus einsteigen musste. Er hatte keine Freunde in diesem Ort, nicht so wie früher, als sie noch in der großen Stadt gewohnt haben, dort war alles anders gewesen, die Menschen waren auch ganz anders dort. Aber das war Vergangenheit, sie konnte nicht wieder kommen, Vater hatte jetzt eine bessere Arbeit, musste nicht mehr so viel Schuften und bekam auch mehr Geld. Er sah aus dem Fenster, es regnete immer noch, nur nicht mehr so stark, er sah ein paar Fetzen blauen Himmels. Der Wald, auf den er blicken konnte war sein Versteck. Dort hatte er in einer Holzkiste seine Schätze versteckt, Dinge, die er geklaut oder gefunden hatte. Es war auch Geld da drin, aber das brauchte er für sein neues Leben, irgendwann. Er hatte es von Dieter und Doris, den Nachbarn. Die waren vielleicht komisch. Dieter war Anwalt und verdiente eine menge Geld, sie legten es einfach in einen Schrank, den er mal durch Zufall oder purer Neugier geöffnet hatte. Ihm waren fast die Augen ausgefallen, als er das dicke Bündel Hunderter gesehen hatte. Und so hatte er sich bei jedem Besuch drei Scheine mitgenommen. Manchmal fuhr er mit dem Rad allein nach Freising und kaufte sich teure Sachen, die er dann für drei Stunden behielt. Er nahm sich vor, heute Abend oder morgen das Amulett dazu zu legen. Es würde gut zu seinen anderen Schätzen passen, ein Schweizer Taschenmesser, eine alte Taschenuhr, eine neue Uhr, eine mit Digitalanzeige, ein schwarzer Füllfederhalter mit einem weißen Klecks, der ganz Teuer gewesen war, und noch ein paar Dinge, die er schon wieder vergessen hatte, irgendwelche Kleinigkeiten. Er würde eine Liste anfertigen, seine Schrift war recht schön und er schrieb gerne. Da hatte er wieder was zu tun. Plötzlich hörte er seinen Bruder schreien, Thomas schnellte hoch, warf die nassen Klamotten in die Wäschetonne und hob die Decke auf. Nicht zu früh, denn dann ging auch schon die Tür auf. Mutter stand da und sah ihn vorwurfsvoll an.
«Komm, Thomas, wir bringen Simon zu den Nachbarn.» sagte sie und ließ die Tür offen, was Thomas nicht leiden konnte. Er legte Wert auf seine Privatsphäre.
Er sagte nichts und nahm noch seine Regenjacke, die er heute Morgen vergessen hatte. Dann verließen sie das Haus und stiegen in den BMW, Simon quengelte, er war erst zwei und war krank. Was er hatte, wusste er nicht, aber es schien sehr gefährlich zu sein. Denn Mutter musste immer ein Babyphon mit sich tragen, damit sie hören konnte wann er schrie. Ausserdem hatten sie eine Apparatur in Simons Zimmer stehen, die jedesmal, wenn er einen seiner Anfälle hatte laut losschrillte. Thomas hatte mit ihm nichts zu tun, er war einfach nur da. Er war schon immer krank, und doch konnte Thomas sich nicht mit ihm arrangieren. Sie fuhren einfach nur um die Ecke, Mutter stieg aus und brachte Simon zu den verhassten Nachbarn, denn immer wenn sie dort waren, dann musste Thomas sich langweilen. Und die guten Bücher konnte er in Gegenwart seiner Eltern nie lesen. So was wie King oder Hohlbein. Das sei nichts für Kinder, sagten sie, aber er war kein Kind mehr. Die anderen hatten ihm genommen, was sie selbst noch genießen konnten: eben ihre Kindheit. Mutter kam nach kurzer Zeit zurück und setzte sich mit einem Seufzer. Er fuhr los. Sie fuhren auf der Landstraße nach Allershausen, dann auf die Autobahn. Er machte das Radio an, es lief ein Klassiker von Joe Cocker. Thomas sah aus dem Fenster, sah die anderen Autos vorbeiziehen, Vater war immer eine Kleinigkeit schneller. Er fing wieder an zu träumen, er sah sich als Mann, als richtiger Mann auf einer Insel. Er erschlug gerade ein Schwein, es quiekte, Blut spritzte ihm ins Gesicht. Doch ihm machte das nichts aus, denn er hatte Hunger und würde das Tier über dem Feuer braten. Er hatte eine Freundin, es war natürlich sie, mit ihren grünen Augen und den langen, roten Haaren. Zusammen saßen sie am Strand und unterhielten sich über das gelungene Essen. Dann sahen sie sich zusammen den Sonnenuntergang an. Sie waren glücklich, sie legte den Kopf in seine Arme, er war überglücklich, da war jemand, der ihn mochte, ihn vielleicht sogar liebte. Sie waren zusammen. Dann kam die Realität gleich einem Faustschlag ins Gesicht zurück.
Vater wurde langsamer. Ach ja, der Münchner Ring, da gab es immer Stau. Der Traum kam nicht mehr, dafür sah sich Thomas die verschiedenen Kennzeichen an. Hamburg, Berlin, Leipzig, Saarbrücken, Frankfurt, ja alle wollten nach München. Ab und zu sah er auch fremde Nummernschilder, aus Frankreich, Belgien, Österreich, den Niederlanden, Dänemark, Italien, Spanien, Schweden und sehr selten auch mal Finnland. Manchmal auch einen Engländer, der das Steuer auf der falschen Seite hatte. Er fragte sich, ob die Sonne in Frankreich länger schien als in Bayern. Er hatte einmal eine Reportage gesehen, die hatten dort die hübscheren Häuser, alles schien irgendwie alt, ein bisschen verfallen und ehrwürdig. Sie entkamen dem Stau und fuhren durch München. Alles hier war so nobel, dass Thomas sich nicht so wirklich wohl fühlte, das hier war nicht seine Welt. Sie hielten vor einem gelben Haus. Wer immer es gestrichen hatte nahm wohl keine Farben wahr. Die Farbe erinnerte Thomas an seinen Urin. Aber das hatte nichts zu sagen, innen war es ja schön eingerichtet, die Wände waren in einem sanften Beige gehalten, die Türen waren etwas dunkler und überhaupt war es ein Haus in dem man gerne wohnen würde. Aber es war nur eine Praxis. Eine alte Dame empfing sie, sie sollten noch warten. Vater saß links von ihm und Mutter rechts. Vater wollte eine rauchen, aber es war nicht erlaubt. Sie würden ihn gleich alleine lassen, irgendwo einen Kaffee oder ein Bier trinken gehen. Dann ging die Tür auf, ein junges Mädchen kam heraus und wurde von ihrer Mutter in Empfang genommen. Dann sah die Psychologin Thomas an und er schickte sich an, zu ihr zu gehen.
«Bis in einer dreiviertel Stunde.» sagte Mutter und beide gingen.
Thomas betrat das Sprechzimmer. Sie setzte sich auf einen scheinbar unbequemen Stuhl und er selbst nahm auf einem weichen Sessel Platz. Sie sah ihn an. Sie wurde nicht schlau aus ihm. Oder tat so. Psychologen hatten eine eigenartige Eigenschaft: Sie fanden alles normal.
«Wie geht es dir heute, Thomas?» fing sie an.
Er sah sie an, dann sah er aus dem Fenster. Was sollte er sagen? Er dachte an seine Imaginäre Freundin. Es ging ihm eigentlich gut, er hatte heute nur zwei Schläge kassiert, in der großen Pause. Dann war zufällig ein Lehrer gekommen und hatte ihn somit gerettet. Egal, wohin man ging, die drei waren einfach überall. Seine Peiniger hatten irgendwie ein System, das er noch nicht ganz durchblickte.
«Gut.» sagte er weil er etwas sagen musste. Er mochte sie nicht, sie und ihre Funkelaugen.
«Was hast du heute erlebt?» fragte sie und sah durch ihn durch auf die Uhr.
«Nichts besonderes.» sagte er und dachte an seinen Fund, er fand häufiger Dinge, eine angenehmer Nebeneffekt, wen man den Kopf meist hängen ließ.
Die Frau sah ihn an und er spürte, dass sie wusste, dass etwas nicht stimmte, aber sie konnte es ihm nicht entlocken. Er sah auf die Uhr, drei Minuten waren vergangen. Er hörte ein Lied, es kam von draußen. Sie stand auf und machte das Fenster zu. Schade, das Lied hatte ihm gefallen.
«Deine Eltern haben mir gesagt, dass sie sich Sorgen machen; sie geben eine Menge Geld aus, damit ich mit dir rede. Ich würde gerne wissen, wie es in dir aussieht.» sagte sie freundlich.
Schwarz, dachte Thomas und spielte mit seinen Händen.
«In Ordnung, die Schule nervt mich.» warf er ihr hin.
«Die Schule. Was ist so schlimm daran?» sie schien interessiert. Auf einmal.
Was wohl, dachte er bitter. Ihr müsst das nicht durchmachen. Ihr habt keine Ahnung.
«Die anderen.» sagte er mürrisch und verzog das Gesicht.
«Was machen sie denn?»
«Sie verfolgen und schlagen mich.» sagte er und dachte daran, dass all dies ungefiltert zu seiner Mutter drang. Vater war es einfacher zurechtzumachen. Er und Thomas hatten Spaß, wenn er denn mal da war.
Eine Pause folgte, die Psychologin fuhr sich durch ihr Haar. Da war ein Ansatz, wie sollte sie fortfahren? Die Frau schien zu überlegen.
«Weißt du denn warum sie das tun?»
Thomas schüttelte den Kopf und wurde nervöser. Er wollte nicht daran denken, morgen würde er sich wieder damit auseinandersetzen müssen. Das war schon genug. Er hasste die Schulpflicht.
«Wie bist du denn zu deinen Klassenkameraden?»
Fragen über Fragen.
«Ich sage nie etwas zu ihnen. Ich warte nur auf das Ende.»
«Welches Ende denn?» sie schien erstaunt, so etwas aus dem Mund eines Zwölfjährigen zu hören.
«Das Ende der Schule. Dass ich nach Hause kann. Ich laufe meistens die sechs Kilometer.»
Eigentlich wartete er nur darauf, von hier wegzuziehen, irgendwohin.
«Aber es fährt doch ein Bus.» sagte sie überflüssigerweise und klappte einen kleinen Block auf.
«Ja, aber in den steige ich nur morgens. Das ist schlimm genug.»
Die Ärztin sah jetzt etwas besorgt drein. So etwas hatte sie bestimmt schon gehört. Aber das kam bestimmt nicht so oft vor. Und wenn er ihr eine Frage stellen wollte winkte sie immer ab.
«Willst du denn nicht mit ihnen reden? Sie wollen bestimmt nur wissen wer du bist.»
Ja, das wäre möglich, dachte er. Sie wollten wahrscheinlich wissen, wie Mageninhalt aussah.
«Ich will nicht, dass sie wissen wer ich bin. Und ich kann es auch nicht. Sie schlagen mich. Was soll ich ihnen sagen? Dass ich es toll finde?» Er hatte jetzt keine Lust mehr.
Die Frau wusste, dass er etwas weiter war als seine Altersgenossen. Und das machte sie etwas unsicher.
Sie kritzelte ein paar Zeilen auf ihren Block. Dann sah sie wieder auf.
«Deine Mutter macht sich große Sorgen. Wieso sagst du ihr das nicht? Ich denke sie wird es verstehen.»
Wäre schön, ja, dachte er und rieb seinen Daumen.
«Hab ich schon. Sie glauben mir nicht. Die anderen können gut Schauspielen. Sie waren auch schon bei mir zu hause und haben Kuchen gegessen. Ich wollte sie wären tot.»
Das hätte er besser nicht gesagt.
Jetzt sah sie noch besorgter drein. Sie schrieb wieder etwas in den Block. Die Zeit verging, noch eine Halbe Stunde. Die Gesprächspausen waren sehr lange. Die Frau sah ihn an, konnte sie auf den Grund seiner Seele blicken? Thomas blieb ruhig, wie immer. Sie nahm einen Schluck aus einer Tasse, roch seltsam, was sie da trank. Kaffee war es nicht. Er dachte an das Buch, das er gerade las. Carrie, von Stephen King. Er hatte erst die ersten paar Seiten gelesen, aber es schien interessant. Er hatte auch schon Shining gesehen, weil er wusste, wie man den Videorecorder programmierte. Er hatte es auch ein bisschen mit der Angst zu tun bekommen. Aber am Ende waren alle bösen Menschen tot. So, wie es sein sollte. Die Psychologin holte etwas aus der Tasche hervor. Es war etwas, das er kannte. Ein Blatt aus seinem Tagebuch.
«Wo haben sie das her?» schrie er plötzlich.
Eine dünne Schnur zog sich um seinen Hals zu. Oh, Mama!
«Deine Eltern haben es mir gegeben, und nicht nur sie finden das beunruhigend.»
Es war eindeutig seine Schrift. Wieso ignorierten sie immer seine Privatsphäre?
«Dieser Stefan, der Anführer der Clique, er ist so grausam. Ständig schlägt er mir in den Magen und macht viele blaue Flecke. Ich kann nicht sitzen vor Schmerzen. Ich werde ihn auf eine Bank schnallen, seinen Kopf aufsägen und ihm dann langsam das Gehirn mit einem Löffel auskratzen. Dann muss auch seine tolle Freundin mit den Titten dabei zusehen, sie hängt an der Wand und sie schreit, dass es mir die Haare aufstellt. Aber sie gehört auch dazu. Es ist nur fair, wenn auch sie leiden muss. Sie lacht immer wenn ich schreie. Aber dann lache ich.» las sie vor.
Er hatte das vor einer Woche geschrieben. Jetzt war Thomas richtig sauer. Scheiße! Rief er innerlich.
«Wieso bist du so voller Grausamkeiten?»
Thomas sagte nichts, er verfluchte seine Mutter. Heute Abend würde er das Tagebuch verbrennen. Niemals mehr sollen solche Zeilen an die Öffentlichkeit gelangen.
«Thomas, was ist los mit dir? Sind die anderen wirklich so schlimm?» sie sprach wie die Kindergartentante. Er sagte nichts, er konnte es nicht. Ein sehr dunkles Gefühl kroch in ihm hoch und er konnte es diesmal nicht unterdrücken. Die Psychologin sah das offensichtlich in seinen Augen und seufzte. Sie legte das Blatt endlich weg. Sie verstand ihn nicht, niemand tat das. Sie wollten das nicht verstehen, warum er immer so Still war.
«Ich möchte es wieder haben. Sie wissen nun was drin steht.» sagte er.
Scheinbar widerwillig gab sie ihm das Blatt und er zerriss es vor ihren Augen.
«Ich werde so etwas nicht mehr schreiben.» sagte er und starrte dabei aus dem Fenster. Ein Vogel flog durch sein Blickfeld. Wenn er doch auch nur Schwingen hätte, er würde zum Mond fliegen, Hauptsache weg hier.
«Aber es ist in dir drin, Thomas. Woher hast du diese Phantasien? Von den Filmen? Den Büchern? Deine Mutter hat eine Kassette mit Psycho gefunden. Weißt du, worum es in diesem Film geht?»
Er sagte wieder nichts, aber sah sie an. Er dachte an Stefan, Michael und Peter, diesmal stach er mit einem großen Messer auf sie ein. Aber in Wirklichkeit war er einfach zu feige dafür. In dem Film wurde eine Frau mit einem Messer erstochen, aber man sah nichts. Nur das Blut, wie es sich in der Badewanne mit dem Wasser vermischte. Außerdem war der Film schwarzweiß und nun wirklich nicht schlimm.
«Sie... wer sind sie dass sie mich verurteilen, nur weil ich mir so etwas ansehe?» sagte er gereizt.
«Ich verurteile dich nicht, Thomas. Aber es ist doch etwas ungewöhnlich, wenn ein zwölfjähriger sich solche Filme ansieht, die eigentlich nur für Erwachsene sind.»
Thomas sah sie sich an, weil die Schicksale in den Filmen schlimmer waren als sein eigenes. Und er hatte nicht vor, jemandem die Kehle aufzuschlitzen, nur weil ihm die Nase nicht passte. Er hatte einen Sinn für Gerechtigkeit, aber die Welt war nicht gerecht. Außerdem fühlte er sich Erwachsen.
«Schau mal. Ich finde du solltest dich mit Positivem umgeben. Schau dir zum Beispiel Hook an. Da wird auch gekämpft. Und der Film ist für dein Alter.» sie sah ihn wieder so durchdringend an.
Er sah sich diese Filme auch an. Aber es versetzte ihm jedesmal einen Stich ins Herz, wenn er sah, dass alle Darsteller Freunde hatten. Alle waren Freunde, überall Freunde. Nur er selbst hatte keine Freunde. In den Horrorfilmen waren die Hauptdarsteller einsam. Sie hatten auch gute Seiten. Selbst die Gegenspieler, die Kommissare, die sie jagten waren einsam. Die Einsamkeit war sein einziger Freund. Und er hielt auch meistens zu den einsamen Kommissaren, wenn sie einen Kindermörder jagten oder einen Frauenmörder. Aber Thomas kannte auch ein anderes Gefühl. Rache. Das durfte auch sein. Wenn einer, der immer geschlagen wurde irgendwann zurückschlägt war das gerechtfertigt. Immer, wenn er solche Filme sah ging ihm das Herz auf.
«Thomas, was kann ich für dich tun?» fragte sie.
Das erstaunte ihn. Dann sagte sie etwas, dass er nicht ganz zuordnen konnte, einfach aus dem Grund, weil er den Zusammenhang nicht verstand.
«Ich sehe dich nie in der Kirche.» Er erinnerte sich daran, dass sie auch in Hohenkammer wohnte.
«Ich mag die Kirche nicht.» sagte er trotzig.
«Warum denn nicht? Was ist so schlecht daran?» fragte sie und sah ihn an.
«Der Gott ist nicht hier. Er war nie da.» sagte er und etwas veränderte sich in ihren Augen.
«Das stimmt nicht, Thomas. Du musst nur an ihn glauben.»
Thomas verstand nicht, warum sie jetzt ausgerechnet von der Kirche sprach. Seit sechs Jahren war er nicht mehr in einer Kirche gewesen, sein halbes Leben. Sie fehlte ihm nicht wirklich.
«Sie klingen wie der Religionslehrer. Und ich weigere mich, in die Kirche zu gehen. Es bringt mir nichts. Es ist langweilig und unnötig.»
Ihr Blick wurde noch ernster.
«Du kannst nicht über etwas Urteilen, was du nicht kennst, Thomas.»
«Sie aber auch nicht.» gab er zurück.
Sie beurteilte ihn, nur weil er sich für Sachen interessierte, die ihm aus dem Herzen sprachen.
«Mache ich nicht.» sagte sie sofort, starr den Blick in seine Augen gerichtet. Die hat vielleicht Augen...
«Sie sagen, ich wäre voller Grausamkeiten. Das bin ich nicht. Ich liebe meinen Vater!» sagte er und es war doch die Wahrheit.
Ihr Blick wurde weicher.
«Du hast keine Freunde, Thomas?» sagte sie, es klang wie eine Frage, aber es war keine.
Sie wechselte immer so schnell das Thema und es traf ihn hart. Es war bestimmt ihre Absicht, ihm wehzutun. Er zerkleinerte die Schnipsel noch mehr.
«Nein.» gab er zerknirscht zu.
«In der Kirche sind alle aus unserer Gemeinde. Und wir machen viel gemeinsam.»
Schon wieder, dachte er und verdrehte die Augen.
«Ja. Langweiliges Zeug. Ich lese lieber und bin in meiner Welt. Ich brauche keinen Gott der mir was vorschreibt.»
Thomas fragte sich, warum sie immer wieder auf Gott zurückkam. War sie besessen? Wie das Mädchen in der Exorzist? Ach nein, das war ja der Teufel.
«Das stimmt nicht. Wir machen Ausflüge, gehen ins Kino, schwimmen, machen Radtouren, du fährst doch gerne Rad, oder, Thomas?»
«Ja schon...»
«Na also. Dann gehst du einfach am nächsten Sonntag mit deiner Mutter mit. Wir gehen Radfahren. Und wenn das Wetter schlecht ist, dann gehen wir Pizza essen.» Thomas hatte keine Lust auf Menschen. Und schon gar nicht auf Menschen, die Mutter mochte. Die sind so seltsam.
«Dort sind auch Mädchen in deinem Alter.»
Thomas dachte an seine imaginäre Freundin. In Wirklichkeit aber sah er nicht gerade toll aus. Er fand sich hässlich. Und er war sehr schüchtern im Umgang mit Mädchen. Sie sahen ihn nicht mal an, bemerkten ihn nicht. Er war unsichtbar für sie.
«Ja.» sagte er einfach, weil er in der Zeit etwas sagen musste.
Die Gespräche mit der Psychologin waren zäh. Es war wahrscheinlich auch eine von Mutters Freundinnen. Mutter laberte auch die ganze Zeit von Gott. Wie toll der doch ist. Und was der nicht alles kann, Wasser in Wein verwandeln. Oh, das war Jesus. Aber Gott schickt Heuschrecken und lässt es Blut regnen. Thomas überlegte, ob er Mutter zu Weihnachten ein Buch von Nietzsche schenken sollte. Der hatte mal gesagt, dass Gott tot sei, das wusste er von Vater. Thomas dachte, dass der Mann ein Weiser sein musste. Dann würde er von ihr grün und blau geschlagen werden. Aber der Blick wäre es allemal wert, dachte er amüsiert.
«Was ist denn so lustig?» sie hatte wieder ihre Funkelaugen.
«Nichts. Ich habe gerade daran gedacht, was ich meiner Mutter zu Weihnachten schenken werde.»
«Und willst du es mir sagen?»
«Dann weiß sie es ja schon heute.» sagte er und damit wusste sie, dass er ihr nicht vertraute. Ihr Blick wurde kühl. Wie der von Mutter, wenn sie ihn am Frühstückstisch anschwieg.
«Und wenn ich es dir verspreche, nichts zu sagen?» sagte sie übertrieben freundlich.
Sie konnte ihn nicht hinters Licht führen. Ihr Blick blieb kalt, auch wenn ihr Tonfall sich veränderte. Aber selbst der war noch kühl. Er hatte schon mit vielen Menschen gesprochen und wusste, was warm und was kalt war.
«Warum ist das so wichtig?» stellte er die Gegenfrage.
Thomas war reifer als ihre normale Kundschaft, und das ließ er sie gerne spüren. Ihr Blick blieb kalt. Nein, er wusste nicht, was sie dachte, aber er spürte ihre aktuelle Gefühlslage. Und die war ausgesprochen negativ. Aber was sollte sie ihm schon tun? Er hatte keine Angst vor ihr. Sie war nur eine Kinderspychologin, mehr nicht. Aber wenn sie immer so mit Kindern umging musste sie bald ohne Arbeit dastehen. Oder die anderen Kinder spürten nicht das was er spürte, was durchaus wahrscheinlicher war, denn sie hatte eine riesige Praxis in München. Das hatte etwas zu bedeuten. Hier waren die Mieten sehr teuer, hatte Vater ihm erklärt. Deswegen und wegen der Ruhe für ihn und Simon wohnten sie in dem verfluchten Kaff.
«Thomas.» sagte sie, mit zuckersüßer Stimme, aber dem gleichen Blick. Das passte nicht.
«Lass uns über deine Vergangeheit reden.» setzte sie nach.
«Die kennen sie doch schon.» sagte er wie aus der Pistole geschossen.
«Ja, Bruchstücke davon. Ich weiß, dass du aus Wien kommst. Und schon in anderen Bundesländern gewohnt hast. Immer seid ihr umgezogen. Wie war es denn in anderen Orten?»
«Ähnlich, nur dass die Leute nicht so auf Gott fixiert waren.» sagte er ohne nachzudenken.
Aber es stimmte. Der Blick, wenn er vorher kalt war, wurde jetzt eisig. Thomas spürte die Kälte fast schon Körperlich. Mit dem Thema Gott konnte er sie aufziehen. Das gefiel ihm. Es stand zwei zu eins für ihn. Sie traf ihn mit seinen nicht vorhandenen Freunden. Es war wie Schiffe versenken, nur verbal. Er spielte das mit Vater, wenn er denn mal da war. Und Vater brachte ihm Schach bei. Das war viel schwerer. Er schlug ihn immer, aber Vater sagte, dass er besser sei als manche seiner Arbeitskollegen.
«Hattest du in den anderen Orten Freunde?» fuhr sie fort.
Aber Thomas war vorbereitet. Er fuhr seine Emotionen runter. Das konnte er auch, er war ihr fast ebenbürtig, er war besser als sie, dachte er.
«Ja.» sagte er so kühl er klingen konnte.
«Erzähl mir von ihnen.»
Okay, sie war besser.
Er kam in Not. Sein Schiff fing an zu sinken. Sein größtes, Mist. Krampfhaft versuchte er sich an alles zu erinnern, was mit Freunden zu tun hatte. Er dachte an Wien, da hatte er einen Freund gehabt, mehr nicht. Und der wohnte weit weg, am anderen Ende der Stadt. Immer wenn sie bei ihnen waren hatte er an seiner Konsole gehangen. Hat fast immer Super Mario gespielt. Thomas wollte auch so ein Ding, hatte es aber nicht bekommen. Er erinnerte sich noch genau an den Streit.
«Wir haben Super Mario gespielt. Wir waren unterwegs.»
«Du hattest also einen Freund» Schiff versenkt, mit Mann und Maus.
«Ja. Er hieß auch Thomas. Wir waren einmal die Woche dort.»
«Und was hast du die übrige Zeit gemacht?» Die Kälte war verschwunden und wich verborgener Schadenfreude. Sie hatte ihn.
«Gelesen. Fern gesehen. Es war Wien. Ich war noch zu klein, um allein rauszugehen. Ich war in der Wohnung, wo sonst?»
«Aber du hast auch schon auf dem Land gewohnt.» stellte sie fest.
«Ja. Aber da war ich meistens mit dem Rad draußen.»
«Allein.»
«Ja! Was wollen sie? Mich fertig machen?» fuhr er sie an.
Sie hatte ihre Sicherheit wieder, grinste leicht, kaum merklich, aber Thomas spürte es.
Er hatte noch das kleinste Schiff. Wenn sie das traf würde er zusammenbrechen.
«Thomas. Ich will dich nicht fertig machen. Ich will nur wissen wie es dir geht.»
Als ob sie das nicht sehen könnte, dachte er. Ist sie blind?
«Scheiße.» sagte er.
«So etwas sagt man nicht.» sagte sie in einem strengen Tonfall.
Sie könnte seine Mutter sein. Die gleichen Worte, genau der gleiche Ton. Er verbarrikadierte sich hinter einer Wand aus Panzerstahl. Er dachte fieberhaft nach, was er ihr noch erzählen sollte. Oder sollte er ganz schweigen? War bestimmt besser. Er war jetzt das dritte Mal hier, auf den ausdrücklichen Wunsch von Mutter. Das nächste Mal würde er sich weigern. Dann mochten sie ihn vierteilen. Ihm egal. Er dachte an den Film Psycho. Sie war die Frau im Rollstuhl. Eingepackt in irgendwas, was sie konservierte. Er hatte nun doch etwas Angst vor der Frau. Sie war gefährlich, das konnte er instinktiv fühlen. Doch hatte er in dieser Situation einen Verbündeten. Die Zeit.
«Thomas. Ich verstehe nicht, warum du dich mir und den anderen nicht öffnest.»
«Warum? Niemand interessiert sich für mich.»
«Das stimmt nicht. Sonst wärst du nicht hier.» sagte sie und ihr Blick heuchelte Wärme.
Thomas spielte wieder mit seinen Händen, ein paar Schnipsel waren auf den Boden gefallen. Sie taten immer noch weh, wegen dem Aufprall mit der Glasscheibe. Traurig dachte er an den Tag heute, er war schon verloren, seine Stimmung war im Keller.
«Ich sehe, dass du dich nicht wohl fühlst. Wieso änderst du dich nicht?»
Wie denn? Das sagen alle, auch seine Familie, aber niemand sagt einem wie das geht.
«Ja. Aber wie?» sagte er.
«Das ist nicht schwer. Geh doch mal auf deine Schulkameraden zu und frag sie ob sie mit dir spielen. Du könntest auch Fußball spielen. Alle machen das.»
Ja, alle machen das. Aber Thomas war nicht alle.
«Ich hasse Fußball.» sagte er.
«Wieso immer so negativ, Thomas? Das Leben ist schön, man muss es nur genießen.»
Für die anderen, ja, dachte er, sah sie spielen, während er nur da saß und sich langweilte. Man konnte mit niemandem aus der Schule normal reden, immer gab es Schläge und dumme Sprüche.
«Es gibt nicht viel, das schön ist.» sagte er traurig und wunderte sich darüber, dass er ihr so viel erzählte. Das sah ihm eigentlich nicht gleich.
«Du denkst das weil du dir immer so negative Sachen ansiehst.» sagte sie.
Vielleicht, aber es war wenigstens eine Welt, die er gut kannte. Die ganzen Alpträume, in denen er starb, auf verschiedenste Weisen. Letzte Nacht war er erschossen worden. Aber man wacht immer auf, wenn man fast tot ist. Aber er schlief immer wieder ein, die Träume machten ihm nichts aus.
«Thomas, was hältst du davon, wenn du mal eine nette Geschichte schreibst?»
«Vielleicht.» sagte er gleichgültig. Seine Schreibversuche steckten natürlich noch in den Kinderschuhen. Außerdem fiel ihm nie was Nettes ein, in jeder Geschichte gab es Tote.
«Du kannst es ja in der Schule herzeigen.» sagte sie.
«Nein!» entfuhr es ihm.
«Warum nicht? Du hast scheinbar viel Phantasie. Die Geschichten in deinem Tagebuch sind... ich gebe es zu... sehr ausgefallen. Ich wäre in deinem Alter nicht auf diese Idee gekommen.»
Er fragte sich, ob sie jemals seine Welt gesehen hatte.
«Wo kommen sie her?» fragte er.
«Ich habe schon immer in unserem Ort gewohnt.» sagte sie und lachte.
«Aber das ist nicht wichtig, es geht hier nicht um mich.» fuhr sie fort und schrieb wieder in den Block.
Thomas fragte sich, was das Gespräch bringen soll. Sie würden es hören aber nicht verstehen. Morgen wäre alles so wie immer. Nichts würde sich ändern.
«Wie waren sie als Kind?» fragte er und sie sah ihn seltsam an, dann begannen ihre Augen zu funkeln.
«Ich war ein normales Kind, ich hatte ein paar Freunde, natürlich habe auch ich den einen oder anderen Unfug getrieben, aber ich habe früh zu wahrem Glauben gefunden. Das solltest du auch, Thomas. Ich finde es nicht gut, wie du die Dinge betrachtest.» Sie hielt den Block fest umklammert und starrte ihn an. Er sah ihre Adern auf ihrer Hand hervortreten. Er dachte daran, dass sie eines von den Mädchen war, die ihn nie beachteten. Und er glaubte nur die Dinge, die er sah oder fühlte.
«Was waren denn ihre Hobbys?» fragte er, sah in ihre Augen, sie verrieten etwas, das er nicht lesen konnte.
«Das ist nicht wichtig. Außerdem weißt du doch, womit kleine Mädchen sich beschäftigen.»
Briefchen schreiben und Kichern, dachte er.
«Okay, Thomas, die Zeit ist diesmal um, das nächste Mal kannst du mir ja sagen, wie es dir ergangen ist. Du wirst dich ändern, das verspreche ich dir.» Sie sah ihn seltsam an und Thomas wurde das ungute Gefühl nicht los, dass diese Frau nicht sein Freund war.
Dr. Hoffmann hob sich aus dem Stuhl und machte eine freundlich wirkende Geste. Thomas stand auch auf und machte die Tür auf. Seine Eltern waren wieder da, warteten auf der Bank. Daneben saß ein junges Mädchen, sie wirkte verstört. Auch die alte Frau, die neben ihr, sah nicht gut aus. Dies war ein Ort für Kranke. Thomas fand nicht, dass er krank war. Mutter fand es. Sie war es auch, die dann noch kurz zu der Ärztin ins Zimmer ging. Die Tür schloß sich wieder. Vater beugte sich zu ihm runter.
«Wie war es heute?» fragte er sanft.
«Ach Papa, nicht schön. Ich will nie mehr hierher!»
«Warum denn nicht?» fragte er.
Er hatte ja keine Ahnung. Wenn Mutter nicht da war konnte er reden. Aber nur dann. Das musste er jetzt ausnutzen.
«Die stellt mir so blöde Fragen. Immer das gleiche. Und sie hat furchtbare Augen.»
«Ihre Augen?» Vater war etwas erstaunt.
«Sie sind kalt!» Thomas heulte fast. Er hatte seine Gefühle nicht immer im Griff.
«Aber was sagst du da. Das kann nicht sein. Sie ist eine Kinderpsychologin.»
«Das ist doch egal!» schrie er jetzt und Vater tat das einzig richtige. Er gab ihm einen Lutscher. Er beruhigte sich wieder und sah auf das Mädchen. Sie war jetzt noch mehr verunsichert. Das war seine Schuld. Vielleicht half die Psychologin ihr, aber ihn machte sie fertig. Aber das Mädchen kannte er irgendwoher. Sie war etwas pummelig, sah aber eigentlich ganz süß aus. Sie hatte Blut an den Armen. Thomas wusste nicht, was das bedeutete. Vielleicht wurde sie geschlagen? Sie tat ihm leid. Er sah ihr in die Augen und spürte ihren Schmerz. Plötzlich wusste er, wer sie war. Sie war in seiner Klasse! «Christina?»
Sie sah zu ihm hoch, aber nach einem kurzen Augenkontakt sah sie wieder nach unten. Sie schien sehr traurig. Dann ging auch schon wieder die Türe auf und Mutter kam heraus. Etwas in ihrer Haltung hatte sich verändert. So hatte er sie noch nie gesehen.
«Gehen wir einkaufen.» sagte sie, in gewohntem Ton.
War wohl doch nichts, dachte Thomas und folgte seinen Eltern aus der Praxis. Er erwartete eine Standpauke oder noch schlimmer, eine Ohrfeige. Aber es kam nichts. Der Tag heute irritierte ihn. Das letzte Mal hatte es einen furchtbaren Streit gegeben. Sie waren auch nicht einkaufen gewesen.
Da die Praxis nahe der Fußgängerzone lag fuhren sie nicht. Sie gingen erst in eine Pizzeria und aßen etwas. Thomas bestellte sich eine Pizza mit Salami und Schinken. Sie sprachen nicht viel, seine Eltern unterhielten sich über einen geplanten Urlaub. Nächstes Jahr sollte es dann endlich mal über den großen Teich gehen, nach Amerika, New York, in die Stadt, die nie schlief. Dann Chicago, Washington, vielleicht auch San Francisco. Thomas dachte an Amerika, das aus den Filmen, die hatten dort sehr viel Platz, fuhren alle riesige Autos und sprachen komisches Englisch, anders als die Engländer, die verständlicher redeten, aber nicht so komisch wie die Bayern. Aber die Amerikaner waren ähnlich versessen auf Gott, in jedem Film ging es auch um den Glauben. Meistens kam der Mörder aus einer Familie, die sehr gläubig war. Thomas ließ sich die Worte der Psychologin durch den Kopf gehen. Sie war auch gläubig, sonst würde sie nicht so viel von der Kirche reden. Thomas überlegte sich, ob er nicht mal wirklich mit Mutter in die Kirche gehen sollte, aber dort war es bestimmt langweilig, sie mussten immer stehen, sitzen, knien und sinnlose Sachen nachplappern. Er kannte die Geschichten von Jesus und seinen Jüngern, doch aus der Kinderbibel hatte ihm eine Geschichte sehr gut gefallen, die von Samson und Delila, doch nie hatte der Pfarrer die erzählt, wahrscheinlich weil es um Rache ging. Und Rache war böse.
Alles war eigentlich so wie immer, nur etwas, eine Winzigkeit war anders. Mutter ging wie immer in eines der Modegeschäfte und sie standen dabei nur blöd rum. Dann durften sie auch noch die Tüten schleppen. Thomas sah sich die anderen Menschen an. Sie hasteten, wie in Städten üblich von Ort zu Ort. Manche sahen glücklich aus, mache gestresst, mache waren gelangweilt wie er selbst und mache, wenige sahen richtig finster drein. Wie einer, der von zwei Polizisten aus dem Kaufhaus begleitet wurde. Wahrscheinlich einer, der etwas geklaut hatte. Dann war noch einer, der sich gehetzt umsah, Thomas sah, wie er sich etwas einsteckte, aber er sagte nichts. Er machte das auch ab und zu, wenn sich die Gelegenheit bot. Davon wussten seine Eltern hoffentlich nichts. Er hatte Vater mal Hundert Mark geklaut, es war ihm aufgefallen. Er war zu ihm gekommen, hatte mit ihm gesprochen. Dann hatte er das Geld zurückgegeben. Thomas hatte ihm erzählt, dass er sich auch mal ein Eis oder einen Kaugummi kaufen wollte, da wollte Vater ihm das Geld sogar überlassen, aber Mutter war dagegen. Sie war ganz anders als Vater. Anschließend hatte er die Ohrfeige auch von ihr bekommen, nicht von ihm. Er hatte ihm mal in einer vertrauten Stunde erzählt, dass er als Kind selbst von seinem Vater geschlagen wurde und es deswegen nie tat. Er wollte es besser machen als Opa. Thomas kannte Opa nicht, er hatte sich totgesoffen. Sie gingen irgendwann aus dem Kaufhaus und zurück zum Auto. Sie stiegen in Vaters BMW und fuhren gemächlich nach Haue. Als sie ankamen, war es noch hell.
«Darf ich noch Radfahren?» fragte er Vater.
«Ja, von mir aus, aber sei in einer Stunde wieder zurück, okay?»
«Ja, danke, Papa, Versprochen.»
Thomas schnappte sich das Mountainbike aus der Garage und fuhr los. Es war ein schöner Abend, die Sonne schien durch die Wolken und verlieh ihnen einen roten Glanz. Die Luft war klar und die Natur war doch so schön hier. Es hatte was von Urlaub. Er fuhr die Pfarrer-Egger-Straße lang, am Sportheim rechts runter, weil man da so schön schnell wurde. Er nahm den Weg am Sportplatz hinten vorbei, es spielte niemand Fußball heute, und wenn, dann fuhr er immer so schnell, dass sie ihm nicht folgen konnten. Auf der kleinen Holzbrücke, die über die Glonn führte blieb er stehen. Das Wasser war gestiegen und hatte sich braun verfärbt. Normalerweise war die Glonn ruhig, aber heute hatte sie sich in einen reißenden Strom verwandelt. Er fuhr weiter, die Jahnstraße entlang, an der Feuerwehr und deren Gerätehaus vorbei bis zur Hauptstraße, wo die Autos rasten. Hier war einmal ein Güllewagen umgekippt, es hatte Tagelang furchtbar gestunken. Mutter mochte nicht, dass er da entlang fuhr. Er fuhr am Rathaus vorbei, dahinter war der Rodelberg, den er nicht mochte, weil er so klein war und immer viele Kinder da waren. Dann den Berg hoch bis zur Kirche, dann blieb er stehen und betrachtete das Gotteshaus. Ein kleiner Friedhof umgab die Kirche und bei dem Licht sah es schon etwas gespenstisch aus. Er dachte wieder an die Psychologin, wie sie durch die Tore ging und sich dann auf eine Holzbank setzte um zu beten, zu einem Gott, der ihn nicht beachtete, niemanden. Er fuhr wieder los, die Schloßstraße runter, er liebte es, wenn der Wind mit seinen Haaren spielte und er seine Ohren betäubte, dass er nichts anderes mehr wahrnahm. An der Petershauser Straße machte er halt, denn hier hatte es mal einen schrecklichen Unfall mit drei Toten gegeben. Dann fuhr er runter bis zum Schloss, man konnte sich den ganzen Weg rollen lassen, das war schön. Am Schloss hielt er an und ließ das Fahrrad liegen. Er sah das Wasser, dass das Schloss umgab und auf dem er öfters mal Schlittschuhlaufen war. Früh morgens, alleine, weil er dann seine Ruhe hatte. Es war Still, niemand war unterwegs, Thomas fragte sich, wofür das Schloss da war. Vielleicht hielten sie da drin Bälle ab und tanzten. Er stellte sich vor, wie fein angezogene Herren und Damen sich im Kreis drehten, während der Wiener Walzer gespielt wurde. Dann wurde es Mitternacht und die Damen bekamen Fangzähne, mit denen sie in die Hälse der Herren bissen, um ihr Blut zu trinken. Nachher warfen sie die Leichen einfach in das Wasser. Thomas starrte in das Wasser, um vielleicht eine Wasserleiche zu entdecken. Er fand nur eine Mark am Rande des Grabens. Er steckte sie ein. So ein kleiner Ort, aber ein Schloss, dachte er. Es hatte eine gelbe Farbe, die nicht so ganz zu den neueren Gebäuden rundherum passten, aber einen hübschen Turm, der etwas von einer Zwiebel hatte. Thomas warf einen Stein in das Wasser, dann noch einen. Er sah den Wellen zu, die er verursacht hatte. Sie breiteten sich immer Ringförmig aus, egal, was man ins Wasser warf. Einmal hatte er einen Schuh in das Wasser geworfen und auch einen Rucksack voller Steine, aber das Ergebnis war immer das gleiche, nur die Ringe waren entweder größer oder kleiner.
Ein alter Mann ging schleppend an ihm vorbei. Er beachtete ihn nicht.
Ich bin unsichtbar, dachte er wieder. Es stimmte ja.
Er schwang sich wieder auf sein Fahrrad und fuhr den steilen Berg wieder hoch. Er kam wieder an der Kirche an und freute sich auf die Abfahrt bis nach Hause. Er trat in die Pedale, fuhr den wahnsinnig steilen Schmiedberg runter, dann machte er eine scharfe Kurve in die Buchenstraße, die sanft bis zum Spielplatz abfiel. Bis hierhin konnte man sich rollen lassen, es war schön, die Natur und das kleine Gefühl von Freiheit. Weiter weg fuhr er nur, wenn er mehr Zeit hatte. Er sah auf seinen Tachometer, die höchste Geschwindigkeit hatte er auf dem Weg runter zum Schloss erreicht, 53 Stundenkilometer. Es freute ihn, denn niemand in seinem Alter konnte so gut Radfahren wie er, wenn er auf dem Rad saß fühlte er sich sicher, und wenn sie ihn verfolgten, dann machte er die waghalsigsten Manöver und stürzte so gut wie nie, nur, wenn er einen neuen Trick ausprobierte, dann konnte es mal passieren, dass er voller Steinchen unter der Haut nach Hause kam. Er ging noch auf den Spielplatz, um zu schaukeln. Dann merkte er, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen, er wollte nicht unnötig Streit provozieren.
Manchmal wünschte er sich, er wäre hier geboren worden, dachte er sich, als er den letzten Rest nach Hause fuhr. Dann wäre alles nicht so schwer. Hohenkammer an sich war gepflegt und sauber. Wie Singapur. Dort durfte man nicht mal einen Kaugummi auf die Straße spucken, ohne hart dafür bestraft zu werden. Aber so weit war es hier noch nicht. Thomas spuckte ständig Kaugummis auf die Straße, wenn er einen Automaten aufgebrannt hatte. Denn er hatte nicht mal die zehn Pfennig für einen, offiziell, jedenfalls.
Thomas kam zu Hause an und sah, dass Mutter nicht da war, sie war bei den Nachbarn, er war froh, dass er noch etwas draußen gewesen war. Simon spielte immer mit Christian und Johannes, den Zwillingen. Simon hatte es gut, er würde sich gut einleben hier, wenn sie nicht vorher wieder umzogen. Vater hatte noch etwas zu Arbeiten. Er war ein vielbeschäftigter Mann, aber er war der beste. Thomas ging hoch und war froh, dass Simon nicht da war. Er machte keinen Lärm. Wenn Simon schrie, war das ganze Haus ein Kriegsgebiet. Thomas konnte sich dann nie konzentrieren, und er musste aufpassen, dass die Türe nicht gleich unerwartet aufging. Was hatte der Arzt gesagt, was es war? Irgendwas seltenes, mit den Genen. Und mit seinem Blut.
Thomas nutzte die Gelegenheit, in der er allein war und nahm sich das Buch, Carrie. Er las, bis es stockfinster wurde. Die Geschichte war sehr spannend, und er entdeckte sich wieder, es war eine von den Geschichten, die sein Herz erfüllten, da draußen irgendwo gab es jemanden, der genauso unter seinen Schulkameraden litt. Wenn er denjenigen doch nur treffen könnte, sie hätten sich bestimmt viel zu erzählen.
Er wusste nicht, wann die Tür unten aufsprang und Mutter mit seinem Bruder, dem Schreibündel rein kam. Er musste nur aufpassen, dass Mutter das Buch nicht entdeckte, sonst konnte er es erst mit achtzehn lesen. Wenn es nach ihr ging nie.
Das Gespräch mit der Psychologin hatte ihn geschlaucht. Er war müde. Mutter kam auch hoch und wünschte ihm eine gute Nacht. Sie war heute ungewöhnlich freundlich. Es blieb nur ein ungutes Gefühl, wenn er an sein Tagebuch dachte. Es hatte keinen Sinn, es zu verbrennen. Sie kannten es wahrscheinlich schon ganz. Er würde einfach nichts mehr reinschreiben. Er ging Zähneputzen, zog sich aus und legte sich ins Bett. Dann fiel ihm etwas ein. Sein Fund in der Schule. Er stand noch einmal auf, hob die Matratze hoch und nahm es an sich. Dann legte er sich wieder hin. Er sah es sich an. Es hatte viele Kratzer, war wahrscheinlich schon alt. Er drehte es in seinen Händen, wog es ab. Es war bestimmt Silber, so schwer wie es war. Er entdeckte eine Kerbe an der Seite. Man konnte es also öffnen. Er öffnete es und sah aber nicht, was drin war. Deswegen machte er das Licht noch mal an. Als er sah, was drin war, erfasste ihn ein Schauer. Es war sie.


Kapitel zwei
Der König und die Sonne


Thomas hatte nicht wirklich schlafen können, weil er die ganze Zeit an sie gedacht hatte, und wer hatte das Amulett dort verloren? Um diese Zeit waren in der Regel keine Schüler auf den Fluren und ein Lehrer? Vielleicht war sie die Tochter eines Lehrers. Eine lustige Vorstellung, fand er. Auf dem Weg nach unten fiel ihm auf, dass Simon schon weg war.
Mutter saß an dem Esstisch mit Simon, sie streichelte ihn, was sie bei ihm nie machte, nicht, dass er es sich unbedingt gewünscht hätte, aber ein bisschen Eifersucht kam dann doch immer wieder.
«Morgen.» sagte Thomas und machte sich in der Küche einen Kakao.
«Morgen, Thomas. Du bist früh dran, nicht gut geschlafen?»
«Nein.» sagte er und setzte sich an den Tisch.
«Was ist los, mein Junge? Wieso findest du die Schule so schrecklich?»
Sie legte Simon einen Teller mit Brei hin und wandte sich ihm zu. Das war mal was Neues.
«Warum fragst du?» sagte er.
«Marie hat es mir erzählt.»
Und sie waren doch Freundinnen, dachte er, noch schöner.
«Die anderen, Mama. Aber ich habe dir das auch schon erzählt, schon vergessen? Wieso kommst du immer wieder damit?»
«Ich mache mir Sorgen, das ist doch ganz einfach. Eine Mutter macht sich nun mal Gedanken um ihr Kind.» sagte sie und fing wieder an, Simon zu streicheln.
«Ja, und jetzt? Was soll ich tun? Lachen?» fragte er und trank einen Schluck Kakao...
«Ich will wissen, wie ich dir helfen kann, Thomas.»
Sie sah wirklich besorgt aus, aber Thomas spürte, dass es nicht ganz echt war. Simon war ihr Liebling.
«Dann nimm mich aus der Schule.» sagte er und ging wieder in die Küche, um sich ein Brot zu holen.
«Du weißt, dass das nicht geht, wir haben sofort die Polizei hier.»
«Ja, ich weiß.» sagte er und schmierte sich Butter auf ein Brot.
«Weißt du, dieser Stefan, von dem du geschrieben hast...»
«Und du hast es gelesen! Warum? Findest du etwa ich darf keine Geheimnisse haben?» er schrie fast.
«Natürlich, aber das, was du schreibst ist böse.» sagte sie kühl.
«Stefan ist auch Böse.» sagte er und biss in das Brot, er überlegte, ob er nicht in der Küche bleiben sollte, aber ging doch wieder zurück an den Esstisch.
«Darüber wollte ich mit dir sprechen.»
«Über Stefan? Über den Wichser rede ich nicht.»
Er wäre doch besser in der Küche geblieben, denn er hatte sich durch seinen Ausdruck eine Ohrfeige eingehandelt.
«Du sollst nicht Fluchen!» fuhr sie ihn an.
Er sagte nichts und kaute weiter.
«Thomas, du solltest öfter mit mir in die Kirche gehen Stefan ist auch dort. Wenn ihr zusammen spielt, dann lernt ihr euch besser kennen.» sagte sie.
Thomas schüttelte es, als ob Stefan einer wäre, mit dem man spielen möchte. Und es war nur ein weiterer Grund, sich von der Kirche fernzuhalten. Danke, Mama, dachte er und steckte sich den Rest Brot in den Mund.
«Ich gehe nicht in die Kirche.» sagte er und dachte an das Buch von Nietzsche. Er würde es holen, komme was wolle. Und dann würde er über ihre Schläge lachen.
«Thomas, du bewirkst nichts gutes.» sagte sie und hörte nicht auf, Simon über die fahlen, blonden Haare zu fahren. Es machte ein leises, kratziges Geräusch. Seine Haare waren rauh.
«Aber du kannst vergessen, dass ich in die Kirche gehe. Wie lange...»
«Sechs Jahre. Du hast immer geschrien.» sagte sie und sah irgendwie traurig aus.
«Also.» sagte er und grinste sie an.
«Thomas, es ist mir sehr wichtig, dass du zum Glauben findest.»
«Aber warum wollt ihr mir alle euren Glauben aufbinden?»
«Wer denn noch?» fragte sie. Als ob sie es nicht wüsste.
«Die Psychologin.» erinnerte er sie.
Sie sagte nichts, streichelte Simon, dem bestimmt bald die Haare von der Behandlung ausfielen.
«Stefan ist ein netter Kerl, sehr hilfsbereit.» fuhr sie fort und Thomas hätte ihr am liebsten den Kakao ins Gesicht geschüttet. Diesmal ignorierte er sie.
«Und seine Freunde sind auch da.»
Noch ein paar Gründe mehr, nicht in die Kirche zu gehen. Sie würde ihn niemals dorthin bekommen, nicht mit Hundert Pferden.
«Du bist so allein weil du dich mit niemandem Unterhältst.»
Jetzt wird es fies, dachte er und stach mit dem Löffel auf seinen Kakao ein. Er sah sich die klebrige Brühe an und hatte keine Lust mehr. Er überlegte sich, wie man am besten Sterben konnte. Weitere sechs Jahre würde er das nicht ertragen. Aber Sterben war nicht einfach, er wusste das aus den ganzen Filmen.
«Magst du nicht auch wieder Freunde haben, glücklich sein?» sie klang so wie Zuckersirup schmeckte.
Das Wort Glücklich ohrfeigte ihn schon von ganz allein. Er fühlte sich als wäre er der unglücklichste Mensch auf diesem Planeten.
«Ich bin glücklich.» sagte er trotzig.
«Das stimmt nicht. Ich sehe es dir an. Und nur dass du es weißt, ich werde den Videorecorder nachts zu mir ins Schlafzimmer nehmen.»
Scheiße, dachte er. Sie nahmen ihm seine Freiheiten, Stück für Stück.
«Ja.» sagte er nur und warf einen Blick auf die Uhr. Er wäre besser noch im Bett geblieben.
«Du sollst dir nicht diese Filme ansehen, das ist schlecht für deine Seele.» sagte sie.
«Na und?» sagte er und hätte sich fast wieder eine gefangen, aber er war zurückgeschreckt, fast wäre er mit dem Stuhl umgefallen.
«Du hast auch gestohlen.» sagte sie und schnitt ein heikles Thema an.
Er sagte nichts, dabei schwieg er immer.
«Die Leute haben dich gesehen. Der ganze Ort redet über dich. Du kannst froh sein, noch nicht Vierzehn zu sein, glaub mir.»
Er sah den Kakao an, er hatte sich schon gesetzt, oben war fast nur Milch. Er beäugte das Muster in der Flüssigkeit, dann zerstörte er es mit dem Löffel.
«Thomas, das ist eine Todsünde. Du sollst nicht stehlen.» sagte sie und sah ihn streng an.
Er dachte an die ganzen Kaugummiautomaten, das Sparschwein aus dem Sportheim, das er einfach zertreten hatte, um an das Geld zu kommen, er war davon in Freising im Kino gewesen. Dann war da noch die Sache mit den Nachbarn, hoffentlich wusste sie das nicht. Er hatte schon viel dort mitgehen lassen. Über dreitausend Mark. Wenn hundert schon schlimm waren, wie viel Ohrfeigen würde er dann bei dreitausend kassieren? Er rechnete im Kopf die Summe hoch und kam auf etwa dreißig. Na ja, dachte er, nicht so schlimm. Er konnte das ganze noch bis siebzig treiben.
«Du hast das Sparschwein aus dem Sportheim gestohlen.» sagte sie streng.
«Wo ist das Geld? Es waren fast achtzig Mark.» setzte sie nach.
Thomas überlegte. Die Kinokarte, das Popcorn und die Cola. Er hatte noch die paar schönen, bunten Stifte, von denen einer vier Mark gekostet hatte. Das kleine Taschenmesser, es hatte so eine hübsche Farbe gehabt und auch den Karabiner, weil er gedacht hatte er könnte ihn für etwas gebrauchen.
«Thomas, was ist damit?» sie ließ nicht locker.
Er sagte nichts, Schweigen war jetzt das Beste. Es gab nichts zu leugnen, sie hatten ihn gesehen, das war immer so, sie sagte nie etwas und dann warf sie es ihm vor die Füße wie einen faulen Kadaver.
«Thomas, du bekommst Ausgangssperre, Fernsehverbot, und ich nehme dir die ganzen schlechten Bücher weg, dass du dazu gezwungen bist, nachzudenken. Ich will nicht so einen Gottlosen Sohn wie dich im Hause haben.»
Thomas setzte alles auf eine Karte, er machte es wie bei der Psychologin.
«Ist den Gott das einzige, was dich interessiert? Der und Simon?» schrie er sie an und diesmal war er zu langsam. Diese Ohrfeige tat richtig weh. Er rieb sich die Wange und sah sie bitter an.
Mutter funkelte ihn böse an und streichelte Simon wie zur Bestätigung.
«Das geschieht dir Recht. Du sollst so etwas nicht sagen, nicht in meinem Haus!»
Jetzt schrie sie und würde sich nicht mehr abregen. Sie nahm ein paar von ihren blauen Pillen und spülte sie mit Kaffee runter. Sie tat das meistens, wenn sie mit ihm stritt. Dann, etwa zehn Minuten später hatte sie keine Lust mehr und schickte ihn auf sein Zimmer.
«Ich weiß einfach nicht, was ich mit dir machen soll, Thomas, du bringst mich zur Verzweiflung. Ich habe so viel Kraft in dich investiert, und du dankst es mir mit Blasphemie und Lügen.»
Das war ein neues Wort, dachte er und merkte es sich, bis er zu seinem Wörterbuch kommen würde. Es war bestimmt etwas, das man verwenden konnte. Er sah auf die Uhr, die Zeit lief mal wieder wie Honig, wie immer in solchen Situationen.
«Warum sagst du nie die Wahrheit?» fragte sie ruhiger.
Ihre Pillen schienen doch etwas schneller zu wirken. Thomas dankte den Pillenherstellern für diese Erfindung. Er erwiderte nichts, es war ein Endlosgespräch. Es änderte sich nie, nur die Lautstärke, in der es geführt wurde.
«Ich denke daran, dich in ein Heim zu stecken, Thomas.» sagte sie und er nahm es auf, als wäre es der Wetterbericht. Das hatte sie schon einmal gesagt.
«Ja?» sagte er aus einem Reflex heraus.
«Du legst es drauf an, was? Du willst doch von hier weg, stimmt doch, oder? Du bist auf dem besten Weg dazu. Willst du wieder nach Wien? Aber nein, ich schicke dich zu deiner Oma nach Linz. Die wird dich erziehen.»
Thomas dachte an Oma Elisa, die konnte vielleicht Ohrfeigen geben. Und sie schrie, dass die Fenster wackelten. Immer wenn sie dort zu Besuch waren herrschte eine eisige Stimmung.
«Ich mache etwas, Thomas, sei dir dessen bewusst. Du wirst nicht so weitermachen. Mal abgesehen davon, dass meine Mutter dich nicht aufnehmen würde.»
«Na dann ist gut.» sagte er.
Ihre Hand zuckte leicht, aber die Pillen waren stärker, dachte er. Mit Mühe unterdrückte er ein Grinsen, indem er sich auf die Zunge biss.
«Du bist...» zischte sie aber ließ den Satz fallen.
«Mach dich fertig für die Schule. Geh jetzt.» sagte sie dann und Thomas stand auf. Er ließ die Tasse einfach stehen.
«Die Tasse, Thomas!»
Er kehrte zurück und stellte die Tasse in den miefigen Geschirrspüler. Er wurde erst dann angeschaltet, wenn er ganz voll war. Einmal hatte er ihn auf neunzig Grad angemacht, wegen eines Bechers. Er hatte gedacht dadurch würde er sauberer werden.
«Und du fährst heute mit dem Bus zurück!» rief sie ihm hinterher, und er sah, dass sie wieder Simon streichelte, der sich nicht wehren konnte.

Er trottete durch die leere Straße zur Bushaltestelle an der Grundschule, die Ohrfeige tat immer noch weh. Die Luft war klar, die Sonne versteckte sich aber hinter grauen Wolken. Die ganze Stimmung war depressiv. Thomas mochte den September nicht. Allein weil es keine Feiertage gab, die den trostlosen Schulalltag durchbrachen. Wie hätte er sich ein bisschen Frieden in seinem Leben gewünscht! Wütend kickte er einen Stein an einen glänzenden Audi, es blieb eine kleine Delle in der Fahrertür. Das würden sie auch ihm in die Schuhe schieben. Er fragte sich, wer ihn dabei gesehen hatte, wie er das Sparschwein genommen hatte, es war an einem Sonntag gewesen, und da war nie etwas los. Selbst Schuld, sie hatten die Türe offen gelassen. Er konnte vielleicht ganz gut klauen, aber Schlösser knacken, das noch nicht. Vielleicht war es der Getränkelieferant gewesen, dem Thomas immer die Cola geklaut hatte, wenn er seine Kisten in die Häuser schob. Sein Laster hatte an dem Tag auf dem Parkplatz gestanden. Er musste es sein, dachte er und sah das Sportheim an, es lag hinter einer Reihe von Bäumen. Im Frühling hatte er den Versuch gestartet, Fußball zu spielen, weil er sich den anderen ja anschließen wollte, aber er war kläglich gescheitert. Seitdem war er noch mehr den Schmähungen der anderen ausgesetzt. Ein bitterer Nachgeschmack blieb. Er ging weiter. Es waren nur noch ein paar Meter, doch die zog er immer so weit hinaus wie möglich. Alles war so friedlich, nach außen hin, dachte er. Je kleiner der Ort, desto verbohrter waren die Menschen. Gut, manche waren ja Hilfsbereit, aber die meisten sahen ihn komisch an. Sie vertrauten ihm nicht, wobei sie ja recht hatten, er war nun mal einer, der nicht mit den anderen mitlaufen wollte, es einfach nicht konnte, weil sie immer besser waren als er und es ihm auch immer zeigten, dass er ein Verlierer war. Ein Auto fuhr an ihm vorbei, und er bekam etwas Wasser aus einer Pfütze ab. Es hört nie auf, dachte er. Niemals. Das Leid kennt keine Grenzen. Dann kam er an der Schule an und stellte sich neben die anderen, sagte wie immer kein Wort. Die Stille war immer noch sein bester Freund. Die Stille und die Dunkelheit. Er war Hundemüde, vielleicht sahen sie es ihm auch an, vielleicht auch nicht, es war ihm egal. Vielleicht sahen sie die fünf Finger an seiner Wange. Dann würden sie lachen. Er dachte an das Mädchen mit den roten Haaren, es gab sie also wirklich. Sie musste irgendwo in dieser Schule sein, vielleicht war sie eine Klasse über ihm? Vielleicht auch zwei. Vielleicht war sie auch nicht mehr auf der Schule. Er hatte das Bild lange betrachtet, kam aber zu dem Schluss dass es nicht so alt sein konnte, es hatte eine gute Qualität. Und dass es nicht klug wäre das Amulett mit in die Schule zu nehmen. Es lag gut versteckt in einer Kiste mit doppeltem Boden, unter den Kugeln, die man in die Hand nehmen konnte um sich zu beruhigen. Er hatte auch noch andere Verstecke, sein bestes war das Radio, er hatte das kaputte Kassettendeck einfach rausgenommen und nutzte den Hohlraum für allerlei, auch die teuren Stifte waren darin. Seine Eltern hatten es noch nicht entdeckt, vielleicht weil sie ihm diesen Einfallsreichtum nicht zutrauten. Aber es war so traurig, alles musste er verstecken, seine Sachen, was ja noch ging, aber auch seine Gedanken und Gefühle. Das war wohl das schlimmste.

Seine drei speziellen Freunde kamen. Stefan, Michael und Peter. Stefan hatte eiskalte Augen. Michael hatte eher dumme Augen, was nicht weniger gefährlich war und Peter passte nicht ganz zu ihnen. Nach außen hin schon, aber etwas in ihm was anders als bei den anderen beiden. Einem anderen wäre es vielleicht nicht aufgefallen. Aber Thomas spürte etwas in Peter, etwas sehr trauriges, das er aber geschickt verbarg. Sie sprachen ja nie miteinander. Die Unterhaltungen beschränkten sich auf Schläge und auf einseitige Beleidigungen, was nicht viel besser war. Thomas wusste das mit Peter, weil er immer der letzte von den drei Freunden war, der ihn schlug oder anschrie. Stefan war der härteste. Er war auch der, vor dem Thomas am meisten Angst hatte. Er war zwei Jahre älter als Thomas und das war nicht gerade ein Vorteil für ihn. Stefan war immer in der Klasse. Er fehlte nie. Im Gegensatz zu Michael, der häufiger fehlte. Er war etwas schmaler und sein Blick war zwar etwas beschränkt, aber unruhig. Er spürte, dass er etwas Falsches machte. Nur Peter, Thomas konnte bei Gott nicht sagen was sein Gefühlszustand war. Es war nicht nur Traurigkeit. Es war noch etwas anderes, das Thomas nicht kannte. Niemand sonst, den er kannte, auch keiner von den Erwachsenen hatte eine solche Aura in seinen Augen. Doch es war nicht die Zeit, um Nachzudenken. Stefan kam und gab ihm einen Schlag in den Magen, dass Thomas schlecht wurde. Dann gab ihm Michael einen Tritt gegen das Schienbein und Peter beschränkte sich vorerst auf wüste Beleidigungen. Wichser und Hurensohn waren da noch eher harmlos. Er kannte die Flüche auch von Vater. Wie gerne hätte er sich gewehrt, aber es sind drei! Er war alleine. Die anderen Kinder schauten weg. Sie waren mit sich selbst beschäftigt, rauchten, machten Witze. Die anderen, älteren rauchten auch und kicherten. Wahrscheinlich wurde das Rauchen mit der Zeit immer lustiger. Thomas hatte es auch mal probiert, aber die Filterlosen Gauloises von Vater waren so stark gewesen, dass er sich hatte übergeben müssen. Stefan hörte nicht auf, ihn zu ärgern. Das ging jedem verdammten Tag so. Thomas bekam einen Schlag auf einen seiner blauen Flecke und schrie, was dazu führte, dass er eine Faust im Gesicht hatte, er taumelte, der schwere Rucksack brachte ihn fast aus dem Gleichgewicht. Thomas versuchte, von den dreien abzuhauen, aber sie verfolgten ihn, wegen dem Rucksack war eine Flucht unmöglich. Die anderen nahmen immer nur das in die Schule, was sie selbst für richtig hielten, Mutter packte immer alles in den Rucksack.
Die Grundschule war noch dunkel und Thomas hetzte durch die Hecken davor und versuchte die Zeit, bis der Bus kam irgendwie zu überbrücken, indem er rannte. Er fragte sich, ob es alle auf ihn abgesehen hatten, denn nicht einer half ihm, alle sahen nur zu. Thomas spürte seine dunklen Gefühle wieder, immer wenn er Schmerzen hatte kamen sie und hielten ihn mit aller Gewalt umschlungen. Er schlitterte einen Hang an der Seite der Grundschule hinab, weil er auf der feuchten Wiese ausgerutscht war. Stefan und die anderen standen oben und lachten ihn aus. Er stand auf und war voller Dreck, das passte ja, dachte er und sah die anderen böse an, sie kamen aber nicht. Sie wollten nicht dreckig werden. Sie lachten nur und ein paar Mädchen gesellten sich dazu und lachten mit. Thomas war mehr als nur sauer, er würde es ihnen irgendwann heimzahlen, er würde sie so foltern mit den Dingen aus dem Museum, die ihn fasziniert hatten. Und Stefan würde er auf das Holzpferd setzen, mit ordentlichen Gewichten an den Füßen. Das Bild von einem schreienden Stefan in seinem Kopf erschien und er wurde ruhiger, diese Art von Gedanken hatten etwas vertrautes, sie waren seine Freunde. Grausam hin oder her.

Dann kam der Bus, kein typischer Schulbus, eher ein Reisebus, wie es sie überall gab. Mit komfortablen Sitzen, doch die Fahrt glich einem Trip durch seine Alpräume. Er hatte ja oft Alpträume. Er fiel ständig von irgendwas runter. Häuser, Gerüste, Felsen, Fenster, sogar durch Böden von Aufzügen. Thomas wartete immer ganz vorne, damit er einen Platz bekam. Die Mädchen drängten sich aber meistens vor. Sie saßen vorne, die Jungs hinten. Wenn er vorne bei den Mädchen saß wurde er ausgelacht. Saß er hinten, wurde er geschlagen. Er wechselte sich ab, damit das eine nicht das andere überwog. Stefan machte Späße mit den Mädchen. Er hatte schon eine Freundin, sie hieß Janine. Sie war nicht sonderlich hübsch, allein wegen ihrem Blick, der war so stumpf, sie hatte aber schon Brüste. Und sie roch komisch. Michael hatte noch keine und Peter auch nicht. Bei dem Blick traute Thomas es ihm auch nicht zu. Er setzte sich heute zu den Mädchen, Schläge hatte er genug kassiert. Er saß heute ganz vorne, was den Vorteil hatte, dass er keine direkten Schläge bekam, aber den Nachteil, dass er nicht sah, was hinter ihm passierte. Er schob den Rucksack gleich eines Walls neben sich, obwohl er wusste, es würde nichts bringen.
Alle lachten und machten dumme Witze. Er hörte nicht hin. Warum lachen alle? Er konnte das nie. Das letzte Mal war vor einem Jahr gewesen, im Urlaub.
Der Fahrer, der alte Sack, wie Thomas ihn nannte ignorierte die Kinder, er fuhr nur. Thomas hatte mal versucht den Schlägen zu entgehen, indem er den Fahrer ansprach, der hatte aber nur seinen runzligen Finger gehoben und auf ein aufgeklebtes Schildchen über ihm gezeigt, wo stand: Nicht mit dem Fahrer sprechen. Weil er vorne saß konnte er durch das Geschrei etwas Radio hören, das der alte Sack immer laufen ließ. Es lief gerade Enjoy the Silence, er kannte das Lied. Es war gut, es erinnerte ihn an die langen Fahrten nach Wien, wenn sie Verwandte besuchten. Doch selbst in Wien fühlte er sich nicht wohl. Er bekam Süßigkeiten, seine andere Oma hätschelte ihn, seine Cousinen waren schon Erwachsen und eine sogar verheiratet. Sie wohnten auch in einem kleinen Dorf und waren glücklich. So war er der jüngste, wenn man mal von Simon absah. Aber sie fuhren nicht mehr nach Wien, weil Simon zu krank für eine solche Reise war. So lernte Thomas die kleinen Orte rund um Hohenkammer und Allershausen kennen. Deutldorf, Schlipps, Unter und Oberwohlbach, Niernsdorf, Petershausen, manchmal auch Städte wie Regensburg, Markt Indersdorf oder eben München, aber das war seltener.
Es waren Tagesausflüge, die ewig gleich waren. Mutter schob den Kinderwagen, Vater fotografierte, Simon quengelte. Trotzdem mochte er sie, weil er dann wenigstens ein paar Stunden der harten Realität entfliehen konnte. Und im Sommer bekam er immer ein großes Eis.
Der alte Sack fuhr los, als kein Kind mehr auf der Straße stand. In Bayern gilt die absolute Schulpflicht. Kein Kind konnte blaumachen. Wenn man feststellte, dass eines fehlte, rief man zuerst die Eltern und dann gleich die Polizei. Es war nicht so, als hätte Thomas es noch nie versucht. Genau deswegen wusste er es ja. Es hatte nicht mal eine halbe Stunde gedauert, dann hatte er wieder in der Klasse gesessen. Sie hatten ihn eskortiert wie einen Sträfling, mit den schweren Händen auf den Schultern und finsterem Blick. Thomas hatte es aufgegeben. Er saß nur noch da und hielt den Mund. Durch Stille konnte man einiges ertragen. Er war sie ja gewöhnt. Sie fuhren an der gefährlichen Landstraße entlang, die viele Kurven hatte. Manchmal sah er den Feldweg, den er immer benutzte. Doch wenn es kälter wurde, dann würde auch das ausfallen. Was manchmal furchtbar war, denn die Busse kamen nach der Schule, wann sie wollten, besonders der alte Sack hat wohl nie eine Uhr zu Gesicht bekommen, er kam ständig unpünktlich, außer morgens. Manchmal standen sie eine halbe Stunde da und hatten nichts zu tun. Der Leidtragende der Unpünktlichkeit war in der Regel er.
Eglhausen war eigentlich nur ein Kaff mit ein paar Häusern, aber auch sie hatten eine eigene Kirche. Ob die Leute hier noch schlimmer waren? Er hatte mal von einem Dorf mit nur drei Häusern gehört, Thomas vermutete, dass sie sich dort alle umbrachten. Sie fuhren durch die bunter werdende Landschaft und Thomas blendete das Geschrei der anderen völlig aus. Es gab hier viele Fabrikhallen, weil Allershausen so schön an der Autobahn lag. Es wurden auch immer wieder Kinder von Lastwagen überrollt. Er schob den Gedanken weg, so etwas sah nicht schön aus.

Sie fuhren durch Allershausen, an der Sparkasse links, dann am Supermarkt rechts rein in die kleine Schulstraße. Das Geschrei steigerte sich, weil sie jetzt da waren, endlich, dachte Thomas traurig. Wieder ein harter Tag in der Schule, wieder Schmerzen und die ewige Einsamkeit, die noch schlimmer war wenn man unter vielen ist. Weil man nicht beachtet wird.
Heute war Englisch angesagt, sein Lieblingsfach. Frank Gottlieb, der schrieb immer in einer besonderen Art auf die Tafel und war der einzige Lehrer, dem auffiel dass Thomas ruhig war. Zuerst Deutsch und Mathe, dann zwei Stunden Englisch und dann den überaus fiesen Sport. Stefan und seine Freunde nutzten die Gelegenheit, ihm Bälle ins Gesicht zu schießen. Ihm war irgendwann aufgefallen dass der Sportlehrer ein Fußballfan war, denn sie spielten nur Fußball.
Die Schule war einer dieser trostlosen Plattenbauten, erbaut in den Siebzigern. Einer dieser Bauten, die dazu dienten, Massen an Menschen aufzunehmen. Es waren zwei Gebäude. Das eine war für die unteren Klassen, das andere für die oberen.
Sie stiegen aus. Thomas ging so ruhig es nur ging über den grauen Pausenhof. Breite Stufen führten zu der Glasfront. Er hatte noch Schmerzen von den Schlägen. Die Kinder strömten in das Gebäude, Thomas war nur einer unter vielen, dachte er, nichts besonderes, nur kam er von weiter weg, was nur eine Last war. Er betrat die Aula und sah sich um. Es herrschte ein für ihn grauenvoller Lärm, die Stille war leichter zu ertragen. Er nahm aus seiner Tasche die Mark, die er gefunden hatte und kaufte sich an dem Kiosk einen Kakao. Er stand an einer Wand und sah sich um, während er an dem Strohhalm saugte. Es waren zwei Rothaarige hier, aber die waren fett und unansehnlich, redeten so komisch, dass es einem die Schuhe auszog, aber selbst die hatten Freunde und konnten lachen. Thomas dachte an sein eigenes Gesicht, aber leider konnte man nicht aus seiner Haut fahren. Leider war die Welt nicht so wie in den Filmen, in denen alles möglich war. Er dachte daran, dass er die Filme, seine einzige Fluchtmöglichkeit, in nächster Zeit vergessen konnte.
Plötzlich bekam er einen Schlag in die Rippen, ließ den Kakao fallen und sah noch, dass Stefan auf das Päckchen trat und der Kakao nach allen Seiten spritzte.
«Na, du Penner? Jetzt kannst du schön deine Milch vom Boden lecken.» sagte er und lachte.
Stefan hatte so ein widerliches Lachen und er fand sich selbst ja so toll, er lachte ständig, fiel es ihm nicht auf, dass er ein Idiot war?
Thomas sagte nichts und steckte drei weitere Schläge ein, er schrie nur innerlich, es versprach einer der Tage zu werden, die Thomas daran erinnerten, dass er sterben wollte. Die Klingel rettete ihn, Stefan ließ von ihm ab, nicht ohne ihm an die ohnehin schon dreckige Hose zu spucken und ging ruhig davon. Thomas ließ ihm einen Vorsprung und ging dann nach. Er dachte an das Mädchen in dem Amulett, sie sah genauso aus wie in seiner Phantasie, die er seit Januar hatte, sie war einfach so gekommen und er hatte sie festgehalten. Er hatte auch nicht viel anderes als seine Träume.
Mit einem schlechten Gefühl im Bauch stapfte er in die Klasse und setzte sich an seinen Platz. Die anderen grölten, lachten, freuten sich des Lebens. Warum standen so viele im Licht und er im Schatten? Einen Grund musste es doch haben, dachte er sich und schob den Gedanken weg. Es kam sowieso nie etwas dabei raus. Ein paar Flieger flogen, Spuckekugeln, Buntstifte. Einer traf ihn, aber er ignorierte ihn. Gelächter durchflutete den Klassenraum wie eine giftige Wolke. Der Lehrer kam nicht, die Klasse wurde immer unruhiger, die anderen standen jetzt auf und liefen wie die Hühner durch den Raum, grölten, sangen ein paar Lieder aus dem Radio, die er nicht mochte, sie waren fröhlich. Dann kam eine Lehrerin rein, sie hatte jetzt nicht Unterricht. Mit einem beherzten «Ruhe!» brachte sie die Klasse zum Schweigen.
«Leider muss ich euch sagen, dass euer Klassenlehrer Herr Hempel krank ist, deswegen haben wir beschlossen, euch einen Film zu zeigen.» sagte sie, es war die Kunstlehrerin, sie war schon grau und hatte einen stechenden Blick. Zwei andere Schüler aus den oberen Klassen schoben einen Fernseher in die Klasse und die anderen brüllten vor Freude. Thomas gefiel es nicht, in einer Klasse voller Idioten zu sitzen, wenn kein Lehrer da war. Aber er mochte Filme, deswegen bekam er es nicht gleich mit der Angst zu tun.
«Seid leise! Die anderen wollen lernen.» sagte sie, während sie den Fernseher einschaltete. Thomas dachte an den Film, den er letztens gesehen hatte, Leon der Profi, ein schöner Film, aber so etwas ließen sie bestimmt nicht laufen. Die Lehrerin schob eine Kassette in den Recorder und das Bild wechselte von blau in Schneegestöber. Sie fluchte leise, weil das Gerät machte was es wollte. Dann passierte doch etwas und der Film begann. Thomas hatte ihn schon gesehen und langweilte sich. Es war einer dieser normal gedrehten Disney-Filme, in denen es um Freundschaft ging, na ganz toll, dachte er.
Die Klasse wurde dunkel und es wurde leiser, nur im Hintergrund tuschelten sie. Thomas sah sich um, er sah Christina, sie schien ihn aber nicht zu beachten. Er dachte an das Blut an ihrem Arm. Vielleicht sollte er sie mal ansprechen? Das würde ihm bestimmt nur noch mehr Gelächter einbringen.
Thomas malte in seinen Block eine neue Leiche. Sein ganzer Block war voller Leichen, gehängte, erschossene mit viel Kugelschreiberblut, ertrunkene, wie sie in einem Becken trieben, auf eine war er aber besonders Stolz, er sah sie sich immer an, wenn er mit zeichnen anfing. Es war nur der Oberkörper, die Beine hatte ihm ein Monster abgebissen und die Därme hingen runter, während er sich an einer Stange festhielt. Er hatte es sogar geschafft, dem Mann einen richtig schmerzhaften Blick zu geben, es sah fast realistisch aus, das Gesicht. Diesmal zeichnete er das Schloss, es beanspruchte eine ganze Seite, und im Vordergrund saß ein Mann auf den Knien mit einem gebogenen Schwert, er schrie, hatte den Mund weit offen und den Kopf nach oben gerichtet. Er hielt einen Kopf in der anderen Hand, es war der Kopf eines Mädchens, der Körper lag reglos neben ihm. Der Film war fast vorbei, als er mit der Zeichnung fertig war. Es war seine beste, diesmal hatte er sich selbst übertroffen. Er sah sie sich an, bis es klingelte. Er ging raus und dachte an seine Leichen. Das Mädchen sollte Janine darstellen. Er brachte in seinem Kopf alle um, die ihm Schmerzen zufügten. Sie tat ihm so nichts, aber sie lachte immer mit, das reichte aus, um auch umgebracht zu werden.
Thomas ging auf den Pausenhof und lief um die Ecke, er versteckte sich in einer Hecke und wartete die fünfzehn Minuten ab, er hatte keine Lust auf weitere Schläge. Diesmal hatte er Glück gehabt und war nicht entdeckt worden. Von seinem Standpunkt aus hatte er die anderen beobachtet. Stefan und seine Freundin standen da und hatten sich unterhalten, die anderen waren auch da. Ab und zu gab Stefan Peter einen Schlag gegen seine Schulter und er mühte sich ein Lächeln ab, Peter schien wie ein Mitläufer, dachte Thomas. Vielleicht war er deswegen so traurig. Es klingelte wieder und sie mussten rein gehen, Englisch kam jetzt, eine Doppelstunde.

«Good Morning!» sagte Gottlieb.
Die Klasse quälte sich ein halbwegs anständiges Good Morning ab. Sie standen auf und setzten sich wieder. Alle holten ihre Englischbücher raus.
«Bitte Seite 46 aufschlagen.» sagte Gottlieb.
Er verzichtete auf übermäßig viel Englisch, weil es zum Beispiel so unterbelichtete Jungs wie Michael gab, der zwar ziemlich stark war, aber dafür eine Hohlbirne hatte. Heute ging es um das Gesellschaftliche Leben. Wie man sich einen Kaffee bestellt. Oder sich eine Kinokarte kauft. Thomas hörte mit halbem Ohr zu, er kannte die Sätze, er konnte sie im Schlaf aufsagen. Am liebsten hätte er gesagt: «Please, Mr. Teacher, give me a break. I need some kind of a strong Coffee and a Cigarette. » Aber das würde nicht passen. Leider sah es Gottlieb nicht gerne, wenn er Leichen malte, er war auch einer von denen, die zwanghaft alles positiv sahen.
Er legte seinen Kopf auf den Tisch und schloss die Augen. Er dachte an seine Eltern. Er dachte an seinen Bruder, das Nesthäkchen. Er dachte an das Amulett, dachte an den letzten Urlaub auf Lanzarote. Dachte an Gott und die Welt, nur nicht an diesen Ort. Er machte die Augen wieder auf und betrachtete die Tischplatte. Sie war eigentlich für zwei, aber niemand wollte neben ihm sitzen. Jemand hatte ‚Fick dich, Gottlieb‘ da rein geritzt. Das Datum lag schon zwei Jahre zurück. Dann stand da noch etwas. Aline, du Fotze. Er kannte keine Aline. War aber ein hübscher Name. Daneben war ein Schwanz und ein Hakenkreuz, das in einem Mülleimer landete, das einzig vernünftige auf diesem Tisch. Er blickte hoch, sie waren immer noch bei dem Kaffee. Dann driftete er wieder in seine Welt ab. Er dachte an die schwarzen Felsen auf Lanzarote, er spürte fast schon die Hitze. Er sah den Geysir, in den der Touristenführer einen Eimer Wasser rein gekippt hatte und eine Minute später eine Fontäne heraus geschossen war. Das war spannend gewesen. Alle haben «Ooooh!» gesagt. Sogar die Alten. Thomas hatte es immer noch gut in Erinnerung. Er lächelte. Die ganze Klasse war irgendwie gelangweilt. Die anderen alberten herum, die Mädchen schrieben sich wie immer irgendwas, mit ihrer typischen Mädchenschrift. Er dachte an den Strand, dachte an die große Welle, die ihn fast weggespült hatte, da hatte er richtig Angst gehabt. Er war mit dem Kopf über den Sandigen Boden gescheuert. An diesem Tag hatte ein Mädchen aus dem nachbarlichen Bungalow mit ihm gespielt. Sie war viel älter gewesen und er hatte nie verstanden, warum. Sie hatte ihm eine 25-Peseten-Münze geschenkt, die mit dem Loch drin. Als Andenken an sie und Spanien. Lanzarote gehörte noch zu Spanien, Geographisch zu Afrika. Seltsame Welt. Er hatte auch eine Kassette von ihr bekommen mit einer schönen Musik. Tori Amos stand drauf. Sie war ihm leider kaputt gegangen und er hatte sich noch nicht dazu durchgerungen, sich die CD zu kaufen. Thomas bekam kein Taschengeld, und jeder neue Gegenstand fiel seinen Eltern auf. Sie fragten dann immer, wo er es her hatte. So hatte Thomas auch ein paar erfundene Freunde, die ihm immer etwas geliehen hatten. Er dachte an seine Lügen. Sie würden nicht mehr lange halten, dachte er.

Er war der König der Lügen, alt und müde, saß auf einem Thron aus Lügen. Und seine Untertanen waren seine Eltern, sein Bruder, sie beteten ihn an, er hatte eine goldene Krone auf. Und ein silbernes Zepter mit einer gewundenen Schlange. Seine Eltern brachten ihm immerzu Kakao, wenn er danach verlangte. Sein Bruder diente ihm als Fußstütze. Doch der König lächelte nicht. Sein Thron war schwarz und voller Insekten. Seine Mutter war an eine lange Eisenkette angebunden, sein kleiner Bruder in einer metallischen Vorrichtung eingespannt, man hatte ihm roten Samt über gezogen. Und da war noch Dr. Hoffmann, sie spielte den Hofnarren. Sie warf ständig ihren kleinen Block in die Luft und balancierte das Ding auf der Nase wie eine Robbe. Stefan, Michael und Peter waren im Kerker eingesperrt und bekamen täglich eine tote Ratte zum Frühstück. Er hatte ein Rohr zum Kerker, damit er ihre verzweifelten Schreie hören konnte. Aber auch das machte keinen Spaß mehr. Nichts daran war lustig. Der König war traurig. Er durchwanderte sein Königreich, doch es gab niemanden, der glücklich war. Der Himmel war immer schwarz und es regnete Asche. Seine Burg war schwarz, alles schwarz, schwarz, schwarz...

«Thomas!»
Er fuhr hoch. Was war passiert? Gottlieb starrte ihn an, und er hörte die anderen kichern. Schon wieder der Träumer, schon wieder Thomas, der unbeliebte. Sogar die Mädchen hielten ihn für ein Mädchen. «Can you tell me what the hell you are doing? »
Thomas erkannte den Sinn der Worte, aber er war nicht in der Lage zu antworten.
«You are sleeping, Thomas. » sagte er.
«Nein, ich war nur in Gedanken.»
«Das macht für dich eine extra Hausaufgabe, und das bis Donnerstag.»
«Yes.» würgte er heraus und dachte an den schwarzen König und seinen Thron aus Lügen.
Morgen würde alles besser werden war ein Lüge, seine Beziehung zu seinen Eltern war eine Lüge, sein Leben war eine Lüge. Warum musste er hier sein? Warum musste er atmen? Er fing wieder an sich in die eine unnötige Frage zu steigern.
Der König stand auf seinem Turm und starrte auf die schwarzen Wolken. Nicht einmal Gott schickte einen Blitz, um ihn zu töten. Er war verdammt zu leiden. Alle waren verdammt zu leiden. In seiner Welt gab es keinen Gott. Er seufzte. Der König kehrte zu seinem Thron zurück und nahm sich einen Kakao, der ewig gleich schmeckte. Vielleicht sollte er mal einen Kaffee probieren.
Dann kehrte die Realität zurück in Form einer schrillen Glocke. Er fuhr abermals hoch, es war eine kleine Pause von fünf Minuten. Alle strömten auf den Gang. Was sollte er für fünf Minuten auf dem Gang? Gottlieb schickte immer alle raus, dafür hasste er ihn. Er stand auf und trottete hinter Christina her, sie sah ihn nicht an, schien die zufällige Begegnung vergessen zu haben. Er trat auf den Flur und wurde sogleich von seinen speziellen Freunden empfangen.
«He, du Träumer. Wir wollen dein Pausengeld.» sagte Stefan und er roch Rauch.
Gleich würde ein Schlag kommen, in den Magen, sehr wahrscheinlich.
«Ich habe nichts, ich krieg nicht mal Taschengeld.» sagte Thomas schon eingeschüchtert.
«Falsche Antwort, kleiner.» sagte Stefan und gab ihm eine Ohrfeige. In Thomas kochte die Wut hoch. Er würde sich irgendwann wehren. Wenn er größer war. Dann würde er sie in der Luft zerfetzen. Nein. Besser. Er würde ihnen allen die Beine mit einer Kettensäge abtrennen und sie dann verbluten lassen. Das ganze würde er mit einer Kamera aufnehmen und es sich immer wieder ansehen. Der dritte Schlag ließ ihn zu Boden gehen. Thomas spürte den Hass in sich, der viel stärker als die Schmerzen war. Die Schmerzen würden gehen, der Hass aber würde immer bleiben.
«Nachher holen wir uns dein Pausenbrot. Und wehe es ist keine Wurst dabei.»
Sie ließen von ihm ab; Thomas stand unter den Augen von mindestens zwanzig anderen auf und stellte sich in eine Ecke. Er sah aus dem großen Fenster und starrte wie immer auf den großen Baum, der sich im Wind bog. Heute aber ging kein Wind. Der Baum verspottete ihn. Er tat es immer und immer wieder. Irgendwann würde der Baum brennen. Alle würden brennen. Vater hatte einen Kanister Benzin in der Garage. Einen grünen, aus Metall. Der stand schon immer da und wurde nie benutzt. Es klingelte wieder und die Kinder kehrten in die Klassen zurück. Thomas setzte sich und schlug das Buch auf. Und dann lag da ein Zettel. Er war auf eine sonderbare Weise gefaltet und ein kleines rotes Herz war darauf. Sofort legte er die Hand über den Zettel.
Das war nur ein Traum. Der König sah nie die Sonne. Die Käfer krabbelten ihm unter der Haut und fraßen sich durch seine Eingeweide. Parasiten.
Gottlieb stellte sich mit einer Tasse Kaffee hinter sein Pult und schrieb etwas auf die Tafel. Die Kreide machte furchtbare Geräusche. Kreischend. Wie Tausende von Ratten, die gleichzeitig piepsten. Oder Omas Fernseher. Thomas war wieder in seiner Welt gefangen. Die Schule war ein dunkler Ort. Er starrte das Briefchen an. Das Herz war mit einem roten Fineliner gemalt worden, wie auch er und alle anderen einen hatten. War das ein Trick? Man musste davon ausgehen. Alles konnte eine Falle sein.
Der König traute seinen Augen nicht. Eine graue Wolke zeichnete sich von all dem Schwarz ab. Er warf den Kakao an die Wand und sprang auf, rannte zum Turm, so dass die ganzen Fliegen ihm nicht folgen konnten.
Thomas hörte Gottlieb zu, wie er den anderen ganz langsam den Weg vom Café ins Kino erklärte. Sie waren abgelenkt. Gut. Mit zitternden Händen faltete er es auf. Es war kompliziert und es knisterte.
Der König rannte die Stufen zum Turm hinauf, er bekam fast keine Luft mehr. Er wollte nur einmal die Sonne sehen. Dann würde er sich von oben hinab stürzen. Seine Untertanen waren dann frei. Der Brief war offen. Es war eine Mädchenschrift. Sehr hübsch. Der König stieß die Tür auf und sah in den Himmel. Seine Lungen taten weh. Er war schon so alt.
Hallo Thomas, du weißt wer ich bin, wir sind uns gestern Nachmittag begegnet, du weißt wo. Ich habe dir in die Augen gesehen. Du scheinst der einzig freundliche Mensch zu sein, und wir sind durch etwas verbunden. Ich spüre das. Nach der Schule, 14 Uhr, hinter dem Supermarkt, du weißt wo. Ich mag dich.
Der König sah die Sonne für einen winzigen Augenblick, der Strahl berührte ihn und er war überwältigt. Dann verschwand sie wieder hinter dem schwarzen Himmel. Er war so gerührt, dass er zusammenbrach. Tränen, schwarz wie die Nacht liefen sein fahles Gesicht herab. All das Leben für einen winzigen Augenblick. Doch dann fuhr er wieder hoch. Es war nicht da. Es konnte nicht existieren. Er schwang sein Zepter und rannte den Turm herab.
«Sieh an, sie an. Jetzt ist auch noch unser Träumer am Schreiben.» sagte Gottlieb plötzlich und Thomas bekam einen richtigen Schock.
Der Zettel wurde ihm aus der Hand gerissen. Gottlieb, von dem er immer ein wenig gehalten hatte machte ihn nun fertig.
Er nahm ihm die Sonne weg.
Und dann las er den Zettel auch noch laut vor.
Der König wurde rasend vor Wut. Er erschlug den Hofnarren mit einem gewaltigen Hieb, rannte die Treppen runter in den Kerker.
Alle lachten. Thomas sah Christina an. Sie sprach mit ihren Augen Bände.
Gottlieb las das alles gedehnt vor. Er genoss es, ihn zu foltern. Das war schlimmer als die Schläge. Schlimmer als alles andere auf der Welt.
Der König geriet nun völlig außer sich vor Wut. Er sah sie alle, die eingesperrt waren. Sie leideten. Aber nicht wie er. Er litt am meisten. Sein Herz war schwarz. Die Sonne hatte ihn geblendet.
Es tut mir leid versuchte Thomas mit seinen Lippen zu formen.
Der König brach in seinem Kerker zusammen. Er weinte wie ein Kind. Ungläubig sahen ihm die Eingesperrten dabei zu. Sie konnten es nicht glauben. Der grausame König hatte Gefühle.
Thomas sah Christina nun mit anderen Augen. Sie war wunderschön. Die Worte waren wunderschön gewesen. Aber alles war jetzt zerstört.
Der König stand auf und verließ den Kerker. Er ordnete an, dass es keine Ratten zum Frühstück mehr gab und auch kein Wasser mehr.
Christina sah Thomas traurig an, dann sah sie weg. Gottlieb warf den Zettel in den Mülleimer. Dann grinste er und stellte sich wieder hinter sein Pult und trank einen Schluck aus einer Ich-liebe-dich-Tasse. Der Zeiger der Uhr knallte in seinen Ohren wie Pistolenschüsse, Sekunde für Sekunde. Dann packte Thomas ein Gefühl, das er nur zu gut kannte: Verzweiflung. Ohne Worte stand er auf und ging aus der Klasse. Durch seine Gefühle gedämpft nahm er nichts mehr wahr. Das war einfach zu viel gewesen. Gottlieb stürmte hinter ihm her, packte ihn, Thomas aber riss sich los und lief so schnell er konnte los. Er rannte die Treppen runter, diesmal stürzte er nicht. Er rannte den Gang entlang zur Aula, warf sich wie gestern gegen die Glastüren, fiel auf den harten Boden, schlug sich das Knie auf, hörte noch Gottlieb schreien, irgendwas von seinen Eltern, doch er wollte es nicht mehr hören. Tränen verwischten sein Sichtfeld. Alles tanzte vor seinen Augen. Er sah nicht viel, doch er rannte wie er noch nie gerannt war. Die Straße war nicht so lang, er rannte blindlings auf die Hauptstraße, ein Auto hupte, Reifen quietschten, doch er rannte, rannte weiter, hörte einen lauten Knall, rannte weiter, seine Lungen fingen an zu schmerzen, doch ihm war alles egal. Er wollte weg, weit weg. Er würde nach Lanzarote laufen. Dort, wo die Sonne schien. Vielleicht war das Mädchen auch noch da. Er würde ihr die Münze wieder geben.
Er lief eine kleine Straße entlang, in der er noch nie gewesen war. Sie endete bald in einer Sackgasse. Er hörte auf zu laufen. Niemand war ihm gefolgt. Die Straße war leer. Dann sah er das Haus, es war alt. Die Fenster waren vernagelt, ein alter, morscher Zaun umgab das Haus und Thomas sprang darüber. Mit seinen nackten Händen rüttelte er an den Brettern, sie gaben nach. Er bekam zwei ab und konnte nun ins innere Schlüpfen. Ein stechender Geruch schlug ihm ins Gesicht. Es roch nach Verderbnis, das spürte er. Aber hier, in der Dunkelheit war er sicher. Er stolperte über dicke Scherben, fiel, schnitt sich in die Hand, doch er spürte nichts. Alles war taub. Er dachte an Christina, an den traurigen Blick. Es erfüllte ihn mit Trauer, so unendlich viel Trauer. Er fand eine Treppe, die nach oben führte. Er ging sie hoch, die Stufen knarrten bedrohlich unter seinen Füßen. Thomas fand eine schwarze Tür, sie war auch schon morsch. Er stieß sie auf und fiel in den halbdunklen Raum, weil im Boden ein Loch war. Hier fielen ein paar Sonnenstrahlen durch die dicken Bretter herein. Er blieb stehen und erstarrte. Seine Verzweiflung, seine Trauer wichen purem Entsetzen. Dann fiel er um.

Draußen wurde es langsam dunkel, es war schon spät. Gottlieb hatte Thomas‘ Eltern sofort verständigt, hatte auch die Polizei gerufen, die ihn nun suchte. Er hatte einen Unfall verursacht. Eine Frau war gegen eine Mauer gefahren, war aber nicht weiter verletzt worden. Aber alle waren sauer. Sie fanden ihn nicht in Allershausen, niemand hatte ihn gesehen. Sie setzten einen Hubschrauber ein, sie suchten ihn in einem Umkreis von fünfzig Kilometern. In Bayern verschwand kein Kind einfach so.
Thomas merkte nicht, was er für einen Aufstand verursachte.


Kapitel drei
Das Mädchen mit den roten Haaren


Fahles Licht fiel durch die Ritzen, erhellte den ohnehin finsteren Raum nur noch spärlich. Thomas erwachte und spürte seine Hand, sie pochte und der Schmerz breitete sich schlagartig in seinem ganzen Körper aus. Er machte die Augen auf und wusste erst nicht wo er sich befand. Dann fiel es ihm ein. Er lag auf dem staubigen Boden eines Raumes, den er nur durch Zufall entdeckt hatte. Ein altes, vergessenes Haus, ein vergessenes Zimmer. Und da war noch etwas.
Er sah den Schatten, der sich nicht bewegte. Er hing etwa fünfzig Zentimeter über dem Boden. Langsam kehrten seine Sinne zurück. Es roch furchtbar hier. Er sah nicht viel. Dann fiel es ihm ein. Fast hätte er wieder die Besinnung verloren, aber die Schmerzen hielten ihn wach. Auf einmal wurde alles überdeutlich, alles wich diesem Gefühl. Seine Eltern, Die Schule, Lanzarote, Christina, alles. Es wich dem Tod. Er spürte seine Anwesenheit. Vor ihm hing eine Leiche. Sie war nicht mehr menschlich. Sie war schon lange verwest. Aber hier zirkulierte keine Luft, deswegen roch es so widerwärtig hier. Mit seiner heilen Hand kramte er in seiner Tasche nach dem Feuerzeug, das er immer bei sich hatte, das er den Nachbarn geklaut hatte. Ein goldenes Zippo mit einem seltsamen Symbol drauf. Es war kunstvoll eingraviert, ein Kreuz auf einer Sonne. Er machte es an und sagte sich, dass er sich jetzt zusammenreißen sollte. Er sah sie an. Es war eine Frau. Nein, ein Mädchen. Sie hatte rote Haare und hatte ein dreckiges Kleid mit Blümchen an.
Der Schmerz hielt ihn in der Realität. Seine fahle Umgebung wurde von der Flamme etwas erhellt. Sie hielt etwas in der Hand. Was war das? Nein, er konnte sich ihr nicht nähern, aber er wollte wissen wer sie war, wenn er doch schon mal hier war. Er war dem Tod schon einmal begegnet. Er dachte daran und stellte fest, dass diese erste Begegnung schlimmer gewesen war. Ein kleines Kind, überfahren von einem Laster, es waren die Zwillingsreifen gewesen. Er hatte furchtbare Angst. Doch er rappelte sich auf. Seine verletzte Hand griff in den Staub und schmerzte noch mehr. Doch ausgerechnet die Angst nahm ihm die Schmerzen. Das Feuerzeug wurde langsam heiß. Er näherte sich etwas der Leiche. Sie hing an einem Strick, unter ihr lag ein umgekippter Stuhl. Ihre Augen waren geschlossen, aber wahrscheinlich waren sie schon lange nicht mehr da. Die Haut war eingefallen und voller schwarzer Flecken, aber hier war alles schwarz. Er näherte sich bis auf zwei Schritte und sah, dass sie einen Zettel in der Hand hielt. Ein Abschiedsbrief? Er konnte nicht...
Doch irgendwie war er nicht mehr so erschrocken. Der Tod war schon lange fort. Er hatte sie entdeckt. Er musste wissen, was da stand. Die Neugier siegte über die Furcht und er näherte sich ihr noch etwas und streckte die Hand nach dem Zettel aus. Ihre Hand hielt den Zettel fest umklammert, so musste er ihn abreißen. Dann wich er wieder zurück und las, was da stand. Es war eine hübsche, geschwungene Schrift. Doch das, was da stand war nicht hübsch, es war Todtraurig.

Ich schreibe diese Zeilen, während ich hier sitze, es ist bitterkalt, ich habe nur eine Kerze, ich bin einfach aus der Schule gerannt. Dieses Haus kenne ich schon lange. Es war einmal ein hübsches Haus, aber jetzt sind alle ausgezogen, und ich bin alleine. Ich habe keine Freunde, niemand mag mich. Alle sagen Fotze zu mir. Mein Vater schlägt mich ständig, meine Mutter sieht nur zu und weint. Und das alles nur wegen einem Fehler, den ich begangen habe. Die Jungs in meiner Klasse wollen mich ficken, wie sie sagen. Sie wissen nicht, was das bedeutet. Die ganzen Leute sagen ich sei eine Sündige. Alle sagen es, auch die Lehrer. Sie sind es alle. Es gibt nur wenige, die sich dagegen auflehnen, wie ich. Sie sind auch Sünder, nur glauben sie nicht daran. Es fühlt sich so grausam an, diese Welt. Ich wollte nie geboren werden, niemand hat mich gefragt. Es tut mir leid. Ich gehe freiwillig. Seid nicht traurig, ich habe es hinter mir, endlich. Helft meinem Bruder. Aline.

Thomas wurde schwindlig. Alles fing sich an zu drehen, Aline! Sie ist es, und sie ist tot. Er hatte sie gefunden. Er fing sich wieder und las den Brief noch einmal, auch wenn das Feuerzeug in seiner Hand langsam unerträglich hieß wurde. Er hielt es am Deckel fest. Wer waren sie? Und sie hatte einen Bruder? Aber warum wusste niemand davon? Dachten sie alle, sie sei vermisst? Aber in Bayern verschwanden Kinder nicht einfach so. Das hatte man ihm eingebleut. Das Feuerzeug wurde jetzt zu heiß und Thomas machte es mit seinem T-Shirt zu. Er verbrannte sich trotzdem die Finger.
Er hörte etwas, Es war ein seltsames Geräusch, und er hatte es noch nie gehört, es klang unheimlich. Er hatte die ganze Zeit auf den Brief gestarrt. Er sah zu ihr hoch. Sie schwang hin und her, weil er ihr den Brief entrissen hatte. Dann glaubte Thomas seinen Augen nicht, er ließ den Brief fallen. Das Licht war zu schwach und doch glaubte er jedes Detail zu sehen. Sie schlug die Augen auf und sah ihn mit ihren schwarzen, toten Augen an. Ein widerliches Gefühl, schwarz wie eine Nacht ohne Mond fraß sich in seine Seele, sein Herz, sein Kopf schien sich zu dehnen. Sie machte den Mund auf, entblößte schwarze, faulige Zähne. Ihre Lippen, oder das was von ihnen übrig war formten Worte. Sie waren nicht real, aber er hörte sie trotzdem. Es klang mehr als nur beängstigend. Thomas wurde schwindlig, er sah Sterne, sein Kopf tat so weh. Doch das, was sie gesagt hatte, drehte sich in seinem Kopf, ehe er erneut zu Boden fiel.
Du bist der nächste.

Der König stand auf seinem Turm und sah in den schwarzen Himmel. Er suchte die Sonne. Er hatte seinen Hofnarren erschlagen, aber das machte nichts. Er war schon lange nicht mehr lustig gewesen. Er hatte seinen Untertanen gesagt, er wolle allein sein. Sie hatten Angst vor ihm, also ließen sie ihn in Ruhe. Er sah auf die Felder, sie waren so schwarz wie seine Seele. Er sah einen Bauer, wie er seine Ernte retten wollte, aber alles Korn war nur Asche, es war nicht zu verwenden. Er sah an die Grenzen seines Königreichs, an dem sich riesige Berge auftaten, die in dichtem Nebel verschwanden. Nicht einmal er, der König, wusste, wie hoch sie waren. Er sah den dunklen Wald, aus dem niemand mehr zurückgekehrt war. Alle Abgesandten, die das Reich, in dem die Sonne schien suchen sollten waren nie wieder zurüchgekehrt. Vielleicht hatten sie es ja gefunden und blieben deswegen verschwunden. Asche regnete auf sein Land nieder. Eine Schwarze Träne lief über sein Gesicht. Sie versickerte in dem Schwarzen Gestein des Turms. Er ersehnte sich ein Gewitter, eine höhere Macht, die ihm die Entscheidung abnahm. Doch Gott hatte ihn vor langer Zeit verlassen.
Verlassen.

Die Sonne kitzelte sein Gesicht. Er blinzelte, wo war er?
«Oh!» entfuhr es ihm.
Er sah sie wieder, doch sie bewegte sich nicht mehr. Er weinte ein paar Tränen, sie war doch so hübsch gewesen, Aline, das Mädchen aus seiner Phantasie. Sie war real gewesen, er hätte sie kennen können, aber sie war wohl eine Klasse höher als er gewesen. Er wagte es nicht, sie anzusehen, er hatte Angst vor ihren Augen, sie waren schon lange nicht mehr grün.
Thomas wollte nur noch weg hier. Er hatte genug gesehen. Er krabbelte aus dem Zimmer, stand stöhnend auf und ging schwankend die Treppe runter, wie Vater, wenn er mal wieder zu viel von seinem Zeug getrunken hatte. Er sah den Spalt, durch den er das Haus betreten hatte. Ohne etwas zu denken schlüpfte er durch den Spalt und gelangte ins freie. Er fiel mehr über den Zaun und landete auf der einsamen Straße. Dann sah er auf. Es war früh am Morgen und die Luft war kalt, trotz der Sonnenstrahlen. Er ging wie in Trance die Straße entlang, gelangte nach einer Ewigkeit an die Hauptstraße und setzte sich einfach auf den Gehsteig. Auf einmal brach es aus ihm heraus. Er fing wieder an zu weinen, sie war tot. Er hatte sie nicht retten können, sie war doch seine Freundin! Wieso mussten alle gehen, die er mochte?
Er weinte so sehr, dass er die junge Frau nicht bemerkte, die sich zu ihm kniete und ihn besorgt ansah.
«Was hast du denn, mein Junge? Mein Gott, du blutest ja!»
Thomas hörte es nicht. Er merkte nicht, dass sie sich zu ihm gesetzt hatte und ihn in ihren Armen wog.
Er hörte auch den Krankenwagen nicht, der kurz danach kam. Der Sanitäter fragte ihn nach seinem Namen. Er sagte ihn automatisch, weil er es gewohnt war so zu Antworten.
Thomas wurde auf eine Liege verfrachtet und nach Freising gefahren.
«Ich glaube, das ist der Junge, den alle suchen. Benachrichtige die Polizei.» sagte der eine.
Der Krankenwagen fuhr mit Blaulicht, ganz schnell. Es wackelte so in dem Wagen, Thomas musste von dem Sanitäter auf der Liege gehalten werden. Er stellte ein paar Fragen, aber Thomas reagierte nicht, er dachte nur an Aline, wie sie da hing.
Sie hielten, er wurde aus dem Wagen gehoben und in ein Gebäude gebracht, alles war weiß. So unendlich weiß. Ein Mann in Weiß, ein Arzt leuchtete ihm in die Augen. Thomas erkannte ihn, es war der, der auch Mutter behandelte, und Simon.
«Er hat wahrscheinlich einen Schock. Station B4. Schnell. Ich komme sofort nach.»
Thomas sagte etwas, aber es ging in seinen wirren Gedanken vollkommen unter.
Sie fuhren ihn in ein Zimmer, gleich mehrere Ärzte kamen und untersuchten ihn. Sie taten das unendlich lange, ehe der eine mit dem riesigen Namensschild, auf dem Dr. Grün stand sagte:
«Das, was er jetzt braucht, ist Ruhe. Gebt ihm 10 Milligramm Diazepam.»
Er bekam eine Spritze, die sofort wirkte. Das Weiß verschwamm zu einem Rosa, er glaubte eine rosa Wolke zu sehen, die wie eine Katze aussah. Er fühlte sich besser. Es ging ihm gut. Alles ist Ruhig.
Sie verbanden seine Hand und schoben ihn in ein anderes Zimmer, in dem schon einer lag, der sich nicht bewegte. Thomas dachte an Lanzarote. Er sah das Mädchen mit der Münze vor sich. Wie hieß sie noch mal? Wie war ihr Name gewesen? Julia? Vielleicht. Spielt auch keine Rolle. Er würde sie nie wieder sehen, dachte er ganz ohne Trauer. Er fühlte sich blendend. Das Zeug, das sie ihm gegeben hatten war toll. Neben sich piepste ein Automat, der seine Herzfrequenz anzeigte. Dann wurde er wieder müde und schlief ein.

Die Polizei kam, seine Eltern auch. Sie weckten ihn. Er sah sie noch ganz verschwommen.
«Thomas! Was machst du nur! Wir sind ja ganz verzweifelt! Wieso bist du aus der Schule gerannt? Du hast einen Unfall verursacht, Thomas! Warum?»
Es war seine Mutter. Sie schrie ihn an, so viele Fragen auf einmal. Irgendwas von einem Unfall. Hatte er einen Unfall gehabt? Wahrscheinlich, dachte er, sonst würde er nicht hier liegen. Ein Polizist sah ihn an. Es war ein fetter Kerl, er hatte so stumpfe Augen wie Stefans Freundin und roch stechend. Dann wandte er sich an seine Mutter und seinen Vater.
«Er hat einen Fehler gemacht. Aber er ist nicht unbedingt schuld. Wir klären das später. Lassen wir ihm die Ruhe, die er braucht. Ich bitte sie. Sie sollten erst mal einen Kaffee trinken.»
«Aber...» entgegnete sie.
«Nein.» sagte der Polizist ruhig, aber bestimmt. Thomas‘ Mutter hatte Respekt vor dem Gesetz oder deren Vertretern. Sie gingen und Thomas dämmerte eine Ewigkeit vor sich hin. Er dachte an den König, der die Sonne suchte. Er hatte von ihm geträumt. Er war der König. Aber auch das war nicht wichtig. Nichts war wichtig. Er schlief wieder ein.

Als er wieder aufwachte, saß sein Vater da.
«Abend, mein Sohn. Wie geht es dir?»
Er konnte erst nichts sagen, dann kamen die Schmerzen zurück, und die Erinnerung.
«Scheiße.» sagte er leise.
«So was sagt man nicht.» sagte er, doch er grinste, er meinte es nicht ernst.
«Alle sagen es.»
«Okay, du hast recht.» Vater sah ihn wissend an. Seine Augen leuchteten, er schien froh zu sein.
Dann folgte eine Pause. Aber da war auch Traurigkeit in seinen Augen. Sehr viel davon. Wo kam das her? So hatte er Vater noch nie gesehen.
«Was ist denn passiert, dass du so traurig bist?» fragte Vater. Auch er konnte Augen lesen.
«Ich habe meine Freundin gefunden.»
«Aber das ist doch schön. Warst du bei ihr? Du hättest uns doch Bescheid sagen können. Wir hätten dich vielleicht auch bei ihr übernachten lassen. Also ich jedenfalls.»
«Ja.» sagte er und sah aus dem Fenster.
Aline. Sie war so allein gewesen. Und niemand hatte ihr geholfen. Er griff nach seiner Tasche, aber er hatte etwas anderes an.
«Wo ist meine Hose?» fragte er.
«Deine Mutter hat dir frische Sachen geholt. Deine Hose haben wir weggeworfen, die war ganz dreckig und zerfetzt. Du hast ja ziemlich viel erlebt bei deiner Freundin, was?»
Er saß immer noch auf seinem Thron.
«Wir haben im Wald Fangen gespielt. Ich bin gefallen.»
Vater lächelte. Lügen waren die bessere Wahrheit. Und niemandem fiel es auf.
«Du musst erst am Montag wieder in die Schule. Du kannst dich am Wochenende erholen.» sagte er und lächelte. Es war die beste Nachricht seit einer Ewigkeit.
«Fahren wir nach Hause?»
«Ja. Und du kannst einen ganz großen Kakao haben.»
«Ich will einen Kaffee. Ich bin alt genug.»
«Gut. Den sollst du kriegen. Wird dir aber nicht sehr schmecken.»
«Jaja.»
«Das heißt leck mich am Arsch, Thomas.»
Vater lächelte wieder, stand auf und holte den Arzt, es war wieder Dr. Grün, auch er hatte irgendwie Funkelaugen. Er sprach mit dem Arzt, viel davon verstand Thomas nicht. Es ging auch um Mutter und Simon. Mutter war aber nicht da.
Dann stand auch Thomas auf. Er wankte noch etwas wegen der Spritze. Aber das ging schon. Eine Schwester nahm ihm den Verband von der Hand. Es war nur noch ein kleiner Kratzer. Thomas fühlte sich wie ein Mädchen, wenn er an die Schmerzen dachte. Das sah nun wirklich nicht schlimm aus. Sie verließen das Krankenhaus und stiegen in den BMW. Vater fuhr noch an einer Tankstelle vorbei, für sich Zigaretten holen. Als sie zu Hause ankamen war es schon dunkel. Sie gingen rein und Thomas sagte, er wolle schlafen. Vater brachte ihn ins Bett, wie einen kleinen Jungen. Er schlief sofort ein.

«Der Arzt hatte gesagt, die Verletzung an der Hand kam von einer staubigen Scherbe. Thomas sagt, er war im Wald, was ich nicht für wahr halte.» sagte er.
«Ja. Er lügt mal wieder. Und jetzt? Ich hoffe dass unsere Versicherung den Schaden übernimmt, den er verursacht hat. Ein Unbeteiligter ist verletzt worden. Das Auto hat sie an die Wand gefahren.»
«Silke. Das wird schon. Ich mache mir mehr Sorgen um Thomas. Er sagt er habe eine Freundin. Er habe sie gefunden. Hast du seine Hose noch?» fragte er.
«Ich hab sie weggeworfen, wie du gesagt hast.» sagte sie und sah ihren Mann an.
«Scheiße! Er hatte irgendwas da drin. Hast du nachgesehen?»
«Ja, ein Feuerzeug, wie du auch eines hast, nur golden. Sieh. Da ist ein seltsames Symbol drauf, was glaubst du wo er es her hat?»
Er nahm das Feuerzeug und betrachtete es. Das Symbol war fachmännisch eingraviert worden, eine Spezialanfertigung.
«Es erinnert mich vage an ein Symbol, das ich irgendwo mal gesehen habe, nur anders.» sagte er.
«Ich kenne es jedenfalls nicht. Und er hat es bestimmt gestohlen.»
«Ach komm schon, lass das mal außer Acht. Irgendwas stimmt nicht. Er rennt aus der Schule, verschwindet für ganze 24 Stunden, taucht blutend an der Hauptstraße in Allershausen wieder auf. Das ist sehr seltsam und klingt nicht nach einem kleinen Treffen mit seiner Freundin.»
«Sag nur. Ich weiß, dass er uns von vorne bis hinten belügt. Ich mag nicht mehr, er bringt mich wirklich zur Verzweiflung. Er hat mehr von dir als ihm guttut.» sagte sie.
Er lächelte, ja, es war sein Sohn.
«Du findest das noch witzig, nicht?» sagte sie.
«Ich...» er wusste nicht ganz, was er darauf antworten sollte.
«Du verwöhnst ihn zu sehr, Frank. Er macht, was er will, das ist nicht richtig. Er ist ein Kind, und Kinder müssen ihren Eltern gehorchen.»
«Ach, Kinder müssen Kinder bleiben, Silke. Er leidet schon genug.»
«Du denkst, dass er leidet? Alle anderen um ihn herum leiden, nicht er.»
«Ich weiß, er macht viel Unfug, aber das machen Kinder nun mal.» sagte er und zündete sich eine Zigarette an.
«Du sollst doch nicht hier rauchen! Denk an Simon!» fuhr sie ihn an.
«Ja, Silke, bis Simon wieder da ist hat sich der Rauch verzogen. Du hast ihn ja mal wieder zu den netten Nachbarn gebracht.» sagte er grinsend und zog an der Zigarette.
«Das macht nichts, es war so ausgemacht.» sagte sie und nahm ihm die Zigarette weg, ging zum Fenster und warf sie raus.
«Musste das sein?» fragte er mürrisch.
«Ja. Es reicht, wenn einer sich nicht an die Regeln hält. Denk an die Spülmaschine, du hast überhaupt keinen Sinn für Ordnung. Wenn ich nicht immer hinter dir aufräumen würde...»
«Silke, das schon wieder...»
«Du bist genauso wie dein Sohn, du tust was du willst. Wieso habe ich dich eigentlich geheiratet?»
Oh nein, dachte er, nicht diese Frage.
«Weil du mich liebst, Silke.» sagte er.
Sie sagte nichts und griff entnervt nach einem Glas Wein.
«Du solltest nicht so viel trinken.» sagte er.
«Ich bin Erwachsen, falls es dir noch nicht aufgefallen ist. Und Thomas macht mich so fertig, alle machen mich fertig, sogar deine Mutter sagt ich sei Gefühlskalt.»
Sie stellte das Glas ab und nahm zwei Valium. Sie nahm sie aus einem hübschen Döschen.
«Silke, das bist du nicht.» sagte er sanft.
Er wollte sie in den Arm nehmen, so wie früher, bevor sie in diesen Ort gezogen waren.
«Lass mich.» fauchte sie und stieß ihn weg.
«Okay. Wie du meinst.» er wusste nicht was plötzlich los war.
Sie funkelte ihn an, trank das Glas Wein leer und schenkte sich nach.
«Du solltest Simon holen.» sagte sie.
«Es sind deine Freunde, Silke. Ich würde ihn nie so oft dorthin bringen. Sie sind etwas... seltsam.» sagte er und verzog das Gesicht.
«Sag das nicht, es sind ehrliche, Gottesfürchtige Menschen.» sie schien echt beleidigt.
Frank überlegte, wie er das Gespräch in andere Bahnen lenken konnte.
«Du kannst ihn holen, du hast ihn dort auch hingebracht.» sagte er kalt.
«Du könntest dich ruhig auch mal um Simon kümmern.» sagte sie vorwurfsvoll.
«Und du dich um Thomas.» gab er zurück.
«Ich will nicht, dass sie mich so sehen.» sagte sie.
«Was, deine Freunde? Sind die dir auf einmal so wichtig?»
«Ja, vielleicht will ich auch mal glücklich sein.»
«Ach, und die trinken nicht? Hast du etwa Angst vor einer Blamage?»
Sie sagte nichts, trank wieder Wein.
«Du wirst ihn holen, ich gebe nicht nach.» sagte er.
«Du könntest mir doch mal helfen, Frank, aber du ziehst dich immer so geschickt aus der Affäre, hier Thomas, da deine Firma, dort die vielen Reisen. Dass ich mit deinen Kindern immer allein bin nimmst du nicht wahr, was? Ich kann nicht mehr.»
Eine Träne lief ihr in den Mund, sie wischte sie weg und trank das Glas leer. Dann kippte sie den letzten Rest Wein in das Glas.
«Ich habe einen harten Weg bestritten, damit wir so leben können, wie wir es tun, Silke, und du weißt das. Denk auch an die teuren Schuhe, die du dir jedesmal in München kaufst. Die Kleider, die Uhren, den ganzen Schmuck, den du nur einmal trägst und der dann im Tresor verrottet. Wenn die Firma nicht wäre, dann hättest du jetzt keine Italienischen Schuhe an.»
«Ja, da bist du gut drin, im Vorwürfe machen. Geh mir aus den Augen, Frank.»
«Ich gehe dann ins Arbeitszimmer.» sagte er und unterdrückte seine Wut.
«Ja. Geh du an deinen geliebten Computer. Irgendwann schmeiße ich das Ding aus dem Fenster.»
«Du bist betrunken. Du solltest schlafen.» sagte er kühl.
«Ich mache was ich für richtig halte!» schrie sie plötzlich. Das Rotweinglas flog bedrohlich nahe an seinem Gesicht vorbei und zersprang an der Wand.
Silke brach in Tränen aus. Aber er wusste, dass er sie nicht beruhigen konnte. Sie würde Simon holen, ihn eine Zeit lang streicheln, ihn ins Bett bringen. Sie würde noch ein paar Valium nehmen, dann schlafen gehen und morgen würde sie sich die ganze Zeit um Simon kümmern, zu den Nachbarn gehen, bei denen sie sich generell ausheulte. Simon hatte ja dort die Zwillinge und konnte spielen. Er würde mit Thomas irgendwohin fahren und ihm einen Wunsch erfüllen. Egal, ob er gelogen hat oder nicht. Er war doch sein Sohn, dachte er als er in seinem Arbeitszimmer an den Schrank ging und sich ein großes Glas Whisky und eine Zigarette genehmigte. Er war sein Sohn, und er hatte ihn in den letzten Monaten wegen der Arbeit stark vernachlässigt. Das würde er ändern. Jedenfalls an diesem langen Wochenende.


Kapitel vier
Kleine Freuden


Am nächsten Tag, es war Donnerstag, wachte Thomas früh auf und hörte Geräusche aus der Küche. Die Kaffeemaschine lief und wahrscheinlich brutzelte Vaters Spiegelei. Er fühlte sich ausgeruht, seine Hand tat nicht mehr so weh und auch sein Knie war soweit auch ganz in Ordnung. Er stand von seinem Bett auf, zog sich eine Jogginghose über, ein altes T-Shirt und verließ sein Zimmer. Er roch frischen Kaffee. Und vielleicht auch die Eier, die er nicht mochte. Er selbst bevorzugte Cornflakes. Simon quengelte, brabbelte irgendwas und seine Mutter wog ihn in den Armen, beachtete ihn nicht. Dann ging er runter, wo sein Vater allein am Küchentisch saß. Und tatsächlich. Kaffee und Eier.
«Morgen, Papa.»
«Morgen! Gut geschlafen? Du siehst blendend aus.» sagte er lächelnd.
«Ich? Segelohren, Zahnspange. Schon vergessen?»
Er lächelte auf diese gutmütige Art, wie nur er es konnte.
«Hier ist dein Kaffee.» sagte er und stellte die Tasse mit dem Chef auf den Tisch.
Er war überrascht. Da stand sie vor ihm, das Zeug war nicht braun, sondern schwarz. Er nippte an dem Kaffee, es schmeckte unendlich bitter.
«Bah!»
«Du solltest Milch oder auch Zucker rein machen.» sagte er und schob ihm die Milch über den Tisch.
Der Kaffee verwandelte sich in ein lecker aussehendes Getränk; und als er noch mal probierte schmeckte es gar nicht mal so übel. Und es wirkte. Er war sofort wach. Thomas glaubte, das er das nun öfter trinken würde. Hoffentlich gewöhnte er sich nicht auch noch das Rauchen an. Aber das schmeckte ja widerwärtig.
Mutter kam mit Simon runter, setzte ihn auf seinen Kinderstuhl und er sah Thomas an, mit seinen großen blauen Kulleraugen. Thomas hatte braune Augen. Simon würde in der Schule nie so leiden müssen wie er, denn er hatte keine Dumbo-Ohren. Thomas schaufelte seine Cornflakes in sich rein, er fühlte sich ausgehungert. Die letzten Tage waren furchtbar gewesen, aber er konnte es etwas vergessen, der Geschmack von seinen Lieblingsflakes und der Kaffee wirkten Wunder.
«Ich habe mir Urlaub genommen.» sagte Vater plötzlich. Thomas sah auf.
«Du hast frei? Was ist passiert?» Vater log nie, wenn er so etwas sagte.
«Wir machen einen Ausflug, du und ich.»
Er zeigte auf den Couchtisch, wo bereits die Campingausrüstung lag. Thomas glaubte sich zu irren. Wieder ein Traum, er rieb sich die Augen.
«Ja, richtig. Wir gehen Zelten. Ich zeige dir einen hübschen Ort.» sagte er dann.
Thomas bemerkte den kühlen Blick seiner Mutter nicht, wohl aber ihre scharfe Stimme.
«Du belohnst ihn. Nach all dem was passiert ist. Eigentlich sollte er in der Schule sein.»
Bei dem Wort Schule zuckte er zusammen. Sie merkte es und setzte nach.
«Bei seinen Freunden.»
Der Sarkasmus war nicht zu überhören. Sie klang auf einmal wie Dr. Hoffmann.
«Ich nehme die Verantwortung auf mich. Und da ich immer noch der Geldverdiener hier bin, mache ich in diesen paar Tagen, was ich für richtig halte, ehe ich nach Amerika fliege. So wie du, Silke. Und das richtige ist erst mal, wenn er nicht in die Schule geht.»
Danke, Papa dachte Thomas und könnte ihn knutschen.
«Ich sehe schon kommen, dass er die Klasse wiederholen muss.» sagte sie.
«Ach, Thomas wird die zwei Tage Ausfall schon aufholen können. Er langweilt sich eh, hast du seinen Block gesehen?» sagte er und Thomas dachte an die vielen Leichen und an die Tatsache, dass er wirklich nichts geheim halten konnte.
«Allerdings.» sagte sie scharf.
«Ich finde, er kann gut Zeichnen.» sagte er.
«Ja, aber das ist Gottlos, wenn jemand so etwas zeichnet.»
Frank und Thomas seufzten gleichzeitig. Sie sahen sich an, dann wieder Mutter.
«Ihr seid es beide.» zischte sie.
«Er wird bestimmt mal ein berühmter Maler. Es ist doch egal, was er zeichnet.» sagte er.
Sie streichelte Simon wieder und Thomas hörte das leise, kratzige Geräusch. Manchmal hatte auch er Mitleid für seinen Bruder.
«Ich bin dagegen, dass ihr fährt.» sagte sie.
«Aber ich habe mich entschieden, Silke.» er war entschlossen, das sah Thomas an dem starren Blick.
«Es ist falsch. Es ist nicht recht. Dein Junge hat gestohlen, im Sportheim, weißt du das?»
«Nein, wusste ich nicht, aber ich habe das auch getan in dem Alter.»
«Du lässt ihm wirklich alles durchgehen, was? Das nächste Mal sticht er jemanden ab und dann sagst du: Ach, das war ja nicht so schlimm, Silke, war nur ein Mensch. Ich kenne dich, Frank.»
«Thomas sticht keinen ab. Er würde das nicht tun, dafür ist er zu sensibel.»
«Aber er denkt daran, seine Gedanken sind voll davon, woher kommt das nur?»
«Silke, ich will jetzt nicht darüber reden. Es bringt nichts.»
Sie schnaubte und Thomas fürchtete schon die Ohrfeige, aber Vater war da und beschützte ihn.
«Das wird ein Nachspiel haben.» sagte sie.
Immer wenn sie das sagte gab es Streit, der dann eigentlich auch immer sofort losbrach. Doch diesmal war es anders. Vater sagte nichts. Er schwieg und lächelte sie sanft an. Mutter war immer die Vernünftigere von ihnen gewesen, Vater der emotionalere. Doch leider war er so selten da. Thomas freute sich unbändig über die Nachricht mit dem Ausflug. Doch er zeigte es nicht. Dann würde Mutter toben. Mutter funkelte Vater an. Wenn Blicke töten könnten, dachte er. Sie stand auf, verschüttete etwas Kaffee, ging in die Küche, holte einen Lappen und wischte das alles wieder hastig auf. Dann warf sie den Lappen in die Spüle, schnappte sich Simon, der leise protestierte und verschwand nach oben.
«Sie wird sich wieder abregen.» sagte Vater leise.
Thomas glaubte das nicht. Sie regte sich nie so schnell ab. Sie war immer etwas gereizt. Was vielleicht an der Krankheit von Simon lag oder an Thomas‘ angeblichem Fehlverhalten.
«Wie würde dir die Ostsee gefallen?» fragte Vater, um vom Thema abzulenken.
«Das ist doch weit weg.»
«Wir haben vier Tage, Thomas.»
«Äh... ja!» Er hatte große Mühe nicht gleich auszuflippen vor Freude. Endlich mal raus aus Bayern. Und vier Tage, das waren vierundzwanzig mal vier Stunden... Etwas weniger, wenn man die Fahrt abzog, aber immer noch sehr viel. Seit Monaten hatte er sich das gewünscht. Nun passierte es. Er dachte an den König, aber er konnte ihn diesmal nicht spüren. Er schien verschwunden.
Mutter stürmte mit Simon raus und warf die Haustüre donnernd hinter sich zu. Wenig später hörten sie, dass sie schnellen Schrittes um die Ecke ging. Beide seufzten gleichzeitig, dann sahen sie sich wieder an und fingen an zu lachen. Es war ein unbeschwertes Lachen. Er konnte sich nicht erinnern, wann es das letzte Mal gewesen war. Es tat so verdammt gut. Sie hatten den gleichen Gedanken. Vater und Sohn. Endlich mal allein. Mutter war sonst immer allgegenwärtig.
«Komm, wir machen uns fertig, ja? Pack‘ ein paar Sachen ein. Regenjacke und so. Und etwas für die kalten Tage. Es ist September, aber man weiß ja nie. Ich habe auch neue Schlafsäcke.»
«Ja, sofort.» sagte Thomas, trank noch den Kaffee aus, je mehr man davon trank, desto besser wurde er. Dann ging er hoch und packte seinen großen Rucksack. Er sah auch seinen Schulrucksack da stehen. Gottlieb hatte sich fürsorglich um seine Bücher und Hefte gekümmert. Arschloch, dachte er und gab dem Rucksack einen Tritt. Dann warf er alles in den großen Rucksack was man zum Zelten brauchte. Taschenlampe. Sein Schweizer Messer, das Buch. Nein, das würde er hier lassen. Er wollte Carrie jetzt nicht lesen. Er wollte nichts lesen. Dann noch Jacke, zwei Jeans, T-Shirts, Pullover, Socken, Unterhosen. Eine Mütze, auf der ‚Darkwing Duck‘ stand. Aber die nahm er wieder raus, die war peinlich. Er nahm sich noch den Leichenblock zum malen mit und seinen kleinen Fotoapparat. Und noch etwas. Er ging zu seinem Versteck und nahm das Amulett an sich. Er legte es sich um den Hals unter das T-Shirt. Dann nahm er den Rucksack und lief runter.
«Schon fertig? Aber du hast recht. Wir sollten uns beeilen. Wir haben Sechshundert Kilometer vor uns.» sagte Vater und ging durch die Küche, es schepperte etwas, er stellte das Geschirr einfach in die Spüle.
Sechshundert Kilometer. Das klang wie Musik in seinen Ohren und er war ganz aufgeregt, fast schon zittrig, das bekannte, warme Gefühl und das Kribbeln kam, immer wenn sie in eine fremde Gegend fuhren. Es war so schön, immer wieder.
Vater warf alles in den Kofferraum, das große Zelt, Gaskocher, Metallgeschirr, Lampe, Schlafsäcke. Klamotten, Sogar ein Radio für den Campingplatz. Auch Vater schien froh zu sein, endlich mal wieder raus zu fahren. Schwungvoll und voller Elan warf er sich hinters Steuer. So sah man ihn selten, aber er freute sich, es zu sehen. Er dachte nicht an Mutter und an Simon. Vater startete den Wagen, das tiefe Brummen des Motors, das ihn sonst immer etwas beunruhigte bei den Fahrten zu Dr. Hoffmann war diesmal ganz anders. Es brachte sie weg von hier. In Sicherheit, in die Fremde. Sie fuhren nach Allershausen, dann auf die Autobahn. Natürlich gab es mal wieder Stau. Vater fluchte und zündete sich eine Gauloises an. Er betätigte einen Schalter, der das Fenster hinabgleiten ließ. Im Radio lief ein Song von Madonna. Frozen. Thomas mochte das Lied. Es war so schön traurig, auch ein bisschen kalt, auch wenn er den Text nicht richtig verstand. Frozen bedeutete doch eingefroren, einfrieren, irgendsowas. «Papa?»
«Ja, Thomas?»
«Weißt du noch, als wir auf Lanzarote waren, letztes Jahr?»
«Sicher. War schön dort, nicht.» er lächelte.
«Ja. Ich habe doch dort mit diesem Mädchen gespielt, wie hieß sie noch mal...»
«Michaela.»
«Ich hatte es vergessen. Sie hat mir eine Kassette geschenkt. Von Tori Amos. Mein Kassettenrecorder hat sie gefressen und ich hätte die CD gerne wieder. Oder eine Kassette.»
«Weißt du was? Wir machen in der nächsten Stadt halt und holen dir die CD. Wir legen sie dann hier ein. Ich freue mich, dass du solche Musik magst.»
«Wieso?»
«Weil sie gut ist. In letzter Zeit hört man nur noch diesen Sprechgesang. Hiphop. Grausam.» er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und Thomas lachte darüber.
Er dachte auch an die anderen. Wie sie damit prahlten, dass sie Hiphop hörten. Besonders Michael, das hohle Brot. Man verstand nichts und es klang komisch. Und die Leute, die das hörten zogen sich noch komischer an. Thomas konnte sich mit diesem Stil nicht identifizieren. Der Stau wurde nicht besser. Sie blieben nun ganz hinter einem Sattelschlepper stehen, der aus Holland kam und anscheinend Blumen transportierte, glaubte man der Aufschrift und dem Männchen, das einen Strauß Blumen in die Höhe hielt. Vater streckte sich und blieb mit seinen Augen an Thomas hängen.
«Zeigst du mir mal, was du da trägst?»
Thomas war irritiert. Dann fiel es ihm ein. Zögernd nahm er das Amulett und gab es Vater.
«Sieht kostbar aus. Wo hast du es her?»
«Von meiner Freundin.» sagte er und dachte an das tote Mädchen, das an Traurigkeit gestorben war.
Vater fand den Verschluss und sagte dann: «Eine hübsche Freundin hast du da. Du hast wirklich Augen für schöne Dinge, Kleiner. Ich bin stolz auf dich. Wie ist ihr Name?»
«Aline.» sagte er.
«Hübscher Name, hat etwas weiches.»
Er gab ihm das Amulett wieder. Vater verstand nicht, warum Thomas so traurig aussah, aber er sagte nichts. Aline, du Fotze, fiel es ihm plötzlich ein. Der Brief. Das eingeritzte auf seinem Tisch. Es war auch ihr Tisch gewesen. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. Thomas fragte sich warum das Amulett ausgerechnet an diesem Tag an der Stelle gelegen hatte. Jeder andere hätte es besser finden können. Warum, warum...
Der Stau löste sich auf und Vater wechselte den Gang, fuhr schneller. Er konzentrierte sich dann immer voll aufs Fahren, weil er auch gerne schnell fuhr. Aber nur wenn er alleine war und seine Mutter nicht da war, denn ihr wurde dann immer schlecht und Simon fing an zu schreien. Da sie nach Norden fuhren war der Stau nicht so schlimm. Richtung Österreich war es jedes Mal eine Tortur. Verloren sah er aus dem Fenster, betrachtete die verschiedenen Kennzeichen, wie immer.
«Papa, was heißt OHV?»
«Oh Gott, ich weiß es nicht. Muss irgendwas im Osten sein.»
Sie waren das Spiel gewöhnt. Der Stau löste sich nun vollständig auf.
«Stört‘s dich?» fragte Vater.
«Nein, mach nur. Ich mag das auch.»
Er trat aufs Gas. Der BMW schoss nach vorne. Hundertvierzig, Hundertsechzig. Die Autobahn war vierspurig und er fuhr ganz Links. Ein Mercedes fuhr auch ganz links, aber viel zu langsam. Vater überholte rechts, auch wenn es verboten war. Der Fahrer des Mercedes betätigte die Lichthupe. Thomas musste grinsen. Sie fuhren wieder links, wurden schneller. Zweihundert. Zweihundertzwanzig. Vater hatte sich nun hinters Lenkrad geklemmt und konzentrierte sich voll. Thomas wusste, dass er jetzt nichts sagen durfte, aber auch er genoss den Nervenkitzel. Er spürte die Vibration, der Ganze Innenraum zitterte. Bei Zweihundertvierzig war Schluss. Mehr gab der Wagen einfach nicht her, schade. Die Schilder schossen vorbei, die anderen Autos schienen wie Schnecken. Thomas‘ Herz machte Sprünge. Das war das, was er so liebte. In jeder Kurve wurde er in den Sitz gedrückt. Er wunderte sich, dass der Wagen auch noch bei der Geschwindigkeit in der Kurve blieb. Aber wenn sie jetzt einen Unfall hatten dann war es wenigstens lustig gewesen, und sie würden nichts spüren. Das hatte Vater ihm einmal erklärt. Ab einer gewissen Geschwindigkeit spielte das keine große Rolle mehr. Der Körper wurde einfach zerfetzt. Mutter hatte ihn angefaucht, er solle ihm so etwas nicht erzählen. Dann wurden sie wieder langsamer. Der Verkehr wurde etwas dichter, in einem Kilometer würde die Autobahn schmaler werden. Da sie oft unterwegs waren kannte Thomas alle Schilder und ihre Bedeutung. Sie gingen runter auf Hundertsechzig, Vater entspannte sich.
«Das war toll, nicht?» sagte er und grinste Thomas an. Auch ein Bürohengst musste seinen Spaß haben. «Ja, Papa, das war schön. Machen wir es wieder?»
«Wenn der Verkehr es zulässt... Wusstest du, dass Deutschland das einzige Land auf der Welt ist, in dem man so fahren darf?»
«Nein.» sagte Thomas.
«In Amerika müssen alle immer schleichen. Selbst auf der Autobahn darf man nur neunzig fahren. Und in Frankreich kommt alle paar Kilometer eine Mautstelle, wo man halten muss. In Italien ist es ähnlich. Und in Belgien können sie alle nicht Autofahren. Dort hatte ich auch einen Unfall. Bis jetzt meinen einzigen.»
Vater kam wegen seines Berufes in der ganzen Welt herum, Thomas liebte seine Geschichten. Sie waren so interessant wie selten. Er war leider oft fort, dann war nur Mutter da und sie lachte nie mit ihm. Nur mit Simon.
«Wieso können die in Belgien nicht fahren?» Thomas glaubte das alle Belgier besoffen fuhren.
«Weil die bis vor einigen Jahren keinen Führerschein machen mussten. Jeder Idiot konnte sich hinters Steuer setzen. Und fahre niemals nach Rom, wenn du keine Erfahrung hast. Und nie mit einem neuen Auto. Die schneiden dich, ignorieren Ampeln, fluchen, hupen... Ach, es ist schrecklich.»
Thomas musste wieder grinsen.
Plötzlich sagte Vater: «Was hältst du von einem Halt in Aschaffenburg? Wir gehen dort einen Kaffee trinken und kaufen dir deine CD, okay?»
«Ach Papa, gerne.»
Er trat wieder aufs Gas.

Aschaffenburg lag an der Grenze zu Hessen, die Menschen dort redeten etwas anders als in Freising, aber nicht viel. Es war eine Stadt wie alle anderen, fand Thomas. Sie gingen in ein riesiges Geschäft, wie das in München. Es gab dort alles. Allein die Musikabteilung beanspruchte eine ganze Etage. Sie stöberten, fanden die CD von Tori Amos, dann kaufte ihm Vater auch noch einen von den neuen tragbaren CD-Spielern, damit er es auch unterwegs hören konnte. Er selbst kaufte sich eine CD von einer Gruppe, die er nicht kannte. Joy Division. Anschließend gingen sie in ein Eiscafé und bestellten sich Cappuccino. Vater erklärte ihm die verschiedenen Kaffeesorten. Es gab unglaublich viele. Er konnte sich das alles nicht behalten. Es gab verschiedene Röstungen, verschiedene Anbaugebiete und so weiter. Aber irgendwie schmeckten sie alle irgendwie gut. Doch Vater warnte ihn vor Schümli-Kaffee, der sei ungenießbar. Doch den gab es nur in der Schweiz. Darum brauchte er sich keine Sorgen machen. Und niemals Amerikanischen Kaffee trinken. Viel zu teuer und minderwertig.
Sie brachen wieder auf und fuhren weiter. Vater legte die CD von Tori Amos ein und Thomas fühlte sich zurückversetzt nach Lanzarote. Er dachte an Michaela, deren Namen er zwar vergessen hatte, nicht aber ihr Gesicht. Er dachte an die Münze. Sie hatte ihm erklärt, die Münze habe ein Loch, damit auch die Blinden die Geldstücke unterscheiden konnten. Die Frau hatte eine wunderschöne Stimme und ihre Balladen waren so gefühlvoll. Sie hatte auch rote Haare. Als die CD vorbei war, waren sie schon fast durch Hessen durchgefahren.
«Magst du auch meine Scheibe hören?» fragte er.
«Ja, warum nicht?»
Thomas war aufgeschlossen für neue Sachen, alles, was neu war verdrängte das Alte, und das tat gut.
«Ist aber traurig.» sagte er, während er die CDs wechselte.
«Macht mir nichts.»
Vater sah ihn an und Thomas spürte, dass er etwas vermutete, aber nicht genau wusste was. In seinem Blick lag etwas. Etwas, das er spürte, aber nicht benennen konnte. Dann sah er wieder nach vorne, kramte die CD raus und legte sie ein. Joy Division war wirklich sehr traurig. Das war Musik zum heulen.
«Man sagt, es sei die traurigste Band der Welt.» sagte Vater.
Thomas wusste, das Vater immer Recht hatte. Vater war sehr schlau. Er verdiente eine Menge Geld mit seinem Kopf. Die Musik war wirklich zum heulen, aber nicht jetzt, sie würde ihn immer an die Fahrt nach Norden erinnern.
«Kann ich mir die zu Hause aufnehmen?» fragte Thomas.
«Du darfst Mama nur nichts davon sagen.» sagte er und grinste.
«Warum nicht?»
«Sie mag nur fröhliche Dinge. Aber die Welt ist nicht nur fröhlich. Es ist wie ein großes Gleichgewicht. Manchmal ist es schön, und manchmal eben nicht so schön. Es ist wie eine Achterbahn, manchmal geht es hoch, dann wieder runter, aber auch immer wieder hoch. Aber das weißt du bestimmt.»
Thomas nickte.
«Ich liebe deine Mutter. Sie ist ein guter Mensch. Sie glaubt an das Gute im Menschen. Sie kümmert sich hingebungsvoll um euch. Die Krankheit von Simon hat sie sehr mitgenommen. Er wird immer krank bleiben. Doch er kann lange leben. Weißt du, auch du machst ihr Kummer. Sie versteht nicht, warum du so viele Probleme hast. Und sie ist auch überfordert. Versprichst du mir, dir mühe zu geben? Auch in der Schule?»
Wieso musste er ausgerechnet jetzt darüber reden, dachte er.
«Ja.» raunte Thomas.
«Thomas. Du bist mein Sohn. Ich liebe auch dich. Ich bin oft fort, ich weiß. Meine Arbeit frisst mich auf. Aber ich muss es tun, damit wir so leben können, wie du es gewohnt bist. Wir hatten viel Streit in letzter Zeit. Sie war auch sehr dagegen, dass ich mit dir wegfahre, wie du mitbekommen hast. Aber ich mache so selten etwas mit dir, da muss ich doch mal eine Ausnahme machen. Am Montag muss ich wieder für zwei Wochen nach Philadelphia. Das war auch ein Grund. Bitte sieh, dass in den zwei Wochen nichts Schlimmes passiert.»
Thomas spürte einen Stich in seinem Herzen. Zwei Wochen. Er war es ja gewohnt, aber es war jedes Mal schrecklich. Es gab immer viel Streit in dieser Zeit. Und er musste oft auf Simon aufpassen. Er wusste jetzt schon, dass er oft Joy Division hören würde, nur weil die Musik seine Seele berührte und Vater sie mochte. Weil sonst nicht viel seine Seele berührte. Er sah den König wieder. Er suchte immer noch nach der Sonne. Doch er verdrängte den Gedanken. Sie waren auf dem Weg zur Ostsee. Nach Norden. Lübeck, Kiel, Stralsund, Rügen. Vielleicht auch Dänemark. Vater hatte ihm das gesagt.
Die lange Fahrt machte ihn müde, Vater erlaubte ihm, den Sitz zurückzustellen, damit er etwas schlafen
konnte. Bald nickte er ein. Das monotone Geräusch des Motors und die leise Musik lullten ihn ein.


Kapitel fünf
Neue Erfahrungen


Thomas erwachte, als es dämmerte. Sie fuhren immer noch, aber die Landschaft hatte sich verändert. Es war flacher geworden. Er sah hoch, sah dunkle Wolken.
«Leider ist das Wetter nicht so gut, ich erhofft hatte.» sagte Vater und schraubte Thomas‘ Sitz wieder hoch, während er mit der anderen Hand das Lenkrad hielt.
«Ich schlage vor, wir übernachten doch in einem Hotel, für eine Nacht. Zelte aufschlagen können wir morgen immer noch.»
Thomas rieb sich die Augen, sah aus dem Fenster und entdeckte Ortsnamen, die er nicht kannte. Und wie bestellt fing es an zu regnen. Erst waren es nur ein, zwei Tropfen, doch dann brach das Unwetter los. Vater schaltete den Scheibenwischer ein. Die Sicht wurde schlecht.
«Hamburg oder Kiel? Die Entfernung macht von hier aus keinen Unterschied.»
«Ich weiß nicht.» sagte Thomas.
«Also ich wäre für Kiel. Das liegt näher an der Ostsee. Und morgen fahren wir dann auf einen Campingplatz im Darß. Das ist eine Gegend, so etwa wie Oberbayern. Nur viel kleiner und liegt direkt am Meer.»
Das Radio meldete eine Sturmwarnung für diesen Abend.
«Na ganz toll.» sagte Vater und fuhr direkt weiter in die Schlechtwetterfront. Es war beeindruckend. Sogar in der großen Limousine spürten sie den Wind. Schwarze Wolken türmten sich bedrohlich über ihnen auf. Thomas sah die ganze Zeit aus dem Fenster. Kiel war noch dreißig Kilometer weit weg.
«Wie lange habe ich geschlafen?» fragte Thomas.
«Lange. Aber der Verkehr war gering, wir haben ja Wochentag. Ich konnte also schnell fahren. Und nur dass du es weißt, für heute keinen Kaffee mehr. Sonst kannst du nicht schlafen. Ich sag dir was. Mama würde toben. Aber ich spendiere dir mal ein Bier. Ich habe nämlich das Gefühl, du bist schon ganz schön erwachsen. Ich war das in deinem Alter noch nicht. Und ich hatte keine Freundin. Ich muss mich entschuldigen, Thomas.»
Er machte eine Pause.
«Warum denn?» Thomas hatte das nicht erwartet.
«Das Leben, Thomas. Es ist bestimmt nicht einfach für dich. Ich kann mich noch an meine Kindheit erinnern. Bei mir verlief alles mehr linear, wenn auch nicht gerade einfach.»
«Linear?»
Ein Wort, das er noch nicht kannte, obwohl er viel las. Ihm fiel auch das andere Wort ein.
«Geradlinig. Ich hatte eine... nun sagen wir mal einfachere Kindheit. Ich habe die ersten vierundzwanzig Jahre in der gleichen Stadt verbracht. Und danach habe ich auch deine Mutter kennen gelernt. Wir haben geheiratet, da war ich fast dreißig. Sie war erst meine zweite Freundin.»
«Und deine erste?»
Thomas hatte ja eigentlich keine Freundin.
«Sie war eine hübsche, blonde Wienerin, sie mochte mein Auto. Aber wie das nun mal so ist passieren Dinge, die man nicht vorhersehen kann. Sie wurde schwanger von einem anderen.»
«Warst du sauer?»
«Und wie. Ich hab sie mit ihren Sachen auf die Straße gesetzt. Sie hat getobt, aber das war mir egal. Danach bin ich in die Armee, es war eine Kurzschlussreaktion.»
«Papa, was bedeutet Blasphemie?»
«Wo hast du das denn wieder her?» fragte er, ein leichtes Grinsen im Gesicht.
«Von Mama, sie sagt ich sei so.»
«Lass dir das nicht einreden. Das sagen die Christen, wenn ihnen etwas nicht passt. Es bedeutet in etwa so viel, dass sie nicht mit deinem Glauben einverstanden sind. Aber jeder sollte das glauben, wonach ihm der Sinn steht. Deswegen nennt sie mich auch einen weichgespülten Liberalen.»
«Weichgespülter Liberaler?»
«Ja, weil ich immer so viel durchgehen lasse. Aber das ist eine andere Geschichte.»
Dann wurde er wieder ernst.
«Wie ist das für dich, du hast schon drei Umzüge hinter dir. Vier Schulen.» fragte er.
Es kam also doch. Schrecklich. Grausam. Und vor allem Einsam.
«Es geht so.» sagte er stattdessen.
Er wollte Vater keine Sorgen machen. Nicht heute, nicht jetzt.
Vater sah Thomas tief in die Augen. Ein kaum merklicher Seufzer entfuhr ihm, aber Thomas spürte ihn wie eine Schockwelle. Er sah wieder nach vorne. Das Wetter machte das fahren schwierig. Der Regen prasselte auf die Windschutzscheibe und Thomas fühlte eine Verbindung zu dem Wetter. Das Unwetter war nur wegen ihm da. Es würde auf ihn aufpassen. Der Himmel weinte und Thomas fühlte mit ihm. Vater schwieg. Noch sechzehn Kilometer bis Kiel. Thomas sah so gut wie nichts. Es wurde dunkel. Er sah den Regen waagerecht auf die Scheinwerfer zukommen, das, und die Rücklichter des vorderen Autos. Das Radio spielte eine Ballade, die neu war. Aber sie gefiel ihm nicht. Vater drehte das Radio ab, offensichtlich gefiel ihm die Musik auch nicht. Der Regen war nun ganz alleine und übertönte den Motor. Es war ein neues Gefühl, etwas Starkes. Es fühlte sich unmenschlich, doch irgendwie warm an. Thomas schloss die Augen und gab sich dem Gefühl hin. Unbewusst drehte er das Amulett in seinen Händen. Was Aline wohl dachte, als sie starb? Was sie wohl fühlte? Er fühlte die Verzweiflung. Er sah sie da hängen, in dieser unendlichen Einsamkeit, langsam erstickend. Er sah sie vor sich, wie sie ausgesehen hatte, als sie noch lebte. Sie hatte dieses hübsche Blümchenkleid an. Er sah wie eine einzige Träne ihre Wange herablief, während sie starb. Bevor sie ihren Atem für immer aushauchte. Wieso war niemand für sie da gewesen? An ihrem Leid sah er nun dass sein Leben nicht so schlimm war. Er hatte einen lieben Vater. Ein gutes Heim, ein sicheres Bett.
«Du denkst an deine Freundin, nicht wahr?» sagte er plötzlich.
Thomas öffnete die Augen wieder.
«Ja. Sie ist was Besonderes.»
«Das glaube ich dir. Auch du bist etwas Besonderes. Ich spüre das, auch wenn ich nicht viel von dem verstehe. Meine Gefühlswelt bleibt mir meistens verborgen. Aber du...» er brach den Satz ab.
Thomas verfluchte seine Gefühle. Er hatte zu viel davon. Er spürte alles so intensiv, dass es schon schmerzte. Selbst die Freude tat weh, so intensiv war sie.
Sie fuhren eine Abfahrt runter. Der Regen nahm noch mehr zu. Die Sicht war gleich Null. Vater orientierte sich an den Rücklichtern des Wagens vor ihm.
«Was für ein Unwetter. So was habe ich noch nie gesehen.» sagte er und fluchte leise, weil er nichts sah. Er musste die Geschwindigkeit drosseln. Dann, irgendwann tauchte ein Ortsschild auf. Kiel.
«Wir sind gleich da. Ich war schon mal hier. Ich kenne ein gutes Hotel.» er grinste.
Thomas sagte nichts, er spürte, das dieser Ausflug etwas zu bedeuten hatte, er wusste nur nicht was. Sie kamen in belebteres Gebiet, es wurde heller. Straßenlaternen zogen vorbei. Er sah Geschäfte, Passanten, die sich gegen das Unwetter stemmten. Thomas gefiel es hier. Das Wetter war großartig. Im Gegensatz zu dem hier waren die Unwetter in Bayern ein Witz.
«Ich suche einen Parkplatz vor dem Hotel. Das kann etwas dauern.» sagte Vater und kurvte ein paar mal um den gleichen Block. Die Gebäude hier waren anders. Es waren viele Backsteingebäude, und alles groß und Herrschaftlich.
«Na endlich!» rief Vater und manövrierte den schweren Wagen geschickt in eine winzige Parklücke. Thomas hoffte auch einmal ein so guter Fahrer zu sein.
«Schau, und gleich vor dem Hotel. Okay, Thomas, heute bist du sechzehn. Ich will dir das wirkliche Leben zeigen. Unter sechzehn kommt man nämlich nicht mal mit Begleitung in eine Bar. Und groß genug bist du ja auch schon. Wirklich. Du könntest einen guten Neuntklässler abgeben. So. Und jetzt so schnell wies geht unter das Dach. Fertig?» sagte er und nahm die Tasche mit den Kleidern von der Rückbank. Thomas nickte. Vater lief vor. Er kämpfte gegen den Wind. Dann machte Thomas die Tür auf. Er stieg aus, warf die Tür zu und rannte zu dem Eingang. Eine Bö warf ihn fast aus dem Gleichgewicht, aber er schaffte es dennoch. Nur leicht durchnässt von den drei Metern kamen sie im Foyer an. Ein Portier hielt ihnen die Tür auf. Schließlich waren sie drinnen. Thomas staunte. Was für ein Luxus! Es sah etwas aus wie in München, aber doch angenehmer. Thomas hörte Leute Englisch reden. Und die, die Deutsch sprachen hatten eine viel schönere Art das zu tun.
«Sehen so die Hotels aus, in denen du schläfst?» fragte Thomas.
Vater grinste breit.
«Ja. So sehen sie aus. Manche noch besser. Aber das hier ist das Beste der ganzen Stadt.»
Sie gingen zum Empfang. Ein Mann mit einer Hakennase und einem schwarzen Anzug begrüßte sie. «Sie möchten ein Zimmer.» sagte er mehr als er fragte. Er hatte stechende Augen, die waren aber anders als die Funkelaugen von Dr. Hoffmann.
Vater schob ihm seinen Ausweis und eine Kreditkarte rüber.
«Ihre beste Suite. Für diese Nacht. Inklusive Frühstück.»
«Es tut mir leid, die ist belegt. Aber ich kann ihnen ein wirklich hübsches Zimmer anbieten.»
«Dann nehme ich das. Vielen Dank.»
Der Mann zog die Kreditkarte durch eine Apparatur.
«Ist das Ihr Sohn?» fragte der Mann und sein Blick wurde zu Nadeln.
«Ja, das ist er.» sagte Vater unbeeindruckt.
«Ich darf doch fragen, wie alt er ist.»
«Er ist heute sechzehn geworden.»
«Sieht aber nicht so aus.» sagte der Mann und beugte sich vor, um Thomas zu mustern.
«Sehen sie nach, es steht in meinem Ausweis.» sagte Vater und Thomas wusste nicht, was das zu bedeuten hatte.
«Tatsächlich.» sagte er und zog die Brauen hoch.
Die Nadeln zogen wieder ein. Der Mann drehte sich zu dem Schränkchen hinter ihm um. Thomas sah Vater erstaunt an, dann aber schnell wieder nach vorne. Vater empfing eine Schlüsselkarte.
«Sie haben Gepäck?» fragte er.
«In dieser Tasche ist alles was wir brauchen.»
«Nun, ich wünsche ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Soll sich ein Page um ihr Gepäck kümmern?»
«Ich bitte sie. Diese Tasche ist nun wirklich nicht schwer.» sagte er und hielt die Tasche demonstrativ in die Höhe.
Als sie sich umdrehten, stand schon ein Page da und begleitete sie zum Aufzug. Hier war alles aus Gold. Alles glitzerte. Es war überwältigend. Der Aufzug kam und sie fuhren in den vierten Stock. Sie gingen über roten Teppich, der ihre Schritte schluckte.
«Hier ist es.» sagte der Page und nahm einen Schein von Vater an. Er verbeugte sich leicht und zog sich zurück. Vater steckte die Karte in einen Schlitz und die Tür öffnete sich mit einem Klicken. Sie betraten das Zimmer. Der Mann mit der Hakennase hatte nicht unter trieben, es war wirklich hübsch. Auch hier war der Luxus unübersehbar.
«Wir wollten doch eigentlich Zelten. Das hier ist das Gegenteil, Papa.» stellte Thomas fest.
»Ich weiß. Aber das musst du auch mal gesehen haben, oder?» Vater stellte die Tasche ab.
«Papa, warum bin ich in deinem Ausweis sechzehn?»
«Das hat... Gründe. Steuern und so.» Auf einmal schien er verwegen, wie der Mann im Kaufhaus, der sich etwas eingesteckt hatte.
«Ich erzähle es dir unten.» sagte er dann.
«Komm, wir gehen uns amüsieren. Aber erst etwas schick machen.»
Thomas nahm ein Hemd und zog es sich über, Vater strich es ihm glatt. Er selbst zog sich einen seiner Anzüge an. Er sah wirklich gut aus, fand Thomas.
Sie verließen das Zimmer wieder und fuhren wieder runter. Sie gingen in die Hoteleigene Bar. Ein Mann im Anzug hielt einen Vorhang beiseite, damit sie eintreten konnten. Thomas dachte, er würde auffallen, aber niemand kümmerte sich um sie. Hier saßen allerlei Menschen. Auch welche, die keine Anzüge trugen. Eine kleine Kapelle mit einer Frau spielte Blues. Langsame, gemütliche Musik. Das Licht war gedämpft. Eine Frau ging von Tisch zu Tisch und nahm Bestellungen auf. Sie war knapp bekleidet und lächelte andauernd. Sie setzten sich an einen Tisch in einer dunklen Ecke. Von hier aus sah man alles gut. Es dauerte keine Minute, da kam die Bedienung auch schon zu ihnen und fragte was sie wollten.
«Zwei Whisky, einen doppelten, einer einfach, zwei Bier.» sagte Vater und gab der Dame einen Fünfziger. Sie lächelte charmant und ging an einen anderen Tisch.
«Ach, das hier ist gut. Ich habe schon immer geträumt, dich mal an einen solchen Ort zu entführen. Sag das niemals Mama, sie würde mich kreuzigen. Das hier ist Sünde.» er grinste sehr breit.
«Versprochen.» sagte Thomas und kam sich richtig erwachsen vor. Er, der kleine unwichtige Außenseiter saß in einer Bar und ließ es sich gut gehen. Er, den niemand mochte. Er würde seinem Vater so gerne alles erzählen, aber es ging nicht. Stattdessen lauschte er der Musik, die ihn noch mehr beschwingte. Die Dame ließ sich Zeit. Aber dann kam sie und stellte die vier Gläser vor ihnen ab. Dezent legte sie eine Rechnung dazu.
Als sie weg war sagte Thomas: «Du hast ihr doch schon Geld gegeben.»
Vater schmunzelte.
«Das war sozusagen das Schweigegeld. Du dürftest nicht hier sein. Aber manche Regeln sind da, um gebrochen zu werden. Wir sind hier unter Erwachsenen.»
«Ach so.» sagte Thomas und begutachtete die braune Flüssigkeit, die vor ihm stand.
«Die Indianer nennen es Feuerwasser. Es ist sehr stark. Wenn du dich traust, es zu trinken und du spürst, dass es zu scharf ist dann trink schnell einen Schluck Bier nach. Das hilft. Ich habe dir extra nur einen einfachen bestellt. Sieh mir zu. Ich mache es vor.»
Vater nahm das Glas und kippte es einfach runter, ohne eine Miene zu verziehen. Na, so schlimm konnte es nicht sein. Er wartete noch eine Weile. Dann nahm Thomas beherzt das Glas, setzte es an und trank es alles aus. Eine Sekunde danach fing es an zu brennen. Feuer in seinem Mund! Er nahm das Bier und trank einen riesigen Schluck. Er schüttelte sich. Nach zwei Sekunden ließ das Brennen nach und ein schönes, warmes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Und plötzlich veränderte sich die Musik, wurde weicher. Die Töne verschmolzen zu einem Symphonieorchester.
«Und, wie war es?» fragte Vater, und auch seine Stimme hörte sich verändert an. Dennoch wissend, wie der erste Schnaps des Lebens wirkte.
«Grauenvoll. Und du magst das?» sagte Thomas und spürte den extrem bitteren Geschmack immer noch. Vater steckte sich eine Gauloises an und sagte dann: «Rauchen tust du aber nicht, oder?»
«Ich habe es einmal probiert. Jeder tut das an der Schule. Ich mag es aber nicht.»
«Ist auch besser so. Du kommst sehr schwer wieder davon los.»
Sie saßen da und lauschten der Musik.
«Ella Fitzgerald. Sie ist sehr berühmt, drüben in Amerika.» sagte er.
Thomas kannte die Künstlerin nicht.
«Ich wollte dir noch eine Geschichte erzählen, Thomas, etwas, das du noch nicht kennst.»
«Ja?» fragte er.
«Der Ausweis. Ich sagte doch, manche Regeln sind da, um gebrochen zu werden.»
«Das wollte ich dich noch fragen.» sagte Thomas, aber in Wirklichkeit hatte er es schon vergessen.
«Ich war mal ein anderer Mensch, deine Mutter weiß das nicht und du musst mir versprechen, dass du es ihr nicht sagst, okay?»
Er nickte und war gespannt.
«Weißt du, jeder Mensch hat ein Geheimnis, es tut mir leid, dass deine Mutter in deinen Sachen herumwühlt, ich bin dagegen, aber sie zwingt mich, es anzusehen, aber ich habe dein Tagebuch nicht gelesen, nur die Zeichnungen fand ich sehr gut. Du stehst auf ausgefallene Sachen, was?»
Thomas sah ihn an, seine Augen leuchteten freundlich.
«Früher, als ich noch ein Jugendlicher war, ich und mein Bruder Paul...» er hielt inne.
Thomas wartete, die Pausen machten es noch interessanter.
«Deine Mutter hätte mich nie geheiratet, hätte sie es gewusst. Sie ist vom Land, nicht aus der Stadt. Aber gut, ich schweife ab. Ich und mein Bruder, wir haben sehr gelitten unter unserem Vater, und immer wenn wir draußen waren haben wir Mist gebaut, um uns zu zeigen, das wir besser sind, wir wollten uns und allen etwas beweisen.»
«So wie Geld stehlen?» fragte Thomas.
«Ja, das und noch andere Sachen, die schlimmer waren.»
«Was denn?»
«Wir haben Autos geklaut und haben sie ins Ausland gebracht. Deswegen kann ich auch so gut fahren. Du glaubst gar nicht, wie oft uns die Bullen gejagt haben. Wir haben uns sogar wilde Schießereien mit ihnen geliefert. Irgendwo hat es auch Spaß gemacht, der ganze Nervenkitzel.» Vaters Augen leuchteten.
«Wahnsinn.» sagte Thomas.
«Ich will dir kein schlechtes Vorbild sein, Thomas, es ist nicht gut, wenn man stiehlt, man bekommt große Probleme, und manchmal geht man auch ins Gefängnis.»
«Du warst im Gefängnis?» Thomas war erstaunt.
Vater nickte.
«Ich habe viel Mist gebaut und habe dafür meine Strafe abgesessen. Es ist nicht schön im Gefängnis, man kann nicht einfach mal rausgehen, man ist mit bösen Leuten eingesperrt und hat wirklich nur Ärger. Aber es kommt noch besser.»
Er nahm einen großen Schluck Bier und steckte sich eine Zigarette an.
«Wenn man so etwas macht, dann sind da auch andere, denen das nicht gefällt. Weil man ihnen das Geschäft versaut. Sie werden dann sauer und wollen dir an die Wäsche. Mein Bruder wurde bei einer Schießerei verletzt, ich konnte ihn gerade noch so retten. Die anderen sind einfach mit den Wagen abgehauen.»
Thomas war verwirrt. Das hätte er nicht gedacht.
«Ich dachte dein Bruder ist verschwunden?» sagte er.
«Jetzt, ja. Er war immer ein wenig härter als ich, er hat es alles durchgezogen und ist dann auch ganz dick ins Geschäft eingestiegen. Er ist eigentlich nie lange an einem Ort. Ich weiß nie wo er ist, aber ich kann ihn immer erreichen. Wenn ich ihn brauche, ist er da. Trotzdem war ich der bessere Fahrer.»
Thomas staunte, diese Geschichten kannte er gar nicht.
«Ich wird dir nicht alles erzählen, nicht dass du es mir nachmachst.»
Er trank das Bier leer und gab der Dame ein Zeichen. Er fuhr fort, als er seinen neuen Whisky getrunken hatte.
«Ich sehe, dass du dich mit Simon nicht verstehst, das ist normal. Ihr seid vom Alter her zu weit auseinander, er ist krank und braucht eine liebevollere Behandlung. Aber es ist wichtig, dass du für ihn da bist, ja?» Vater sah traurig aus.
Thomas schämte sich für seine Gedanken über seinen Bruder.
«Aber es war ja nicht immer so. Ich war dann in der Armee, und nach einem Einsatz habe ich deine Mutter kennengelernt, und sie hat einen besseren Menschen aus mir gemacht. Sie war es, die mir das Licht gezeigt hat, die Liebe und die Sehnsucht nach einem sicheren Hafen. Und alleine deswegen liebe ich sie, und natürlich weil sie so hübsch ist. Sie war früher die hübscheste in ihrem Dorf.»
Thomas wunderte sich nur noch über ihn, sein Vater war wirklich ein besonderer Mensch.
«Ich will dir nur sagen, pass auf, wohin du gehst, manchmal machen wir Fehler, die unumkehrbar sind. Wir bereuen es, aber es ist zu spät. Verstehst du das?»
«Ja, Papa.» er dachte an Aline, für sie war es zu spät.
Er streichelte über Thomas‘ Kopf.
«Ich wusste, du bist groß genug, das zu verstehen. Ich bin stolz auf dich, mein Sohn. Ich weiß, du hast eine Gabe, die sonst nur wenige haben. Lass dich nicht unterdrücken von den anderen, lass dir niemals sagen, wer du sein sollst. Du bist du und niemand sonst.»
Es waren schöne Worte, sie erfüllten sein Herz, es war wie ein Traum, nur das er nicht starb, sondern neu geboren wurde.
«Danke, Papa. Das war schön, was du gesagt hast.»
«Ach, du bist mein Liebling.» sagte er.
«Obwohl das nicht richtig ist.» ergänzte er.
Thomas war bedient. Aber es fühlte sich angenehm an. Die Musik, die ausgelassene Stimmung, einfach alles. Und sein Vater war da und beschützte ihn. Weit weg von dem dunklen Ort, der Schule hieß. In einer fremden Welt, die er nicht gekannt hatte, die er nicht für möglich gehalten hatte. Doch das hier war nur ein Ausflug, eine einmalige Sache. Es war schön, aber Thomas spürte, dass dies hier nicht seine Welt war. Aber man konnte sie dennoch mal probieren. Sein Vater hatte ihn echt überrascht.
Er trank noch einen Schluck Bier, den Rest ließ er stehen. Vater trank es für ihn aus. Die Dame kam wieder, Er bestellte sich das ganze noch einmal. Der Abend war auch ohne Alkohol schön.
«Morgen fahren wir an einen besonderen Ort. Wir machen einen Abstecher nach Dänemark. Ich zeige dir etwas wirklich Schönes. Du wirst dich freuen.»
Thomas verstand nicht, wie man sich so viel von dem Feuerwasser in sich hinein kippen konnte, ohne dass einem schlecht wurde. Aber er wusste nun warum die Indianer es so nannten. In der Schule könnte er damit angeben. Aber er würde es nicht tun, so einer war er nicht. Er würde es für sich behalten. Unser kleines, hübsches Geheimnis, dachte er. Vater bezahlte, die Dame lächelte, als er ihr noch einen Fünfziger gab und sie gingen aufs Zimmer. Thomas schwankte leicht und er war furchtbar Müde. Er fiel mit seinen Kleidern in das ungewöhnlich komfortable Bett und schlief sofort ein.


Kapitel sechs
Fliegen


Am nächsten Morgen hatte er leichte Kopfschmerzen. Das gehörte wohl auch zur Welt der Erwachsenen. Sie gingen runter um zu Frühstücken. Es gab Croissants mit Marmelade und Kaffee. Der Kaffee vertrieb die Kopfschmerzen und er fühlte sich sofort besser. Sie brachen auch sofort auf, als sie gegessen hatten. Das Unwetter war vorbei und die Luft war ungewöhnlich klar. Sie tat wohl in seinen Lungen. Vater legte eine CD von R.E.M. ein, und die Laune war gut. Thomas gefiel ‚Man on the Moon‘ sehr gut. Sie fuhren nach Osten. Es war Vaters Geheimnis, wo sie heute hinfuhren. Er trat ordentlich aufs Gas. Sie fuhren erst auf die Insel Fehmarn und dann warteten sie auf die Fähre nach Dänemark. Sie kam, und Vater fuhr den Wagen in das Unterdeck. Überall Autos und Lastwagen, die Luft war schlecht hier. Dann gingen sie nach oben und tranken beide Cola und aßen belegte Brötchen. Der Wind war hier draußen sehr stark, und nur wenige Leute hielten sich auf dem Außendeck auf. Die Ostsee war schön anzusehen. Das Meer, auch wenn es eigentlich keines war hatte etwas Magisches. Er sah Möwen, die die Fähre begleiteten, roch die See und fragte sich wie tief sie wohl war. Was mochten dort unten für Kreaturen hausen? Der Biologielehrer nervte ihn immer nur mit seinen doofen Pflanzen. Dabei hatte die Welt doch mehr zu bieten als nur Blätter und ihre Photosynthese. Sicher war auch das wichtig. Aber nicht nur. Thomas merkte, dass er nur schwer abschalten konnte. Die Schule war weit weg, aber sie existierte, war real, wie das Krokodil das man unter Wasser nicht sehen konnte. Dennoch war es da. Und es hatte Zähne. Sie schwiegen die ganze Zeit. Man musste nicht immer reden. Vater genoss es genauso wie er. Er spürte das. So zufrieden hatte er ihn schon lange nicht mehr gesehen. Die Fähre legte auf der dänischen Seite an, sie gingen zu dem Wagen und warteten, bis die anderen vor ihnen raus gefahren waren. Dann fuhren sie aus dem Hafen, der Rodbyhavn hieß raus und eine kleine Straße am Meer entlang. Nur ganz wenige Autos waren zu sehen. Dänemark musste leer sein. Vater hielt sich peinlich genau an die Geschwindigkeitsbegrenzung, denn im Ausland beim Rasen erwischt zu werden war auch so eine Sache. Es war bereits mittags und die Sonne schien wieder. Die Einsamkeit der Gegend war seltsam. In Deutschland waren überall Menschen. Selbst auf dem Feldweg zwischen Allershausen und Hohenkammer kamen ihm meistens so zwanzig Leute entgegen. Plötzlich, mitten im Nichts hielt Vater an.
«Wo sind wir?» fragte Thomas.
Vater legte nur den Finger auf die Lippen. Sie stiegen aus, Vater holte etwas in rotem Stoff eingepacktes aus dem Kofferraum. Dann gingen sie einen mit Holzstämmen ausgelegten Pfad hinunter zum Meer. Sie mussten über eine Düne, die mit dünnen Grashalmen überwuchert war aber dann konnte Thomas sehen, was sein Vater gemeint hatte. Das hier war wunderschön. Tränen stiegen ihm in die Augen, als er den verlassenen Strand sah. Niemand außer ihnen war hier. Man konnte in beide Richtungen sehen, Kilometerweit, aber wirklich niemand war da. Der Wind peitschte ihnen ins Gesicht, der feine Sand wehte leise durch die Luft. Das hier war der weitaus schönste Ort, den er je gesehen hatte. Er spürte die Freiheit, sog sie mit allem, was er hatte auf und fühlte sich wie ein Vogel. Für einen Moment konnte er sich gehen lassen. Dies hier war es wert, so weit zu fahren. Der Wind wischte seine Tränen weg, er schien ihn trösten zu wollen. Vater stellte sich zu ihm. Er hatte den Roten Sack ausgepackt und einen Drachen hervor gezaubert. Das war es also.
Sie ließen ihn steigen. Der Drachen zerrte Thomas ordentlich an den Händen. Er sprang in die Luft und der Drachen hob ihn für eine kleine Ewigkeit in die Luft. Er flog! Er war wieder das Kind, das er nie sein durfte. Er sprang hoch in die Luft und flog immer wieder. Der Drachen trug ihn wegen des starken Windes immer ein paar Meter durch die Luft. Das machte so viel Spaß!
Vater stand nur da und sah Thomas zu, wie er glücklich war. Auch er hatte Tränen im Gesicht. Er wollte sie könnten für immer hier bleiben. Für immer durch die Welt ziehen, die schönsten Orte besuchen und nie wieder zurückkehren müssen. Auch er mochte Bayern nicht. Aber dort war seine Firma. Er bereute die Entscheidung, umzuziehen wegen des Geldes. Ja, sie konnten sich ein tolles Auto leisten, Flugreisen, tägliche Feinkost, aber für welchen Preis? Er wusste, dass Thomas keine Freunde hatte, er wusste, dass er blaue Flecken von den Schlägen hatte, die ihm seine Mitschüler verpassten, er wusste auch, dass er ständig klaute und log, er hasste die Psychologin, die sich Silke ausgesucht hatte, er fühlte sich traurig, weil er sie nicht mehr so lieben konnte wie früher. Er fragte sich, ob sie ihn überhaupt noch liebte. Weil sie auch traurig war. Wegen Simon, wegen diesem beschissenen Gendefekt. Weil sie Thomas nicht verstand. Deswegen nahm sie so viel Valium und heulte sich ständig bei den tollen Nachbarn aus. Die waren eine Musterfamilie, hatten ja auch zwei Kinder. Die hatten sogar das schönste Haus im Dorf und waren der Inbegriff von Glück. Er mochte diese Heuchelei nicht. Silke fühlte sich bei ihnen wohl. Er nicht, deswegen schob er immer die Firma vor. In den endlosen Sitzungen rund um den Globus konnte er seine Gefühle verdrängen. Er hatte sich nach der Armee in seine Arbeit gestürzt und war auch erfolgreich. Alle beglückwünschten ihn, zu seinem Glück. Dabei machte er eigentlich nur, was er die ganze Zeit schon getan hatte, nämlich teure Autos verkaufen, nur legal. Nächstes Jahr konnte er sich eine Yacht leisten. Übernächstes Jahr einen Maybach. Oder noch etwas Besseres. Aber all das tolle Geld machte ihn nicht Glücklich. Es beruhigte nur die Nerven, mehr nicht. Er hatte so Angst um Thomas. Silke war kalt zu ihm. In diesem einen Punkt seine Mutter recht, auch wenn sie sich oft irrte, angefangen bei seinem Vater. Am liebsten würde er alles hinschmeißen und ihn da raus holen. Aber auch das ging nicht. Vielleicht würde er sich von all dem Geld einen einfachen Strick kaufen und sich erhängen.
Seine Tränen liefen ihm nun unkontrolliert herunter und er war froh, dass Thomas mit dem Drachen spielte. Dass er nicht sah, was für ein Versager er war. Ja, er war hart, aber auch nicht so hart, dass er bei dem Gedanken, dass seine Kinder litten nicht traurig wurde. Wenigstens heute war er glücklich. Wenigstens an diesem einen Tag. Er hasste sich dafür, ihn in diese brutale Welt gesetzt zu haben. Am Sonntag würde das alles hier vorbei sein. Er würde am Montag gleich um vier Uhr morgens nach Amerika fliegen, mit seinen Kollegen fachsimpeln und in teure Sushi-Bars essen gehen. Und sich abends in einer Bar, die Blues spielte betrinken. Er würde die Fassade bis zum bitteren Ende aufrecht erhalten. Keine Gefühle zeigen. Sich die Yacht und den Maybach kaufen. Er würde Thomas ein Haus kaufen und Simon ein Auto, wenn er denn jemals fahren konnte. Wenn er diese schreckliche Krankheit überlebte. Silke gab sich die Schuld, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnten. Meistens schrien sie sich nur an. Aber erst wenn die Kinder schliefen. Ansonsten wurde eisig geschwiegen. Er liebte sie doch, dachte er wieder, sie war eine tolle Frau, sie hat ihn verändert, hat aus ihm einen Lebensfähigen Menschen gemacht und sich fast selbst dafür aufgegeben. Sie hat recht, wenn sie ihn anschrie, sie hat viel für ihre kleine Familie getan.
Der Wind schien auch ihn trösten zu wollen, aber es klappte nicht so recht. Er war Erwachsen. Er hatte keine Illusionen. Sie waren verschwunden, als er das erste Mal einen Toten gesehen hatte und ihm bewusst geworden war, dass niemand unsterblich ist.
Thomas beachtete ihn nicht. Er spielte mit dem Drachen und jetzt weinte er vor Glück. Er hatte ein Kind in die Welt gesetzt dass enorm viel spürte und den Augenblick genießen konnte. Er war etwas Besonderes. Es war nicht gut, dass ihm eine Band wie Joy Division so gefiel. Aber er würde ihm die CD schenken, ja.
Dieser Ort hier. Er war so voller Frieden. Niemand der ihn stören konnte. Wenn er sterben würde, dann hier. Er würde sich noch über die Düne schleppen, nur um diesen Frieden zu genießen.
Thomas winkte ihm, er winkte zurück. Dann drehte er sich um, nahm einen großen Schluck Whisky aus seinem Flachmann und verdrängte seine Gefühle. Die Psychologin hätte auch ihren Spaß an ihm, aber er ließ sie nicht in seine Seele schauen. Er war in erster Linie Geschäftsmann. Ein verdammt guter Geschäftsmann. Er rief sich die Firma in Erinnerung und trocknete seine Tränen. Am Montag stand ein großer Deal an, und er würde den dicken Fisch an Land ziehen. Eine gottverdammte halbe Million Dollar sprang allein für ihn dabei raus, Steuerfrei natürlich. Die harte Realität war etwas, an dem man sich festhalten konnte. Die Arbeit. Das Geld. Alles kalt und nützlich. Wenn er seine Arbeit nicht hätte dann wäre er schon längst gegen einen Baum gefahren. Thomas war so voller Glück, er wagte nicht, ihn zu stören. Er stand noch eine halbe Stunde einfach da und sah ihm beim fliegen zu.
Dann war es Zeit zu gehen. Sie mussten noch auf den Campingplatz. Er hatte schon reserviert, und sie durften die letzte Fähre nicht verpassen. Ansonsten müssten sie einen gewaltigen Umweg über Flensburg machen. Ohne Worte packten sie den Drachen ein, sahen noch einmal auf das Meer hinaus, Thomas und sein Vater fühlten dasselbe.
Unendlichen Frieden.
Schade, dass sie fahren mussten.


Kapitel sieben
Magie


Sie hatten die letzte Fähre gerade noch so erwischt. In Deutschland zurück folgte Vater der Wegbeschreibung zum Darß. Sie fanden das Gebiet ohne größere Probleme. Den Campingplatz allerdings nicht. Er lag gut versteckt zwischen zwei Landstraßen und dann auch noch hinter einem kleinen Wald. Eine Stunde irrten sie durch das Gebiet, ehe sie das Schild entdeckten.
Sie wurden freundlich von einem älteren Herrn mit einer Zigarre begrüßt und bekamen ihren Platz zugewiesen. Überall standen alte Wohnwagen und Zelte. Es herrschte eine gute Stimmung. Da es schon abends war stand der Alkoholpegel dementsprechend hoch. Vater stellte den Wagen ab, es war der einzige schwarze BMW zwischen verbeulten Golfs und kleinen Bussen. Sie wurden erst mal schräg angesehen. Aber Thomas war nicht in der Laune, sich jetzt frustrieren zu lassen. Vater nahm das Zelt und baute es in Rekordzeit auf, wobei er Beifall von einer kleinen Gruppe Jugendlichen erntete, die ihm das einfach nicht zugetraut hatten. Sie luden ihn und Thomas auf ein Bier ein. Thomas nahm aber eine Cola. Sie erzählten, dass sie Studenten aus Hannover waren und jedes Jahr hierher kamen. Das waren echte Freunde. Thomas unterhielt sich mit einem Mädchen, es war hübsch, hatte lange schwarze Haare, hieß Tanja und war schon zwanzig. Er erzählte ihr von seinen Hobbys, dass er schrieb und zeichnete wenn auch etwas unreif, schließlich war er ja erst zwölf, aber das machte nichts. Er zeigte ihr den Leichenblock. Sie fand das auch lustig, endlich mal jemand, der ihn nicht wegen seiner Andersartigkeit verspottete und ihn mit Füßen trat.
Vater verstand sich mit den Jungs gut, sie zischten ein Bier nach dem anderen. Und als es schließlich dunkel wurde, fingen sie an, sich Horrorgeschichten zu erzählen. Tanja fand, das sei nichts für Thomas und nahm ihn einfach mit in ihr Zelt. Es war ein großes Zelt, sie teilte es sich mit ihrem Freund. Sie unterhielten sich angeregt. Thomas verstand nicht, warum sich eine zwanzigjährige mit ihm abgab, aber irgendwo genoss er es auch.
«Kommst du auch öfters hierher, mit deinem Vater?» fragte sie.
Thomas fühlte sich an Michaela mit der Münze erinnert.
«Nein. Dieser Besuch ist etwas Einmaliges. Und nur für ein paar Tage.» sagte er.
«Wir bleiben immer eine Woche hier. Machen Party und Unsinn.» sie lächelte.
Thomas wusste nicht, was er sagen sollte. So viel Erfahrung hatte er noch nicht.
«Das ist aber ein hübsches Amulett, das du da trägst. Ich steh ja auf so was. Meine ganze Wohnung ist voll von solchem Zeug. Darf ich es mal sehen?» sie hatte auch ein Funkeln in den Augen, aber dieses war ganz anders. Es war wunderschön und warm, nicht kalt.
Zögernd gab Thomas ihr das Amulett. Sie wog es in der Hand.
«Lass mich raten. Es ist sehr Wertvoll für dich.» Thomas nickte. Sie öffnete es, ohne zu fragen.
«Oh!» sagte sie. «Es ist bestimmt deine Freundin.»
Thomas sah Aline vor sich. Eigentlich wollte er nicht daran erinnert werden.
«Sie ist tot.» sagte er tonlos. Tanja sah ihm in die Augen. Sie schien etwas zu besitzen, was nicht alle hatten. Ihr Funkeln beruhigte ihn.
«An was ist sie gestorben? Es tut mir leid, wenn ich dich nerve, höre ich auf.»
Thomas nahm das Amulett, schloss es und steckte es in seine Hosentasche.
«An Traurigkeit. Weil niemand sie gemocht hatte.»
«Aber du hast sie doch gemocht.» sagte sie und schien noch neugieriger.
«Ich habe sie nie gekannt, aber sie war in meiner Phantasie, einfach so, bis ich ihr begegnete. Sie hing an einem Strick. Ich habe sie durch Zufall gefunden.»
Weiter konnte er nicht mehr. Er fing an zu weinen, machte sich hier auch noch zum Idioten. Tanja schwieg, aber sie sah ihn an. Sie schien zu spüren, was er meinte. Dann sagte sie: «Es ist in Ordnung, du kannst nichts dafür. Du hättest ihr bestimmt geholfen.»
«Ja.» brach es aus ihm heraus. Er hätte ihr geholfen. Er hätte sich selbst mit Stefan angelegt. Tanja nahm in den Arm.
«Ist schon gut. Ist schon gut. Ich spüre deine Trauer. Ich fühle sie.»
Thomas heulte, hoffte dass die anderen ihn nicht hörten. Tanja machte genau das richtige. Sie griff hinter sich und schaltete ruhige Musik ein, die er noch nie gehört hatte.
«Thomas.» sagte sie ganz sanft.
«Ja?»
Durch seine tränen sah er sie nur verschwommen. In letzter Zeit hatte er seiner Meinung nach zu viel geweint.
«Nichts passiert durch Zufall.»
Ihre Augen wurden heller.
«Was?»
Wollte sie ihn auf den Arm nehmen?
«Schau mal. Ich kann dir etwas zeigen. Du musst dich nur darauf einlassen.»
«Auf was denn?» fragte er.
«Dein Schicksal. Das Leben. Dass du und ich uns begegnet sind, ist Schicksal, mein kleiner Freund.»
«Wirklich?» fragte er und wischte sich die Tränen weg.
«Dass ausgerechnet du sie gefunden hast war dir vorherbestimmt.»
Thomas dachte an das Amulett, dachte an seine Tagträume, dachte an all das was in letzter Zeit passiert ist. Zugegeben war das mehr als nur Zufall.
«Ich kann dir sagen, wer du bist, und was passieren wird.»
«Ja?»
Sie drehte sich abermals um, nahm eine Tasche und stellte sie zwischen ihnen ab.
»Das hier habe ich immer bei mir. Die anderen denken, ich bin verrückt, aber so einfach ist das nicht. Sogar mein Freund meint ich würde meine Zeit verschwenden.
«Was ist das?»
«Meine Magische Ausrüstung. Ich bin eine Hexe.»
Sie sah ihn an und ihre Augen sprühten vor Leben. Thomas spürte, dass sie es ernst meinte, also sagte er nichts. Er dachte an die böse Hexe in einem Märchen, aber Tanja war eine gute Hexe.
«Ich sehe du bist bereit.»
Er nickte nur. Sie öffnete die Tasche und ein strenger, jedoch angenehmer Duft entfaltete sich in dem Zelt. Sie nahm ein Stäbchen heraus und zündete es an. Der angenehme Geruch wurde intensiver.
«Ich will dir nichts tun. Du hat viel Gefühl... für einen Kerl.» sagte sie und Thomas war etwas beleidigt.
Sie grinste und entschärfte somit die Situation. Auch er musste nun grinsen. Sie nahm ein Buch heraus und einen kleinen Koffer. Sie öffnete den Koffer und nahm einen Stapel Karten heraus.
«Weißt du, was das ist?» fragte sie.
«Nein.»
«Es sind Tarotkarten. Damit kann man in die Zukunft sehen.»
«Wirklich? Ist das Blasphemie?»
«Ach, das sagen die Leute, die vor so was Angst haben. Für die ist sogar ein Blumentopf Blasphemie.»
Thomas glaubte das nicht so wirklich, er verstand auch die Anspielung mit dem Blumentopf nicht.
«Wenn du daran glaubst, dann zeigen dir die Karten deine Zukunft. Die Karten öffnen sich nicht jedem. Mein Freund zum Beispiel, er zieht immer das gleiche. Die Karten sagen ihm nichts. Er ist nicht in der Lage, hat nicht das Gespür dafür.»
«Und ich? Ich weiß nicht ob ich das kann.»
«Du musst sie nur ziehen. Ich erkläre dir dann die Bedeutung. Ich mache etwas Einfaches mit dir.»
«Was denn?»
Sie sagte nichts und nahm die Karten.
«Du darfst eine Frage stellen, dabei mischen, dreimal. Und dann ablegen.»
Thomas nahm die Karten, es waren sehr viele, mischte sie, er konnte das weil sein Vater ihm Poker beigebracht hatte. Dann legte er sie ab. Sie nahm den Stapel und breitete ihn Fächerartig auf dem Boden aus.
«So, mein kleiner Freund, nimm dir zehn Karten. Such sie dir einfach nach deinem Gefühl aus. Lass dir ruhig Zeit dabei. Deck sie aber noch nicht auf.»
Ihre Stimme war sehr sanft. Thomas wanderte mit seinen Fingern über die Karten, er hatte die Augen geschlossen. Auf einmal herrschte eine Ruhe, die er nicht kannte. Er berührte die Karten, nahm sich eine nach der anderen raus, bis es zehn waren.
«Das hast du gut gemacht.» sagte sie.
«Danke.» sagte er und sah auf den kleineren Stapel.
«Und jetzt noch dreimal Mischen.»
Thomas tat es. Er war angespannt. Was würde passieren? Er legte den gemischten Stapel vor sie.
«Von oben oder von unten beginnen?» fragte sie.
«Unten.» sagte Thomas.
Er wusste nicht wieso. Dann begann sie, eine Karte nach der anderen aufzudecken und in einer bestimmten Art hinzulegen.
«Ich lege für dich das keltische Kreuz, man kann damit sehr genau sehen. Sieh her. Die erste ist die Ausgangsposition, also darum geht es. Der Stern, eine gute Karte, wobei die Karten nicht gut oder schlecht sind, sie wollen uns nur etwas Bestimmtes sagen. Sie bedeutet, dass du dich hier wohl fühlst.» sie lächelte wieder so warm.
Thomas betrachtete die Karten, die etwas von einem Comic hatten. Manche waren freundlich, andere dunkel und Angsteinflößend.
«Du hast erstaunlich viele von den großen Arkana in diesem Spiel, aber gut. Es kommt der Ritter der Münzen hinzu, du wirst etwas aus der Situation machen, auch wenn du noch etwas erstarrt bist. Die dritte Karte sagt dir was du spürst, deine Gefühle. Es sind neun Schwerter, du hast bestimmt Alpträume, oder?» Die Karte zeigte eine weinende Frau, über ihr schwebten Schwerter.
«Ja, aber...» Sie legte den Finger auf seinen Mund.
«Die vierte zeigt die deine jüngere Vergangenheit, das, was war und nicht mehr kommt, es sind zehn Schwerter, du bist wohl einem schlimmen Ort entkommen?» Eine Gestalt lag reglos auf dem Boden, erschlagen von Schwertern, es könnte eine seiner Zeichnungen sein. Er dachte an die Schule. Aber sie würde wiederkommen. Er zuckte die Achseln.
«Das hier wird erkannt. Kraft. Du wirst etwas erkennen und auch in den Griff bekommen.»
Thomas fragte sich, was, aber er hörte weiter zu.
«Deine nähere Zukunft ist der Tod, aber der bedeutet nicht unbedingt den Tod, nur, dass sich etwas verändert. Veränderung bedeutet auch immer dass altes zurückgelassen wird, stirbt.»
Thomas sah sich die Karte an. Er hatte keine Angst, warum auch? Zuhause war alles furchtbar, das hier zeigte ihm doch nur wie es war.
«So siehst du deine Situation, es ist der Narr. Das heißt nicht, dass du ein Narr bist, es ist nur eine Unsicherheit in dir, die du noch nicht bezwungen hast. Die nächste Karte zeigt deine Umwelt. Das Rad des Schicksals, ja du kannst sie nicht ändern. Es wird etwas passieren, aber du hast keinen Einfluss darauf. Aber nicht so schlimm, es geht immer weiter.»
Thomas wusste, dass er keinen Einfluss auf seine Umwelt hatte, sie hatten den Einfluss über ihn.
«Die neunte Karte zeigt deine Hoffnungen und Ängste, die Liebenden. Gibt es vielleicht noch ein Mädchen, das du magst?»
Er dachte an Christina und ihren Brief.
«Ja.» sagte er.
Sie lächelte wieder so warm und Thomas wurde verlegen.
«Das, mein kleiner Freund ist der Turm.» sagte sie. Thomas musste an den König und seinen Turm denken, der Turm auf der Karte sah so ähnlich aus, und es war auch eine goldene Krone darauf abgebildet. Sogar der Blitz war da.
«Es kommen tiefgreifende Veränderungen auf dich zu. Es wird bezüglich deiner Frage alles zerstört, aber danach wird sich alles klären. Es wird weh tun, aber du kannst es als Chance sehen, stelle dich deinem Schicksal, und du wirst sehen, dass alles einen höheren Sinn hat.»
Er verstand es nicht ganz, vielleicht war er noch zu jung, aber er spürte, dass es stimmte.
«Mein kleiner Freund, noch bist du in Sicherheit. Aber etwas wird passieren. Es wird sehr weh tun. Du wirst leiden. Aber am Ende, nach all dem Leid steht das Glück. Wahrscheinlich auch eine Beziehung, in der du Glücklich sein wirst.» Ihre warmen Augen sahen ihn an.
Wenn er jemals ein Fragezeichen über sich hatte, dann jetzt. Er verstand nichts mehr, außerdem machte ihm langsam der Rauch des Stäbchens zu schaffen. Tanja schien etwas verwirrt.
«Ich kann es dir nicht genau sagen, weil ich dich dafür nicht gut genug kenne. Aber ich kann dir...»
Sie kramte hastig in ihrer Tasche und holte ein weiteres Köfferchen heraus und öffnete es. Es waren kleine Gegenstände und Fläschchen darin.
«Das, mein kleiner Freund, ist ein Pentakel, es ist Magie. Eine Art Schutz, trage es versteckt am Körper, niemand darf es sehen. Es wird dich vor bösem Schützen, denn es ist selbst böse. Silber ist dem Teufel zugeordnet. Du bist beides, mein Freund. Ich spüre, dass du auf beiden Seiten ein Gleichgewicht hast. Du hast Liebe in dir, aber auch Hass.»
Er dachte an die goldene Krone und das silberne Zepter mit der Schlange.
«Woher...»
«Ich weiß es einfach. Jeder, der das dritte Auge hat, sieht es dir an. Du bist wie ein Buch, ich kann dich lesen, aber leider nicht deine gewohnte Umgebung. Deswegen gebe ich es dir. Weil ich dich mag. Und denke daran. Du bist etwas Besonderes. Du bist nicht Schuld an ihrem Tod. Jemand anderes ist es. Vertraue auf dein Schicksal, vertraue deinen Gefühlen. Du bist noch innerlich zerrissen, aber bald wird sich alles klären. Du musst jetzt ganz stark sein.»
Thomas sah in ihre Augen und sie in seine. Sie legte das Pentakel ganz sanft in seine Hände und es fühlte sich warm an.
«Du bist etwas besonderes.» sagte sie leise. «Es war Schicksal, dass wir uns begegneten.»
Plötzlich wurde das Zelt erschüttert.
«Hey, Tanja machst du nun auch mit dem Kleinen deinen Esoterikscheiß?»
«Halt‘s Maul, Björn. Du bist ein Idiot.» schrie sie scharf.
«Es ist Zeit zu gehen, kleiner Freund. Ich muss mich um meinen Freund kümmern. Und vergiss nicht, was ich dir gesagt habe, ja?»
«Ja, mach ich.» sagte Thomas und stand auf. Er verstaute das Pentakel sorgfältig. Diese Begegnung war nicht ohne Grund passiert. Von draußen kam Gelalle. Alle waren fröhlich. Ihm war das nicht aufgefallen. Waren die alle so laut gewesen, die ganze Zeit? Sie saßen alle um ein Lagerfeuer, Vater mittendrin und betrunken. Thomas hatte ihn noch nie so gesehen. Vater erzählte aus seiner Armeezeit, wie er den Offizieren Streiche gespielt hatte. Thomas kannte die Geschichten. Er ging zu ihm hin und sagte: «Ich gehe schlafen, Papa.»
«Ja, mein Sohn. Seht her, ich habe einen wundervollen Sohn!» rief er und fiel nach hinten. Allgemeine Belustigung. Thomas schämte sich für seinen Vater, aber er wusste auch, dass es einen Grund dafür gab, dass er so entgleiste. Er legte sich in das Zelt und wühlte sich in den Schlafsack ein. Eine bleierne Müdigkeit überfiel ihn. Das letzte, an was er dachte, waren Tanjas Worte: Du bist etwas Besonderes.


Kapitel acht
Veränderung


Am nächsten Morgen fror er, zitterte vor Kälte. Die neuen Schlafsäcke waren doch nicht so gut, wie Vater angepriesen hatte. Er wusste, heute war Samstag, und sie hatten noch fast zwei ganze Tage für sich. Vater lag neben ihm und roch nach Bier. Er hatte sich nicht mal die mühe gemacht, seinen Schlafsack zuzumachen. Thomas machte den Schlafsack auf, öffnete das Zelt. Er blinzelte raus, roch frische Luft. Dann sah er, dass Tanja und ihre Freunde verschwunden waren. Nur noch der verkohlte Rest des Lagerfeuers erinnerte an ihre Anwesenheit. Also konnte Thomas nicht mal danke sagen. Schade. Er dankte ihr im Geiste. Er berührte das Pentakel und seltsamerweise fühlte es sich warm an. Er ging zum Wagen, aber der war natürlich abgesperrt. Thomas trottete zurück zum Zelt, um Vater zu wecken. Er schaffte es erst nach geschlagenen fünf Minuten. Der Biergeruch wurde unerträglich, als er den Mund öffnete.
«Ich brauche die Schlüssel, ich will uns Kaffee kochen.» sagte Thomas und rüttelte nachdrücklich an seinem Vater. Der stöhnte und kramte in seiner Tasche. Er gab ihm die Wagenschlüssel. Thomas sagte nichts mehr und verließ das Zelt. Er zog sich einen Kapuzenpulli über und öffnete den Kofferraum, holte Gaskocher, Topf, Feuerzeug und Instantkaffee heraus. Das Radio und die CD nahm er auch. Er setzte sich allein auf einen Holzstamm und begann mit der Prozedur. Das Wasser nahm er einfach aus einer Trinkflasche. Während das Wasser anfing zu kochen erleichterte er sich an einem Baum. Er musste dabei grinsen. Normalerweise machte er so etwas nicht. Dann kehrte er zurück und nahm seinen Metallbecher. Er kippte das Granulat rein und das kochende Wasser drauf. Als er den Kaffee probierte verzog er das Gesicht. Er hatte keine Milch und das Zeug war richtig bitter. Aber es wärmte und langsam hörte das Zittern auf. Außer ihm waren kaum Leute unterwegs. Er sah einen Rentner, der einen kleinen Wagen hinter sich herzog. Ein Behälter für Scheiße, dachte Thomas. Er lächelte, es ging ihm gut. Er war im Urlaub. Der Tag gestern war schön gewesen, besonders der Aufenthalt an dem verlassenen Strand. Und das fliegen. Das Zelt bewegte sich. Ah, Vater erwachte nun vollständig. Er krabbelte aus allen vieren heraus und sah um sich. Er war unrasiert und hatte rote, geschwollene Augen. So sahen die Leute auf dem Oktoberfest auch aus. Am nächsten Morgen. Bierleichen. Lustiges Wort. Die nächste Leiche in seinem Block würde in einem Bierglas schwimmen.
«Morgen, Papa!» rief er und Vater rief etwas zurück, das wie Moin! Klang. Vater rappelte sich langsam auf und kam zu ihm.
«Krieg ich auch einen Kaffee?» fragte er und es hörte sich an wie gesprochenes Schnarchen.
«Aber natürlich. Für den gefallenen Soldaten.» Vater sah ihn an. Erinnerte er sich? Thomas gab ihm einen Becher mit extra viel Kaffee. Auch er verzog das Gesicht.
«Was ist da drin? Rattenpisse?» Er spuckte es aus. Thomas hatte ihm die dreifache Portion gegeben.
Er musste immer wieder über seinen Vater lachen, denn so sprach er nur wenn Mutter nicht da war.
«Gestern hab ich es übertrieben, tut mir leid, ja? Ich war nicht ganz bei Trost.» sagte er.
«Schon gut.» sagte Thomas.
«Ach, das war gestern wie früher, als ich selbst noch jung war. Damals, als wir uns noch nicht über den Ernst des Lebens Gedanken machen mussten.» er schien glücklich.
Er zündete sich eine Zigarette an und sog den Rauch tief ein.
«Du sollst deine Kindheit genießen, sie kommt nicht wieder.» sagte er dann.
Er warf die Zigarette weg und stand auf.
«Oh, ich glaube, ich sollte Mutti mal anrufen.»
Er schnitt eine Grimasse und wirkte so viel sympathischer. Mutter hasste es wenn er sie Mutti nannte. Er kippte tapfer das Gesöff runter, erinnerte sich daran, dass Thomas den Schlüssel hatte.
«Ich brauch den Schlüssel.» sagte er lustlos.
Thomas gab ihn ihm. Vater trottete immer noch etwas benommen zum Wagen, holte das Geld heraus. «Bin gleich wieder da.» sagte er und ging zu der einzigen Telefonzelle auf dem Platz. Es war noch eine von den alten, knallgelben. Selbst im hintersten Teil dieses Landes war die Telekom vertreten. Thomas dachte daran, was sie heute machen konnten. Vielleicht nach Stralsund fahren. Oder nach Rügen. Oder vielleicht schwimmen gehen? In Dänemark war es allerdings zu kalt gewesen. Sie mussten dann schon in eines von diesen Thermalbädern, von denen Vater erzählt hatte. Er spielte mit dem Gaskocher, drehte die Flammen ganz hoch und dann wieder ganz klein, im Rhythmus zu 'Man on the Moon.' Dann kam Vater zurück. Er war nicht mehr betrunken. Nein. Er war anders. Etwas in seinem Blick war leer. Er sah noch fertiger aus als vorher.
«Es tut mir leid, Thomas, wir müssen zurück. Es ist wegen Simon. Er liegt auf der Intensivstation.»
Thomas konnte seinen Bruder nicht leiden, aber er wollte auch nicht, dass es ihm schlecht ging. Er dachte an die Worte seines Vaters in der Bar und es tat ihm so furchtbar leid.
«Ich packe sofort.» sagte er und machte sich an die Arbeit.
Die Sachen waren schnell zusammengepackt, das Zelt wurde einfach so in den Kofferraum geworfen. Die Heringe hatten sie einfach stecken gelassen. Thomas überprüfte schnell, ob er nichts vergessen hatte und war schneller fertig als Vater, der irgendwie verloren über den Platz irrte. Thomas betete, dass Vater nüchtern genug war um zu fahren, denn das letzte was er wollte war ein Unfall.
«Ich muss noch bezahlen.» sagte Vater und verschwand Richtung Kassenhäuschen. Er kam zurück und sagte, dass der Typ nicht da sei, sie würden jetzt einfach so fahren. Er hatte ihm seine Adresse hinterlassen. Sie stiegen ein und Vater startete den Motor. Auf einmal war das Geräusch wieder beunruhigend. Der Urlaub war vorbei. Das Krokodil kam aus dem Wasser und zeigte seine Zähne. Sie verließen den Campingplatz. Vater war ein guter Fahrer. Er musste sich zwar etwas mehr konzentrieren, aber er fuhr so souverän wie immer.
«Verflucht, wo ist die nächste Autobahn?» Er war aufgeregt.
«Nimm die Karte. Sag mir wo sie ist.» Thomas nahm die Karte. Er hatte sie schnell gefunden.
«Die Straße auf der wir sind weiter, die kommt schon ganz von allein.»
«Danke.» sagte er und trat aufs Gas.
Vater schaltete das Radio an. Staumeldungen, aber nicht in ihrer Nähe. Dann kam Musik. Vater schwieg, es war bedrückend. Thomas dachte daran, wie gemein er immer zu Simon gewesen war, nur weil Mutter sich fast ausschließlich um ihn kümmerte. Aber er war doch krank! Es war zum heulen, wieder einmal war er traurig. Er schämte sich, wegen seiner Dummheit. Er gab das Leid, das er empfing auch nur weiter. Er war nicht nur gut, er war auch böse, dachte er betrübt. Ganz wie Tanja gesagt hatte. Er entsinnte sich an das Gespräch. So hatte noch nie jemand mit ihm gesprochen, ihn für voll genommen, ihm geglaubt, ihm vertraut. Er vermisste sie. Sie würde bestimmt eine gute beste Freundin abgeben. Aber sie war weg, genauso wie Michaela aus Lanzarote. Alle gingen irgendwann. War es nicht immer so? Das Leben war eine endlose Wiederholung aus Leid. Thomas sah seinen Vater an. Er musste sich konzentrieren. So nahm er den CD-Spieler und legte seine CD ein. Vater fand die Autobahn, fuhr auf und trat voll aufs Gas. Es gab nur wenig Verkehr. Unter anderen Umständen hätte er das genossen, jetzt hatte er Angst. Aber er musste da durch. Er schloss die Augen und dachte an den König.

Traurig ging er in den Thronsaal und befreite seinen ungeliebten Bruder aus der Vorrichtung. Er war durch die lange Fixierung verletzt. Der König rief den Schamanen und versprach ihm die Hälfte seines Goldes, wenn er ihn heilte. Der Schamane machte sich sofort an die Arbeit und verschwand mit dem Wurm. Der König ging wieder auf seinen Turm und wartete auf den Blitz, der bald kommen sollte. Er wollte ihn spüren. Er wollte Gott spüren, wissen, dass er ihn nicht vergessen hatte. Er war doch auch nur ein Mensch. Menschen machen Fehler. Der König hatte keine Angst mehr. Er wartete.

Sie machten zweimal halt. Jedes mal kippte Vater zwei Kaffee runter in der Zeit, in der Thomas gerade mal eine Cola getrunken hatte. Sie ernährten sich von belegten Brötchen, die nicht sehr gut schmeckten, aber das war nicht so wichtig.
Einmal schrie Vater «Scheiße!» und Thomas erschrak.
«Ein Blitzer. Schon der dritte. Das wird teuer.» erklärte er.
Sie fuhren wirklich schnell und sie wechselten kaum Worte. Welch abruptes Ende eines wunderschönen Ausflugs. Thomas merkte, dass er wieder Groll auf seinen Bruder hegte. Immer Simon, Simon, Simon. Warum waren Gefühle so unerträglich? Er verstand sich nicht, in einer Sekunde mochte er seinen Bruder, in der nächsten wieder nicht.
Er versuchte zu schlafen, aber die teilweise heftigen Erschütterungen des Wagens machten das unmöglich. Vater zitterte wie Espenlaub, Thomas fragte sich, warum. Simon. Natürlich. Was er nicht wusste, war dass es die Abwesenheit von Whisky war. So schnell waren sie noch nie gefahren. Ein Wunder, dass sie nicht von der Polizei angehalten wurden.
Es war erst später Nachmittag, als sie in Freising ankamen, in dem Krankenhaus, in dem er vor ein paar Tagen selbst gelegen hatte. Wieder kam ihm Aline in den Sinn. Er hatte die Horrorvision von ihrer sprechenden Leiche, dachte dann doch lieber an die Schule. Thomas musste draußen bleiben. Er bekam ein Comicheftchen von einer Schwester, während Vater in die Intensivstation rannte.

«Er hatte wieder einen Anfall.» sagte Silke und warf sich ihrem Mann in die Arme.
Es war doch noch Gefühl da, dachte er betrübt.
«Ist schon gut, ich bin jetzt da.» sagte er sanft.
Er dachte an Montag, den dicken Fisch würde er nicht sausen lassen, und Streit war deswegen Vorprogrammiert. Aber er sagte ihr das jetzt nicht, das hatte noch einen Tag Zeit. Simon lag reglos an einem Tropf, war an eine Maschine angeschlossen, die laut pumpte. Er kannte sich nicht aus mit solchen Sachen. Ein Arzt kam zu ihnen.
«Sind sie der Vater?» Es war wieder dieser Arzt. Dr. Grün.
«Ja.» sagte Frank.
«Sie sehen schlecht aus. Siel sollten schlafen.» sagte der Arzt kalt.
«Verdammt! Ich bin gerade Sechshundert Kilometer gefahren, nur um mir sagen zu lassen, dass ich schlafen soll? Wie geht es meinem Sohn?» fuhr er den Arzt an.
Der Arzt räusperte sich.
«Äußerst schlecht. Seine Nieren haben versagt. Er muss jetzt hier bleiben. Er hängt an diesem Apparat, der sein Blut reinigt. Dialyse. Er kann nicht weg von hier. Jedenfalls nicht vorerst. Aber seien sie sicher, er bekommt die beste Versorgung, das hier ist ein Universitätskrankenhaus.»
«Stopfen sie mich nicht voll mit Belanglosigkeiten. Wird er überleben?»
«Das kann ich ihnen nicht sagen.»
«Scheiße, sie Wichser, sie sind Arzt! Ich zahle diese Behandlung! Sagen sie mir ob er eine Chance hat.»
Sie sah ihren Mann an. Sie hasste es wenn er fluchte, aber dieses Mal verzieh sie ihm.
Der Arzt wand sich. Offenbar sah es übel aus.
«Wie hoch sind die Chancen? Sagen sie mir von mir aus eine beschissene Zahl!»
«Zwanzig Prozent.» sagte der Arzt matt.
«Na also, geht doch. Entschuldigen sie. Wissen sie was? Sie bekommen das Dreifache wenn sie ihn retten, ja?» sagte er schon viel ruhiger. Der Geschäftsmann kam wieder durch.
«Das liegt nicht in meiner Macht, er hat eine seltene Krankheit...»
«Sie sind Arzt! Heilen sie ihn! Einer ihrer Kollegen hat mir gesagt er kann lange leben!»
«Ich... und meine Kollegen tun unser bestes.» sagte er.
Der Arzt widerte ihn an, er war offenbar nicht gerade den Umgang mit verzweifelten Eltern gewöhnt. Frank seufzte, setzte sich auf einen Hocker.
«Wann hatte er den Anfall?» fragte er Silke.
«Gestern Nacht. So gegen zwei. Das System hat Alarm geschlagen.» sagte sie müde. Sie hatten sich ein sündhaft teures System zur Überwachung geleistet, wenigstens funktionierte es.
«Frank.» sagte Silke und sah ihn an.
«Was ist?» fuhr er sie an, aber es tat ihm sofort leid.
Er war immer noch wütend wegen dem Arzt. Er konnte jetzt endlich einen Drink vertragen. Verdammt, er brauchte ihn. Er zitterte schon die ganze Zeit. Bald würden die Schmerzen einsetzen. Bis jetzt hatte er seine Alkoholsucht erfolgreich verheimlicht. Er wollte nicht, dass es ausgerechnet jetzt aufflog.
«Ich bitte dich um etwas.» sagte sie.
«Können wir das später besprechen? Wir sind nicht alleine.»
Der Doktor stand immer noch etwas angeschlagen neben ihnen. Er zog sich unauffällig zurück.
«Ich bringe sie gerne in den Besprechungsraum.» sagte er übertrieben freundlich.
Er hätte ihm den Mund mit seinem Namensschild stopfen können, dachte er.
Silke nickte dem Arzt zu und er führte sie in einen anderen Raum, der wie ein Konferenzraum eingerichtet war. Nun waren sie alleine. Und er war gereizt, weil er fertig war. Sie war es auch, aber sie war nicht gerade am Versuchten.

«Magst du Comics?» fragte die Schwester Thomas, der gelangweilt mit den Beinen wippte.
«Eher Bücher.» sagte er und sah hoch. Sie sah freundlich aus.
«Jetzt erinnere ich mich an dich. Du warst der Junge, denn alle gesucht haben. Du hattest einen ordentlichen Schock und hast immer einen Namen gerufen. Aline, glaube ich. Ist sie deine Freundin?»
Thomas wurde sauer, aber dann setzte sein Verstand ein.
«Habe ich sonst noch was gesagt?» fragte er.
«Du hast gesagt, dass du nicht der nächste sein willst, aber es war undeutlich. Du warst ziemlich hinüber, hast dich aber erstaunlich schnell erholt.»
Der nächste. Was hatte das zu bedeuten? Aber das hatte sie gesagt. Er erinnerte sich wieder. Wie ein greller Blitz fuhr es in seinen Kopf. Aber er ließ sich jetzt nicht ablenken. Er schmerzte höllisch.
«Noch etwas?» Die Schwester sah ihn erstaunt an.
«Du bist neugierig, wie ich sehe.»
«Darf ich das denn nicht?» es war wieder wie Schiffe versenken.
«Ich weiß nicht, was du noch gesagt hast, der Doktor hat dich auf die Station gebracht.»
Na ja, dachte er. Wenigstens konnte er sich wieder erinnern.
«Danke. Haben sie eine Kopfschmerztablette?»
«Da muss ich erst den Arzt rufen.»
«Dann lassen sie‘s. Geht schon.»
«Wirklich?»
«Ja. Aber haben sie eine Cola? Und vielleicht etwas süßes?»
«Ja, ich bring dir was.» Sie ging um die Sachen zu holen.
Thomas blätterte dann doch wieder in dem Comic. Es war ein Manga. Es war ein seltsamer Comic. Man musste ihn von hinten nach vorne lesen. Und er schien doch nicht so langweilig, wie er dachte. Es kam eine Leiche darin vor.

«Du wirst nicht fliegen!» schrie sie.
«Doch.» sagte er ganz ruhig, obwohl er innerlich bebte.
«Simon wird vielleicht sterben und du hockst in einer Sushi-Bar!»
«Es geht um viel Geld, Silke.» schnaubte er.
Lange würde er sich nicht mehr beherrschen können.
«Es geht dir immer nur ums Geld, Frank.» sagte sie bissig.
«Ja. Es ging von Anfang an ums Geld. Wir sind hier wegen dem Geld, weißt du? Wir alle leiden wegen dem Geld. Du, Ich, Thomas, Simon. Du weißt, dass es auch zum großen Teil deine Entscheidung war, hierher zu kommen, ja? Du fandest diesen Ort so toll.»
«Aber...» sie war unsicher.
«Weißt du das Thomas keine Freunde hat? Hast du seine blauen Flecken gesehen?»
«Du lenkst ab.» entgegnete sie kühl.
«Du willst reden? Also reden wir. Klartext. Ein für alle mal.»
«Thomas klaut. Thomas lügt. Er hat unsere Nachbarn beklaut!» schrie sie.
Auf einmal hatte sie das gleiche Funkeln in den Augen wie Doris und Dieter, oh wie er diese Menschen hasste. Ein lange unterdrücktes Gefühl kam in ihm hoch. Er spürte etwas, das er noch nicht benennen konnte.
«Lass die beschissenen Nachbarn aus dem Spiel. Darum geht es nicht.» sagte er scharf.
Er stand kurz davor ihr eine Ohrfeige zu geben. Sie funkelte ihn an. Er wusste, gleich würde alles auf Konfrontation hinauslaufen. Er war Alkoholiker, aber er hatte sein Hirn noch nicht an die Wand gefahren.
«Die beschissenen Nachbarn, wie du sie nennst, haben von einer Anzeige abgesehen. Es waren dreitausendfünfhundert Mark.» sagte sie.
Frank dachte an Thomas, er war auf dem besten Weg dabei wie er zu werden.
«Sie wollen Geld? Ich gebe ihnen ihr scheiß Geld.»
Frank dachte an Dieter, diesen furchtbar sparsamen Menschen. Eigentlich hatte er es verdient.
«Der Ganze Ort spricht über uns.» sagte sie und war offenbar den Tränen nahe.
«Du willst also toleriert werden? Von beschissenen Hinterwäldlern?»
Er glitt ab ins zynische, er wollte sie treffen. Und das saß. Sie hatte ihre Haltung verändert.
«Wenn du nicht immer so fluchen würdest. Du landest noch in der Hölle.»
Frank konnte es nicht leiden, wenn sie das Thema in einen Streit einbaute.
«Du passt ja gut hierher. Alles nur gläubige, christliche Dorftrottel.» Das Gefühl würde stärker.
«Im Gegensatz zu dir habe ich Gefühle.» sagte sie mit einem verzweifeltem Ton.
«Lüg nicht, Silke. Du willst nicht mal mehr mit mir schlafen. Du kümmerst dich einen Scheiß um Thomas. Mal abgesehen davon, dass du ihm das Essen kochst.» er klang bitter, aber das war es auch.
«Sex? Ist es das worum es dir geht? Dann geh doch in eines von deinen Bordellen!»
Sie hatte doch keine Ahnung, dachte er. Er liebte sie doch! Sie sah es nicht mehr. Er wurde traurig.
«Ich bin dir nie fremd gegangen. Und das ist die Wahrheit. Ich will auch geliebt werden. Aber du verpisst dich ja schon fast jeden Tag in die Kirche, schleppst Simon mit, obwohl du genau weißt, dass es nicht gut für ihn ist.» sagte er, sein unterdrücktes Gefühl wurde stärker.
«Ich werde nicht zulassen, dass er so Gottlos wird wie Thomas. Hast du gesehen, was er schreibt? Hast du gesehen was er liest? Was er sich nachts für Filme aufnimmt? Er liest Stephen King! Er sieht sich so Filme an wie Psycho! Ich habe die Kassette erst letzte Woche entdeckt.»
Ihre Augen zeigten ihm etwas...
«Lass ihn doch.» sagte er so gelassen wie möglich. Es war ihm aber auch wirklich egal.
«Du findest das in Ordnung, wenn unser Kind zu einem Serienkiller heranwächst?»
«Serienkiller kommen meistens aus Religiösen Familien.» erwiderte er. Das entsprach der Wahrheit. Er hatte auch mal eine Phase, in der er sich für das Böse interessierte. Langsam fragte er sich, wie absurd die Situation noch werden konnte. Er war hierher gefahren, wegen Simon, nicht wegen einer Debatte über Serienkiller oder Gott. Und immer noch brauchte er einen Drink. Er schwor sich einen Entzug zu machen. Für einen neuen Anfang.
«Du bist ja so schlau, Frank. Ich weiß, dass du ein Alkoholproblem hast.» Bingo, da war es auch schon. Hatte ja nicht lange auf sich warten lassen, dachte er.
«Und du ein Valiumproblem. Wir sind uns in nichts schuldig, Silke. Nichts.» Er wurde wieder lauter.
Sie schnappte nach Luft. Sie war auf ihre weise Drogenabhängig, dachte er. Aber Sucht ist Sucht.
«Silke, du weißt, warum ich trinke, ich habe einen guten Freund verloren.»
«Das ist kein Grund!» schrie sie und wanderte unruhig um den großen Tisch.
Sie kannte nicht die Welt, die er gesehen hatte. Sie hatte keine Ahnung.
«Frank, ich bitte dich doch nur für Simon da zu sein, und für mich.»
Sie schien hin und her gerissen.
«Stehe ich nicht hier?» sagte er kalt.
«Du weißt genau, was ich meine!» fuhr sie ihn an und kam wieder um den Tisch herum. Sie sieht toll aus, wenn sie sauer ist, dachte er und konnte das Grinsen nicht unterdrücken.
«Und jetzt bist du auch noch gut drauf, du bist...» sie fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar.
«Was?» sagte er. Dabei war er doch gar nicht gut drauf.
«Widerlich!» schrie sie.
So hatte sie ihn noch nie genannt, eigentlich hatte ihr der Sex doch gefallen, dachte er, aber Frauen, sie würden immer ein Mysterium bleiben.
«Dann sag mir doch warum du immer noch da bist.» sagte er, bewusst um sie in Rage zu bringen.
«Weil ich noch etwas Hoffnung in dich hatte. Aber ich habe mich getäuscht.»
Frank verstand nicht ganz. Gut, er hatte den einen oder anderen Fehler, er nahm das Gesetz nicht ganz ernst, aber zum Teufel, er liebte seine Familie! Das war ihm immer heilig gewesen. Doch nicht mal das sah sie mehr, er wurde traurig, dachte an die Fehler, die er gemacht hatte. Vielleicht hatte er noch nicht genug gelitten deswegen, vielleicht war das nun die Quittung.
«Ich habe immer versucht, aus dir einen besseren Menschen zu machen, Frank.»
«Und das hast du geschafft, Silke. Ich bin ein besserer Mensch geworden.»
Er hoffte, es sei vorbei. Er sah sie an, so als würde er einen Stein erweichen wollen.
«Du bist nie mit mir in der Kirche, du bist immer nur weg oder kümmerst dich um dein Geld.»
«Nicht schon wieder!» sagte er und verdrehte die Augen.
«Ja, schon wieder. Ich weiß, was du machst. Du hintergehst alle, du lügst genauso wie Thomas, nur dass du das im großen Stil machst. Ich bin nicht blöd, ich habe Dieter deine Papiere gezeigt. Du tust nur so als wärst du ein besserer Mensch, Frank. Aber du bist ein Krimineller.»
«Du hast was?» jetzt schrie er. Sie konnte doch nicht diesem Wichser...
«Du hast sehr viel Geld, Frank. Du hast so viel, du müßtest nicht nach Amerika fliegen.»
«Es geht um meine Reputation!» schrie er, seine Stimme überschlug sich.
Das stimmte, wenn der Deal platzte, konnte er seine Karriere vergessen. Jetzt fuchtelte er mit den Händen herum, das könnte böse ins Auge gehen, dachte er. Wie viele Jahre gab es für Steuerhinterziehung? Scheiße, dieser Bastard ist ein Anwalt. Er hatte eben nie wirklich was von ehrlicher Arbeit gehalten. Nur die Familie war ihm heilig, sie und seine Freunde. Er verfluchte die Erziehung, die sie bekommen hatte. Scheiße. In drei oder vier Jahren hätte er sich zur Ruhe gesetzt.
«Willst du uns alle ins Verderben stürzen?» fragte er sie, ganz ruhig. Er war nicht einer, den man so leicht fertig machen konnte, nicht er!
«Ich wollte glücklich sein, mit dir und den Kindern. Aber du hast es zerstört, unser Glück. Du ganz allein. Sieh dich nur an!»
Er sah Schuldbewußt an sich herunter. Doch er fand keinen Grund, warum man sich wegen ein paar Steuern gleich in die Hose machen musste. Thomas tat ihm leid, er war wirklich ein mieses Vorbild.
«Du bist ein schlechtes Vorbild für deine Kinder, Frank. Kein Wunder, dass Thomas verdorben ist. Aber Simon wirst du nicht verderben.» sagte sie und hörte sich an wie eine Schlange.
Frank dachte daran, was sie mit ihm machen würde, Thomas würde sich immer wehren, er war sein Sohn, er hatte noch gut in Erinnerung wie er sich gegen die Kirche aufgelehnt hatte. Das war vielleicht eine Szene gewesen. Und auch ein freier Geist hat doch etwas Gutes.
«Ich werde mich scheiden lassen, Frank. Und die Kinder bekomme ich.»
Jetzt sah er es. Sie war nicht mehr seine Frau. Sie hatte sich in etwas anderes verwandelt. Es stand ihr bis zum Rand in den Augen.
«Nein!» Schrie er und schlug mit der Faust auf den Tisch, hinterließ eine Delle.
«Oh doch. Frank. Du kannst mich nicht aufhalten. Dieter ist Anwalt. Und er mag mich. Er wird mir helfen.» Frank verfluchte diesen Ort. Er verfluchte diese Dorftrottel.
«Du und deine besessenen Nachbarn. Immer die tollen Nachbarn.»
Jetzt war es ihm egal. Er griff in sein Jackett und holte den Flachmann raus. Er schraubte das Ding vor ihr auf. Ganz langsam, um es ihr zu zeigen. Er setzte es an und sie schlug ihm das Ding aus dem Gesicht. Der Whisky versickerte in dem Teppich. Das war zu viel. Er gab ihr mit der flachen Hand eine Ohrfeige, die nur so schallte. Es war das erste mal, dass er sie schlug. Sie kippte fast um, fing sich aber noch.
«Ich zeige dich an, du... du...!»
«Ja.» sagte er.
«Mach das.» er wollte es drauf anlegen.
Sie war nicht mehr die Frau, in die er sich verliebt hatte.
«Ich... mache dich fertig. Du wirst Thomas verlieren, du wirst all dein geliebtes Geld verlieren. Mich hast du gerade verloren. Ich mache dich fertig.» Es ließ ihn kalt.
«Ja. Aber ich habe dich soeben aus meinem Haus geworfen. Du kannst ja mit Dieter schlafen.»
Er dachte an den fetten Sack, und wie sie sich auf ihm bewegte. Das war widerlich.
«Das wagst du nicht.» zischte sie.
«Du kennst mich nicht, Silke. Du weißt nicht, wer ich bin. Ich nehme Thomas mit nach Amerika. Gleich am Montag. Er ist mein Sohn.»
Sein Gefühl war wieder da. Er war entschlossen.
«Das werden wir ja sehen.» sagte sie und wischte sich Blut von der Lippe.
Ihre Augen waren nun endgültig anders.


Kapitel neun
Sehnsucht


Thomas saß immer noch auf der Bank, als Vater endlich kam. Er sah sehr wütend aus. Sein Blick hatte sich verändert. Thomas spürte eine tiefe Verbundenheit zwischen ihnen, als sich die Blicke trafen.
«Thomas, wir fahren.» Entschlossenheit drang aus seiner Stimme.
Thomas war so klug um nichts zu sagen. Er ging einfach mit, den Comic nahm er auch einfach mit. Sie stiegen in den BMW und Vater rauschte los. Er hielt an der nächsten Tankstelle, sprang rein, kam wieder raus und setzte sich wieder ans Steuer. Er nahm einen Schluck aus einer großen Whiskyflasche.
«Mein Sohn, ich habe dir lange etwas verheimlicht. Ich bin Alkoholiker. Deine Mutter will sich von mir scheiden lassen. Sie will dich zu sich nehmen. Du musst dich entscheiden.»
Dann sagte er nichts mehr. Thomas war vor den Kopf gestoßen. Er nahm das alles nicht wahr. Hatte Vater gesagt er habe ein Problem? Scheidung? Plötzlich war alles nur noch gedämpft. Er merkte nicht, dass sie nach Hause fuhren. Plötzlich waren sie da. Er stieg aus, hielt Thomas auch die Türe auf. Er stieg aus, wie in Trance ging er ins Haus. Vater fluchte wie ein Wahnsinniger über Mutter. Das hatte er noch nie erlebt. Er kannte seinen Vater plötzlich nicht mehr. Aber er hatte auch keine Angst vor ihm. Er fühlte, dass er das nicht haben musste. Ihn hatte er immer mit Samthandschuhen angefasst, selbst als er die Hundert Mark aus seinem Portemonnaie geklaut hatte. Aber jetzt tobte er. Er schlug in der Küche allerhand zu Bruch. Es schepperte ständig. Dazwischen gab es manchmal eine Pause, dann war es kurz Still, gefolgt von einem wüsten Fluch und noch mehr Krach. Thomas legte den Rucksack ab, sah hinein, da waren nur sein Kapuzenpulli, die zwei CDs, der Comic und sein Player. In seiner Tasche hatte er noch das Fläschen und das Pentakel von Tanja, die so nett gewesen war. Und das Amulett. Thomas nahm das Pentakel und spürte eine seltsame Energie. Er vertraute Tanja. Er spürte, dass sie die Wahrheit gesprochen hatte. Er sah es sich an. Ein seltsames Zeichen war eingraviert. Irgendwo hatte er es schon mal gesehen. Es war ein fünfzackiger Stern, der, wenn man es um den Hals trug nach unten zeigte. Er steckte es ein, ehe es jemand entdecken konnte. Er stellte den Rucksack an die Treppe und ging nach oben. Es war ungewohnt, Simon nicht quengeln zu hören. Er ging in sein Zimmer, nahm das Kopfkissen hoch, sein Buch war weg. Schade, er hätte gerne erfahren ob Carrie es geschafft hatte sich ihre Rache zu verschaffen. Mutter war da gewesen. Das war offensichtlich. Vater würde ihm die Bücher nicht wegnehmen. Es war auch sie gewesen, die den Fetzen seines Tagebuchs zur Psychologin gebracht hatte. Wieso traute sie ihm nicht? Wegen dem bisschen Geld, dass er gestohlen hatte? Wegen den Automaten oder der Tatsache, dass er die Kirche nicht mochte? Wahrscheinlich alles.
Ein beklemmendes Gefühl überkam ihn. Etwas stimmte so ganz und gar nicht. Er spürte eine Welle auf sich zukommen, die er nicht aufhalten konnte. Aber er konnte sie überstehen. Wieder kam ihn Tanja in den Sinn, das was sie gesagt hatte.
Vater tat ihm leid. Er musste jetzt auch stark sein. Er würde gerne seinen Vater trösten, aber der war nur noch am Schreien. Er spürte etwas.

Der König sah, dass der Schamane keinen Erfolg hatte und drohte ihm den Tod an. Ab sofort arbeitete er noch eifriger. Seine Untertanen hatten alle Hunger, sie ernteten nichts als Asche. Sie beschwerten sich. Und als der König jeden hinrichten ließ, der sich beschwerte, hörten sie auf. Der König war fast am Ende. Der ersehnte Blitz kam nicht und die Sonne auch nicht. Wo war sie geblieben?

Christina.
Was war aus ihr geworden? Thomas spürte ein warmes Gefühl im Bauch, wenn er an sie dachte. Eigentlich sah sie wirklich süß aus. Er hatte Angst vor der Schule, wollte sie aber auch wiedersehen. Er würde mutig sein. Mit dem Schutz von seiner Freundin Tanja würde ihm nichts passieren. Christina hatte ihn so unendlich traurig angesehen. Er wusste, dass sie ihn mochte, weil er anders war. Sie war es doch auch. Sie war immer leise und sanft. Sie war ein Jahr älter als er. Aber was machte das schon, wenn selbst die Angestellten eines Hotels ihm den Sechzehnjährigen abnahmen? Er lag auf dem Bett und träumte von ihr. Sie war wirklich süß. Und wurde es immer mehr. Er wurde durch einen wüsten Fluch seines Vaters unterbrochen. Dann herrschte Stille. Hatte er aufgehört?
Thomas stand auf und lauschte. Keine Schreie mehr, keine lauten Geräusche. Langsam ging er die Treppe runter, Schritt für Schritt. Dann sah er Vater, er saß am Ende der Treppe, das Gesicht in die Hände gestützt. Er weinte. Thomas hatte immer gewusst, dass sein Vater auch große Gefühle hatte. Und Wutausbrüche wie Flüche gehörten dazu. Er verzieh ihm. Sanft legte er ihm die Hand auf die starke Schulter.
«Papa...»
Ein Schluchzen durchfuhr den ganzen Körper.
«Ich bin ein Versager.» sagte Vater.
«Ich bin dein Sohn, Papa, ich liebe dich. Auch wenn du Fehler hast.»
Er sah hoch, Tränen standen ihm in den Augen. Dann nahm er Thomas und drückte ihn fest an sich. «Ich liebe dich auch, wirklich. Ich mache einen Entzug, und dann wird alles wieder okay, ja?»
Thomas spürte die Wärme, die von der Umarmung ausging. So saßen sie beide in dem dunklen Flur und weinten. Es tat diesmal aber gut.


Kapitel zehn
Glaube


Thomas wusste nicht, wie lange sie da gesessen und zusammen geweint haben, aber der innige Moment wurde jäh durch die Türklingel gestört. Sie sahen hoch. Mehrere Gestalten drängten sich vor der Tür. «Aufmachen, Polizei!» Vater fuhr abrupt hoch.
«Scheiße, Silke.» sagte Vater leise.
«Machen sie die Tür auf!» schrie einer. Die Stimme klang bestimmt.
Vater ging zur Tür, sah einmal zu Thomas zurück, der noch auf der Treppe saß. Dann öffnete er die Tür. Gleich vier Polizisten standen da und sahen böse drein.
«Sie sind verhaftet.» sagte einer.
Dann drehte er Vater um und legte ihm Handschellen an.
«Sie werden beschuldigt, ihre Frau und ihr Kind geschlagen zu haben.» sagte er kalt.
«Was?» schrie Vater.
«Ich schlage meine Kinder nicht!»
Die Polizei kam in das Haus. Das Licht ging an und Thomas sah das Ausmaß der Zerstörung. Fast alles an Möbel war zerstört. Ein Polizist kam zu Thomas und zog ihm das T-Shirt hoch. Sie sahen alle die blauen Flecken, die ihm Stefan, Michael und Peter verpasst haben.
«Da haben sie den Beweis. Sehen sie?» sagte der eine Polizist. Es war der dicke aus dem Krankenhaus.
«Das war ich nicht!» Schrie Vater.
«Das war nicht mein Vater.» sagte Thomas leise zu dem Polizisten.
Dann sah Thomas seine Mutter. Etwas in ihren Augen hatte sich verändert. Sie glühten förmlich. Und es sah so aus... Sie hatte eine blutige Lippe.
«Kinder sind bei familiären Gewaltdelikten immer eingeschüchtert.» sagte der fette Polizist.
«Sie geben es nie zu, geschlagen zu werden. Sie bekommen ihre Kinder vorerst nicht mehr. Hier haben wir den Richterlichen Beschluss.» Der Polizist zeigte Vater einen Zettel, der sehr amtlich aussah.
«Das ist eine Lüge! Sie stecken alle unter einer Decke!»
Er schrie und wollte sich wehren, aber ein Polizist schlug ihm mit dem Knüppel. Vater stöhnte, Blut lief an seinem Kopf herab.
«Papa!» Tränen stiegen Thomas in die Augen. Er wusste nicht, was hier geschah.
«Führt ihn ab.» sagte der fette Polizist.
Thomas hasste ihn. Er nahm ihm seinen Vater weg. Er hatte ihn nie geschlagen! Aber niemand hier glaubte ihm! Was war hier los? Thomas dachte an Tanjas Worte. Die Karten haben nicht gelogen. Tanja. Ihr Geschenk! Jetzt durfte er es nicht verlieren.
Vater! Ich werde wieder zu dir kommen! Ich schwöre es! Er schrie einen stummen Schrei. Dann kam Mutter mit ihren neuen Funkelaugen.
«Hallo Thomas.» sagte sie Honigsüß.
«Wir werden zu den Nachbarn gehen. Du kennst sie ja. Wir sind in Sicherheit.»
Thomas aber wollte nicht zu den Nachbarn. Die waren komisch.
«Ich will nicht!» schrie er so laut er konnte.
Dann kam der fette Polizist auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: «Du bist Minderjährig. Deine Mutter hat das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Du wirst mit ihr gehen.»
Diese Worte trafen ihn noch schlimmer als der Anblick von Alines verwester Leiche. Sie zerstörten etwas in ihm. Wie ein Verbrecher wurde er aus dem Haus geführt. Mutter nahm ihn draußen an der Hand. Er spürte die Kälte, die von ihr ausging. Das war aber noch lange nicht alles. Er fühlte auch etwas anderes, Namenloses. Thomas sah Vater in dem Lieferwagen sitzen. Er sah die Tränen, sie glitzerten im Licht der Straßenlaterne. Sie waren doch verbunden. Sie sahen sich so lange an wie es ging. Es würde etwas passieren. Vater würde zurückkommen und ihn von hier wegbringen. Thomas spürte das und war zuversichtlich. Alles würde sich klären. Thomas würde jedem die Wahrheit sagen. Warum trennte man sie? dachte er, warum musste er gehen?
Der fette Polizist nahm noch etwas auf, Thomas wusste, er war der Chef von denen. Dann fuhren sie los. Vater war weg. Sie würden ihn für etwas einsperren, was er nicht getan hatte. Thomas konnte die Tränen nicht halten. Sie kullerten ihn unaufhörlich die Wangen herunter. Er sah den schönen Strand vor seinem Auge, er dachte ans fliegen. All das hatte Vater nur für ihn gemacht. Er spürte den Wind, fühlte den Sand in den Schuhen, schmeckte die frische Seeluft. Dann standen sie bei den Nachbarn und wurden mit einem herzlichen «Grüß Gott.» empfangen.

Er war schon häufiger hier gewesen. Es war ein Haus, das nach Weihrauch stank. Immer. Thomas mochte die Nachbarn nicht, es waren seltsame Menschen. Ohne Zweifel gab es einen Gott, aber die Christen legten das ganze irgendwie falsch aus. Schon als Sechsjähriger hatte er oft Streit mit Mutter gehabt, weil er sich weigerte, mit in die Kirche zu gehen. Er spürte eine höhere Macht, aber es war nicht der Gott, den der Pfarrer zu erklären versuchte. Er glaubte Tanja mehr als jedem Pfarrer. Sie sprach vernünftig und hatte wissende, warme Augen. Hier, in diesem Haus war die Präsenz des Glaubens unübersehbar. Überall waren Marienbildchen, Kruzifixe, Weihwasserspender. Es war ja praktisch eine Kirche, aber eben nur privat. Dieter war ein Glatzköpfiger Mann mit einem fetten Bauch. Doris, seine Frau war etwas klein, ja zierlich. Sie sah irgendwo niedlich aus, war es aber nicht. Sie hatte dieselben Funkelaugen wie Mutter auch neuerdings. Die beiden kleinen Kinder mochte er auch nicht. Sie waren laut und nervig. Und ihre Ersten Worte waren Papa, Mama, Gott, worauf die beiden Stolz waren und es überall erzählten. Thomas‘ erstes Wort war Auto gewesen. Er fühlte eine seltsame Aura in diesem Haus, so fremdartig. Papa fehlte. Er war immer die ausgleichende Instanz gewesen. Er war der, der fluchte. Er hatte Gefühle. Mutter fluchte nie. Sie hielt es für schlimm. Thomas wurde an den Esstisch gesetzt. Sie setzten sich alle zu ihm. Mutter und die Schreckschrauben. Die Kinder schliefen schon.
«Thomas.» begann Mutter.
Er hätte jetzt auch gerne was von dem Feuerwasser und er würde auch kein Bier danach brauchen.
«Du hast gesündigt. Du hast gelogen und gestohlen. Das sind Todsünden. Du weißt das, mein Sohn.»
«Wie?» sagte er.
Er wollte lieber in auf dem Pausenhof geschlagen werden als sich diese Scheiße anzuhören. Er hörte sich schon an wie Vater, dachte er. Aber Vater war eben wie er. Verbunden.
«Du hast Dieter und Doris bestohlen. Aber sie vergeben dir. Sie nehmen uns auf.» sagte sie.
Scheiße, es ihnen aufgefallen, er machte sich gefasst auf die dreißig Ohrfeigen.
Die beiden Schreckschrauben nickten zustimmend.
Sie haben es herausgefunden, aber sein Versteck kannten sie nicht gefunden.
Dieter drehte sich um und griff nach etwas. Er holte Thomas‘ Kiste hervor. Sie hatten sie sogar von dem Dreck gesäubert. Er machte sie auf und Thomas konnte seine verlorenen Schätze sehen. Das war sein Fluchtgeld! Er wollte damit nach sonstwo abhauen.
«Verdammte Scheiße!» entfuhr es Thomas und er bekam eine schmerzhafte Ohrfeige von Mutter.
«Schweig! Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nicht fluchen? In diesem Haus wird nicht geflucht!»
Ihre Funkelaugen hatten etwas Fremdes. Er hatte es schon mal irgendwo gesehen. In irgendeinem Film, den er sich verbotenerweise angesehen hatte. Welcher war es nur...
«Thomas. Wir werden dich so erziehen wie Gott es will.» sagte sie. Es klang hohl.
Sie ist verrückt geworden, dachte er, die Schreckschrauben waren es schon. Alle verloren. Er versuchte sich fieberhaft an den Film zu erinnern. Shining war es nicht. Psycho auch nicht. Aber es war ein Horrorfilm mit einem Serienkiller. Er dachte an all die Leichen, die er im Fernsehen gesehen hatte. Er wollte nicht so werden wie Mutter. Er war ein Einzelgänger, kein Mitläufer.
«Mein Sohn, wir werden jetzt beten.» sagte Mutter und hörte sich überzeugt an.
Sie gaben sich die Hände, die Situation gewann etwas Irreales.
Es war kein Horrorfilm gewesen. Es war im Fernsehen gekommen, eine Dokumentation. Sie haben Menschen gezeigt.
Die Schreckschrauben fielen in ein Gemurmel ein, Mutter auch. Sie zwangen Thomas ihnen die Hände zu geben.
Es war wegen der Bombenanschläge auf die World Trade Center... Sie haben Männer gezeigt, mit Maschinengewehren. Mutter hatte danach die Sendung ausgemacht und ihn auf sein Zimmer geschickt. Sie haben ein Wort benutzt... ein Wort... welches Wort...
Sie murmelten, es klang ganz anders als in der Kirche, sonderbar. Sie sprachen auch nicht den üblichen Mist, sondern sie sprachen auf einmal von Dämonen, die man verbannen müsse.
Er konnte sich noch genau daran erinnern. Es waren...
Fanatiker! Der Sprecher hatte sie Fanatiker genannt. Oh scheiße, Gott, wenn du mich nur etwas magst dann hilf mir, dachte er. Er sah plötzlich Tanja und ihre schönen Augen vor sich. Sie lächelte ihn an. Dann passierte etwas. Das Gemurmel brach ab und sein Pentakel wurde heiß. Nicht nur warm, es verbrannte ihn. Er fing an zu schreien. Es tat furchtbar weh, aber es war ein Schmerz, den er noch nie gespürt hatte, es war nicht körperlich. Thomas hielt immer noch die Hände von Mutter und Doris. Er sah, dass sie es auch spürten. Ihre Gesichter verzerrten sich vor Schmerz zu bizarren Grimassen. Für eine Sekunde sahen sie selbst aus wie Dämonen, dachte er, obwohl er schrie. Dann hörte es so schnell auf wie es gekommen war. Der Schmerz erstarb und Thomas‘ Hände wurden losgelassen. Auf einmal wurde er ganz schwach. Den anderen ging es nicht viel besser. Dieter, der auf dem Stuhl saß stand auf, verdrehte die Augen und fiel einfach um, es klatschte, als seine Glatze auf den Fliesen aufkam.
«Was ist passiert?» fragte Mutter mit gebrochener Stimme.
Ihre Überzeugung war der Angst gewichen, der Angst vor dem Wissen, dass sie sich in etwas getäuscht hatte. Thomas fing sich, spürte wieder etwas mehr Leben in sich. Doris war kreidebleich. Sie war förmlich erstarrt. Niemand sagte mehr etwas. Die Stille war unerträglich. Thomas rief sich alle von Vaters Flüchen ins Gedächtnis und es half. Er spürte Hass in sich, er dachte an seine Peiniger, an Aline, an Gottlieb, an alle. Das bekannte Feuer brannte wieder in ihm. Es war angenehm. Thomas stand auf. Er war jetzt sicher, Sie würden ihm nichts tun.
«Was dagegen, wenn ich mir eine Cola nehme?» fragte Thomas.
Als niemand antwortete machte er den Kühlschrank einfach auf. Natürlich war keine Cola da, so nahm er sich das Päckchen Milch und trank daraus.
Er hatte die Milch fast leer, da kam auch in Doris und Mutter wieder Leben. Doris sprang auf und ging zu Dieter. Sie fühlte seinen Puls, er war nicht tot. Er hatte nur etwas von Tanjas Magie abbekommen. Danke, Tanja, dachte Thomas und grinste bösartig. Das entging Doris nicht und in ihre Funkelaugen mischte sich auch noch etwas anderes, bekanntes.
Angst. Sie hatte auch Angst, und Thomas labte sich daran.
«Ich gehöre nicht zu eurem scheiß Glauben, okay? Ich lasse euch euren, ihr mir meinen.» sagte er und trank die Milch leer, das Päckchen landete einfach auf dem Boden. Thomas war noch nie so selbstsicher gewesen, einem Erwachsenen die Meinung zu sagen. Es fühlte sich großartig an.
Mutter sah nicht viel besser aus als Doris, auch sie hatte Angst. Mutter kam auf ihn zu und Thomas fauchte sie an: «Fass mich nicht an. Du hast Vater einsperren lassen, obwohl er mich nie geschlagen hat. Ich hasse dich!»
Mutter erstarrte und Dieter kam wieder zu sich. Er stöhnte, seltsam. Ihn hat es am stärksten getroffen.
«Ich habe den Teufel gesehen. Den Leibhaftigen. Luzifer. Satan.»
Er fing an, sich zu schütteln, weißer Schaum kam aus seinem Mund. Thomas starrte den Mann an und war einfach nur erstaunt. Nach einer Minute beruhigte sich Dieter wieder und blieb einfach liegen. Es sah wirklich lustig aus, wenn ein Mann mit über hundert Kilo Kampfgewicht hechelnd am Boden lag. Thomas verkneifte sich das Lachen.
Doris sagte etwas, ganz leise, während sie Thomas ansah.
«Dein Sohn ist besessen, Silke.»
Dann Eskalierte die Situation. Mutter schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Thomas war das gewöhnt, also fiel er nicht gleich um. Er spürte Blut aus seiner Nase laufen. Doris stand auf und ihre Funkelaugen waren wütend, richtig Wütend. Sie packte Thomas, der sich heftig wehrte, er wunderte sich noch was für eine Kraft diese kleine Frau hatte. Sie zerrte ihn aus der Küche. Mutter kam nach. Sie versperrte den Weg zurück. Er wurde in das hintere Haus geschleppt. Er sah das Treppengeländer, Doris zerrte ihn die Treppe hoch. Stufe für Stufe erklommen sie die Treppe. Thomas schlug wild mit seinen Füßen aus und trat Mutter ins Gesicht, so dass sie zurück fiel. Aus den Augenwinkeln sah er sie bluten.
«Scheiße, ihr Wichser! Was habt ihr gottverdammten Hurensöhne mit mir vor? Scheiße! Ich will eine Antwort! Fickt euch ihr Bastarde! Ihre elenden Schweinehunde! Ihr verfickten Schwanzlutscher! Antwortet! Ich bring euch alle um, ihr Scheiße fressenden Arschficker!» schrie er so laut er konnte, aber alle von Papas Flüchen brachten nichts, sie kamen oben an. Doris entwickelte eine Bärenkraft, sie stieß eine Tür auf und warf Thomas in ein Dunkles Zimmer. Dann warf sie die Tür zu und der Kampf war vorbei.

«Ich habe etwas gesehen, es war so fremd.»
«Nicht nur du, was könnte es sein?»
«Ich weiß es nicht.»
«Das ist mir in all den Jahren nicht einmal passiert.» sagte er und wischte sich mit einem Taschentuch über den Mund. Er betrachtete den weißen Schaum, der darin klebte.
«Mein Gott, es sind die Dämonen. Wahrhaftig.» sagte Doris und schlug die Hände über dem Gesicht zusammen.
«Es war böse, ich habe gedacht, er ist es. Ich habe einen Schock bekommen, alles war so böse und ich habe eine Fratze gesehen, mein Gott.»
Sie saßen am Küchentisch und waren wieder unter sich.
«Das kann nicht sein, Dieter, der Teufel kann dir hier nicht erscheinen, es ist unser Haus, Pfarrer Erhardt hat es für uns gesegnet, für diesen Zweck. Es ist richtig, was wir tun.»
«Ich weiß, Liebste. Aber es war das erste mal, ich traue mich nicht mal ihn anzufassen.»
«Es ist deine Arbeit, Dieter. Du bist dafür Auserwählt.»
«Ja... aber der Junge ist was anderes. Ich bin dafür dass Erhardt sich um ihn kümmert.»
«Darüber wird er nicht erfreut sein.»
«Glaubst du das weiß ich nicht?» fauchte er, während er sich mit einem anderen Tuch den Schweiß abwischte.
«Und was, wenn der Junge wirklich besessen ist?» fuhr er fort.
«Davon müssen wir ausgehen.» sagte Doris.
«Was wollt ihr machen?» fragte Silke.
«Die übliche Prozedur. Wir werden ihm helfen.» sagte sie
«Wisst ihr, was ihr tut?»
Doris sah sie mit ihren Funkelaugen an.
«Wir machen das schon lange, Silke. Wir wissen genau, was wir tun.»
Silke sah sie an, sie vertraute ihr ja, wieso sollte es sich geändert haben? Sie wischte sich das Blut aus der Nase weg, es hatte immer noch nicht aufgehört.
«Gut, ich vertraue euch.» sagte sie und sie fielen in ein seltsames Gemurmel ein.


Kapitel elf
Stille


Thomas war hart gelandet. Er sah nichts. Es war still. Was war das für ein Raum? Er stand auf und tastete sich langsam in die Richtung vor, in der er die Tür vermutete. Er suchte einen Lichtschalter, irgendwas. Er fand die Tür, sie fühlte sich kalt an. Er tastete nach dem Griff, fand aber nur einen Knauf, der sich nicht drehen ließ.
«Scheiße.» fluchte er.
Es tat gut, seine eigene Stimme zu hören. Er tastete nach einem Schalter und fand ihn. Nervös betätigte er ihn und das Licht ging an. Wenigstens etwas. Er drehte sich. Das hier war eine Art Abstellkammer. Keine Fenster. Eine Pritsche aus Holz stand da und ein Krug mit Wasser. Daneben ein Eimer. Sonst nichts. Der Raum war nicht größer als vier Quadratmeter. Das Licht kam von einer einzigen blanken Glühbirne. Er sah den Eimer an und den Krug. Er bückte sich und roch an dem Wasser. Es roch mal nicht verdächtig. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. Sie hatten ihn erwartet. Er war ein Teil eines Spiels. Wieso hätten sie sonst einen Eimer und einen Krug hingestellt? Es war kalt hier und Thomas trug immer noch das gleiche, mittlerweile dreckige T-Shirt. Er sah an sich herab und sah Blut. Er fasste sich an die Nase und sie knackte. Wahrscheinlich gebrochen. Er überprüfte seine Sachen. Er hatte ein Feuerzeug, das er Vater gestohlen hatte, das Amulett und das Pentakel. Es schien, als wären nun alle gegen ihn. Er bereute den Tag, an dem er sich dazu überreden hatte lassen nach Bayern zu ziehen. Das hier war die Hölle. Alle waren verdreht, verrückt, sonst was.
«Nicht verzweifeln, Thomas.» sagte er sich und fing an den Raum nach Schwachstellen abzusuchen. Er hatte oft MacGyver gesehen, der machte das auch so. Der konnte selbst aus einer Stecknadel eine Bombe bauen. Er wünschte sich jetzt irgendwas Ähnliches.
Thomas erschauderte, als er an der Wand Kratzspuren entdeckte. Ihm fiel der Blitz in seinem Kopf ein.
Du bist der nächste.
Aber als er die Kratzspuren betrachtete spürte, nein er wusste dass er auch nicht der erste in diesem Raum war. Es waren fünf Finger gewesen. Eine Kinderhand. Überall waren braune Spuren, Tröpfchen und Schlieren. Er sah auch einen Namen, eingeritzt in den Rand der Pritsche. Sarah. Er suchte weiter. Nach etwa zehn Minuten gab er die Suche auf. Die Tür war aus Stahl und ließ sich nicht öffnen. Sie war von außen scheinbar verschlossen, er hatte aber keinen Schlüssel gehört. Der Raum hatte nicht mal einen Riss in der Wand. Dann fiel ihm etwas anderes ein. Er klopfte die Wände langsam ab, vielleicht hörte sich etwas hohl an. Er fing unten links an, arbeitete sich an der Wand entlang, ging höher, wieder von links nach rechts, wieder höher. Als er so hoch kam wie nur möglich und nichts fand, setzte er die Prozedur an der zweiten Wand fort. Dann an der dritten und dann an der mit der Tür. Nichts. Jetzt war er verzweifelt. Er ließ sich auf die Pritsche fallen und dachte an Aline.
Er war jetzt genauso allein wie sie.


Frank wurde eine Treppe herunter gestoßen. Er hatte immer noch die Handschellen an und konnte seinen Sturz nicht abfangen. Er blieb unten liegen und winselte wie ein getretener Hund. Der Bulle, der ihn verhaftet hatte gab ihm einen Tritt in den Magen, dieser widerliche fette Kerl. Er war in einem Keller. Er sah Sterne. Alles tat weh. Er konnte sich nicht wehren, auch wenn er zehn Jahre Karate hinter sich hatte. Die Wichser hatten alle Knarren. Er wurde an den Haaren gezogen und durch einen grauen Flur geschleift. Frank war zu schwach zum Schreien. Er dachte nur noch an Thomas. Das gab ihm irgendwie Kraft. Er musste überleben, um ihn aus den Fängen seiner wahnsinnigen Ehefrau zu befreien. Der ganze Gotteskram hatte ihren Kopf verdreht. Den nächsten Tritt spürte er nicht mehr so wirklich. Seine Kopfhaut tat ihm aber höllisch weh. Der Wichser musste ihm ganze Haarbüschel ausgerissen haben. Alles war nur noch Schmerz. Er hörte ein Metallisches Quietschen, er wurde wieder an den Haaren gezogen, in eine Zelle. Dann wieder das Quietschen, ein Klicken. Dann Stille. Er hatte die Augen geschlossen, er versuchte, den Schmerz auszuhalten, den Entzug, der im kommen war. Er versuchte sich an seine Armeezeiten zu erinnern. Damals in Wien. Er war bei den Landjägern gewesen, die härteste Truppe überhaupt. Diese Soldaten wurden Tagelang ohne Nahrung durch die Pampa gejagt, mit nichts als einem Kampfmesser in der Hand. Er erinnerte sich, eine Henne gejagt zu haben, sie war ihm ständig entwischt. Als er sie dann bekommen hatte war die erste Handlung, dem Vieh den Kopf abzutrennen und das Blut zu trinken. Er war halb wahnsinnig vor Durst gewesen. Aber er hatte die neun Tage überlebt, wegen der Henne. Er hatte das rohe Fleisch gefressen. Wie ein wildes Tier. So etwas vergisst man nicht. Allerdings haben ihn die Jahre in der Firma verweichlicht. Er war nicht mehr der Kämpfer, nur noch ein Abklatsch davon. Er machte die Augen auf, Licht blendete ihn. Er schloss sie wieder. Er konnte immer noch gut Schmerzen einstecken, so leicht würde er nicht sterben.
Er dachte an Silke. Was war nur aus ihr geworden? Sie hatte ihm alles genommen, was ihm heilig war. Seine Familie. Er hätte nie gedacht, dass sie dazu fähig sei. Er hätte nie gedacht, dass sie es überhaupt in Betracht ziehen würde.
Frank spürte nichts mehr außer brennendem Hass. Das alleine reichte zum überleben. Lange hatte er nichts mehr dergleichen gespürt. Er hatte gedacht das Feuer wäre erloschen. Er selbst war von seinem Vater täglich verprügelt worden, deswegen würde er Thomas so etwas nie antun! Er wollte alles anders machen! Welch eine Ironie ausgerechnet wegen diesem Verbrechen in einer nach Pisse stinkenden Zelle zu landen! Scheiße! Mit zehn Jahren hatte er angefangen, Karate zu lernen, mit dreizehn hatte sein Vater dann Angst vor ihm gehabt. Mit vierzehn war er in ein Heim gezogen und hatte mit seinem Bruder gemacht, was er wollte. Verflucht! Er würde alle töten. Anfangen würde er mit dem Bullen, der ihn getreten hatte. Dann würde er alle erschießen. Er hatte es nur Silke erzählt, aber er hatte schon mal jemanden getötet. Ein anderer Soldat, der wegen des harten Trainings die Nerven verloren hatte. Es war sein bester Freund gewesen, doch er hatte mit seinem Gewehr auf ihn geschossen. Er hatte ihn im Bein getroffen, Frank ihn in der Brust. Er war vor seinen Augen verblutet. Hätte er ihn nicht erschossen wären sie jetzt beide tot. Man hatte sie einen Tag später gefunden. Sie hatten ihm geglaubt und ihn sozusagen ehrenhaft entlassen. Mit einem kleinen Sternchen auf dem Entlassungsbescheid, das viel aussagte. Das war der Tag, an dem er begonnen hatte jeden Abend zu saufen. Aber bei Gott, wenn es einen gab, der solche Leute ihr Unwesen treiben ließ, was würde er mit seinen Feinden machen, wenn er schon einen Freund getötet hatte? Er mochte nicht daran denken. Er spannte die Muskeln an. Er hätte sich gewehrt, wenn Thomas nicht da gewesen wäre. Er wollte ihm eine Solche Szene ersparen. Thomas war unschuldig, auch wenn er mal etwas mitgehen ließ. Das hatte er ja auch getan. Nur dass sein Vater ihn deswegen fast zu Tode gewürgt hatte. Er hatte auch all die anderen in der Schule geschlagen und wusste wie Thomas sich fühlte. Verdammt, er würde das Geschäft sausen lassen. Scheiß auf die halbe Million Dollar. Scheiß auf den Job, seine Reputation. Er musste nur überleben. Er würde sich selbst entziehen, würde den Alkohol besiegen. Nie wieder Whisky. Allerdings hatte er schon ein Verlangen danach. Er schrie sich selbst an. Er fing an, nachzudenken, was sie mit ihm vorhatten. Sie würde ihm einen Strick aus seiner gewalttätigen Vergangenheit drehen.
Dieter, dieser fette Wichser hatte schnell reagiert. Dann musste es demnach auch noch einen Richter geben und einen Maulwurf bei den Bullen. Wahrscheinlich mehrere. Sehr wahrscheinlich das ganze verdammte Dorf.
«Denk nach, Frank, denke!» sagte er sich.
Er kam nicht drauf, die Schmerzen vernebelten seine Sinne. Diese Leute waren nicht einfach nur Wichser, sie waren gerissene Wichser. Er dachte an Dieter. Er und seine Frau repräsentierten das pure Glück. Silke war schon immer von der heilen Welt fasziniert gewesen. Es musste eine Erklärung geben. Vielleicht war sie es wirklich zu sehr. Damals war sie Feuer und Flamme gewesen, als sie diesen Ort besuchten. Alle waren so freundlich. Übertriebene Freundlichkeit konnte auch suspekt sein.
Doch es gab noch eine andere Möglichkeit: Silke wollte ihn einfach nur loswerden, weil sie ihn nicht mehr liebte. Das war wahrscheinlicher. Liebe konnte grausam sein. Plötzlich ging das Licht aus. Frank lag auf dem nackten Betonboden und konnte immer noch nicht so richtig glauben, was da passiert war. Er dachte an Silkes Funkelaugen. Dann fiel es ihm ein.


Kapitel zwölf
Epiphanie


Es war vier Uhr Morgens, aber sie stand schon vor dem Spiegel und betrachtete sich. Eigentlich sah sie gut aus, fand sie, aber doch eine Kleinigkeit zu dick. Sie kämmte ihre Haare und sah sich dabei in die Augen. Sie hatte grüne Augen, von ihrer verstorbenen Mutter. Vater war auch nicht mehr da, und so lebte sie bei ihren Großeltern, die glücklicherweise einen großen Geldbeutel hatten. Sie waren Gottesfürchtige Menschen, Opa war Richter, Oma war Bestatterin. Eine ganz andere Generation. Sie legte die Bürste weg und setzte sich an den Schreibtisch, auf dem ein kleines Radio stand. Sie legte eine Kassette ein, wie jeden Sonntagmorgen. Sie mochte diese Tage nicht. Sie mochte diesen Ort nicht. Und jetzt war auch noch der einzige Mensch verschwunden, den sie insgeheim verehrte. Sie hatte ihn lange genug beobachtet, er war still, leise und mitfühlend. Aber sie konnte doch nichts machen gegen die Übermacht der anderen, dachte sie traurig.
Es war meistens die gleiche Musik, die sie anmachte, wenn sie hier saß. Sie zog die Schublade auf und nahm ein kleines Kästchen heraus. Sie legte es vor sich auf den Tisch. Niemand sah nach, was darin war, ihre Großeltern hatten wichtigeres zu tun. Sie kümmerten sich um den Garten, oder die Verwandten und Freunde. Sie hatten sehr viele Freunde, im Gegensatz zu ihr. Sie hatte nur eine, die Janine hieß. Aber die sah sie nur in der Schule. Sie saß neben ihr. Sicher war sie sich allerdings nicht, ob sie ihre Freundin war, denn sie war meistens bei Stefan, der starke Junge, der Sohn des Pfarrers. Er war ein Rüpel. Wenn der Pfarrer das wüsste würde er ihn nicht so freundlich behandeln. Aber niemand sagte etwas. Niemand sagte nie irgendwas. Alle lächelten. Wie in Asien, dort lächelten sie auch alle, weil sie dazu gezwungen wurden. Sie selbst war aus Berlin hierher gekommen, vor zwei Jahren. Aber sie vermisste Berlin, die dreckige Luft, das Leben, die Gefahr. Und sie fuhr sehr gerne U-Bahn. Vater hatte sie immer mitgenommen, im Führerhaus, auch wenn es nicht erlaubt war. So hatte sie immer eine bessere Sicht auf den Tunnel gehabt als alle anderen, das war toll. Bis an dem Tag, an dem sich ein Mann vor den Zug geworfen hatte. Alles war voller Blut gewesen, die ganze Scheibe. Sie sah manchmal noch den abgetrennten Fuß, als sie ausgestiegen war. Doch sie hatte es besser verkraftet als Vater, der nun in einer großen Psychiatrie saß und nicht mehr raus kam. Er hatte den Verstand verloren, hatte sich schuldig gefühlt und wollte sich auch umbringen. Und so kam das alles, es war furchtbar.
Sie wurde nach Hohenkammer gebracht, wo alle komisch redeten und eine innige Beziehung zu Gott hegten. Das hier war nicht ihre Heimat.
Sie öffnete das Kästchen mit einem Schlüssel und sah den Schlüssel von Vater, ihre einzige Erinnerung an ihn. Mit dem Schlüssel konnte man auch nachts in den U-Bahn-Stationen herumlaufen. Manchmal hatten sie es aus Spaß gemacht. Es war der Generalschlüssel, etwas Besonderes. Aber hier gab es keine U-Bahn und keinen Spaß. Sie wartete nur darauf, erwachsen zu werden und von hier wieder wegzugehen. Sie nahm eine Rasierklinge aus dem Kästchen und öffnete das Papier. Dann krempelte sie ihren Ärmel hoch, sah ihren Arm, der schon voller Narben war, aber das war ihr egal.
Oma schleppte sie deswegen immer zu der komischen Frau, bei der auch Thomas war, sie mochte sie auch nicht. Sah denn niemand, dass sie einfach nur allein war und Schmerzen hatte? Es lief Vaters Lieblingslied, eine Ballade, ein Lied von Radiohead, es hatte einen komischen Namen, war aber schön.
Die Klinge schnitt tief in das Fleisch, und es tat gut, es nahm etwas den Schmerz. Das Blut fing sie mit einem Taschentuch auf. Doch heute war etwas anders. Der Schmerz wollte nicht gehen. Er blieb. Sie sah Vater vor ihrem Auge und eine Träne lief an ihrer Wange herab. Sie schnitt wieder. Noch tiefer, es tat nicht mal weh. Das Taschentuch war schon voller Blut, sie brauchte ein neues. Sie nahm ein weiteres und fing das Blut damit auf. Der Schmerz ging immer noch nicht weg. Was war denn los? Sonst wirkte diese Methode immer sehr gut. Dann ließ sie den Arm einfach sinken. Das Blut tropfte nun auf den Boden, na und, dachte sie sich.
Sie würde Nasenbluten gehabt haben. Sie hatte immer eine Ausrede für das viele Blut. Ihre Großeltern machten sich Sorgen, aber nicht so sehr um sie, sondern um ihr Seelenheil, sonst würden sie ihre Sachen durchsuchen. Sie schleppten sie immer in die doofe Kirche, in der es furchtbar langweilig war. Es war ja schon schlimm genug, die Kinder aus der Klasse unter der Woche zu ertragen, aber dann auch noch am Sonntag? Sie kam nicht gegen sie an, ihre Großeltern sprachen so oft von der Sünde und Dämonen, manchmal konnte einem da ganz schön wirr im Kopf werden. Sie war einfach dazu übergegangen es zu überhören.
Sie dachte wieder an Thomas, sie konnte es nicht lassen. Sie wollte mit ihm reden, wirklich. Aber der blöde Gottlieb hatte alles zunichte gemacht. Auch er war ein Fremder hier, und Fremde können doch auch zusammenhalten. Sie würde ihn suchen. In der Kirche, in der Schule, sie wusste auch, dass er fast in derselben Straße wie sie wohnte. Sie würde sich gleich morgens auf den Weg machen. Oder besser nach dem Gottesdienst. Weil sie dann immer tun konnte, was sie wollte. Sie stand auf, ging zum Schrank und nahm eine schwarze Bluse heraus, bei schwarzen Sachen sah man das Blut nicht so und heute war der Schnitt tiefer als sonst. Sie drehte sich um und sah auf ihr eingenes Blut. Es war ein Zeichen, da war sie sich sicher.
Ein blutrotes Herz auf dem Teppich.


Das Telefon klingelte und Doris ging dran.
«Morgen, So früh?» sagte sie.
«Morgen, hier Grün. Ist Silke da?»
«Ja, warte, ich gehe sie wecken.» sagte sie und legte das Telefon einfach auf den Tisch. Sie zog sich etwas über und ging in das Gästezimmer, vorbei an der Stahltüre. Eine Sprosse vom Geländer war gebrochen, sie würde das am Montag von einem Tischler wieder reparieren lassen. Sie öffnete das Gästezimmer und ging zu dem Bett.
«Silke. Aufwachen. Das Krankenhaus.»
Bei dem Wort Krankenhaus fuhr sie hoch.
«Ja, ich komme. Wo ist das Telefon?»
«Du kannst das hier benutzen. Einfach die Verbindungstaste drücken.»
«Danke.»
Sie nahm das Telefon und hörte ihr Herz schlagen. Bitte nicht Simon, Bitte nicht Simon!
«Morgen, Reiter.» sagte sie zitternd ins Telefon.
«Guten Morgen, Entschuldige die Störung, aber es geht um deinen Sohn.»
«Was ist mit ihm?» schrie sie in das Gerät.
«Es geht ihm sehr schlecht. Er wird den Mittag nicht mehr erleben. Willst du...»
«Ich komme sofort.» sagte sie und legte auf.
Nicht er! Nicht er! Wiederholte sie immer wieder im Kopf. Es war eine Endlosschleife. Nicht ihr Liebling. Alle Hoffnungen beruhten auf ihm, er war doch so unschuldig! Oh Frank, das kommt nur weil du zuviel gesoffen hast, dachte sie und zog sich an. Das Haus war jetzt ganz wach und als sie das Zimmer verließ stand Dieter schon vor ihr.
«Soll ich dich fahren?» fragte er und lächelte.
Wieso lächelte er? Er wusste doch, was mit Simon los war. Aber sie dachte nicht weiter darüber nach.
«Nein, nein, ich nehme mein Auto.» sagte sie.
«Wie du willst.» sagte er und ging ihr aus dem Weg.
Jetzt lächelte er nicht mehr. Sie hatte noch Valium im Handschuhfach. Eine Klinikpackung. Sie würde gleich zehn Stück nehmen. Dann einen Kaffee noch schnell unterwegs, damit sie nicht umfiel. Sie fiel regelrecht aus dem Haus, stolperte die Treppen runter, sah Dieters weißen Mercedes, ihr wurde kurz übel, dann fing sie sich wieder. Sie ging so schnell wie möglich zu ihrem Haus, da stand noch Franks BMW und ihre Fiesta. Sie kramte ihren Schlüssel heraus und öffnete die Tür, setzte sich hinters Steuer und öffnete hastig das Handschuhfach. Erleichtert atmete sie aus. Sie waren noch da. Sie nahm das Päckchen und nahm einen Streifen heraus. Es waren ihre kleinen blauen Freunde, die sie durch diese schwere Zeit brachten. Sie nahm gleich sechs Stück, steckte sich einen weiteren Streifen ein und startete den Motor. Das Zittern wurde weniger. Die Dinger wirkten wenigstens schnell. Sie atmete tief durch und fuhr los. Um diese Zeit an einem Sonntag war in dieser Gegend natürlich niemand unterwegs, wenn er es nicht unbedingt wusste. Es waren achtzehn Kilometer. In Freising gab es eine Tankstelle. Sie würde einen Espresso brauchen. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie Freising erreichte. Es war schrecklich, in Erwartung des Todes durch die Nacht zu fahren. Das Licht der Tankstelle beruhigte sie etwas. Sie ging rein und ein junger Mann begrüßte sie.
«Guten Morgen, was kann ich für sie tun?» sagte er.
«Einen Espresso und eine Packung Camel.» sagte sie.
«Sofort.»
Der junge Mann nahm die Zigaretten und ging zu der Kaffeemaschine, in einer Ruhe, die sie Wahnsinnig machte. Als er endlich ankam und ihr den Kaffee auf einem Standtisch servierte sagte er: «Geht es ihnen gut? Sie sehen blass aus.» er sah sie besorgt an.
«Geht schon.» erwiderte sie.
«Das macht dann sieben fünfzig.» sagte er.
Sie gab ihm einen Zehner.
«Behalten sie den Rest, aber geben sie mir einen Aschenbescher.»
«Wird gemacht.» sagte er und brachte einen mit einem Kamel drauf. Sie zündete sich eine von den Sargnägeln an und inhalierte tief. Das tat gut. Es beruhigte sie zusätzlich. Wieso war sie nicht früher auf die Idee gekommen, wo sie doch so nahe lag? Seit drei Jahren hatte sie es nicht mehr getan. Wegen Simon. Frank hatte immer nur draußen geraucht. Scheiße, tat das gut. Sie ertappte sich beim Fluchen und rügte sich sofort dafür. Der Mann hinter dem Tresen starrte sie an. Sie sah ihn an, er war noch keine dreißig und sah knackig aus. Jetzt hatte sie auch noch unsittliche Gedanken! Wo sollte das hinführen? Sie sah wieder weg. Und das alles während Simon im Sterben lag. Sie hasste sich dafür. Für so viel. Und sie hatte Angst. Seit dem Ereignis gestern bei Dieter und Doris hatte sich eine Kleinigkeit in ihrer Gefühlslage verschoben. Irgendwo in ihrem erkalteten Herzen spürte sie etwas. Frank würde wiederkommen. Er hatte nie viel über seine Vergangenheit erzählt, aber eines wusste sie. Er würde Thomas haben wollen. Er hatte ihn nie geschlagen. Doch Frank hatte einen Menschen auf dem Gewissen, einen Freund. Er war mit allen Wassern gewaschen. Er konnte noch gefährlich werden, selbst wenn er in einer Zelle saß. Dieter und Doris waren ihre Freunde, der ganze Ort hielt zu ihr. Darauf konnte sie sich verlassen. Aber konnten sie einen wütenden Ex-Elitesoldaten auf Dauer von ihr fernhalten? Dann kam es ihr. Sie würden ihn töten. Das war unausweichlich. Wenn sie Frank nicht umbrachten, dann würde Frank alle anderen umbringen. Mit großer Wahrscheinlichkeit auch sie. Sein Blick war sehr böse gewesen. Sie zog an der Zigarette und zitterte wieder. Scheiße, dachte sie. Das hatte sie eigentlich nicht gewollt. Alles lief aus dem Ruder. Sie hatte die ganze Sache nicht mehr unter Kontrolle. Thomas würde auch sehr leiden müssen, und bei Gott, sie sah Thomas‘ Augen vor sich. Er hatte den gleichen Blick wie Frank, als er in dem Polizeiwagen saß. Aus ihm konnte nichts Gutes werden, aber das war eine andere Geschichte.
Sie nahm noch drei Valium und sah den Mann an. Er hörte nicht auf, sie anzustarren. Dann dachte sie an Franks starke Arme, wie er sie zärtlich berührte. Es hatte doch immer so gut getan. Aber in den Jahren, in denen sie hier wohnten war der Sex immer seltener geworden. Auf einmal verspürte sie das starke Verlangen nach einem Schwanz zwischen ihren Schenkeln. Sie schlug sich innerlich selbst für diese Gedanken, sie waren nicht gut, andererseits sah der Mann so gut aus und Frank würde nie mehr zu ihr zurückkommen. Scheiße, dachte sie sich, was war nur los mit ihr? Gestern wäre ihr das nicht passiert. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Sie sah den zerknitterten Streifen Valium an. War es deswegen? Sie beruhigten sie doch, aber nur oberflächlich. Ein schleichender Schmerz war im kommen, das spürte sie. Was war nur aus ihr geworden, fragte sie sich immer wieder, es war eine andere Endlosschleife. Hastig zog sie an der Zigarette, wenn dieser Mann doch endlich mal in eine andere Richtung sehen würde! Gleich könnte sie nicht mehr widerstehen, ihr Herz raste, ihre Atmung ging schon schneller. Sie sah raus, sah die verwaisten Zapfsäulen an, es beruhigte sie nicht, sie sah sich in der Scheibe an. Sie sah gut aus, selbst in diesem Zustand, dachte sie sich, sie hatte viele Verehrer gehabt in ihrer Kindheit, in ihrer Jugend, aber sie hatte sich für die Ehe aufgehoben.
Welch eine Verschwendung menschlichen, gebärfähigen Fleisches, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie bekam Kopfschmerzen, das waren nicht ihre Gedanken.
Der Typ sieht mich so richtig geil an, ihm hängt ja schon die Zunge raus, war ihr nächster Gedanke.
Sie merkte, dass sie unten feucht wurde.
«Reiß dich zusammen.» sagte sie leise. Der Mann sah sie an, er öffnete den Mund.
Was für eine Zunge, so groß und lang, der kann mich bestimmt gut lecken.
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, dabei griff er sich in den Schritt, Silke stand da und starrte ihn jetzt auch an. Sie griff sich zwischen die Beine und spürte eine unbändige Lust, sie spürte die Feuchtigkeit. Ihr Atem kam jetzt Stoßweise.
Er legte den Schlafzimmerblick auf und zog sich seine Jacke hoch, sie sah seine Bauchmuskeln, er spielte damit. Er lächelte sie an.
Komm zu mir, ich will dich spüren, tief in mir, jetzt, ging es ihr durch den Kopf.
Sie rieb sich unten, sie konnte es nicht kontrollieren, sie fing an zu schwitzen.
Aus versehen kippte sie die Tasse um, der Espresso lief über die Tischkante, tropfte auf den Boden und machte sie fast wahnsinnig.
Er machte die Hose ein Stück weit auf und sie konnte seinen steifen Schwanz sehen.
Silke griff sich mit der Hand in ihre Hose und steckte sich ihren Finger rein, sie sah, wie er auf sie zukam. Endlich fickst du mich, dachte sie. Sie knetete ihre Brust und fing an leise zu stöhnen vor Lust.
Er kam näher und sie sah die Schweißperlen auf seiner Stirn.
«Nimm mich!» schrie sie ihn an.
«Was sagen sie da? Was zum Teufel machen sie da überhaupt?» sagte der Mann und auf einmal war die Hose zu und die Schweißperlen verschwunden. Er sah sie an, sie hatte immer noch ihren Finger in ihrer Vagina.
«Oh mein Gott.» sagte sie.
Sie zog die Hand raus und wurde rot.
«Gehen sie ins Krankenhaus, sie sehen ja aus wie der Tod persönlich. Los, verschwinden sie.» sagte der Mann.
Silke sah ihren Finger an, er war feucht, sie hatte sich wirklich vor diesem Mann entblößt. Was hatte sie getan? Der Dämon war in sie gefahren, dachte sie und fing an zu zittern.
«Verschwinden sie! Oder ich rufe die Polizei!» fuhr er sie an.
Silke nahm wie paralysiert die Zigaretten und verließ die Tankstelle. Sie stieg in ihr Auto und drehte den Schlüssel, sie fuhr um die Ecke und hielt wieder an. Sie verstand sich selbst nicht mehr, was war denn nur los? Sie nahm noch zwei Valium. Sie fing an zu glauben, dass ihr Verstand sich auflöste. Dann fuhr sie noch die kurze Strecke bis zum Krankenhaus.
Als sie es betrat, kam auch schon Dr. Grün und sagte: «Es tut mir leid.»


Das Licht ging an. Es war verdammt kalt hier unten, aber das war es in Tschechien auch gewesen. Er hörte Schritte, Feinde. Mitten im Wald. Mitten... er hörte den Riegel und das Metallische Quietschen. Frank wurde von starken Armen gepackt, hochgezogen, den ganzen Weg die Treppe hoch, in ein Verhörzimmer. Er wurde auf einen Angeschraubten Stuhl gesetzt und angeschlossen. Dann wurde er allein gelassen. Er war nicht mehr im Wald. Es war diese Ruine mit den vielen Einschusslöchern. Er irrte darin herum, wusste nicht wieso. Tschechien war grau. Jedenfalls auf dem Land. Grau. Er dachte er immer wieder, grau. Er schwitzte und konnte kaum atmen.
Dann ging eine Türe auf und der fette Bulle setzte sich auf den bequemeren Stuhl gegenüber von ihm. Auch der noch! Wieder einer mit diesem unerträglichen Blick! Frank wollte seinen Feind töten, aber die Zeit war noch nicht gekommen, erst musste er ihn kennenlernen, seine Strategie verstehen. Der fette Bulle war der verdammte Chef.
«Guten Morgen, Herr Reiter.» sagte der Bulle süffisant.
«Morgen, Arschloch.» sagte Frank.
Er hatte immer noch Schmerzen und der Hass in ihm brodelte.
«Aber, aber, wer wird denn gleich die Fassung verlieren? Sie sind jetzt hier.» sagte er.
Der Mann dünstete einen stechenden Geruch aus, es roch nach Moschus, dachte Frank.
Er stellte drei Gegenstände auf den Tisch. Eine Aktentasche, eine Flasche Whisky und eine Schachtel Gauloises. Dieser Hurensohn. Psychologische Kriegsführung!
«Wollen sie etwas von dem guten Schnaps? Eine Zigarette?»
Oh ja! Alles in ihm schrie danach. Es war sogar seine Lieblingsmarke.
«Nein.» sagte er und biss sich auf die Zunge.
«Wirklich nicht?» fragte der Bulle und grinste.
«Kommen sie zur Sache. Wie lange bleibe ich hier?» ächzte Frank, er war noch so benommen.
«Nehmen sie einen Schluck. Sie werden ihn brauchen.»
Der Bulle machte ein Zeichen. Ein anderer Bulle kam rein und schraubte die Flasche auf. Er setzte sie Frank an die Lippen und er trank, während er dachte: Entschuldigung, Thomas, ich werde es nur noch etwas verschieben. Dann steckte der Bulle ihm auch noch eine Kippe in den Mund und zündete sie an. Er inhalierte tief, es war wie ein Lichtblick in der tiefsten Hölle. Sucht ist die Hölle. Dann ging der Bulle wieder und der fette sah ihm in die Augen. Er hatte komische Funkelaugen, wie die Psychologin und die Nachbarn. Dann nahm er Seelenruhig die Aktentasche und machte sie auf. Er holte einen Hefter heraus. Er legte ein paar Blätter vor ihn. Frank bekam Rauch ins Auge, ließ die Kippe aber nicht fallen. Seine Nerven beruhigten sich gerade wieder.
«Wie lange wollen sie mich hier behalten?» wiederholte er.
«Nicht lange. Aber...»
«Aber was?» fauchte er den Scheißbullen an.
«Ich zeige ihnen jetzt etwas.» Er nahm das erste und hielt es ihm vor die Nase. Gutachten stand als Überschrift darauf, darunter ein Name, den er schon länger kannte. Dr. Marie Hoffmann.
Aber was hatte die mit ihm zu tun? Scheiße, was hat Silke getan?
Er war in etwas reingeraten, das größer und böser war als jemanden einfach nur zu töten.
Der Bulle legte es wieder hin, lehnte sich zurück und grinste ihn an.
«Wir haben alles nötige, um sie für immer wegzusperren, sie toller Geschäftsmann.»
Frank wollte dem Bullen die Augen eindrücken, aber er konnte nicht, die Handschellen klirrten. Sie zerstörten immer mehr. Das war nicht gut für sie, so lange er noch lebte. Er war nicht Paranoid gewesen. Er verstand den tiefen Sinn nur noch nicht, aber es war de facto eine Verschwörung. Und alle steckten drin. Hunderte, Tausende. Und auch Silke. Sie war da auch drin. Oh, Silke, das wirst du büßen! Du wirst vor deinen Scheißgott treten und er wird dich in die Hölle schicken!
«Warum. Warum ich? Was wird aus Thomas?»
«Wir werden uns gut um ihn kümmern. Und sie passen einfach nicht hierher, verstehen sie?»
Der Bulle redete wie ein Irrer, ein Fanatiker, er hatte diesen bestimmten Tonfall.
Er dachte an die Kirche. Silke hatte ihn öfters gefragt, ob er mitwolle, aber er glaubte nicht an Gott. Er war nie dabei gewesen. Er bereute es, das ignoriert zu haben. Er hatte nichts gesehen. Nichts!
«Was werden sie ihm tun?» fragte er, er spürte eine Woge des Hasses.
Der Bulle antwortete nicht.
«Sie sind unzurechnungsfähig, Frank. Sie haben Wahnvorstellungen. Sie werden noch heute in die geschlossene Psychiatrie nach Bayreuth gebracht.»
Er hielt einen anderen Wisch hoch, auf dem etwas von Paranoider Schizophrenie und Fremdgefährdung stand. Scheiße.
«Wer ist hier der Wahnsinnige?» sagte Frank und dachte daran, wie weit Bayreuth von hier weg war. Das hier war Allershausen, eine kleine Polizeistation. Er dachte daran, dass bestimmt ganz Bayern in dieser Verschwörung steckte. Er würde sie alle töten. Er würde sich eine Bombe verschaffen. Er spürte, dass er die Nerven verlor und sinnloses Zeug dachte. Soweit hatten sie ihn schon. Es konnte nicht ganz Bayern sein. Je mehr Leute von einer Sache wussten, desto schwieriger war sie zu verheimlichen. Er rief sich zur Vernunft auf.
«Sie.» sagte der Bulle und machte durch seinen Tonfall klar, dass dies eine Unumstößliche Tatsache war.
«Sie sind verrückt! Was wollen sie mit den ganzen Aktionen bezwecken? Ich bin hier nur meiner Arbeit nachgegangen! Ich habe verflucht viele Steuern gezahlt an ihr Scheißland!» schimpfte er.
«Das sagen sie so. Ich weiß es besser.» sagte er kalt.
Mist, er weiß es. Scheiße.
«Wir haben ihr Geld, wir haben ihr Kind, das andere ist tot. Und wir haben ihre Frau.» fuhr er fort.
«Simon ist tot?» japste Frank.
«Ja, er hat es leider nicht geschafft.» sagte er grinsend
«Aber er ich war doch...er war doch... gestern...» Frank verlor fast den Verstand.
Das war die Kirsche auf der Sahnetorte. Er würde diesen Wichser mit seinen bloßen Händen zu Gott schicken. Aber er wünschte ihm eigentlich eine elende Folter. Ein schneller Tod war zu gut für ihn.
«Er hat es nicht geschafft.» sagte der Bulle kalt.
Jetzt, als er in die kalten Augen des Bullen sah wusste er, was hier vor sich ging. Er war der reichste Mann in der Gegend. Er hatte zwanzig Millionen versteckt. Aber anscheinend haben sie ihm alles genommen. Sogar Thomas und Simon. Sie haben Simon bestimmt umgebracht.
Oh! Thomas! Ich werde dich holen! Ich schwöre es! Und wenn ich dabei draufgehe! Und wenn du tot bist dann hole ich die Bombe. Ich habe auch Beziehungen, dachte er, um sich bei Vernunft zu halten.
«Bringt ihn runter.» sagte der Fettwanst und dann kamen auch schon die drei Bullenschweine rein, hoben ihn hoch und brachten ihn diesmal mehr als nur sanft in die Zelle zurück.
Sie ließen das Licht an. Frank war nicht mehr Geschäftsmann. Er hatte nichts mehr. Nicht mal mehr seine Familie. Aber eines war er doch noch. Ein Soldat, ein Straßenkämpfer. Der überwältigende Hass durchflutete jede Faser seines Körpers und seiner Seele. Diesmal gab er sich ihm hin, ließ sich fallen. Und es tat so gut. Er stand in der Zelle und renkte sich die Daumen aus. Blut tropfte leise auf den Boden. Die Handschellen folgten wenig später.


Kapitel dreizehn
Die Kirche


Eine Regel in Bayern besagt: Kein Gebäude darf höher sein als der Kirchturm. Deswegen gibt es in München keine Hochhäuser, damit die Frauenkirche alles überragte. Das war auch in Hohenkammer so. Die Kirche stand auf einem Berg, der höchste in dem Dorf, und so überragte die steile Spitze alle anderen Gebäude.
Es war zehn Uhr und die Glocken läuteten. Von überall her kamen sie, die Kinder, die Alten, alle. Sie drängten sich in der kleinen Kirche zusammen und warteten auf Pfarrer Erhardt. Die Kirche hatte an der Seite kleine, goldene Täfelchen, auf denen der Leidensweg Jesu beschrieben wurde, vorne standen zwei Engel, die finster auf die Menge herabblickten. Es gab auch eine Orgel, Lehrer Hempel saß davor. Alle waren da. Dieter und Doris, auch Silke, die sehr traurig und verwirrt über den Tod von Simon war. Atemstillstand, hatte er gesagt. Dabei hatte er doch gute Lungen, nur was an den Nieren, sie verstand es nicht. Simon war tot, ihr Liebling war tot. Eine Träne lief ihr übers Gesicht.
Sie hatten alle ihre Kinder dabei. Christina stand in ihrer schwarzen Bluse mit ihren Großeltern weiter hinten, Marie Hoffmann mit ihrem Sohn Michael in der Mitte, Frank Gottlieb und sein Sohn Peter daneben. Jeden Tag dachte er an seine Tochter. Sie lebte nicht mehr. Er betete ständig für sie. Der Glaube hielt alle zusammen.
Silke trocknete ihre Tränen als der Pfarrer in die Kanzel stieg. Sie sah Stefan, den sie auch kannte. Er mimte den Messdiener. Schweigen breitete sich aus.
«Liebe Gemeinde. Heute ist ein besonderer Tag. Wir haben ein neues Schäfchen in unsere ehrenwerte Gemeinde aufgenommen. Wir haben ein Geschenk bekommen.»
Der Pfarrer machte eine Pause. Silke wusste, dass sie das Schäfchen war und das Geschenk Franks zwanzig Millionen. Auf einmal wurde alles grau.
«Wir preisen den Herrn!» rief der Pfarrer mit den Funkelaugen und alle anderen sagten das gleiche. Dann fing die Orgel an zu spielen. Lehrer Hempel konnte das sehr gut. Der Pfarrer predigte anschließend eine Passage aus der Bibel und Silke schämte sich. Er sagte das Gegenteil von dem was sie getan hatten. Sie war nur noch eine Hülle. Sie hatte alles verraten, was sie geliebt hatte. Sogar Simon. Sie konnte es nicht beweisen, aber er hatte noch vor vier Monaten beste Überlebenschancen. Aber sie war oft bei Dieter und Doris gewesen, die so freundlich gewesen waren, das Essen für Simon gleich mitzumachen. Sie bekam Kopfschmerzen. Sie vernahm nicht mehr die Stimme des Pfarrers, sie war tot, innerlich tot. Sie hatte das schlimmste Verbrechen begangen, das es gab. Alles verraten für die Aufnahme in eine Gemeinde, hier, genau hier. Sie hasste sich jetzt. Sie dachte an den Morgen in der Tankstelle und merkte wieder die Feuchtigkeit, es war eine Schande, sie war eine Schande für die Gemeinde, für ihren verbliebenen Sohn, für überhaupt alle. Aber da gab es ja noch etwas anderes...
Hempel spielte wieder die Orgel.
Christina dachte an Thomas. Sie spürte instinktiv, das etwas nicht stimmte. Seine Mutter war hier, sie kam eigentlich immer mit ihrem Baby, aber heute war sie allein. Thomas, das wusste sie ging nie in die Kirche. Einmal hatte er im Religionsunterricht laut gegen die Kirche protestiert. Sie hatte lachen müssen, aber es war untergegangen, weil die anderen sich auf ihn gestürzt hatten. So hatte sie noch Glück gehabt an dem Tag, Thomas nicht. Es war der Tag, an dem sie auf ihn aufmerksam geworden war. Er war mutig, fand sie. In diesem Dorf konnte man mit solchen Aussagen eine Menge riskieren. Sie dachte an seinen Blick, wie er sich umgedreht hatte, und es tut mir leid mit seinen Lippen geformt hatte. Er sah so süß aus mit seinen abstehenden Ohren, Außerdem hatte sie ihn einmal Radfahren gesehen, alleine, weil er ja keine Freunde hatte. Er konnte das verdammt gut, er hatte Tricks gemacht und sich dabei auch einmal den Ellbogen aufgeschlagen, als er gestürzt war, trotzdem hatte er weiter gemacht und war mit dem Fahrrad durch die Gegend gehüpft, irgendwann war er dann einen Berg runter gefahren, ganz schnell. Sie lächelte, wenn sie an ihn dachte. Er war eben nicht wie die anderen. Sie überlegte, sie konnte nicht einfach zu seiner Mutter gehen und fragen, wo er steckte. Sie sah traurig aus. Aber alle anderen lächelten wie immer. Es war gespenstisch. Sie fühlte sich nie wohl hier, weil sie sich beobachtet fühlte. Sie gehörte nicht hierher. Die Messe war furchtbar langweilig. Andauernd sprach der Pfarrer nur von dem Geschenk, was immer es sein mochte. Der Pfarrer sagte auch, dass sie einen neuen Kirchturm bauen würden. Alle lächelten noch mehr.
Peter stand neben seinem Vater, er dachte an seine Schwester. Sie war doch so hübsch gewesen! Aber sie blieb verschwunden. Alle sagten immer nur: Gott sei ihrer Seele gnädig.
Sie war schon seit Januar fort, niemand hatte sie gesehen. In Bayern verschwand doch kein Kind einfach so. Hohenkammer war der glücklichste Ort auf der Welt, hatte sein Vater ihm erklärt. Doch das war eine Lüge. Er vermisste seine Mutter und seine Schwester. Vater sagte, Peter hätte Schande über seine Familie gebracht, weil er sitzen geblieben war. Sie war ein Jahr älter gewesen als er, und Stefan wie Michael waren ebenfalls sitzen geblieben. Alle drei, nur sie drei.
Er hatte hinter ihr gesessen und konnte nur zusehen, wie Stefan und Michael sie fertigmachten. Sie waren seine Freunde, ja, aber sie hatten seine Schwester beleidigt. Fotze, hatten sie immer gesagt. Er wusste nicht warum, sie war doch so hübsch mit ihren roten Haaren und ihren großen, grünen Augen. Zuhause wurde sie immer störrischer, lehnte sich gegen die Kirche auf, gegen die Schule, gegen das Gesetz. Sie stahl und hatte mit einem Jungen aus der neunten Sex. Das hatte sie ihm an Weihnachten letztes Jahr gesagt. Es war ein trauriges Fest gewesen. Peter lief immer nur mit den anderen mit. Mit seinen Eltern, mit seinen Freunden, er konnte nichts tun. Er fühlte sich leer. Manchmal ertappte er sich, wie er unsittliche Gedanken hatte, wenn ihm ein Mädchen gefiel. Sein Vater sagte immer: Keinen Sex vor der Ehe. Es war schlecht, Sex vor der Ehe zu haben. Mutter war im Juni an gebrochenem Herzen gestorben, sie hatte Aline geliebt. Seitdem war Vater noch mehr in seinen Glauben vertieft, betete täglich für seine Familie, die eigentlich nur noch Peter war. Er wollte diesen Ort verlassen. Gleich heute noch. Er würde es tun. Wirklich. Das erste Mal in seinem Leben würde er eine eigenständige Entscheidung fällen. Jetzt lächelte auch er. Es war ein Lächeln der Verzweiflung. Seine Augen wurden von einem unheimlichen Glanz erfüllt. Es war das, was Thomas gesehen hatte. Nun war es vollständig.
Der Gottesdienst gelangte an seinem Höhepunkt an. Silke wurde aus der Mitte herausgeführt und zum Altar gebracht. Sie war verwirrt. Tausend Gedanken drehten sich in ihrem Kopf, ihr wurde etwas schwindlig und sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie ging nach vorne. Es war immer noch alles grau, farblos.
Stefan lächelte. Er würde morgen eine menge Geld bekommen. Er hatte seinen Auftrag gut ausgeführt. Der Pfarrer war sein Vater, und sie würden für immer ausgesorgt haben. Der Neue Kirchturm war mit Steuergeldern finanziert. Sein Leben mit dem Geschenk, das Thomas‘ Mutter ihnen allen großzügigerweise gegeben hatte. Einfach so. Er hatte den kleinen einfach nur schlagen müssen. Wunderbar. Und dafür bekam er Geld. Stefan mochte diesen Ort. Es war seine Heimat. Er glaubte nicht an Gott, aber an das Geld. Er sah in eine strahlende Zukunft. Er dachte an das Spiel, dachte an den Kreis, in dem er war. Es war lustig. Man konnte so viel erreichen, wenn man nur die richtigen Hebel bediente. Alle machten das. Es war notwendig. Stefan hatte gelernt zu überleben. In diesem Ort war das von großem Vorteil, denn nicht alle überlebten in diesem Ort. Er wusste das, hatte es schon gewusst, bevor sie es ihm gesagt hatten, er hatte es gespürt. Er hatte einen nach dem anderen verschwinden sehen. Und er hatte sich geschworen, nicht mit ihnen zu gehen. Denn auch er hatte Angst, tief in sich. Die Idylle war eine große Lüge. Sie verschluckte Kinder.
Seine Beziehung zu der Schlampe von Janine, dachte er, war auch nur eine Lüge. Sie war eine Nutte und stank aus ihrer Fotze, wie ihr Vater das fette Bullenschwein nach dem Frühschoppen. Aber durch sie hatte er schon ein zwei Waffen bekommen, die er in der nähe des Schlosses versteckt hatte. Sie fraß ihm aus der Hand, wie es alle taten. Sie sahen nicht, wer er wirklich war. Idioten, dachte er.
Wenn er erwachsen war würde er seinen wahnsinnigen Vater töten und sich das ganze Geld nehmen, und irgendwo nach Mexiko verschwinden. Dann konnte er neu anfangen, und darauf freute er sich. Fröhlich stimmte er in die Zeremonie ein. Seine Augen leuchteten kalt.
Michael stand neben seiner Mutter, die eine Renommierte Psychologin war, dennoch waren sie jeden Sonntag, manchmal auch unter der Woche in der Kirche. Michael verstand das nicht, aber seine Mutter hatte ihm gesagt, dass alles einem guten Zweck diene. Er müsse sich um sein Leben keine Sorgen machen, wenn er nur folgte. Aber Michael hatte auch Gefühle, er dachte an die Schule, an seinen besten Freund Stefan, an Thomas und die anderen vor ihm, was sie ihm angetan hatten. Mutter hatte es ihm immer geduldet, auch als er es ihr gebeichtet hatte. Sie sagte das wäre normal als Kind. Sie war schließlich Psychologin, sie musste es ja wissen. Michael hatte ein seltsames Gefühl. Heute würde etwas passieren. Ganz wie der Pfarrer es gesagt hatte. Aber etwas würde anders sein als vorher. Er wusste, dass sie drei absichtlich sitzen geblieben waren. Sie hatten ja eigentlich gute Noten gehabt, aber etwas hatte verhindert dass sie eine Klasse höher kamen. Nein, Jemand. Er selbst war doch nur ein Kind! Er verstand den tiefen Zusammenhang nicht, aber er spürte die Macht, die von den Menschen hier ausging. Er spürte die Gefahr, aber er war sicher, auch das spürte er. Hoffentlich.
Silke stand ganz vorne und nahm das Blut Christi in Empfang. Es war Wein. Sie nahm den Leib Christi in Empfang, eine ganze Hostie. Damit war sie aufgenommen. Alle strahlten wie die Sonne. Alle. Sie sah sich die Gesichter an. Da gab es jemanden, der nicht strahlte. Ein kleines Mädchen. Es war die Kleine aus der Praxis, sie wohnt bei ihren Großeltern, wie war noch mal ihr Name? Christina, fiel es ihr ein. Die Alten hatten auch mal über sie gesprochen, dass sie auch aufsässig war, aber nicht so offensichtlich. Und noch jemand, den kannte sie sogar. Es war Michael. Aber was hatte das zu bedeuten? Silke war verwirrt, aber nicht so sehr, dass sie die Ruhe vor dem Sturm nicht spüren konnte. Sie lächelte gezwungen, aber das Funkeln aus ihren Augen war verschwunden. Die Rückverwandlung hatte eingesetzt. Niemand sah es. Niemand wollte es sehen. Vielleicht sah es das kleine Mädchen. Sie könnte nachher zu ihr gehen. Sie sah nett aus. Sie könnte Thomas‘ Freundin sein. Als sie an ihn dachte, bekam sie einen Stich ins Herz. Er würde niemals in die Gemeinde aufgenommen werden. Was würden sie mit ihm machen? Sie hatten nichts gesagt. Sogar Dieter nicht, den sie doch immer für Vertrauenswürdig gehalten hatte. Aber jetzt, als sie endlich ein vollwertiges Mitglied war, wollte sie es nicht mehr sein. Ihr Leben war verdorben, für immer. Sie würde dem Mädchen sagen wo Thomas ist, wenn sie es wissen wollte. Sie würde ihr die Schlüssel zu ihrem Haus geben. Sie würde Thomas befreien. Bei aller Gottlosigkeit, eine solche Behandlung hatte er nicht verdient. Er war ihr einziges Kind. Ihr letztes.
Die Messe war vorbei. Sie gingen jetzt alle nach Hause und aßen Kuchen. Stefan ging mit Michaels Mutter und seinem Vater ins Schloss. Michael sah die beiden in der Richtung Schloss verschwinden. Er war unentschlossen. Sollte er diesmal mitgehen? Noch nie war er dort dabei gewesen, interessieren würde es ihn schon. Er entschied sich dagegen. Es war schönes Wetter, er wollte die letzten warmen Tage noch genießen und etwas Sport treiben. Silke folgte dem Mädchen. Dieter folgte Silke. Und Peter ging nach Hause, um seine Entscheidung umzusetzen. Seine Augen glühten.


Kapitel vierzehn
Der Turm


Der König war allein. Seine Untertanen hatten ihn verlassen. Sie sind durch den Wald gegangen, in die Richtung, wo sie das Reich der Sonne vermuteten. Der König saß auf seinem Thron aus Lügen und lauschte. Es herrschte absolute Stille, selbst die Insekten hatten sich verzogen. Er langweilte sich. Er wünschte sich den Hofnarren zurück, aber es gab kein zurück mehr. Dann vernahm er ein Geräusch, es hörte sich an, wie etwas, das er vor langer Zeit mal gekannt hatte. Es kam aus dem Himmel, es grollte. Die Wolken bewegten sich. Er spürte eine vage Hoffnung in sich, nein, er wusste es. Der Blitz würde kommen um seinen Turm zu zerstören. Der König, alt und schwach, wie er war erklomm ein letztes Mal seinen Turm und sah in den Himmel. Tatsächlich, es knisterte.
Es begann.

Christina ging alleine nach Hause, weil ihre Großeltern noch, wie jeden Sonntag nach der Kirche, zum Pfarrer gingen. Sie gingen dann immer ins Schloss, das ja eigentlich ganz hübsch war, aber irgendwie unheimlich, weil sie die ganze Zeit dorthin nichts sagten, es schien keine fröhliche Runde, dachte sie.
Aber dort war auch Stefan und sie hasste Stefan. Er hatte ihr oft wehgetan und sie Fotze genannt. Sie war betrübt. Thomas‘ Mutter war in der Gemeinde aufgenommen worden. Einmal hatte sie ihrem Opa gelauscht und wusste was das Bedeutete. Bedingungslose Ergebenheit und Glück. Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich und drehte sich um. Da stand Thomas‘ Mutter! Sie fasste es nicht. Sie wollte gerade den Mund aufmachen...
«Hallo... Christina.» sagte sie irgendwie seltsam. Sie hatte komische Augen, ganz anders als Thomas.
«Können sie mir sagen wo Thomas ist? Ich will ihn sehen.» platzte es aus Christina heraus.
Da beugte sich die Frau mit dem eigenartigen Blick zu ihr herunter und drückte ihr zwei Schlüssel in die Hand. Dann sagte sie etwas Unfassbares.
«Hör mal zu. Du bist bestimmt seine Freundin. Ich weiß es. Du hast den gleichen Blick wie er. Dieser Schlüssel hier ist ein Generalschlüssel, er geht für alle Türen, der andere auch. Aber pass auf. Dieser bringt dich zu Thomas, und dieser euch in Sicherheit. Das Haus, in dem Thomas ist, ist das neben unserem, das schönste im Dorf. Weißt du wo?»
Christina nickte.
«Sehr gut.» sagte Silke und sah sich um.
Die Frau klang gehetzt. Sehr unruhig. Sie packte Christina am Arm, und ein Schmerz durchfuhr sie, die Wunden waren noch frisch.
«Du gehst in dem Haus nach hinten, eine Treppe hoch, dann kommst du an eine Stahltür, da ist er drin. Nimm ihn mit und versteckt euch in unserem Haus. Es ist leer. Bitte rette ihn, bring ihn fort von hier. Am besten nachts. Hast du verstanden? Hast du verstanden, Mädchen?»
«Ja, lassen sie meinen verdammten Arm los!» fluchte sie.
Silke lächelte, etwas von ihrem alten Glanz schien zurück gekommen.
«Ihr werdet euch sehr gut verstehen. Aber beeile dich. Du hast nicht viel Zeit. Lauf!»
Und Christina lief so schnell wie noch nie, sie sah ihr nach und fand, dass sie gut zu ihm passte.

Silke drehte sich um und sah Dieter ins Gesicht.
«Scheiße.» sagte sie leise.
Hoffentlich hatte er es nicht gehört. Hoffentlich hatte er die Kleine nicht gesehen. Es sah mal nicht so aus, er lächelte sein Grinsen, es erinnerte sie an den Metzger in ihrem Heimatdorf.
«Willst du nicht mit uns kommen, Silke?» fragte er und funkelte sie an.
Sie riss sich zusammen.
«Natürlich.» sagte sie und sie gingen.


Michael kam zu Hause an und sah die leere Wohnung. Er setzte sich vor den Fernseher und schaltete ihn an, es lief ein Western, auf den anderen Kanälen lief nichts gutes, was ihm gefiel, und auf Nachrichten hatte er keine Lust, er verstand sie meistens nicht Er machte den Fernseher wieder aus und lauschte in die Stille. Draußen bogen sich die Bäume im Wind, irgendwo auf dem Nachbarhof muhte eine Kuh. Er war nie von hier weg gewesen, dachte er, er fragte sich, wie die Welt außerhalb von hier wohl aussah. Man sah sie im Fernseher, sie schien nicht wirklich, das hier war wirklich. Einmal war er mit Mama in München gewesen, aber es war ihm zu groß gewesen, zu viele Menschen, zu viel Chaos, das er nicht verstand. Er war froh, dass Mutter sich so hingebungsvoll um ihn kümmerte, ihn beschützte vor der kranken Welt da draußen. Er dachte an die Schule, an Stefan, seinen besten Freund. Die Clique waren sie, sie hatten den meisten Spaß in der Schule. Die normalen Kinder hielten sich fern von ihnen, weil sie nicht aufgenommen wurden oder weil sie dauernd zuschlugen. Es hatte Vorteile, mit Stefan befreundet zu sein. Sie hatten immer Geld, die Lehrer ließen sie machen, was sie wollten, sie durften sogar einfach während der Stunde raus, ohne dass die Polizei kam, denn auch die war dabei, besonders der Polizeichef, der immer die Hand über sie hielt, es lag bestimmt daran, dass Stefan so beliebt war und mit seiner Tochter zusammen war. Sie wollte ihn heiraten, hatte sie gesagt, wie sie es alle taten. Das entschied sich immer schon in diesem Alter, jedenfalls hier, ob das woanders nicht so war konnte er nicht sagen. Hier heirateten alle schon mit sechzehn, weil sie sicher waren, dass das Leben sicher ist, die Liebe sicher ist, die Kinder. Er hatte noch keine Freundin, aber er hatte sich in eine verliebt, eine, die leider nicht in der Gemeinde war. Sie war ein bisschen kräftig, aber sie war nicht so wie Stefans Freundin, sie war sanft. Michael sehnte sich nach Geborgenheit, die er zwar von seiner Mutter bekam, aber das war ihm zu wenig.
Er ging in die Küche und machte den Kühlschrank auf. Es war kein Saft mehr da, nur das Bier aus einem Kloster. Er machte sich eines auf und es schmeckte ihm unerwartet gut.
Er dachte an sie, wie könnte er es anstellen? Er hatte ihr ja wehgetan. Er wurde traurig. Es war falsch gewesen, dachte er. Er ging mit dem Bier zu der Anlage und sah sich die Musik durch. Seine Mutter hörte nur Klassik, da waren so gut wie alle Sachen vertreten, er legte eine Scheibe von Beethoven ein, setzte sich hin, die Klänge trugen ihn zu ihr, sie hatte so hübsche, grüne Augen, wie Aline, die einfach verschwunden war. Michael war auch in Aline verliebt gewesen, aber sie war eine Zicke, sie hatte sich immer gegen alle gestellt und sie verflucht, sie war eine Hexe, hatte Mutter gesagt, wahrscheinlich wegen ihren Augen, aber die waren doch so schön. Michael hatte Mutter gesagt, dass er in Christina verliebt ist, sie hat es nur in ihren Block geschrieben. Dann war sie in den Keller gegangen. Als sie wieder hochgekommen war, hatte sie gesagt, er solle sie sich aus dem Kopf schlagen, sie ist nicht gut für ihn, sie ist eine Hexe. Also auch sie, dachte er, er ist verliebt in eine Hexe. Er wusste nicht, was er denken sollte, was er machen sollte. Er trank das Bier leer, er wollte noch eines, außerdem fühlte es sich so schön warm an im Bauch und auch sein Kopf war leichter, die Gedanken taten nicht mehr so weh. Er blieb in der Küche. Was könnte er tun? Er wollte sie fragen, ob sie mit ihm ins Kino gehen würde, er würde sie auch einladen.
Je mehr er von dem Bier trank, desto hübscher wurde sie. Er nahm noch eines und stellte es auf den Boden neben dem Kühlschrank, dann setzte er sich auch hin, gleich da.
Er würde ihr morgen, gleich in der ersten Stunde sagen, dass er sie mochte. Er war mutig, er war besser als Stefan, er konnte auch eine Freundin haben. Und er konnte auch glücklich sein, wie Mutter und die anderen. Seine Gedanken gingen mit ihm auf eine Reise, als er das dritte Bier öffnete, die Klänge von Beethoven waren etwas anderes als Hiphop, aber so, mit dem Zeug waren sie wirklich interessant. Sie trugen ihn fort, über die Grenzen des Dorfs hinaus ins weiße Nichts.
Er stand auf, er schwankte, er ließ das Bier fallen, oh je, dachte er, das würde Mutter nicht gefallen, egal, dachte er weiter und schwankte zur Couch. Es war noch nicht spät, es war erst morgens, er legte sich auf die Couch und schlief mit dem Gedanken an seine zukünftige Frau ein.
Er würde ihr morgen den Antrag machen.


Christina kam ganz außer Atem an dem Haus an. Hübsch war es, ja. Aber sie hatte ein ungutes Gefühl. Hastig sperrte sie die Haustüre auf, sah sich um, sie hörte nichts, sie war wohl allein. Überall waren Kreuze und Weihwasserspender, sie sah in jeder Ecke und Ritze Engel und Madonnen. Es roch wie in der Kirche, nur mit einem gewissen Schweißgeruch, der hartnäckig in der Luft hing. Sie hatte eine feine Nase. Es roch nach etwas, dass sie nicht mochte, es war fremd.
Sie rannte in den hinteren Teil des Hauses und fand die Treppe. Es war dunkel hier und sie machte das Licht an. Eine Stange aus dem Geländer war herausgebrochen. Sie sah Blut auf dem Boden, kleine Tröpfchen, als hätte eine Nase geblutet. Sie ging die Treppe hoch, lauschte, hörte aber nichts, aber sie fand die Tür. Sie war mit einem Kreuz auf einer Sonne geschmückt, und sie bekam Angst. Hatten sie ihm etwa was angetan?
«Thomas! Bist du da drin?» rief sie und klopfte an die Tür.
«Wer ist da?» kam es matt von drinnen.
«Christina!»
«Hol mich hier bitte raus, Christina!» rief er, er klang verzweifelt.
«Ja!» sie nahm den Schlüssel und sperrte auf, die Tür war nicht mal abgeschlossen gewesen.
Sie öffnete die Tür und ein furchtbarer Gestank kam ihr entgegen. Dann sah sie ihn, er saß auf einer Art Holzbank und hatte das Gesicht in die Hände vergraben.
«Thomas?» sagte sie.
Er sah zu ihr hoch, Tränen hatten sein Gesicht aufgelöst.
«Du bist es wirklich. Ich wollte nicht fortlaufen, ich wollte mit dir reden! Wirklich! Es tut mir leid, ja?»
«Ja, Thomas, ich weiß. Wir müssen weg hier, schnell!» sagte sie.
«Ich bin froh, dass du mich holen kommst.» sagte er und stand auf. Er trat gegen einen Eimer, der im Zimmer stand und sie sah, warum es so stank.
«Wer hat dich hier eingesperrt?» fragte sie.
«Meine Mutter und ihre Schreckschrauben, Dieter und Doris.» sagte er böse, sie gingen die Treppe runter, durch das Haus, das einem Angst machen konnte.
«Aber warum?» fragte sie.
«Ich kann es dir nicht sagen, hat aber was mit Dämonen zu tun, mit Gott und dieser Kirche.»
In der Küche sah Thomas seine Schatzkiste.
«Warte!» sagte er. Er nahm die Kiste, sah rein, alles war noch da, dann ging er zu dem Schrank und nahm das ganze Bündel Geldscheine, so dick wie ein Buch, er steckte es ein.
«Unser Fluchtgeld.» sagte er und grinste leicht, ihm war nicht mal danach zumute.
Das Herz schlug beiden bis zum Hals, als sie hinaus spähten, aber niemand war da, sie nahm seine Hand und zog ihn zu seinem Elternhaus.
«Wieso hierher?» fragte er sie.
«Deine Mutter hat mir die Schlüssel gegeben.» sagte sie und hielt den Schlüssel hoch.
«Was?» Er verstand nichts mehr. Zuerst sperrte sie ihn ein, dann ließ sie ihn raus?
«Sie ist heute aufgenommen worden. In die Gemeinde.»
«Jetzt wird’s Kompliziert.» sagte er und sie betraten das Haus, da waren immer noch die ganzen Scherben, er dachte an Vater, was er wohl gerade durchmachte?
«Wir sollen in den Keller, uns verstecken.»
«Gut, ich habe noch das Versteck im Kopf, wo Papa seine Waffe hat.» sagte er.
Sie sah ihn entsetzt an.
Er sah ihr tief in die Augen.
«Ich weiß nicht wie es dir geht, aber etwas stimmt mit diesem Ort nicht. Sie haben mich geschlagen und eingesperrt. Ich will diesen verfluchten Ort verlassen. Gleich Heute Nacht, wenn alle Schlafen. Ich habe genug Geld um uns weit weg zu bringen.» Er hielt das Bündel hoch, und mit seinen dreitausend dabei waren das bestimmt so an die zehntausend, dachte er.
Sie grinste.
«Ich auch.» sagte sie
Sie gingen in die Küche, nahmen sich etwas zu trinken, und Thomas plünderte die Süßigkeitenlade, er hatte lange nichts gegessen, seit gestern Mittag nicht mehr. Anschließend ging er in den Keller mit ihr.
Sie setzten sich auf eine alte Couch, die immer noch da stand, Thomas griff in die Couch und holte die Waffe hervor, er wusste, wie man sie zu bedienen hatte.
«Das ist nur, falls die Schreckschrauben mich wieder einsperren wollen.» sagte er und lud die Waffe. Sie sah ihm fasziniert dabei zu.
«Mein Vater hat mir mal gezeigt, wie man sie bedient, aber geschossen habe ich noch nie.»
«Dafür machst du das aber gut.»
«Ich mag keine Waffen, nur Leichen. Ich zeichne sie.» er grinste.
«Ich hab sie mal in der Pause gesehen, sieht gruselig aus.»
«Sollen sie auch, das ist Kunst!» es tat so gut, sich mit ihr zu Unterhalten, fand er.
«Na ja, das sieht bestimmt nicht jeder so.»
«Ich weiß, ich war mal bei dem Malwettbewerb dabei, und sie haben mich fast raus getreten, nur weil sie sagten, das sei Gottlos. Aber mir egal, mir gefällt es.»
Er legte die Waffe weg. Die war nur für die Schreckschrauben, die würden ihn nicht mehr in das Zimmer sperren. Dann doch lieber ein normales Gefängnis, dachte er.
«Was hast du letzte Woche gemacht?» fragte er, um etwas Normales zu sagen.
«Ich habe dich gesucht. Aber du warst weg.»
«Ich war mit Papa weg, dann kamen wir zurück, weil mein kleiner Bruder schwer krank ist.»
Er dachte an Simon. Wo war er jetzt? Bestimmt noch im Krankenhaus. Er stopfte sich eine Handvoll Süßigkeiten in den Mund, dann fuhr er fort.
«Und am selben Abend haben sie mich eingesperrt, die sind total verrückt.»
«Deine Mutter hat geweint in der Kirche.»
«Meine Mutter? Weinen?» Thomas trank einen Schluck Zitronenlimonade.
«Ja, sie sah wirklich traurig aus, ich merke so was. Und sie ist ja dann auch zu mir gekommen und hat mir die Schlüssel gegeben, sie hatte ganz komische Augen.»
«Funkelaugen?» fragte er.
«So wie die Psychologin?»
«Nein, nicht wie die, so schwarz, irgendwie leer.» sagte sie und nahm sich auch eine Limo.
«Komisch, das muss wohl an Tanjas Magie liegen.» sagte er.
Sie stellte die Limo ab.
«Tanja, Magie?»
Er nahm das Pentakel aus der Tasche und sah es an. Es war immer noch warm.
«Was ist das?» fragte sie.
«Ein Pentakel, es ist magisch. Sie hat es mir gegeben, sie mag mich.» sagte er.
«Du bist wohl ein Frauenheld.» sagte sie.
Er sah sie an.
«Sie ist zwanzig und hat einen Freund. Schau mich an. Segelohren, Zehnspange.»
Zum Beweis bleckte er die Zähne.
«Du bist süß.» sagte sie und er wurde rot.
«Jetzt erst recht.» sie lächelte so schön und er hatte das Gefühl, im Boden zu versinken.
Sie tranken Limo und er nahm sich noch mehr Süßigkeiten.
«Christina, da war ein Name gewesen, eingeritzt in der Holzbank, in dem Raum, in den sie mich eingesperrt haben.» sagte er, damit er auf ein anderes Thema kam.
«Welcher Name?» fragte sie neugierig.
«Sarah, kennst du sie? Und kennst du Aline?»
«Ja, Sarah und Aline kenne ich. Aline ist die Schwester von Peter. Sie ist im Januar verschwunden. Sarah letztes Jahr. Aber in Bayern verschwinden doch keine Kinder einfach so, sagen jedenfalls alle.»
Thomas dachte an Peters Augen. Nun konnte er sie lesen. Er war innerlich tot. Thomas war Peter nicht mehr sauer, er dachte daran, dass er ein sehr trauriges Kind sein musste. Er tat ihm jetzt sehr leid.
Aber warum sollte jemand Peter unbedingt helfen müssen? Da war noch was...
Er nahm das Amulett und gab es ihr.
«Was ist denn das jetzt?»
«Mach es auf.» sagte er und sie öffnete es.
«Das ist sie. Aline. Sie war eine Klasse über mir, sie ist mir aufgefallen wegen ihren besonderen roten Haaren, außerdem hat sie auch grüne Augen. Wo hast du es her?»
«Ich habe es gefunden, in der Schule, in einem Flur, jemand hat es verloren.»
«Aline ist die Tochter vom Gottlieb, diesem Arsch.»
«Was, der hat eine Tochter? Dann ist Peter ja auch...»
«Gottlieb ist auch in der ehrenwerten Gemeinde. Der doofe Pfarrer, dann noch Hempel, der ist aber nicht so wichtig, die Psychologin, bei der wir die Stunden haben, dann der Vater von Janine, ein richtig fetter Polizist, ein Arzt, den ich nicht kenne, ich glaube, er heißt Grün oder so, dann noch ein fetter Mann mit Glatze und eine kleine Frau. Und meine Großeltern. Sogar Stefan ist dabei, was ich nicht verstehe. Wenn ich einen vergessen habe tut es mir leid.»
Thomas dachte an den fetten Polizisten, der Vater mitgenommen hatte. Und dann dachte er auch an Stefan und Janine, mit denen er nichts zu tun hatte, außer dass sie ihn quälten. Er dachte an Dieter und Doris, die offensichtlich auch dazu gehörten. Was hatte das zu bedeuten?
«Der fette Polizist hat meinen Vater verhaftet.» sagte er traurig und wischte sich eine Träne weg.
«Und woher weißt du das alles?» fügte er hinzu.
«Ich habe meinen Großeltern manchmal zugehört, sie haben oft von heute Gesprochen, es soll ein besonderer Tag sein. Sie sind ja alle so glücklich, nur ich nicht. Aber ich habe dich ja gefunden.»
Sie umarmte ihn und er spürte ihre Wärme, es tat so gut, wieso hatte er sie nie früher angesprochen?
«Was soll heute denn passieren?»
«Sie und der Pfarrer in der Kirche haben die ganze Zeit von einem Geschenk gesprochen.»
«Die sind irre.» sagte Thomas.
«Wer, meine Großeltern? Da kannst du recht haben, sie haben mich aufgenommen, geben mir zu Essen, schleppen mich in die Kirche und zu der doofen Psychologin, ansonsten beachten sie mich nicht. Ich gehöre nicht hierher, ich bin eine Sünderin. Das habe ich Oma mal sagen gehört.»
«Das ist aber gemein.» sagte er und trank wieder einen Schluck, er war ganz ausgetrocknet, er hatte nicht gewagt, das Wasser anzurühren.
«Ja, ich schneide mich deswegen.»
«Das Blut an deinem Arm?»
Sie nickte. Thomas wollte das nicht, er ging aber auch nicht näher darauf ein.
«Was machen die denn in der Gemeinde?» fragte er dann.
«Ach, das weiß ich nicht so ganz, sie beten irgendwie das Glück an oder so. Sie faseln oft davon, wie sie es verteidigen, gegen die Dämonen.»
«Das mit den Dämonen haben Dieter und Doris auch gesagt.» er grinste, weil er sich an den Schaum spuckenden Dieter auf dem Küchenboden erinnerte.
«Dieter und Doris?»
«Der fette Glatzkopf und seine kleine Frau.»
«Ach so. Aber was sollen die denn tun?»
«Ich weiß nicht. Du sagtest, Aline ist verschwunden?»
«Ja, sie war eigentlich die einzige, die nie mehr aufgetaucht ist. Sarah zum Beispiel hat man drei Tage später in der Glonn gefunden, niemand wusste, wie sie dorthin gekommen war. Man erzählt sich es sei ein böser Mann aus einer fremden Stadt gewesen, der sie im Auto mitgenommen hat.»
Aber Sarah war auch in diesem Raum gewesen...
«Aline ist tot, Christina. Ich habe sie gefunden. Sie hat sich erhängt.»
«Was?» sie schrie fast.
«Sie hatte sogar einen Brief dabei, auf dem stand, dass sie freiwillig geht.»
«Freiwillig?»
«Und dass jemand Peter helfen sollte.»
«Dem kann man nicht helfen.» sie sagte das aus tiefster Überzeugung.
«Gottlieb hat sie auch geschlagen, hat sie geschrieben.» sagte er.
«Der ist der verrückteste von allen, Thomas, ich habe ihn mal beten gehört, in der Schule ist er ja recht normal, aber wenn er bei meinen Großeltern zu Besuch ist dann ist er ganz anders, er kriegt richtige Anfälle, seine Stimme ist ganz anders und was er sagt ist echt unheimlich.»
«Was sagt er denn?»
«Er fleht Gott an, dass er stärker wird, in seinem Kampf gegen die Dämonen, sie sind in seinem Haus, er hat sie rein gelassen, er muss sie vernichten, und meine Großeltern sollen ihm dabei helfen und so einen Quatsch.»
«Dämonen, immer wieder Dämonen.» sagte Thomas und dachte an seinen Leichenblock. Einmal hatte er einen Teufel gemalt, mit einem roten Schwanz und zwei Hörnern, direkt neben einer Bruchrechnung.
«Christina?»
«Ja?» sie sah ihn mit ihren grünen, hübschen Augen an.
«Danke.» sagte er, den Tränen nahe.
«Wofür denn?»
«Du hast mir heute das Leben gerettet.»
Thomas hatte seine Schüchternheit überwunden und gab ihr einen Kuss.


Peter kam Zuhause an. Alle Wege in Hohenkammer waren kurz. Er war natürlich allein. Aber er wusste, was er zu tun hatte. Alle waren im Schlosskeller, wie jeden Sonntag. Sie hielten dort ihre Dienste ab, wie sie sagten, die Dienste am Glück. Er fühlte sich wie ein Vogel, er flog durch die Lüfte, wissend, dass es bald zu Ende war. Aber war gelassen, so wie noch nie. Er dachte an seinen Vater und an das wirre Zeug, das er immer von Erlösung faselte. Ja, Vater, dachte er. Heute wirst du deinen Dämonen begegnen, sie werden dich in ihre Reihen aufnehmen. Aline war auch ein Dämon, er war ein Dämon, alle waren Dämonen, er hatte die Erinnerung an eine Zeichnung von einem Dämon in der Bibel, eine Bestie, die sich über eine nackte Frau beugte und ihr den Hals mit einer Klaue geöffnet hatte. Der Dämon war groß und die Frau ganz klein.
Er lächelte kalt, während er durch die Wohnung ging. Sie war einfach eingerichtet, es gab kein Telefon, keinen Fernseher, alle Möbel waren aus Holz, dem Material Gottes, er hat es uns in seiner großen Schöpfung geschenkt. Es gab nicht mal einen Kühlschrank, er hatte es bei den anderen gesehen, man konnte Sachen kühlen, die Getränke schmeckten besser als bei ihm zu Hause. Und sie waren süß, nicht bitter. Er durchquerte die stille Wohnung, er nahm sich einen Schluck von der bitteren Limonade und verzog das Gesicht. Er dachte an seine Schwester, er sah vor seinen Augen, wie sie tanzte, ihre Haare im Wind wehten, sie sah aus wie eine Königin in seiner Erinnerung. Sie war immer so gut zu ihm gewesen, sie hatte ihm alles beigebracht, sie war ein Jahr älter als er. Sie hatte ihn auch vor seinen Schlägen beschützt, sie hatte leise gelitten, manchmal hatte er sie weinen gehört, und es war jedesmal so schlimm gewesen. Mutter hatte sie auch geliebt, aber sie war zu schwach gegen Vaters Glauben geworden, der alle zusammenhielt. Der Glaube ist gut, Gott ist gut, die Dämonen sind böse. Doch er war selbst ein Dämon, sein Vater und alle anderen waren Dämonen, er musste dem Glauben folgen, dem wahren Glauben.
«Ich komme zu dir, Aline.» flüsterte er.
Frank Gottlieb war nicht nur Englischlehrer und Rektor. Er war auch Sportschütze. Und Peter wusste, wo die Waffen waren. Er nahm den Schlüssel aus Vaters Versteck und ging in den Keller. Dann sperrte er den Schrank auf. Lauter Gewehre und Pistolen lächelten ihn an. Es waren antike Gewehre und neue Pistolen. Er entschied sich für die silbern glänzende Smith & Wesson Target Champion, sie sah so schön aus. Ein 1994er Fabrikat, fünfzehn Schuss, Neunmillimeter-Munition, 1320 Gramm, 24 Zentimeter lang. Er fühlte den kalten Stahl und ein leiser Schauer fuhr über seinen Rücken, es fühlte sich gut an. Er fuhr mit den Fingern über die Pistole und sah in den Lauf. Das Loch des Todes, dachte er. Vater hatte ihn mal damit schießen lassen. Ein wahnsinnig gutes Gefühl. Er nahm die Magazine und die Kugeln, ging nach oben und setzte sich in Alines Zimmer. Er glaubte immer noch ihren Duft zu riechen, dabei war es doch schon so lange her.
Leise ein Kirchenlied vor sich hin pfeifend schob er eine Kugel nach der anderen in das Magazin.


Sie gingen über die Brücke durch das Tor, kamen in den Innenhof, sie war noch nie hier gewesen, dabei war es hier eigentlich hübsch. Das Schloss hatte Rundgänge, sie sah sich selbst in einem Brautkleid da oben stehen und einen Strauß Blumen in die Menge werfen. Es sah so malerisch aus, so gemütlich...
Dieter führte sie über den Innenhof, nahm einen großen Schlüsselbund heraus und sperrte eine schwere Tür auf. Er führte sie durch einen dunklen Gang und sperrte wieder eine Tür auf, die zu einer Wendeltreppe aus Stein führte. Es roch nach altem Gemäuer, die Luft war feucht und Dieter dünstete seinen Geruch aus, der sich hier zu einem anderen, leicht ekelhaften Geruch vermischte. Er ging vor und holte eine Taschenlampe aus einer Nische, leuchtete den Weg, es wurde immer feuchter und kälter, aber sie erreichten bald das Ende der Treppe. Er ging durch eine weitere Tür und sie kamen in einen weiteren, noch dunkleren Gang, nur das Licht der Taschenlampe erhellte die Dunkelheit ein wenig. Dann gelangten sie ans Ende des Ganges und er machte eine weitere, diesmal unscheinbare Tür auf.
Innen war alles von weißen Kerzen erhellt, sie waren alle da, ihre ganzen neuen Freunde. Sie standen um einen Altar herum und murmelten. Als sie Dieter und Silke bemerkten, brach das Gemurmel ab und sie fingen an zu lächeln.
Pfarrer Erhardt kam auf sie zu und sagte: «Willkommen in der Kirche des ewigen Lichts.»
Sie sah nach oben, ein Symbol hing genau über dem Altar, es war das Symbol, das sie auch auf dem Feuerzeug gesehen hatte, dass sie Thomas aus der Hose gefischt hatte. Ein Kreuz auf einer Sonne.
Sie sah Dr. Grün, er hatte eine rote Robe an, genau wie die anderen. Doris sah in der Robe noch kleiner aus, als sie schon war, aber sie wirkte größer, warum, wusste sie nicht.
«Wir haben alles Vorbereitet. Bald ist es soweit.» sagte Dr. Grün und machte eine ausschweifende Bewegung. Silke sah sich in dem Gewölbe um. Es war ziemlich dunkel, aber man konnte alles sehen, bis auf die Bereiche, die hinter dicken Mauern lagen. Sie waren durchlässig, dahinter war es schwarz. Lehrer Hempel kam und streifte ihr eine rote Robe über.
«Komm, Silke.» sagte er und nahm sie wie ein kleines Mädchen an der Hand.
Er führte sie zum Altar, ein schwarzer Block, der nach innen hin abfiel, eine Rinne war eingelassen und sie führte zu einem kleinen, schwarzen Loch. Er nahm ihre rechte Hand und streckte sie über dem Altar aus. Silke bekam ein ungutes Gefühl.
«Gott, unser Hirte, er wird uns Führen, durch die ewige Finsternis, durch die Hölle der Sünde, durch alle Pein und niemals werden wir verzagen, denn die Schmerzen sind nur eine Illusion, wir erweisen uns als würdig, wenn wir unser Blut und das unserer Kinder opfern. Gott, erhöre uns!» rief Erhardt und Hempel, der ihre Hand hielt nahm einen Dolch und schnitt ihr tief in die Hand.
Silke schrie und wollte die Hand zurückziehen, aber Hempel hielt sie eisern fest. Sie sah, dass der Altar ganz glattgeschliffen war, ihr Blut lief in das Loch und versickerte darin.
Silke wusste nicht, wie ihr geschah, wo war sie nur gelandet? Was hatte sie getan?
Sie sah sich um, sie sah die ernsten Gesichter, sie lächelten alle nicht mehr, anscheinend war sie in eine Sekte geraten, eine von den Glaubensgemeinschaften, vor denen ihr Vater sie immer gewarnt hatte. Hempel ließ ihre Hand los und sie taumelte zurück, der Schmerz war unerträglich, sie sah das Fleisch und auch die Knochen, sie konnte ihre Hand nicht mehr bewegen.
«Es ist vollbracht, Silke, du bist jetzt fast ein vollwertiges Mitglied.» sagte Gottlieb.
Sie sah ihn an. Was war hier los?
Stefan kam auf sie zu und gab ihr einen Kelch.
«Trink.» sagte Erhardt.
Sie setzte den Becher an und nahm einen Schluck, es war eine dickflüssige, rote Brühe. Blut.
Sie nahm sich zusammen und schluckte es runter.
«Du bist jetzt bei uns. Du hast aber noch eine Aufgabe vor dir.» sagte Gottlieb. Er war offenbar der Zeremonienmeister, dachte sie. Der Chef der irren, von denen sie jetzt auch eine war.
Sie sah sich um, überall Funkelaugen, sie hatte es nicht für möglich gehalten, dass sich eine Sekte dahinter verbirgt, sie hatte gedacht, es sei einfach der Wunsch nach Frieden.
Sie weinte stumme Tränen, sie wusste nicht, wie sie da noch einmal mit heiler Haut raus kommen sollte.
«Freust du dich denn nicht, bei uns zu sein, Silke? Wir sind all das, was du dir gewünscht hast. Wir sind der glücklichste Bund auf Erden.» sagte Gottlieb und sah nach oben, während er die Arme ausbreitete.
«Wir haben Einfluss in die Politik, wir haben Geld, wir haben Sicherheit, Land, wir besitzen alles, Silke. Du hast deine Aufnahme mit deinem Geschenk möglich gemacht. Du hast uns dein Leben und das deines Sohnes geschenkt und wir geben dir dafür ein neues Leben. Du wolltest es doch so.»
«Ja.» sagte sie und hielt ihre Hand. Stefan, der wohl der Laufbursche war hatte ihr ein Tuch gebracht, dass sie sich nun auf die Wunde hielt. Ihre Gedanken waren wirr, wie ein Blitzgewitter tobten sie durch ihren Kopf, sie bekam wieder Kopfschmerzen, wie heute morgen in der Tankstelle, als sie diese Vision hatte, anders konnte sie es einfach nicht beschreiben. Sie sah die anderen an.
«Wir verlangen nur noch ein Opfer von dir, Silke.» sagte Erhardt. Nein, er war der Chef, Gottlieb war der Fanatiker, dachte sie, sie wunderte sich, warum sie so klare Gedanken hatte, sie hatte das alles nie gesehen. Warum war sie so verblendet gewesen? Ihr Vater war selbst ein Pfarrer gewesen. Sie hatte nie das kleine Dorf in Tschechien verlassen, bis Frank gekommen war. Er hatte ihr die Welt außerhalb des Dorfes gezeigt. Sie war böse, sie war brutal, kalt, voller Gier, Hass und Neid. Eine Zeit hatte es gegeben, da war sie soweit gewesen, sich damit abzufinden. Doch diese Gemeinde hatte ihr den Glauben zurückgebracht. Am Anfang war sie dankbar gewesen.
«Was verlangt ihr?» sagte sie.
Gottlieb funkelte sie an.
«Du wirst deinen Sohn opfern.» sagte er eiskalt.
«Nein!» schrie sie. Das konnte sie nicht tun. Sie konnte niemanden töten. Erst recht nicht Thomas.
«Jeder hier im Kreis hat ein Opfer gebracht, um das Glück des Friedens zu erreichen. Sieh dich um. Wir alle haben und hatten Kinder. Aber du weißt doch selbst, was für ein Unglück es ist, wenn ein Kind krank ist, physisch wie psychisch. Wir zerbrechen uns den Kopf, wollen, dass es ihnen besser geht aber sie wollen nicht. Gott will es nicht. Wir geben ihnen Chancen, aber sie schlagen alle aus. Es ist traurig, aber wir sind nur Konsequent. Wir erlösen sie, für unser Glück und für ihr Glück, so dass sie und wir nicht mehr leiden müssen.» sagte Erhardt und lächelte wie ein Kind, das gerade vor einem Weihnachtsbaum stand.
«Ihr...» sie verstand diese furchtbare Bösartigkeit nicht.
Die anderen sahen sie nur eiskalt an.
Eine Dunkelheit erfasste Silke. Eine nie dagewesene Dunkelheit. Ist es das, was Frank spürte? Wovor er sie bewahren wollte? Sie hatte den größten Fehler ihres Lebens gemacht. Und es war einer von denen, die unumkehrbar waren. Jetzt war sie wieder sie selbst. Die Illusion einer heilen Welt war endgültig zerbrochen. Sie dachte an Thomas, sie wusste, dass er die Fähigkeit hatte, das alles zu unterscheiden. Er musste leben, hoffentlich hatte Christina ihn gerettet.
«Das mit Simon tut mir leid, normalerweise tun wir den Kindern in diesem Alter nichts, aber er war unheilbar krank, er hat nichts gespürt.» sagte Dr. Grün plötzlich.
«Was?» hauchte sie.
«Ich habe ihm eine Überdosis Morphium gegeben, es ist für alle besser, Silke. Für dich, für ihn, für uns.»
«Das glaube ich nicht. Ihr tötet kleine Kinder, ihr...» sie wusste das Wort nicht.
Die kalte Luft des Kellers schlug über ihr zusammen, ihr wurde schwindlig.
«Sie sind besessen von den Dämonen, sie wissen es noch nicht, aber wir wissen es besser. Sie wachsen heran zu Mördern, zu Kinderschändern, Vergewaltigern, Dieben, und sie wachsen heran zu Krüppeln, zu Pflegefällen, sie werden nie gesund. Sie schlucken eine Menge Geld, damit sie Leben können, wir befreien die Gemeinschaft nur von der Last, die sie für uns darstellen.» sagte Erhardt in seinem Ton, es klang wie eine Predigt, nur schien es diesmal eine Schwarze Messe zu sein.
Silke dachte an Simon, sie hatte seinen Tod besiegelt, indem sie sich Doris angeschlossen hatte, sie war es, sie hatte ihr das ultimative Glück versprochen. Sie hatte die ganze Zeit von Licht und Glück geredet, schließlich waren sie in einem kleinen Dorf, hier gab es keine Verbrechen, alle waren glücklich, jeder lebte im Wohlstand, alles war Perfekt!
Und sie war darauf reingefallen.
«Wir haben sie leiden lassen, um sie zu reinigen.» sagte Erhardt dann.
Es wurde immer bösartiger, Silke verlor langsam ihren Verstand, doch der Rest in ihr wollte auch noch die Details wissen. Sie wollte dem Teufel in die Augen blicken, damit sie sagen konnte, sie habe alles gesehen. Sie wollte es. Auch wenn ihr Vater sie davor gewarnt hatte. Er hatte sie auch vor Frank gewarnt, aber er war in seinem Herzen ein guter Mensch. Er hatte sie nie geschlagen, er hatte sie nie bedrängt, wenn sie keine Lust auf Sex hatte. Sein einzigen Fehler waren, dass er zu viel trank und dass er das Gesetz missachtete. Er war süchtig und ein Gauner.
«Wir haben sie leiden lassen, sie sind rein gestorben, damit ihre Seelen in den Himmel auffahren können. Wir haben ihnen die Dämonen aus dem Leib getrieben, Silke.» sagte Dieter.
Sein Blick war der eines Henkers. Sie wusste, dass er sie alle getötet hatte. Er war der kräftigste.
«Du hast es getan.» sagte sie zu Dieter.
Er nickte nur. Silke fing an zu zittern. Dann sagte sie: «Wie, Dieter. Wie?»
«Wir haben sie hungern lassen, in dem Raum, den du gesehen hast, du warst ja dabei. Wir haben sie geschlagen, aufgeschnitten. Wir haben sie langsam ausbluten lassen. Am Ende waren die Dämonen verschwunden, sie waren nur noch kleine Hüllen. Anschließend haben wir sie hierher gebracht. Sie haben uns angefleht, sie sterben zu lassen, und wir haben ihnen diesen Wunsch gewährt. Wir sind so glücklich, dass sie jetzt in einer besseren Welt sind.» sagte Doris und lächelte selig.
Silke wurde fast ohnmächtig, das, was ihre angebliche Freundin da gesagt hatte war nicht real. Sie hatte es falsch verstanden, das konnte nicht sein. Es waren doch noch Kinder!
Der Richter ergriff das Wort. Er hatte ihr dabei geholfen, Frank einsperren zu lassen.
«Wir mussten auch erklären, wohin die Kinder verschwunden waren. In Bayern verschwindet kein Kind einfach so. Wir haben die Lehrer, Hempel ist gleichzeitig der Rektor der Schule, wir haben unseren Polizeimeister, Chrirurgen und Psychiater, unsere Psychologin hier, wir haben alles. Sie starben immer eines natürlichen Todes. Dr. Grün war so freundlich und stellte die Totenscheine aus. Meine Frau bestattete sie. Alles ist ganz normal, sehen sie?» sagte er und die alte Frau nickte sanft. Der Alte reichte ihr eine Liste, auf der Namen und Daten standen. Manche waren in der Vergangenheit, manche in der Zukunft. Sie las auch Simon und Thomas. Und Christina, seine Freundin. Ein Name war durchgestrichen, Aline Gottlieb. Die Tochter des Cheffanatikers. Die arme, ob sie noch lebte?
Silke spürte das dunkle Gefühl jetzt ganz. Sie wollte alle töten, aber das konnte sie nicht. Zufällig trafen sich ihr und Stefans Blick. Er war nicht wie sie. Er hatte Angst, das war allerdings das einzige Gefühl in ihm. Er würde das Vermächtnis irgendwann zerstören. Er wollte nur überleben. Er würde sie alle töten. Das stand ihm in sein Gesicht geschrieben. Er gab nur das zurück, was er empfing. Er tat ihr fast leid. Und die anderen waren Blind, sie sahen es nicht. Sie sahen nur diese einzige Sache.
Erzwungenes Glück. Sie waren alle wahnsinnig.
«Ihr seid krank!» schrie Silke
«Nein, Silke, wir sind nur Konsequent, wir alle haben Opfer erbracht. Es tut weh, aber nachher können wir nach vorne schauen. Du kannst nach vorne schauen. Wir bringen dir bald deinen Sohn, er gehört doch dir.» sagte Doris und hob die Arme wie Jesus.
«Wie konnte ich euch nur vertrauen?» schrie sie, sie wurde heiser.
«Du bist eine von uns, Silke.»
«Bin ich nicht!» schrie sie Doris an.
«Bringt sie nach hinten.» sagte Erhardt und Dieter packte sie.
Sie schrie nach Frank, aber der war nicht mehr da, es war allein ihre Schuld.


Peter hatte in dem dunklen Gang gestanden und zugehört. Er hatte alles gehört. Es war unglaublich. Deswegen war Aline also tot. Weil Dieter sie umgebracht und die anderen ihm dabei geholfen hatten. Er kannte alle in diesem Raum. Eigentlich waren es seine Freunde. Die Tür ging auf und Dieter und Doris gingen raus. Peter konnte gerade noch so in Deckung gehen. Dann ging die Tür wieder zu. Er wartete bis sie um die Ecke verschwunden waren, dann ging er zu der Tür und öffnete sie. Er sah Stefan, er hatte eine Rote Robe an, wie die anderen. Nur der Pfarrer trug eine schwarze. Er sah ihm tief in die Augen. Sie waren kalt. Aber Peter spürte Stefans Angst. Er ging darin auf.
«Ihr habt sie getötet. Ihr...»
«Was redest du da, Peter?» fragte sein Vater, der nicht mehr sein Vater war. Er war ein Dämon.
«Ihr habe Aline und Mutter auf dem Gewissen! Und was weiß ich wie viele andere noch.»
«Peter, du bist verrückt!»
«Nein, Vater, ich weiß nun was wahrer Glaube ist.»
Der Vogel flog der Sonne entgegen. Er wusste, dass sie ihm die Flügel verbrennen würde, aber es war ihm egal. Er war endlich frei.
«Ihr habt Aline gefoltert.» sagte er frostig.
Sein Vater kam langsam auf ihn zu.
«Nein, Peter, wir haben Aline nicht gefoltert. Sie ist verschwunden.» sagte sein Vater und Peter sah, dass es die Wahrheit war. Aber es war ihm egal. Sie war weg und würde nie wiederkommen. Und auch Mutter nicht. Alles, was er liebte war tot. Und er würde jetzt auch den Tod bringen.
«Du hast sie fertig gemacht. Du Wusstest, dass sie Sex vor der Ehe hatte, Vater. Deswegen hast du uns alle dazu gebracht sie in den Selbstmord zu treiben!»
Er zog die Waffe und alle erstarrten. Besonders Stefan. Seine Augen füllten sich mit Angst.
«Peter, alles wird gut.» sagte Vater
«Du hast recht. Jetzt wird alles gut.»
Seine Augen waren schwarz, als er seinem Vater eine Kugel in den Bauch schoss und sah wie er blutend zusammenbrach. Die anderen hatten jetzt alle Angst. Das war schön.
Er stieg über seinen Vater und ging auf die anderen zu. Sie stoben auseinander, Peter konnte ihre Angst körperlich spüren. Die Angst, es war das schönste der Welt. Noch vierzehn Kugeln, noch sieben Personen. Zwei für jeden. Sein Verstand funktionierte Sonnenklar. Er, der Vogel war der Sonne jetzt sehr nahe. Er lächelte. Er stand in der Tür, und niemand konnte diesen Raum verlassen. Er fing an.
Er traf Stefan ins Bein, er schrie wie ein Baby, sprang zur Seite, traf die Alten, sie waren keine ernsthaften Ziele, sie waren eher wie Kegel. Er schnellte in den verborgenen Gang und sah den Pfarrer, den er am Kopf erwischte und der dann seufzend zusammenbrach. Er hörte hinter sich Schritte, drehte sich um, es war der Doktor, er stand nur einen Meter vor ihm. Er schoss ihm eine Kugel in die Brust. Er hörte es leise zischen, dann stieg er auch über den Doktor und sah die Psychologin, wie sie gerade durch die Tür schlüpfen wollte. Er schoss ihr in den Rücken und ein schriller Schrei entfuhr ihr, ehe sie zusammenbrach. Einer fehlte noch, es war Hempel.
Leise schlich er durch den Raum und lauschte auf jedes Geräusch. Dann hörte er etwas, aber zu spät. Hempel rammte ihm einen langen Dolch in die Schulter. Peter schrie, fuhr herum und schoss noch einmal auf den Lehrer, der schon wieder den Dolch aus ihm herausgezogen hatte. Dann ließ er die Waffe fallen vor Schmerz. Peter taumelte, er verlor viel Blut. Die Kerzen tanzten vor seinen Augen und er stolperte, wäre fast hingefallen. Er schleppte sich zu dem Altar und setzte sich davor auf den kalten Steinboden. Er dachte an Aline, wie sie in dem hübschen Blümchenkleid vor ihm gestanden hatte, sie hatte immer so gut nach Rosen gerochen. Er würde bald bei ihr sein. Bald.


Der Soldat wartete. Er war ein Tier. Er roch Blut. Seine Sinne waren geschärft, seine Muskeln waren wie Stahl. Er war entschlossen. Er stand an der Wand und hörte nach draußen. Er atmete ruhig, zitterte ein wenig, aber das war normal. Seine Handgelenke bluteten, aber das spielte keine Rolle. Er spürte keinen Schmerz. Alles was er spürte war Dunkelheit, unendliche Dunkelheit. Er war vollständig böse. Dann, nach einer Ewigkeit kamen sie. Schritte. Es waren mehrere. Der Soldat freute sich wie ein kleines Kind. Der Riegel wurde beiseite geschoben und die Tür geöffnet.
Frank sprang dem Bullen mit den Füßen ins Gesicht. Er ging zu Boden. Da! Noch einer. Er schlug ihm mit der Faust in den Magen, dass er zusammenbrach. Er nahm die Waffe von dem ersten Bullen und fühlte das kalte Metall. Eine Glock 17. Oh, wie hatte er es vermisst! Er lud sie durch und schoss den Bullen jeweils zwei Kugeln in den Kopf. Blut spritzte. Er schmeckte es. Am liebsten hätte er es getrunken. Frank fühlte nichts, er war im Krieg, das erste Mal ein echter Einsatz. Er musste wohlüberlegt handeln. Das hier war ein Bullenrevier. Sie sind wie die Ratten. Kommt einer, dann gleich alle. Doch waren sie keine Gegner für ihn, sie hatten nur die normale Polizeiausbildung gehabt, er hatte etwas anderes genossen. Wieder Schritte. Frank duckte sich.
«Oh mein Gott.»
Es war der, der ihm den Schnaps gegeben hatte.
«Kuckuck!» sagte Frank und schoss ihn nieder. Dann kamen keine Schritte mehr. Er nahm noch eine Waffe, und die des anderen auch, die er sich hinten in die Hose steckte. Er ging langsam die Treppe hoch. Langsam sah er um die Ecke. Er sah den fetten Kerl, der ihn so angefunkelt hatte. Er hatte ein Funkgerät und eine Pistole in der Hand. Der Bulle sah ihn, aber zu spät, Frank schoss ihm die Pistole aus der Hand. Der fette Kerl schrie vor Schmerz. Er hatte ein paar seiner Finger verloren. Er ging zu ihm.
«Weicheier, verdammte. Wo sind die anderen?» sagte Frank und gab ihm einen Schlag mit der Pistole auf den Kopf.
«Auf Streife.» jaulte der Dicke.
«Und wir beide sind jetzt ganz allein?» fragte Frank.
«Bitte, ich wollte das nicht. Ich... habe eine Tochter!»
Frank packte seinen Hals.
«Was wolltest du nicht? Meine Familie, mein Geld? Das wolltest du nicht? Lüg doch nicht, Dickerchen. Du hast es mir doch in die Fresse gesagt.»
«Meine Tochter... Janine... sie kommt gleich.» sagte er.
Dem Mann stand die nackte Panik ins Gesicht geschrieben. Frank drückte stärker zu. Der Mann bekam jetzt kaum noch Luft mehr. Sein Kopf wurde rot.
«Die Papiere.» sagte Frank.
Der Dicke zeigte auf den Verhörraum.
«Danke, Arschloch. Und deine Tochter ist ohne dich besser dran.»
Dann drückte er so fest er konnte zu. Seine Augen traten hervor. Er erstickte, seine Farbe wechselte zu rot, über lila zu kaltem Blau. Er fing an zu zucken. Das Tier heulte. Es war ein so wunderbares Gefühl, diesen Wichser eigenhändig zu erwürgen. Als er bewusstlos war, ließ Frank ihn fallen und schoss ihm noch eine Kugel in den Kopf.
«Jetzt sind wir fertig, Fettwanst.» sagte er zu der Leiche.
Frank trat die Tür zu dem Raum ein. Da stand immer noch der Aktenkoffer, die Flasche und die Zigaretten. Er nahm alles an sich und trank einen Schluck von dem guten Whisky. Er ging zu dem Fetten Kerl und nahm ihm seine Schlüssel ab. Er hatte oft Bullenreviere von innen gesehen, sie waren im Prinzip alle gleich.
Dann ging er in einen anderen Raum, in denen Waffen und Schlüssel waren. Er nahm einen Schlüssel, der die Aufschrift 7676 trug. Er sperrte den Waffenschrank auf.
«Hübsch.» sagte er.
Dann nahm er sich die Winchester und Munition. Er ging nach draußen, einfach durch den Vordereingang. Ein kleines, hässliches Mädchen wollte gerade rein gehen, sie sah Frank und erstarrte, er sah an sich runter, er war ja auch voller Blut.
«Ich an deiner Stelle würde da jetzt nicht rein gehen.» sagte er zu ihr und sie lief weg.
Er sah die Bullenautos und suchte die Kennzeichen ab. Da stand eines mit FS-7676.
«Ihr Bullen seid doch alle Idioten.» sagte er, stieg ein und fuhr los.
Es waren nur sechs Kilometer. Ein Katzensprung.


Dieter erstarrte, als er die Eingangstüre seines Hauses offen stehen sah. Doris war noch nicht da. Niemand schien da zu sein. Er sah auf den Küchentisch und merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Dose von dem Gör war weg, Es war still. Er rannte nach oben und sah, dass die Stahltüre offen war. Thomas war weg. Er musste ihn suchen, weit konnte er nicht sein. Das Geld. Das Geld, es durfte nicht weg sein. Er rannte wieder runter, stürmte an den Schrank und öffnete ihn. Die Papiere waren noch da. Er atmete auf. Er rief im Schloss an, normalerweise war auch unten in dem Zeremonienraum ein Telefon, extra für Notfälle. Seltsam, niemand ging ans Telefon. Eigentlich müssten sie alle dort sein. Okay, etwas lief gewaltig schief. Er wollte schon rausgehen, da kam Doris mit den Kindern ins Haus.
«Doris! Der Bengel ist weg!»
«Was? Das darf nicht sein! Geh ihn suchen! Ich passe auf die Kinder und das Geld auf.»
«Aber etwas läuft gewaltig schief, Doris.»
«Hier, der Schlüssel für Silkes Haus. Er ist bestimmt dort, wenn nicht suchen wir ihn beide.» sagte sie.
Er nahm den Schlüssel, ging in den Garten und nahm sich eine Axt. Er würde diesen besessenen Jungen auf der Stelle töten. Er hatte den Teufel wirklich gesehen, der Junge musste sterben. Unbedingt.


Thomas hörte die Tür oben aufgehen.
«Christina, verstecke dich, schnell.» flüsterte er.
Sie versteckte sich hinter ein paar Kartons. Er hörte ihren Atem, er hoffte, dass es Vater war, aber daran glaubte er nicht. Er nahm die schwarze CZ 75, löste den Sicherungshebel mit dem Daumen und vernahm das leise Klicken. Es hatte etwas Beruhigendes. Die Waffe seines Vaters lag auch in kleinen Händen gut, fand er, sein Atem drang stoßweise hervor, er saß auf der Couch und hatte den einzigen Eingang zum Raum im Blick. Fahles Licht fiel durch das Kellerfenster auf den Steinboden.
Er hörte Schritte, es waren nicht die von Vater, sie waren etwas schleppend, jemand keuchte. Derjenige lief hoch, riss Türen auf, lief wieder runter, ging über die Scherben in der Küche, dann kamen sie die Treppe runter. Thomas war äußerst angespannt. Er wusste nicht, ob er jemanden erschießen konnte. Ein Mann war das, es war Dieter, er sah seine groben Umrisse, er sah den fetten Bauch. Er hatte eine Axt in der Hand.
«Thomas! Da bist du ja. Wir suchen dich, komm mit mir.» sagte er honigsüß und kam auf ihn zu.
«Keine Bewegung.» sagte Thomas, er hörte Christina schneller atmen.
«Du wirst mich doch nicht erschießen, soviel Mumm hast du nicht, du kleiner widerlicher Bengel.»
Er kam näher, er hatte die Axt erhoben. Thomas spürte die Gefahr. Sie war nur noch vier Meter von ihm entfernt. Er legte den Finger auf den Abzug.
«Halt, du Arschficker.» sagte er.
«Ich ficke dich, du kleiner Bastard!» schrie er und stürmte auf ihn zu, er sah die Axt blitzen.
Er oder ich, dachte Thomas und drückte viermal ab, die Schüsse dröhnten in seinen Ohren.
Das nächste, was er vernahm war das Geräusch der Axt, wie sie auf den Boden fiel, gefolgt von einem Stöhnen, dann das dumpfe Geräusch, als Dieters schwerer Körper auf den Boden aufklatschte. Die Waffe rauchte, Thomas zitterte, er legte sie neben sich.
Dann hörte er Christina schluchzen. Die arme, dachte er, ihm war der Fettwanst egal, aber sie würde ihn nicht mehr mögen, weil er jemanden getötet hatte. Er sah, wie Dieters Blut sich unter ihm seinen Weg durch die Ritzen bahnte. Er roch das Schießpulver und der Geruch brannte sich in seinem Kopf ein.
«Christina, er ist tot.» sagte er tonlos.
Sie schluchzte immer noch, aber sie kam aus dem Versteck heraus. Dann erstarrte sie, als sie Dieter da liegen sah. Sie sah Thomas an.
«Es musste sein. Er hätte mich sonst getötet. Und dich wahrscheinlich auch.» sagte er.
Sie sagte nichts, sie stand einfach nur da und ihr Tränen liefen ihr unkontrolliert über ihr Gesicht.
«Ja.» sagte sie leise.
«Es tut mir leid.» sagte er.
Sie sah ihn mit ihren grünen Augen an.
«Lass uns woanders hingehen.» sagte sie dann.
«Wir gehen in mein Zimmer.» sagte er zu ihr, steckte die Waffe ein und nahm ihre kalte Hand.
Sie stiegen beide über Dieters Leiche, die den Eingang versperrte, fast wäre er auf dem ganzen Blut ausgerutscht. Christina schrie nicht mal, sie schluchzte nur, das hier war die Hölle, dachte er und sie verließen den Keller.


Doris hatte die Schüsse nicht gehört, weil ihre Kinder so laut geschrien haben. Sie hatte keine Ahnung, warum Silke auf einmal nicht mehr mit ihnen sein wollte. Dabei war das alles doch so einfach. Nur ein kleines Opfer, und alle Sorgen würden gehen. Sie ging in die Küche und machte sich ein Bier auf, so hatte sie nicht damit gerechnet, dachte sie. Ja, sie hatten jetzt das Geld, und sie würde auch eine Million bekommen, aber irgendwie hatte sie Silke doch in ihr Herz geschlossen. Sie war eine gute Frau, sie war hübsch und würde einen Mann aus diesem Ort sehr glücklich machen, wenn sie ihm ein Kind schenkte. Wahrscheinlich Gottlieb, er hatte doch seine Frau verloren, und Silke könnte dann Peter großziehen, er war ein so gläubiger Junge, ganz wie sie es sich gewünscht hatte. Sie müsste nur wieder an den wahren Glauben heran geführt werden. Sie trank das Bier und dachte an die Zukunft. Was würde sie mit dem vielen Geld machen? Ihr Mann war schon sparsam und sie hatten schon viel Geld. Sie würde ihn dazu überreden, eine Reise zu machen, nach Amerika, dort hatte sie eine Bekanntschaft, auch sehr gläubige Menschen, wunderbare Menschen.
Hoffentlich fand Dieter den Jungen, er war ein besessener, ein Teufel. Wie all die anderen Kinder auch. Pfarrer Erhardt, er war ihr Ziehvater gewesen, er hatte sie in den wahren Glauben geführt. Sie war fest davon überzeugt, dass man das Böse ausrotten musste. Sie hatte es gefühlt, die Welle, als es in der Küche passierte. Der Junge hatte Kräfte, die sie nicht verstand. Er war auf der anderen Seite, sie stand im Licht und er war einer der dunklen Fürsten. Sie dachte an Frank, er war sein Vater, ein korrupter Geschäftsmann, der über Leichen ging. Sein Sohn hatte alles von ihm bekommen. Frank würde seines Lebens nicht mehr froh werden. Der Doktor würde ihm in der Psychiatrie einen Besuch abstatten und ihm etwas geben. Es war so einfach, man musste nur die richtigen Entscheidungen treffen.
Sie erschrak leicht, als sie ein Auto mit quietschenden Reifen vor ihrem Haus hörte. Sie sah aus dem Fenster, es war ein Polizeiauto, aber der Mann, der ausstieg war kein Polizist, nein, es war der Mann, der eigentlich schon auf dem Weg in den Tod sein sollte. Er war voller Blut und hatte eine Schrotflinte in der Hand. Sie ließ das Bier fallen und rannte in das Wohnzimmer, Dieter hatte eine Waffe, wo war sie nur? Sie hatte das Ding nie gebraucht, sie wusste nicht einmal wie man damit umging. Waffen waren des Teufels. Aber sie fand sie und nahm sie in die Hand, drehte sich um.
Sie hörte einen lauten Knall und schreckte zurück. Er hatte ein Loch in die Tür geschossen, sie war offen und schwang hin und her, er trat dagegen und die Tür flog vollends aus den Angeln. Er stürmte in das Haus und sie hielt die Waffe vor sich. Gleich würde er um die Ecke kommen, sie würde ihn erschießen. Sie musste es tun, um das Geld und den Kreis zu retten.
Sie sah ihn und drückte den Abzug, doch es tat sich nichts.
«Der Sicherungshebel an der Seite, Süße.» sagte er und sie spürte einen harten Schlag am Kopf und ging zu Boden. Sie sah Sterne, sie merkte einen gräßlichen Schmerz am Kopf, als er sie brutal an den Haaren in die Küche schleifte, sie schrie, er ließ ab und gab ihr einen heftigen Tritt in den Bauch, sie erbrach sich, lag in ihrem eigenen Erbrochenen.
«Wo ist denn dein Schmusebär?» sagte Frank und gab ihr einen Tritt in die Rippen. Sie stöhnte, der Schmerz explodierte. Die Ohnmacht war im kommen, das spürte sie.
Wieder wurde sie an den Haaren gezogen, er riss ihr ganze Büschel aus, sie fühlte ihr Blut an ihrem Kopf herunterlaufen. Dann wurde sie hochgehoben und auf einen Stuhl gesetzt, sie keuchte, alles tat so weh, wieso hatten sie ihn nicht festhalten können? Was war passiert? Hatte er wirklich alle getötet? Aber es waren doch gute Polizisten. Sie spürte einen heftigen Schlag in ihrem Gesicht, wieder drehte sich alles. Sie hörte ihre Kinder schreien, es tat ihr leid, dass sie nicht bei ihnen sein konnte.
«Beweg dich nicht, Schlampe.» sagte er und riss den Vorhang vom Fenster, er fesselte sie auf dem Stuhl, sie wehrte sich nicht. Sie dachte an Dieter, ihren guten Ehemann. Er hatte doch nur im Auftrag von Gott gehandelt, aber er würde sie retten, sie würden nach Amerika gehen, nur sie und die Zwillinge. Sie spürte den Druck, der von dem Vorhang ausging. Er hatte sie so gefesselt, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie stöhnte, alles war voller Schmerzen, noch nie hatte sie solche Schmerzen ertragen müssen, sie hatte immer gedacht eine Geburt wäre das schlimmste. Aber das stimmte nicht.
«Wo ist mein Sohn? Wo ist mein Geld?» schrie er sie an.
Sie sah zu ihm hoch, er sah aus wie Luzifer persönlich.
Sie lächelte den Teufel an.
Er schlug ihr mit dem Kolben in den Magen, es tat so weh, wieder erbrach sie sich, die Brühe lief ihr an ihrem Kleid herunter.
«Sag es mir oder du bist tot, Schlampe.»
Sie würgte, sie wollte, dass Dieter wieder kam und sie rettete.
«Du willst doch nicht deine beiden schreienden Kinder allein lassen, oder?» sagte er und richtete den Lauf auf ihre Brust. Nein, dachte sie, das wollte sie nicht, sie liebte ihre Kinder.
«Nein.» sie spuckte schon Blut, der Mann war stark und schlug heftig zu.
«Also, Schlampe, fangen wir an. Wo ist Thomas?»
«Ich weiß es nicht... Dieter sucht ihn... er bringt ihn ins...» Der Rest ging in einem Gurgeln unter.
Sie sah ihn an, jetzt wusste sie, warum Silke mit ihm verheiratet war, er war ein Hüne, ein Mann, den nichts auf dieser Welt erschüttern konnte. Sogar sie sah ihn jetzt mit anderen Augen.
«Komm schon, Süße, sag mir wo mein Sohn ist.» sagte er ganz freundlich.
«Schloss... Keller...» brachte sie hervor.
«Na also, Süße, geht doch. Kommen wir jetzt zum Geschäftlichen. Wo ist mein Geld?»
Sie spuckte wieder Blut, es schmeckte so grausam, dachte sie. Wo blieb Dieter, er wollte doch auf dem Weg zum Schloss bei ihr vorbeikommen.
Sie spürte wieder den Kolben in ihrem Gesicht, hörte ihre Nase brechen. Ihr Sichtfeld wurde schwarz. Er holte sie mit ein paar kräftigen Ohrfeigen ins Leben zurück. Sie ächzte wie eine alte Tür.
«Doris, das Geld. Der nächste Schlag bringt dich vielleicht um.» sagte er leise.
Sie sah zu einem Schrank und wollte etwas sagen, aber sie konnte nicht, sie spürte nur einen einzigen, großen Schmerz.
Frank hatte ihren Blick bemerkt und ging zu dem Schrank, er riss ihn auf und sah einen Aktenkoffer, er legte ihn behutsam auf den Tisch und machte ihn auf.
«Idioten.» sagte er.
Es war noch alles da. Dann ging er wieder zu ihr.
«Damit du mir nicht auf die Idee kommst abzuhauen, Schlampe.» sagte er und hielt ihr die Flinte an den Fuß. Er drückte ab und schoss ihr den Fuß samt Schuh weg. Blut spritzte überall hin. Doris schrie wie am Spieß, es waren die schlimmsten Schmerzen der Welt. Dann verlor sie das Bewusstsein.

Frank schnappte sich den Aktenkoffer, ging durch das verfluchte Haus und sah an der Wand den Schlüssel für Dieters weißen Mercedes. Er grinste und nahm ihn. Er ging zu dem Wagen und sperrte ihn auf. Es war eines der Modelle, die er früher geklaut hatte, er fühlte sich sofort in dem Wagen wohl, wenn man von Dieters strengem Geruch absah. Er kurbelte das Fenster runter und startete den Wagen. Ein tiefes brummen war zu vernehmen, er schaltete den Rückwärtsgang ein und fuhr mit quietschenden Reifen aus der Einfahrt. Dann bremste er abrupt und jagte den Vorwärtsgang rein. Er würde den verdammten Mercedes auf der kurzen Strecke zu Schrott fahren. Er hinterließ schwarze Spuren, als er die Straße entlang raste. Es waren kaum Leute unterwegs und sie sahen ihm erstaunt nach, normalerweise fuhren hier nicht mal die Fahranfänger so schnell. Er fuhr die Lärchenstraße lang, raste einfach über die Kreuzung, der Wagen hob wegen der Bodenwelle etwas ab und wäre fast mit einem Opel kollidiert, der Fahrer setzte seinen Wagen in einen Graben.
«Ja! Scheiße! Wie in alten Zeiten!» schrie er und gab Vollgas.
Er raste die Petershauserstraße lang und an der Abbiegung zur Schloßstraße riss er das Lenkrad herum, der Wagen verlor für eine Sekunde mit zwei Rädern den Kontakt zum Boden, er spürte die Fliehkräfte und hatte für die eine Sekunde Angst, dass er vielleicht doch zu schnell gewesen war. Doch der Mercedes war schwer und kam wieder auf alle vier Räder auf. Frank schrie nur noch, und warf den höheren Gang rein. Er trat voll aufs Gas und rauschte die abfällige Straße runter. Er erreichte die Brücke und donnerte an einer Frau vorbei, die fast in die Glonn gesprungen wäre. Er sah das Schloss und neuen Gebäude, soweit er wusste war es ein Hotel. Er trat mit voller Wucht auf die Bremse, und der Wagen schlitterte auf dem Schotter noch gute hundert Meter nach vorne, kam dann zum stehen und Frank keuchte, als er aus dem Wagen stieg. Der Mercedes hatte erstaunlich gut durchgehalten, fand er. Es rauchte nicht einmal aus der Motorhaube. Er nahm die Flinte und den Koffer, ging über die Bücke und durch das große Tor. Es war ein großes Schloss, aber es waren Schilder angebracht. Der Innenhof war hübsch, fand er, hier feierten sie bestimmt ihre Hochzeiten. Er folgte einem Schild, auf dem Schlosskeller stand. Er trat durch eine Tür, wunderte sich noch, warum niemand hier war, dann durch noch eine, sah eine steinerne Wendeltreppe. Es war dunkel. Er nahm sein Feuerzeug und leuchtete sich behutsam den Weg hinunter. Er erreichte das Ende und fand einen langen Flur vor, auch der war dunkel, er ging so schnelle es ging vorwärts und kam nach etwa einer halben Minute an eine weitere, kleine Tür. Er stieß sie mit dem Fuß auf und legte seine Waffe an. Gleich...
Er blieb stehen, als er die ganzen reglosen Körper im Kerzenschein liegen sah.
«Scheiße, wer war das?»
Langsam, auf jedes Geräusch achtend ging er durch den Raum, der fast so groß wie eine Halle war. Er stieg über einen Mann, den er nicht kannte, es war Gottlieb. Frank erblickte einen Altar und ein großes Zeichen, das über ihm hing. Es war das auf dem Feuerzeug, dachte er. Dann sah er sich um, niemand bewegte sich, an dem Altar lag ein Junge, er hatte die Augen weit geöffnet, sie waren starr. Nicht weiter weg lag eine weitere Leiche und eine silberne Pistole daneben. Die Leiche erkannte er, es war Thomas‘ Klassenlehrer, er hatte einmal mit ihm gesprochen, er hielt einen Dolch in seiner Hand. Alle hatten rote Gewänder an, das hier war wahrscheinlich eine Sekte oder so, das Symbol ließ darauf schließen. Er glaubte nicht, was er sah. Es war ein Blutbad. Wer hatte es angerichtet? Er sah einen blutverschmierten Zettel und hob ihn auf. Es waren Namen darauf, er überflog die Liste. Dann blieb er an einem hängen. Simon Reiter, darunter Thomas Reiter. Über den beiden war einer durchgestrichen. Aline Gottlieb. Er hatte schon von ihr gehört. Ihm fiel das Amulett ein, das Thomas um den Hals getragen hatte. Er sah ihr Gesicht vor sich, die roten Haare, die grünen Augen. Sie war doch seine Freundin, oder?
Frank hörte ein stöhnen, es kam von der Seite. Ruckartig riss er die Waffe herum und sah ein Kind, es bewegte sich. Aber auch das Kind hatte dieses rote Gewand an. Er ging zu dem Kind und stellte sich daneben, es war ein Junge, er kannte ihn, er war mal mit Thomas zu Hause gewesen und hatte den größten Teil des Kuchens verschlungen.
«Wie heißt du?» fragte er.
Der Junge war ins Bein getroffen worden, er hatte wahrscheinlich große Schmerzen. Aber Frank war nicht gerührt, es war einer von denen.
«Stefan.» sagte er.
Frank erinnerte sich an Thomas‘ Tagebucheinträge, das war bestimmt dieser Stefan.
«Was ist hier passiert?» fragte er den Jungen.
Er stöhnte wieder, wahrscheinlich hatte er sich schon die Seele aus dem Leib geschrien, denn er hörte sich ganz heiser an.
«Peter, er hat alle erschossen. Er...»
Frank sah, wie Stefan schwitzte, die Schusswunde war nicht schön, sie hatte glatt sein Bein samt Knochen durchschlagen. Peter, dachte er, das musste der Junge an dem Altar sein, er war der einzige, der normal gekleidet war.
«Was habt ihr hier gemacht?» fragte Frank den Jungen.
«Wir sind die Kirche des ewigen Lichts.» keuchte er.
«Was für eine Scheiße laberst du da?» fuhr er den Jungen an.
«Wir sind des Glaubens, wir reinigen die Seelen... wir...»
Er schien in die Bewusstlosigkeit abzugleiten und Frank gab ihm eine schallende Ohrfeige.
«Was hat diese Liste zu bedeuten?» schrie er ihn an.
Stefan sah auf die Liste und lächelte.
«Es sind die Opfer.» sagte er.
Frank wollte diesen Jungen umbringen. Aber er war noch ein Kind, er begnügte sich damit, diesem kleinen Wichser den Kolben mit voller Kraft in sein Gesicht zu schlagen. Dann sah er sich um, anscheinend hatte dieser Peter ganze Arbeit geleistet. Er ging zu dem Altar und sah Peter, er hatte eine große Wunde am Rücken, er hatte viel Blut verloren. Er schloss ihm die Augen. Er wusste, er war keiner von ihnen. Er fuhr mit der Hand über den Altar. Hier haben sie bestimmt die Kinder geopfert. Er spürte Feuchtigkeit an seinen Fingern, er sah, dass es Blut war. Aber wo war Thomas?
«Scheiße!» schrie er. Er musste ihn finden.
Er hörte ein Klopfen. Er fuhr herum und sah sich um.
«Lebt noch jemand?» schrie er.
Wieder das klopfen und eine leise Frauenstimme.
Er ging mit schnellen Schritten durch den Raum und kam hinter dem Altar an eine Holztür.
«Wer ist da drin?» schrie er.
«Frank? Bist du es? Ich bin’s, Silke!»
«Geh von der Tür weg!»
Er trat gegen die Tür und sie gab sofort nach. Und da stand sie, hatte das gleiche Gewand an wie die anderen. Er riss die Waffe hoch und war kurz davor, einfach abzudrücken, er widerstand dem Impuls, seine Ehefrau zu erschießen.
«Du also auch.» sagte er leise.
«Frank, es ist nicht so, wie du...»
«Halts Maul!» fuhr er sie an.
«Was hast du mit denen zu tun? Wolltest du Thomas umbringen?»
Er hielt ihr die Liste hin.
«Nein... sie haben mich reingelegt, es... sie sagten sie würden ihm helfen... und mir.»
«Helfen?»
Frank dachte, jetzt würde er vollkommen den Verstand verlieren.
«Ja, sie haben gesagt, sie haben eine Methode, um die Seele zu reinigen, sie klangen so vernünftig.»
«Und du dummes Huhn hast ihnen geglaubt?» er schrie so laut er konnte.
«Frank, es ist nicht so, wie du denkst, sie sind... ich habe gedacht, es sind gute Menschen.»
«Gute Menschen, ja, Silke, das ist der Witz des Jahrhunderts. Sie haben Kinder geopfert. Und du hast es nicht gewusst? Willst du mich verarschen? Denkst du ich bin vollkommen bescheuert?»
Seine Stimme überschlug sich und er wurde heiser, das war das schlimmste, was er jemals erlebte hatte. Schlimmer als das Gefängnis, schlimmer, als einen Freund aus Notwehr zu erschießen.
«Ich wusste es erst seit heute.» sagte sie, er sah ihre Tränen.
«Was ist mit Simon?» hauchte er, zu mehr war er nicht in der Lage. Er war kurz davor, zusammenzubrechen, er rief sich Thomas in Erinnerung, er musste ihn noch finden.
Sie brach in Tränen aus, ihr ganzer Körper zuckte.
«Sie haben ihn umgebracht.» stieß sie hervor. Er hatte es erwartet.
«Wo ist Thomas?»
Er hielt ihr den Lauf direkt ins Gesicht.
«Er ist mit seiner Freundin zu Hause, er lebt. Frank...»
Er wusste nicht, was er machen sollte, er hätte gute Lust, sie umzubringen, nach all dem was sie ihm und seiner Familie angetan hatte. Aber irgendwo liebte er sie noch, ein ganz kleiner Rest, aber er war dabei zu verschwinden. Sie war schon lange nicht mehr die hübsche, junge Frau, in die er sich verliebt hatte. Sie war... er fand einfach keine Worte für sie.
«Warum, Silke. Ich verstehe es einfach nicht.» sagte er, ruhiger, weil Thomas zumindest für den Augenblick in Sicherheit war. Außer Dieter hatte ihn gefunden, aber er würde ihn auch noch töten, auf eine Leiche mehr oder weniger kam es nicht mehr an.
«Ich wollte glücklich sein, sie haben es mir gesagt, es war so nahe, das Glück.»
Frank stand wie angewurzelt da, er hatte immer noch den Koffer und die Flinte in der Hand. Er ließ den Koffer fallen, es war nur Geld, dachte er. Es war so unwichtig. Wahrscheinlich haben sie das Geld von ihr verlangt, für die Aufnahme in diese ehrenwerte Gesellschaft. Er hatte mal ein Buch im Knast gelesen, das war so üblich. Er konnte nicht glauben, dass sie auf solche Menschen hereingefallen war. Das überstieg einfach seine Phantasie.
«Frank, ich liebe dich doch.» sagte sie durch ihren Tränenmantel.
Das war zuviel. Er zog ihr die Flinte durchs Gesicht, hörte die Knochen knacken und sah sie nach hinten umfallen. Er stand noch eine Minute einfach da und fragte sich, was das denn für eine Welt war, in der sie lebten. Er verstand es einfach nicht.

Er hob den Koffer auf und ging, ohne sich umzudrehen. Er verließ das Schloss und blieb auf der Brücke stehen. Er legte die Flinte und den Koffer auf das Geländer und zog sich den Ehering ab. Er landete in einem hohen Bogen im Graben. Eine schwarze Katze sah ihm dabei zu. Er nahm seine Sachen und stieg in den Mercedes. Der Geruch von Dieter erinnerte ihn daran, dass er seinen Sohn befreien musste. Aber er würde gleich da sein. Mit durchdrehenden Reifen machte er eine Wende und brauste den gleichen Weg zurück, den er gekommen war.


Thomas hatte sie in den Arm genommen, sie war ganz aufgelöst, es war einfach zuviel für sie, man sah ja nicht jeden Tag einen Menschen sterben, dachte er. Sie saßen auf dem Bett und sie hörte nicht auf zu weinen, aber er ließ sie, es tat ihr gut, und Dieter hatte es verdient, dachte Thomas kalt, er war jetzt der starke Mann. Er würde warten bis Sonnenuntergang und dann würden sie aus diesem Ort verschwinden. Er hatte das Geld, es waren weit mehr als zehntausend, damit könnten sie nach Lanzarote, weit weg, in die Sonne. Sie würden sich den Geysir ansehen, würden in einem Hotel wohnen und das alles vergessen, endlich. Thomas berührte mit seinen Fingern die Waffe. Notfalls würde er sich den Weg einfach freischießen. Er hatte keine Angst, er wollte einfach nur weg von hier, mit ihr, und wenn er groß war würde er seinen Vater retten, egal wo er jetzt war. Er dachte an Simon, er müsste ihn doch mitnehmen. Er hatte Angst um ihn, er war doch sein Bruder, und Brüder mussten zusammenhalten. Aber Simon war krank und er konnte nicht die lange Reise nach Lanzarote antreten, es war zum heulen. Er roch an Christinas Haar, sie dufteten angenehm, sie roch nach frischen Blumen. Er erschrak, als ein Wagen vor dem Haus mit quietschenden Reifen bremste. Christina fuhr hoch und versteckte sich hinter der Tür.
Thomas legte den Finger auf den Mund und nahm die Pistole. Er hörte Schritte, dann einen furchtbaren Lärm, jemand hatte die Tür eingetreten.
«Scheiße!» hörte er es von unten, dann Krach, etwas fiel um, bestimmt die Kommode.
«Thomas! Ich bin’s! Verflucht! Ich schwöre, wenn dir dieser Hurensohn was angetan hat bring ich ihn um!»
«Christina! Es ist Papa! Er holt uns hier raus!» rief er und nahm sie an der Hand, sie wollte nicht, aber er zog sie einfach aus dem Zimmer.
«Thomas! Wo bist du?» rief Vater.
«Hier oben!» rief er und Vater kam die Treppe hoch gerannt, er war voller Blut.
Thomas stützte Christina, sie war ganz schwach.
«Meine Güte, Thomas! Du blutest ja! Wer war das?»
Thomas sah an sich herunter. Er hatte einiges von Dieters Blut abbekommen.
«Das war Dieter, er...»
«Scheiße! Wo ist dieser Wichser?»
«Er ist tot, Papa.» Christina fing wieder an zu weinen, Thomas drückte sie fest an sich.
«Ja? Na Gott sei dank, er gehört auch zu denen.»
«Ich weiß. Ich habe ihn mit deiner Waffe erschossen. Er liegt im Keller. Er wollte mich umbringen. Komme ich jetzt ins Gefängnis?»
Vater kam zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.
«Du hast das richtige getan. Ich weiß, es ist schwer zu verkraften, aber du musst dir einfach denken, er war böse, er hätte dich einfach umgebracht, weil es ihm gefallen hätte. Ich bin selbst geschockt über das, was ich heute erlebt habe.» sagte er.
Frank war froh, dass Thomas seine Waffe gefunden hatte. Er war richtig stolz auf ihn. Sein Sohn war jetzt ein Mann.
«Ist Simon noch im Krankenhaus?» fragte er.
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Aber er entschied sich für die halbe Wahrheit.
«Er ist im Krankenhaus gestorben, Thomas, niemand konnte etwas für ihn tun. Er ist einfach eingeschlafen» sagte er schweren Herzens.
Thomas fing an zu weinen, das war zuviel. Diesmal hielt sie ihn.
«He, mein Kleiner, wir machen einen neuen Anfang, ja? Ich verspreche dir, du wirst niemals mehr so etwas erleben, ja? Wir fliegen weg, wir...» er konnte nicht mehr, das war auch für ihn zuviel. Er ließ sich eine Minute Zeit für seine Gefühle und dann rief er den Kämpfer in sich wieder wach.
«Thomas, du hast fünf Minuten, ich ziehe mir was Frisches an und mache einen Anruf. Dann fahren wir. Sag mal, das ist nicht Aline, richtig?»
«Nein, Aline ist tot, Papa.»
«Es tut mir leid, ich...»
«Ist schon okay, Papa.»
Frank war so traurig, er hoffte, dass diese Sekte endlich ausradiert war und niemand mehr einem Wahnsinnigen dieser Sorte zum Opfer fiel. Er dachte an Stefan, er würde ihm in ein paar Jahren einen Besuch abstatten, nur aus Vorsicht.
«Magst du mit uns kommen?» fragte Thomas Christina.
Sie schluchzte, dann nickte sie.
«Okay, ihr packt euch jetzt zusammen, und dann nichts wie weg hier.» sagte er und rannte die Treppen runter. Thomas riss sich noch zusammen, noch fünf Minuten, sagte er sich. Christina schien auch wieder allein stehen zu können, sie hielt sich am Treppengeländer fest.
Simon, schoss es ihm wieder durch den Kopf, als er in sein Zimmer sah, es war leer und würde nie wieder lachen oder schreien von ihm hören. Thomas hob einen Schnuller auf und steckte ihn ein. Er schaute weg und ging in sein Zimmer, er nahm das Geld von den Schreckschrauben, er wusste, dass der Rucksack vom Ausflug noch unten stand, er nahm nichts aus seinem Zimmer mit, er musste jetzt neu anfangen, auch wenn es schwer fiel. Er nahm Christina an der Hand und sie gingen nach unten. Vater hatte sich schon angezogen und er reichte Thomas ein T-Shirt.
«Zieh das an.» sagte er.
Thomas zog das alte Shirt aus und nahm das neue, er zitterte, Vater musste ihm dabei helfen. Christina war soweit noch frisch gekleidet, nur die Tränen hatten auf ihrer Bluse spuren hinterlassen.
«Seid ihr soweit?» fragte Frank.
«Ja, Papa.»
Thomas nahm den Rucksack, dann verließen sie das Haus und stiegen in den BMW. Thomas und Christina setzten sich auf die Rückbank und schnallten sich an.
«Papa?»
«Ja?»
«Fahr so schnell du kannst.»
Er sah zurück und lächelte.
«Versprochen.» sagte er und sah wieder nach vorne. Er startete den Motor, fuhr aus der Einfahrt und als er auf der Straße war, gab er Gas, dass die Reifen quietschten. Er fuhr aus Hohenkammer raus, dann auf die kurvige Landstraße, sie wurden in dem Wagen hin und her geworfen. Sie fuhren in Allershausen auf den Zubringer und Frank gab Vollgas, sie rasten der Fremde entgegen.

Der König sah den Blitz, er spürte wie er ihn traf. Gott hatte sich endlich dazu entschlossen, ihn zu berühren. Es tat nicht weh. Es war das schönste der Welt. Er wurde von dem Turm geschleudert, und beim fallen konnte er in den Himmel sehen. Da sah er, dass es aufgehört hatte, Asche zu regnen. Für ein letztes Mal sah er den schönen, winzigen Sonnenstrahl. Er landete auf dem Boden und der schwarze Turm stürzte über ihm ein. Es war vorbei.


Kapitel fünfzehn
Liebe


Silke erwachte und hatte Schmerzen. Sie machte ihre Augen auf, sie sah aber nur ein schummriges Licht. Ihr Gesicht tat weh, Frank hatte sie wieder geschlagen, aber sie verzieh ihm, sie konnte ihn verstehen. Sie richtete sich auf und ging aus dem kleinen Raum, wieder in die Halle, sie stieß einen Laut aus, als sie die ganzen Leichen sah. Es waren alle ihre Freunde gewesen, ihre neuen Freunde, die sie ausgenutzt hatten. Sie sah sich um, es waren alle da, bis auf Dieter und Doris. Sie sah den Dolch und nahm ihn Gottlieb aus der Hand, er war voller Blut, sie rieb ihn an ihrer Robe ab, anschließend streifte sie das Gewand ab. War das alles Frank gewesen? Er hatte eine Waffe gehabt, aber da lag auch noch eine Waffe, sie war voller Blut, sie hob sie nicht auf. Sie kannte alle in diesem Raum. Sie sah zurück an den Altar, da lag Peter friedlich, mit geschlossenen Augen. Er war jetzt bei seiner Schwester. Sie ging zu Erhardt, er hatte ein gräßliches Loch im Kopf, sie sah selbst in dem schummrigen Licht sein Gehirn und seine Knochen auf den Steinen verteilt liegen. Sie nahm ihm einen Schlüssel ab, den er an seiner Robe trug. Dann ging sie zum Ausgang. Auf einmal hörte sie ein Stöhnen. Es war Stefan, sie ging zu ihm. Er sah sie an, er war im Bein getroffen und hatte eine große Platzwunde im Gesicht.
«Hilf mir...» sagte er, dann spuckte er einen Zahn aus.
Sie konnte ihm nicht helfen, dachte sie, aber selbst wenn, warum sollte sie es tun?
«Hilf mir, Silke, bitte...»
Sie hatte immer noch den Dolch in der Hand. Aber sie steckte ihn sich in den Gürtel. Sie sah auf den Jungen herab, der sie umbringen würde, nur damit er an ihr Geld oder sonst was kam.
«Ich lasse dich hier liegen, Stefan.» sagte sie.
Er sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.
«Bitte nicht, rufen... Krankenwagen...»
«Ich lasse dich hier liegen, ich lasse dich einfach liegen.» sagte sie und wandte sich ab, sie ging durch die Tür und schloss sie mit dem Schlüssel von außen ab. Sie ging durch den dunklen Gang, tastete sich nach oben, öffnete die Tür und sah wieder mehr. Sie durchquerte den Gang und stand schließlich in dem Innenhof, der so hübsch war. Es war niemand zu sehen, der Ort war wie ausgestorben, besonders an dieser Stelle. Die Sonne ging gerade unter, es sah wirklich malerisch aus, fand sie, als sie sich noch einmal zu dem Schloss umdrehte, die Sonne spiegelte sich in den Scheiben, ein leiser Wind wehte in ihren Haaren, sie sah hoch, ein Vogel durchquerte ihren Horizont. Sie ging über den Feldweg zur Hauptstraße, sah ein paar Autos, sie fragte sich, ob die eine Ahnung hatten, was in diesem Ort geschehen war. In der Jahnstraße spielten ein paar Kinder und beachteten sie nicht. Sie überquerte die kleine Holzbrücke und dann sah sie zur Schule, sie war verwaist. Selbst auf dem Sportplatz war niemand. Sie ging den Berg hoch, auf dem Spielplatz führte ein Mann einen Hund aus, er sah weg, es war verboten, dann sah sie das Haus von Dieter und Doris. Sie ging hin und sah, dass die Tür eingetreten wurde. Sie betrat das Haus und sah Doris, als sie in die Küche ging, sie war mit ihrem Vorhang gefesselt und ließ den Kopf hängen, dann sah sie auch, dass man ihr den Fuß zerfetzt hatte, überall war Blut, es zog sich durch das ganze Haus, außerdem hatte sie sich erbrochen. Sie ging durch das Haus, dass sie so gut kannte, betrachtete die Marienbildchen und die Kreuze. Sie hörte die Kleinen schreien, ging ins Kinderzimmer und sah, dass sie sich angemacht hatten. Sie ging zum Schrank und wechselte ihnen die Windeln, sie hörten auf zu schreien. Sie gab ihnen etwas zu trinken, dann ging sie hinten im Haus hoch und sah die Tür, sie war offen. Sie betrat den Raum, es roch nach Fäkalien. Thomas hatte sich in dem Eimer erleichtert, aber er war jetzt weg. Genauso wie Frank und auch Simon, den sie auf dem Gewissen hatte, sie ganz allein. Sie sah die Kratzspuren an der Wand, sie sah die Tröpfchen und Schlieren, ihr wurde schlecht. Sie ging wieder nach unten, sie setzte sich in die Küche und zündete sich eine Zigarette an, die aus der Tankstelle. Sie fühlte sich leer, sie hatte das Glück gesucht und dabei alles verloren. Sie sah Doris an, was würde aus ihren Kinder werden? Sie stand wieder auf und drückte die Zigarette auf ihrer Wange aus, Doris erwachte und fing an zu schreien, da gab sie ihr eine Ohrfeige.
«...Silke... du bist es...»
«Ja, Doris, ich bin es.» sagte sie und zündete sich eine neue Zigarette an, sie sah das Feuerzeug, es war das mit dem Symbol, sie ballte die Faust. Sie setzte sich gegenüber von Doris auf einen Stuhl und sah sie an. Sie hatte sich verändert, dachte sie. Ihre Augen funkelten nicht mehr, und sie sah nicht wirklich glücklich aus.
«Bist du dem Teufel begegnet?» fragte sie und zog dabei an der Zigarette.
Sie sah sie an, sie hatte panische Angst, das und wahrscheinlich starke Schmerzen. Silke war ganz ruhig, sie wusste nicht, was sie mit ihr machen würde, aber sie war es, die sie reingelegt hatte. Nur, um an das Geld zu kommen, nur um ihren Sohn zu töten. Sie hatte ihr alles genommen. Sie beide, dachte sie bitter, waren die allergrößten Sünder.
«Wo ist mein... Mann...» keuchte sie und spuckte etwas Blut.
Sie wusste es nicht.
«Wahrscheinlich tot. Frank war richtig sauer. Ich wette er hat ein paar Kugeln im Bauch.» sagte sie.
Doris riss die Augen auf und verdrehte sie. Silke gab ihr wieder eine Ohrfeige.
«Nicht einschlafen, Doris. Sag mir, was soll ich nur mit dir machen?» Sie zog den Dolch aus dem Gürtel und fuchtelte vor ihrer Nase damit herum.
«Bitte, ich habe Kinder...»
«Ich weiß, Doris, ich habe sie gerade versorgt, weil du dich nicht um sie kümmern konntest. Wahrscheinlich liegt es daran, dass du mit deinem Vorhang gefesselt auf einem Stuhl sitzt.»
Doris‘ Augen füllten sich mit Tränen.
«Sei nicht traurig, deinen Kindern wird nichts passieren.» sagte Silke und spürte ein sonderbares Gefühl in sich aufsteigen, vielleicht war es der Wahnsinn, dachte sie. Sie drückte die Zigarette auf ihrer Hand aus. Sie sah, wie sich die Haut verfärbte. Doris schrie, aber sollte sie nur.
«Bitte, ich muss mich um meine Kinder kümmern.» hechelte sie, es klang abgehackt.
«So wie du dich um die anderen Kinder gekümmert hast?» fragte sie sanft.
«Nein...» es ging unter in einem Schrei, Silke hatte ihr mit dem Absatz auf den wunden Fuß getreten.
«Ziemlich üble Sache, dein Fuß, tut es weh?» Die Kinder hatten wieder angefangen zu schreien.
Sie zündete sich eine weitere Zigarette an.
«Willst du auch mal? Es beruhigt die nerven.» sie hielt ihr die Zigarette hin, aber Doris drehte ihren Kopf weg.
«Ah, ich weiß, Rauchen ist Sucht und somit eine Sünde.»
Sie hörte Sirenen, die Polizei war im Anmarsch, gut, dachte sie.
Silke stand auf und hielt Doris‘ Kopf fest. Doris wand sich, aber sie war stark geschwächt.
«Es ist nur ein kleines Opfer, Silke. Nur ein Klitzekleines, nicht schlimm, man kommt leicht darüber hinweg, glaube mir, so wie ich euch geglaubt habe.»
Sie hielt ihr Auge auf, nahm die Zigarette und drückte sie in ihr Auge, es zischte und Doris schrie, ihre Stimme überschlug sich und sie wurde wieder ohnmächtig.
Silke gab ihr mit aller Kraft eine Ohrfeige. Sie hörte die Sirenen, sie waren jetzt ganz nahe. Sie nahm wieder den Dolch.
«Oh, dein Auge raucht ja, ich würde etwas Wasser drauftun um es zu löschen.» sagte sie fröhlich.
Sie war sich sicher, den Verstand zu verlieren. Draußen hielt ein Auto und Türen gingen auf. Silke nahm den Dolch und dachte an die vielen Kinder, die ihn gespürt hatten. Die armen Kinder.
Schritte kamen ins Haus.
«Polizei!» rief einer in plattem Bayrisch.
Silke holte Luft und rammte ihr den Dolch ins Herz, sie sah wie Doris in sich zusammensackte.
«Oh großer Gott!» sagte der Polizist, sah, was hier vor sich ging. Er entsicherte seine Waffe und schoss Silke in den Rücken, sie brach zusammen und sah Thomas und Frank, wie sie am Strand saßen und eine Burg bauten, sie saß daneben auf einem Handtuch und spürte die Liebe, die sie verband.


Kapitel sechzehn
Die Taube


«Hey, Kinder, aufwachen!» sagte Frank und rüttelte leicht an Thomas‘ Schulter.
Thomas und Christina räkelten sich auf der Rückbank. Sie waren eng umschlungen eingeschlafen. Frank fand es wirklich niedlich, wie die beiden da gelegen hatten, sie konnten aber nicht hier bleiben, sondern mussten nach oben. Thomas kannte diesen Ort. Es war das innere der Fähre.
«Christina! Schau!» rief er.
Sie sah sich um.
«Wo sind wir?» fragte sie
«Wir fahren an einen geheimen Ort. Aber er wird dir gefallen. Komm mit uns.»
Sie stiegen aus dem Wagen und gingen nach oben, die Fähre legte gerade ab. Die Fahrt würde eine halbe Stunde dauern. Sie gingen nach draußen, es war kalt, aber drinnen war es nicht so schön. Sie spürten beide den Wind und die frische Seeluft. Frank brachte beiden eine Cola. Er selbst trank einen Schluck Whisky, aber er hatte vor, damit aufzuhören, erst jedoch mussten sie in Sicherheit sein. Er setzte sich und sah den beiden beim staunen zu. Wie sie sich freuten, er dachte daran, dass sie leichter verdrängen konnten als die Erwachsenen. Frank hoffte, die beiden würden die Hölle vergessen können, die sich in diesem Idyll versteckt hatte. Er rauchte eine Zigarette und sah einer Taube nach. Auf dem Meer? Sonderbar, dachte er. Er nahm noch einen Schluck Whisky gegen den Schmerz in seinem Herzen, es war furchtbar. Er hatte alles verloren, aber wenigstens konnte Thomas und seine Freundin in eine hoffnungsvolle Zukunft blicken. Er legte die Hand auf den Aktenkoffer, er würde ihnen von dem Geld eine Wohnung in einer hübschen, Stadt kaufen.
Thomas dachte an Simon, er war jetzt dort, wo auch Aline war, er nahm den Schnuller und das Amulett und sah es sich an. Er bereute es so, dass er seinen Bruder nicht besser behandelt hatte, aber manchmal machte man Fehler, die unumkehrbar sind, dachte er. Es waren Vaters Worte aus der Bar. Er war traurig, aber sah einer neuen Zukunft entgegen.
«Auf Wiedersehen.» sagte er und warf die beiden Gegenstände über Bord, damit etwas von ihnen an diesem Ort blieb. Die See war frei, dachte er. Simon war jetzt auch frei von den Fesseln seiner Krankheit. Aline war frei, jetzt waren es alle. Er sah Christina an und nahm ihre Hand.
Sie sah auch auf die See, sie hatte etwas Angst, sie wusste nicht, was sie erwartete, sie war mitgegangen, weil sie nicht mehr bei ihren Großeltern sein wollte, die sich nicht um sie kümmerten, nachher hatte sie auch noch das mit der Liste erfahren und war froh, diese Entscheidung getroffen zu haben. Thomas und sein Vater haben auch ihr das Leben gerettet. Sie mochte Thomas und war verliebt. Er war wirklich ein besonderer Junge. Niemand sonst hätte sich den Gefahren so gestellt wie er. Sie wusste, dass sie jetzt keinen Grund mehr hatte, sich zu schneiden. Und irgendwann würde sie ihren Vater aus der Psychiatrie zu sich holen, damit sie wieder eine Familie werden konnten.
Die Fahrt war viel zu kurz, sie stiegen wieder in den Wagen. Sie fuhren die einsame Straße entlang, bis zu der Stelle mit der Düne.
«Wer will fliegen?» sagte er und holte den Drachen aus dem Kofferraum. Die Kinder freuten sich, liefen auf den Strand und ließen den Drachen steigen.
Frank blieb zurück. Er wartete. Wenig später kam ein Wagen und hielt.
«Paul, toll, dass du so schnell kommen konntest.»
«Hey, wir sind Brüder. Ist doch klar, oder?»
«Da, wo ich war galt so etwas nicht.»
«Es ist ganz groß in den Medien, Frank, selbst im Ausland. Es gab über ein Dutzend Leichen, teilweise bestialisch zugerichtet, warst du das alles?»
«Nein, da war auch noch ein anderer Junge, der geschossen hatte. Er ist Amok gelaufen.»
«Sie streiten sich noch, wem sie die Sache in die Schuhe schieben sollen. Und die Sekte war auch schon länger bekannt, nur hat niemand etwas dagegen unternommen, weil sie sogar die Politiker bestochen haben. Es gibt einige Stühle in Bayern, die jetzt brennen. Es ist eine riesengroße Sache, offenbar haben die das schon seit über fünfzig Jahren gemacht. Mann, wie kommst du ausgerechnet an so einen Ort? Man könnte fast meinen du ziehst das Unglück an, mein Bruderherz.»
«Frag mich nicht. Es sah alles so friedlich aus.» sagte Frank und quälte sich ein Grinsen ab.
«Na ja, man kann nie vorsichtig genug sein, sie suchen dich und Thomas. Ihr hattet eine Menge Glück. Ach ja, Silke wurde von einem Polizisten erschossen, sie hat ihre Nachbarin richtig gequält. Die Frau hatte es in sich, was?»
«Kann man so sagen.» aber Frank hätte ihr das gar nicht zugetraut.
«Ich habe dir was hübsches mitgebracht.» sagte Paul und holte einen Koffer von der Rückbank.
«So kenne ich dich.» sagte Frank.
«Manche Dinge ändern sich eben nie.» sagte er und öffnete den Koffer auf dem Autodach.
Frank nahm einen Umschlag entgegen und öffnete ihn.
«Gonzalez? Du willst mich verarschen!»
Paul grinste verlegen.
«Gib wieder her, die sind für jemand anderen. Das sind deine.»
Frank nahm einen anderen Umschlag.
«Smith klingt schon besser. Wieso nennst du mich Leon?»
«Einfach so.» Paul grinste breit.
«Und die Kinder?»
«Sind Waisen. Nicht verwandt, Stehen bei dir im Pass. Jessica Banks und George Norton. Ganz wie du wolltest. Hier die Urkunde auch dafür. Dann noch die für das alleinige Sorgerecht.»
«Mann, Danke. Wo können wir unterkommen?»
«Wie wär‘s mit Amsterdam? Paris? New York? Suchs dir aus. Ich habe überall hübsche Wohnungen.»
Frank rieb sich das Kinn. Dann verzog er den Mund.
«Ich wollte immer schon mal in die Stadt der Liebe.»
«Du Spinner.» sagte Paul.
«Nein, echt, ich mag Frankreich. Ich will nie wieder aufs Land. Ich bleibe ja doch eine Stadtratte. Da sieht man den Dreck wenigstens sofort.»
«Dann fang schon mal an, französisch zu lernen. Da, die Schlüssel. Adresse steht drauf, kann man nicht aussprechen. Euer Flieger geht morgen um neun ab Kopenhagen.»
«Wie kann ich dir nur danken, Paul?»
«Du hast mir das Leben gerettet, weißt du noch? Du hast die ganze Zeit deine Hand auf meine Wunde gedrückt, damit ich nicht verblute. Das kann man nicht wieder gutmachen, nicht mit einer Wohnung, ein paar Papieren und Flugtickets. Außerdem habe ich genug davon, glaub mir. Der Typ, der mich angeschossen hat, er ist übrigens tot.»
«Warum überrascht mich das nicht?» sagte Frank.
«Sollte es auch nicht, es war nur eine beiläufige Information.» Er zuckte die Achseln.
«Hey, werd ich dir nie vergessen.» sagte Frank und umarmte seinen Bruder.
«Du kriegst den Ford, ich deinen BMW. Du hast Geschmack, was Autos angeht.» sagte Paul.
«Liegt wohl im Blut. Der nächste ist ein Aston Martin.» sagte Frank und holte den Koffer und Thomas‘ Rucksack aus dem Wagen.
«Ich weiß, die fandest du schon immer gut. Wir sehen uns, ja?» sagte Paul und stieg in den BMW.
«Ach, kennst du eine gute Entzugsklinik?»
Paul sah ihn fragend an und schüttelte den Kopf.
«Lass dich nicht erwischen.» sagte er noch und klopfte auf das Dach. Sein Bruder fuhr weg und Frank sah ihm noch nach, bis er außer Sichtweite war. Er ging über die Düne und sah, dass der Drachen weggeflogen war und die beiden Händchenhaltend nebeneinander standen und sie ihm einen Kuss auf die Wange gab. Er ging zu ihnen.
«Hey, Kinder. Wir fliegen in die Stadt der Liebe.»
«Nach Paris?» sagte Thomas.
«Dort gibt es die Metro!» rief Christina.
«Ja, kleines, dort ist die Metro.» sagte er und strich ihr mit der Hand über ihren Kopf.
Kinder sind wundervoll. So leicht zu begeistern. Und sie sind die Zukunft. Er war glücklich, sie so zu sehen, jetzt durften sie wieder Kinder sein.
Frank schwor sich, nie wieder in seinem Leben einen Fuß nach Bayern setzen. Auch wenn nicht alle so waren. Einfach wegen der Erinnerung. Er konnte nicht glauben, dass diese Menschen Kinder geopfert haben, damit sie einfach nur glücklich sein konnten. Er verstand es einfach nicht, aber das lag wohl an seiner Gottlosen Erziehung.
Er war glücklich. Er hatte die Kinder gerettet. Auch wenn sie Fehler hatten. Niemand war Fehlerfrei. Und ganz besonders nicht die Funkelaugen.
Der Sand wehte von der Düne hinaus aufs Meer, es war wunderschön friedlich.
Er ließ sie noch etwas spielen. Erst als es dunkel wurde fuhren sie nach Kopenhagen.

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Texte: Bild: Fiddle Girl Quelle: Google
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2009

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Widmung:
Für meine kleine Tochter

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