Cover

Erwachen




Vollkommene Ruhe. Ein wirklich sehr angenehmer Zustand und Lorcan genoss es, nichts als seine eigenen regelmäßigen Atem zu hören. Mit seiner Hand strich er über seine Stirn und durch das braune zerzauste Haar. Für keinen kurzen Augenblick schloss Lorcan die schweren Augenlieder, bevor er zum Fenster sah.
Durch das Glas hatte man einen herrlichen Blick auf das Treiben im See des Schlosses. An manchen Tagen konnte man einen Blick auf den Kraken und die Wassermenschen erhaschen. Nur den Schülern, des Hauses Slytherin war dieser Blick vergönnt.
Das Licht wurde durch das Wasser getrübt und fiel nur spärlich durch das Fenster, aber daran hatte Lorcan nichts zu bemängeln. Das grelle Licht würde ihn viel zu oft am Morgen strapazieren. Der zunächst einzige Nachteil bestand darin, dass sich schlecht die Tageszeit abschätzen ließ. Hatte man aber schon einige Zeit in den Räumlichkeiten der Slytherin verbracht hatte man ein geübtes Auge, um doch eine ungefähre Schätzung zu machen.
Ein einfacher Blick auf die Uhr war dem Scamander zu umständlich. Er hätte sich zum Nachtisch wenden müssen, aber für eine solche Bewegung fühlte sich sein Körper noch viel zu schwer an. Die Müdigkeit lag noch schwer in seinen Knochen.
Lorcan war sich ziemlich sicher, dass es noch nicht sehr spät war. Morgen oder zumindest Vormittag. Eine recht unübliche Zeit für ihn, um schon wach zu sein. Zumindest wenn am Vorabend eine gute Feier war – und sie war gut gewesen.
Wieder schloss er die Augen und konzentrierte sich auf die Stille um ihn. Eine wirklich angenehme Ruhe, die sicherlich nicht hinderlich sein würde, um einfach wieder einzuschlafen. Doch irgendwie wollte er nicht und so stütze er sich auf, um einen Blick durchs Zimmer gehen zu lassen.
Das zweite große Bett, das an der Wand gegenüber parallel zu seinem stand, war leer und ordentlich gemacht. Was anderes hatte Lorcan von seinem Zimmergenossen nicht erwartet. Für Seth war es Routine jeden Morgen zur selben Zeit aufzustehen, egal wie lang der Vorabend ging.
Dem Scamander war das nur Recht. In diesem Moment war ihm weitere Gesellschaft nur lästig. Bei diesem Gedanken ruhten seine aschgrauen Augen auf dem weiblichen Geschöpf, das neben ihm noch friedlich vor sich hin schlummerte.
Mit den Ellenbogen in die Laken gestützt, lag er ihr zugewandt auf der Seite und betrachtet ihre zierliche Gestalt. Die freie Hand glitt wie von selbst durch ihr rotes Haar, das ihr lang über die Schultern reichte. Es fühlte sich unglaublich weich zwischen seinen Fingern an und schien in dem wenigen Licht, welches durch die dicken Fenster schimmerte, zu leuchten. Wirklich schöne Haare hatte die kleine Potter.
Lorcan hielt in seiner Bewegung inne, als sich das Mädchen kurz zu regen begann. Aufwachen wollte sie aber anscheinend noch nicht. Vielleicht auch besser, denn sobald sie wach sein würde, hätte sie vermutlich den ersten und vielleicht auch schlimmsten Kater ihres Lebens.
Die kleine Gryffindor hatte sich auf der Party eindeutig übernommen. Wie erwartet. Aber sie hatte nicht hören wollen. Weder auf ihn, noch auf jemand andere.
Während der Slytherin sie weiter betrachtete, quälte ihn die Frage, wie er in dieses ganze Chaos verwickelt worden und wann es außer Kontrolle geraten war. Es wäre vermutlich seine Aufgabe gewesen rechtzeitig einzuschreiten, aber er hatte den Moment verpasst. Eigentlich hätte Lorcan nicht auf ihre Bitte eingehen dürfen. Von Anfang an nicht.

Zwei Wochen zuvor




Mit eiligen Schritten hörte man die Schüler über das Gelände und die Flure trippeln. Das neue Schuljahr in Hogwarts hatte seit einem Monat begonnen und von der anfänglichen Entspannung, die alle aus den Ferien mitbrachten, war nicht mehr viel übrig. Die frische Energie, die in den freien Wochen gesammelt worden war, wurde viel zu schnell wieder verbraucht.
Das sommerliche Wetter war ebenfalls dabei, sich zu verabschieden. Die Sonne verkroch sich immer öfter hinter Wolken und ein scharfer Wind zerrte stattdessen an den Gliedern.
Lorcan gab nie viel auf das Wetter. Jede Pause verschlug es ihn in den Innenhof des Schlosses. Auch nach dem Unterricht und abends verbrachte er hier immer wieder seine Zeit. Denn hier war er ungestört. In ein hinteres Eck, leicht versteckt von einer Mauer und trotzdem noch mit gutem Blick auf den restlichen Hof, zogen er und auch ein paar andere sich gern zurück, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen. Die wenigen anderen, die es ihm gleich taten, kümmerten ihn nicht.
Das wilde Treiben im Schloss ließ ihn manchmal glauben, er wäre in einer Irrenanstalt. Für ihn selbst war der Alltag im siebten und damit letztem Jahr noch einmal um einiges stressiger geworden. Dabei hatte Lorcan in der Sechsten geglaubt, dass es anstrengender gar nicht mehr sein könne.
Die Berge von Hausaufgaben wuchsen dem Siebzehnjährigen schon jetzt über den Kopf und als wäre es nicht genug, saßen einem die Lehrer mit den UTZ im Nacken. Als wüsste man selber nicht, wie wichtig die Prüfungen waren, erinnerten einen die Lehrer stets daran, um den Druck auf die Schüler noch ein bisschen zu erhöhen.
Es erinnerte ihn an die fünfte Klasse und die ZAGs. Allerdings um das Hundertfache schlimmer.
Das ungesunde Muggelzeug, welches Lorcan seit damals gute Dienste leistet, blieb ihm auch für sein letztes Jahr ein treuer Begleiter. Es hatte seine beruhigende Wirkung und ließ den jungen Mann schon mit den ersten Zügen entspannen und den Stress vergessen.
Das Personal von Hogwarts sah das Teufelszeug allerdings nicht sehr gerne und wer beim Konsumieren erwischt wurde, bekam Punktabzug und die gesamte Packung wurde konfisziert. Mit Pech wurde der komplette Schlafsaal gefilzt, aber diese Maßnahme wurde selten und nur bei denen, die sich eindeutig zu häufig erwischen ließen, durchgeführt.
Diese Ecke, in der Lorcan sich mal wieder eine Zigarette gönnte, war ein beliebter Platz für Raucher geworden. Sie lag geschützt vor neugierigen Blicken, und wenn sich ein Lehrer doch mal hierher verirrte, waren rechtzeitig alle Beweise (oder man selbst) einfach verschwunden.
Lorcan gehörte zwar zu den Schülern, die diese Regel viel zu regelmäßig brachen, war aber nicht so blöd, dass er erwischt wurde. Ansonsten wäre er eine Schande für sein Haus.
Langsam lehnte sich der Scamander zurück an die Mauer und stieß den kalten Rauch in die Luft. Die Augen waren nur leicht geöffnet und gen Himmel gerichtet. Er versuchte, alles Störende und Stressende auszublenden.
Die Pause hatte an dem Tag gar nicht schnell genug kommen können. In Verwandlung war eine Massenhysterie ausgebrochen, nachdem ihr Lehrer ihnen das Pensum geschildert hatte, das sie bis zu den Prüfungen halten sollten. Eine sehr lästige Angelegenheit.
Doch in seiner Pause in dieser Ecke hatte er seine Ruhe und nichts konnte seine Aufmerksamkeit von der Zigarette und den Wolken, die vorbeizogen, ablenken. Bisher gab es zumindest nichts.
Aus dem Augenwinkel hatte Lorcan einen roten Haarschopf wahrgenommen. Diese Farbe war so auffällig, dass keiner sie ignorieren konnte, und repräsentierte eine ganz bestimmte Familie. Er neigte den Kopf, um die passende Person zu der leuchtend fuchsroten Haarpracht zu finden. Zur Verwunderung des Scamander war es die kleine Potter. Eine Augenbraue von dem Siebzehnjährigen zog sich langsam in die Höhe.
Lily Luna Potter hatte er noch nie in dieser Ecke gesehen oder mit einer Zigarette, geschweige denn andere Dinge, die es noch so zu rauchen gab. Zudem waren da noch die beiden älteren Brüder des Mädchens, die es für ihre ritterliche Aufgabe zu halten schienen, ihre herzallerliebste Schwester vor jeder Art Unheil zu bewahren.
Wie also hatte sie es trotz ihrer Wachhunde hier hergeschafft und was wollte sie hier?
Der suchende Blick der kleinen Potter traf den seinen. Als Lily auf ihn zu marschierte, zog sich seine Augenbraue noch einmal etwas höher. Wenige Schritte blieb das Mädchen vor ihm stehen und hatte ein breites Grinsen im Gesicht. Ein weiterer Grund zur Skepsis.
„Hey. Was willst du?“ Es war Lorcan schleierhaft, was das Nesthäkchen der Potters ausgerechnet von ihm wollte, aber das sie etwas wollte, stand außer Frage. Die Zielsicherheit, mit der sie auf ihn zugesteuert war, verriet, dass sie etwas von ihm wollen musste. Soweit konnte er sich sicher sein und das Mädchen schien auch kein Geheimnis daraus zu machen.
Immer noch mit Grinsen im Gesicht stand sie vor ihm und legte die Handflächen zusammen. „Ich brauch deine Hilfe bei etwas“, erklärte Lily wage und sah zu den Restlichen, die sich hier befanden und rauchten. Viele waren es nicht und für das Gespräch der kleinen Gryffindor und des Slytherin schienen sie sich nicht zu interessieren.
Bevor Lily sich ihm wieder zuwandte, zog Lorcan entspannt an seiner Zigarette und blies den Qualm zur Seite weg. Der Scamander hatte ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen und lehnte sich zurück an die Wand, um sie besser anschauen zu können.
Es war eine Dreistigkeit hier aufzuschlagen und seine Hilfe zu fordern, aber das passte ganz gut zu der kleinen Potter, wie er fand.
„Und wieso sollte ich dir helfen?“, fragte er ruhig mit einem belustigten Unterton.
Das Lächeln wich aus Lilys Gesicht und machte einem irritierten Blinzeln Platz. Solche Gegenfragen schien sie nicht gewöhnt. Sie strich sich eine verirrte Haarsträhne hinter ihr Ohr und erwiderte, als sei es das natürlichste der Welt: „Na, weil ich das so will.“
Lorcan konnte schlecht ernst nehmen, was ihm die kleine Gryffindor da entgegnete. Dass immer noch dieses verschmitzte Grinsen auf ihren Lippen lag, machte ihn jedoch misstrauisch. Dieses Grinsen war absolut identisch mit dem ihrer beiden Brüder. Selbst dieses markante Grübchen.
Wenn einer der Potters so grinste, das wusste Lorcan, war sich dieser seiner Sache absolut sicher. Lily war nicht das verzogene Prinzesschen, für das sie viele hielten, nein. Viel mehr war sie ebenso verschlagen wie James und Albus und wusste genau, was sie tun musste, um zu bekommen, was sie wollte.
„Okay, was genau willst du von mir? Wie soll ich dir helfen?“ Abwartend sah Lorcan sie an und war auf die Antwort gespannt. Ihr zu helfen, war zwar noch nicht in seinem Interesse, aber neugierig war er, denn dass sie zu ihm kam, machte den Slytherin stutzig. Bisher hatten er und Lily nicht viel miteinander zu tun gehabt und kannten sich nur flüchtig durch ihren Bruder Albus.
Für die Potter schienen seine Fragen eine Zusage zu sein und sie setzte sich neben ihn auf die Mauer, bevor sie begann, ihr Anliegen zu schildern. „Also, es ist eigentlich eine ziemlich simple Sache. Seth, dein bester Freund, soll mein Freund werden und du hilfst mir.“ Immer noch grinste sie und war kein bisschen verlegen über ihre Worte.
Für einen Moment hatte es Lorcan die Sprache verschlagen. Er hatte so ziemlich alles erwartet, aber nicht Das

. Langsam begriff er, dass es der volle Ernst der kleinen Gryffindor war und musste unweigerlich laut auflachen. Die Vorstellung von seinem besten Freund, Seth Zabini, zusammen mit der kleinen Lily Potter war absurd komisch.
Verwirrt sah die kleine Potter ihn an, als er die Hand auf ihren Kopf bettete und sie liebevoll zu tätscheln begann. Das Lächeln auf seinen Lippen wirkte geradezu väterlich. „Vergiss das ganz schnell wieder und such‘ dir jemanden in deinem Alter, Lils“, riet er ihr und widmete sich wieder seiner Kippe, als wäre das Thema damit abgehakt.
Nicht aber für Lily Luna Potter.
Von Lorcans Reaktion sichtlich enttäuscht erhob sie sich wieder und baute sich vor ihm auf. Ein „Nein“ kam für die kleine Gryffindor nicht infrage und solche Ratschläge hatte sie auch nicht nötig. „Ich will aber ihn und keinen anderen!“, versuchte sie dem Scamander noch einmal mit Nachdruck zu verstehen zu geben.
Davon ließ sich Lorcan allerdings nicht beeindrucken und rauchte weiter seine Zigarette. Lily behandelte er wie Luft.
Über das unkooperative Verhalten des Siebzehnjährigen frustriert stampfte die kleine Potter mit dem Fuß auf und ballte die Hände versteckt zu Fäusten. „Du wirst mir wohl kaum widersprechen, wenn ich sage, dass die Jungs in meinem Jahrgang alle noch Kinder sind.“
Mit dieser Aussage hatte Lily es zumindest geschafft die Aufmerksamkeit von Lorcan wiederzuerlangen. Er blies den Qualm der Zigarette ein letztes Mal aus und ließ die Kippe zu Boden fallen. „Nein, würd ich nie“, lenkte er unbeeindruckt ein, doch bevor sie triumphierend lächeln konnte, setzte er noch hinzu: „Genauso wie du eins bist.“
Lily klappte empört der Mund auf und sie atmete hörbar ein. „Ich bin kein Kind!“, protestierte sie sofort und konnte nicht verhindern, dass ihren Hals eine verräterische Röte hinauf kroch.
„Oh, doch. Das bist du“, schloss er erbarmungslos und konnte über ihr Benehmen nur grinsen. Es war der Beweis, wie Lorcan fand, aber mit so was brauchte er der kleinen Potter nicht kommen.
Seiner Bemerkung schenkte sie keine weitere Beachtung. Was Lorcan von ihr dachte, war egal und sie würde schon beweisen, dass sie erwachsener als alle in ihrem Alter war! Auch wenn sie das nicht beweisen brauchte, aber Seth galt es darauf aufmerksam zu machen und dafür benötigte sie Hilfe.
„Hilfst du mir nun? Bitte. Du bist sein bester Kumpel also geradezu perfekt, um mir zu helfen. Bitte.“ Betteln war normalerweise nicht Lilys Art. Normalerweise hatte sie was anzubieten oder wirklich gute Argumente, wieso es ein Vorteil für ihren Komplizen war, ihr zu helfen. Diesmal hatte sie nichts dergleichen und wusste auch, dass sie einiges verlangte.
„Dein Bruder- deine Brüder

killen mich, wenn die hören, dass ich ihre kleine Schwester dabei unterstütze, mit einem Slytherin was anzufangen“, wies er die kleine Potter auf sein Risiko hin, woraufhin diese mit den Augen rollte.
„Bevor die dich killen, erleiden die eher einen Herzinfarkt. Und wäre ich so dumm, ihnen so was auf die Nase zu binden, wäre das auch schon längst passiert.“
James und Albus dachten gleichermaßen, dass ihre kleine Schwester sich wohl niemals für Jungs interessieren würde und immer noch ungeküsst sei. In dem Glauben ließ die Jüngste die Beiden lieber. Alles mussten sie nicht wissen und je weniger desto besser.
Lorcan konnte für die Situation der kleinen Gryffindor etwas Verständnis aufbringen. Ernst nahm er sie trotzdem nicht und musste immer noch grinsen, während er nachdachte. Für Lily die reinste Folter, doch bevor sie weiter auf ihn einreden konnte, wies er sie auf die Zeit hin: „Hast du keinen Unterricht mehr? Die Pause ist so gut wie um.“
Irritiert blinzelte die kleine Potter und sah um sich. Der Hof war so gut wie ausgestorben. Lily spielte mit dem Gedanken Pflege magischer Geschöpfe zu schwänzen als sich der Slytherin vor ihr erhob und sie vor sich her schob. Verwundert blickte sie zu ihm auf und stolperte beinahe über ihre eigenen Beine.
„Wenn es dir so ein Bedürfnis ist, komm nach dem Unterricht noch mal her. Vielleicht überleg ich es mir noch“, bot Lorcan ihr an und fragte sich im selben Augenblick, ob diese Aussage wirklich so gut war. Sie würde kommen.
Das strahlende Lächeln auf ihren Lippen, als sie sich ihm wieder zuwandte, unterstützte seine Befürchtung und so erwiderte er es eher gezwungen.
„Okay, dann bis später. Und nicht vergessen, ja?“
„Ja, ja und jetzt verschwinde.“ Mit einem leichten Stoß trieb er sie voran und die kleine Potter eilte los wie ein Wirbelwind. Kurz sah Lorcan ihr nach, bis sie um eine Ecke verschwunden war. Mit einer Hand strich er sich durch sein braunes Haar und ärgerte sich, der kleinen Gryffindor ein weiteres Treffen vorgeschlagen zu haben.

Bis zum Abend hatte der Scamander von der kleinen Potter nichts mehr hören und sehen müssen. Solange hatte er jeden weiteren Gedanken an das Mädchen mit der urkomischen Bitte verdrängt. Nun, in der großen Halle beim gemeinschaftlichen Essen, änderte sich dies.
Es war Lorcan unbegreiflich, wie die kleine Potter es schaffte, ihn beim Essen unentwegt anzustarren. Ihre Blicke waren unangenehm penetrant. Sie ließen sich nicht ignorieren und er brauchte nichts von Legimenthik zu verstehen, um die aufgefangenen Blicke der Gryffindor zu deuten. Als wollte sie ihn telepathisch erreichen und immer wieder an ihr Treffen erinnern.
Hielt Lily ihn für senil, nur weil er in der Abschlussklasse war?
Mit einem leichten Schütteln des Kopfes versuchte Lorcan die Gedanken an die kleine Potter bis nach dem Abendbrot beiseitezuschieben, denn langsam fühlte er sich paranoid. Zu seinem Leidwesen waren die bohrenden Blicke von Lily sehr auffällig und andere wurden auch darauf aufmerksam.
Der Slytherin schob sich gerade eine Gabel Bratkartoffeln in den Mund, als neben ihm der Platz besetzt wurde. Rein aus Routine sah er zu seinem neuen Sitznachbarn und erblickte das wissende Lächeln seiner Klassenkameradin Polly. Schnell wandte er sich wieder seinem Teller zu, schaffte es aber nicht schnell genug, um nachzuladen und so einem Gespräch zu entgehen.
„Hast du eine neue Verehrerin?“, erkundigte sich die Parkinson amüsiert und Lorcan ließ das Besteck sinken. So eine direkte Frage war typisch für sie. Es war bekannt, dass Polly in der Gerüchteküche von Hogwarts immer am besten Bescheid wusste, was nicht zuletzt an ihrer unangenehm guten Intuition lag.
Trotzdem stellte Lorcan sich ahnungslos. Er wandte sich ihr zu und auf seinen fragenden Blick nickte die junge Dame Richtung Gryffindortisch. Somit brauchte der Scamander nicht weiter versuchen, Dummheit vorzutäuschen.
Mit einem Schulterzucken widmete er sich wieder seinem Essen. Zu seinem Glück konnte der Slytherin die Vermutung seiner Kameradin entkräften. „Ich muss dich enttäuschen. Ich bin nicht das Objekt der Begierde.“
Auf Pollys Stirn bildeten sich feine Fältchen. Dass sie sich irrte, kam so gut wie nie vor. Ihre Intuition war treffsicher. Einen kurzen Moment dachte sie über die Antwort ihres Sitznachbarn nach. „Aber du weißt, wer ihr Objekt der Begierde ist“, schlussfolgerte sie schließlich und tat sich Putenfilet auf ihren Teller.
Natürlich hatte sie den wissenden Unterton rausgehört. Lorcan hatte nichts anderes erwartet. „Schon möglich“, murmelte er mit halb vollem Mund. Der Slytherin hatte nichts davon, Polly Auskunft zu geben. Gerüchte waren für ihn nicht rentabel.
„Und wieso starrt sie dich dann an, wie den heiß begehrten Schnatz?“ Aus dem Augenwinkel versicherte sich die Parkinson, dass Lily wirklich zu ihnen rüber starrte und es bestand absolut kein Zweifel.
„Tja, ich sehe eben so unverschämt gut aus, dass sie sich nun zwei Mal überlegt, ob sie sich nicht doch lieber für so einen coolen Typen wie mich interessieren will.“ Mit einem breiten Grinsen sah er in das verdutze Gesicht der Slytherin.
Schließlich begann Polly, herzlich zu lachen. „Sicher, Scamander. Dir kann keine widerstehen.“
„Ich weiß“, erwiderte Lorcan knapp und ging sich mit der Hand durch sein Haar. Er schob den geleerten Teller von sich und stand von der Sitzbank auf. Mit einer knappen Geste verabschiedete er sich von seiner Kameradin. Seine abendliche Zigarette hatte er sich nun wirklich verdient.
„Ich find noch raus, was ihr treibt“, sagte Polly noch zum Abschied mit einem listigen Grinsen auf den Lippen.
„Daran habe ich keine Zweifel. Bis später dann, Polly.“

Der erste Schritt in den Innenhof hatte schon etwas Befreiendes. Die Sonne war schon längst weg und Wolken bedeckten den schwarzen Nachthimmel, sodass nur wenig Mondlicht den Hof erhellte. Der kühle Wind wurde schneidender, trotzdem machte es dem Scamander nicht viel aus.
Mit seiner Familie hatte er schon einige Länder, auf den Spuren von unbekannten Tierwesen, bereist und öfter im Unterholz nächtigen dürfen. Es hatte den Slytherin abgehärtet, was ihm beim Quidditch manchmal von Vorteil war.
Er zückte eine Schachtel und nahm eine Kippe heraus. Da es schon spät war, machte Lorcan sich nicht die Mühe bis hinten ins Eck zu verschwinden und lehnte sich an eine Säule, von der aus er einen guten Blick zum Eingang hatte. Lily würde sicher nicht lange auf sich warten lassen. Drei Züge später erschien der auffällige Rotschopf auch schon und eilte über den Innenhof auf ihn zu.
„Das hat ziemlich gedauert“, bemerkte der Slytherin nüchtern. Durch die penetranten Blicke, während des Essens hatte er nicht damit gerechnet, dass die kleine Potter ihn auch nur fünf Minuten warten ließ.
Lily scherte sich nicht viel um die Bemerkung und musterte ihn bloß. Etwas anderes war für sie wichtiger. „Hilfst du mir nun?“ Die rehbraunen Augen blickten erwartungsvoll zu ihm auf und so ziemlich jeder hätte wohl in diesem Moment Probleme damit, ihr eine Bitte abzuschlagen.
Lorcan sah das ganze Vorhaben der kleinen Potter nur nicht so optimistisch. „Hör mal, Lils. Selbst wenn ich, als sein bester Freund, dir helfen würde, hättest du keine Chance.“ Es machte ihm keinen Spaß, aber die Traumblase des Mädchens musste platzen, bevor sie sich in etwas verrannte, was einfach keinen Sinn hatte.
Lily allerdings zog die Augenbrauen verwirrt zusammen, dass sich kleine Fältchen auf ihrer Stirn bildeten. „Wieso nicht?“, fragte sie schlicht und war wirklich gespannt auf die Antwort. In Gedanken spielte die kleine Gryffindor schon ein paar Möglichkeiten durch.
Von einer Freundin wusste sie nichts und auch nichts von einem Schwarm. Ein paar andere Mädchen hatten schon versucht die Aufmerksamkeit von Seth zu gewinnen, aber das war etwas anderes. Sie

war jemand anderes und würde es sicher schaffen sein Interesse zu wecken.
Lorcans Antwort betraf einen ganz anderen Punkt. „Sieh mal. Seth ist achtzehn. Der interessiert sich nicht für vierzehnjährige Gören. Du bist ihm viel zu jung. Der Altersunterschied würde doch jeden abschrecken.“ Ein berechtigter Einwand, wie er fand, und es entsprach auch den Vorstellungen seines Kumpels.
Seth war in Dingen Frauen unglaublich wählerisch. Für Fünftklässlerinnen ließ er sich nicht einmal erwärmen und bei Sechstklässlerinnen wurde es auch schon schwer. Dabei ließen diese sich noch so wunderbar einfach beeindrucken. Es grenzte in den Augen des Scamanders schon an Dummheit, so wählerisch stellte sich sein Kumpel an. Diese unnahbare Art hatte natürlich für die weiblichen Bewohner des Schlosses einen ganz eigenen Charme.
„Das ist doch kompletter Schwachsinn!“, warf Lily dem Slytherin energisch vor und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Lorcan wollte ihr, wegen ihres Alters seinen Kumpel ausreden? Davon hielt die kleine Potter nicht viel und das würde sie ihm auch zu verstehen geben. Von niemandem ließ Lily Luna sich auf ihre vierzehn Jahre reduzieren!
„Fändest du es erschreckend, wenn eine zweiunddreißigjährige Frau mit einem sechsunddreißigjährigen Mann zusammen wäre?“, fragte sie ihr Gegenüber mit prüfendem Blick.
Dem Slytherin war klar, worauf die kleine Gryffindor damit anspielen wollte und gab nur widerwillig die Antwort, die sie erwartete. „Nein, das nicht.“
„Siehst du!“, entgegnete Lily ihm prompt, bevor sie zu ausführlichen Erläuterungen ausholte, „Das sind auch vier Jahre unterschied, aber da kümmert es keinen! Und bei einer Vierundachtzigjährigen und einem Achtundachtzigjährigen ist der Unterschied nichts mehr!“ Tief atmete die kleine Potter ein und war der festen Überzeugung Lorcan mit ihrer Beweisführung überzeugt zu haben. Was waren schon vier Jahre? Nichts!
Der Slytherin ging sich mit der Hand durch sein störrisches braunes Haar und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Irgendwie hatte er sich seinen Abend entspannter vorgestellt.
Albus hatte ihm einmal erzählt, dass eine Diskussion mit seiner kleinen Schwester zu führen schrecklich anstrengend war. Darüber hatte Lorcan sich nie viele Gedanken gemacht, da sie eben Geschwister waren und er das so kannte, dass Geschwister sich mal auf die Nerven gingen. Aber inzwischen fragte er sich, ob er da nicht einen Fehlschluss gezogen hatte.
Da gute Argumente anscheinend nichts brachten, wollte Lorcan es einmal mit nackten Tatsachen versuchen. „Dann versuch es eben, wenn du zweiunddreißig bist. Jetzt bist du nichts weiter als ein Kind und somit uninteressant. Du hast noch nicht mal sexy Kurven. Flach wie ein Brett bist du.“ Seiner Stimme schwang ein genervter Unterton mit. Auffällig ließ er seinen Blick über die zierliche Gestalt von Lily wandern und lächelte provokant.
Es erzielte die gewünschte Reaktion.
Hörbar atmete die kleine Potter ein und hielt die Luft an. Ihr Blick war empört auf den Älteren gerichtet. Diese Behauptung war eine absolute Frechheit! Sicher war Lily längst nicht mehr „flach wie ein Brett“! Sie trug schon BHs - auch wenn nur Körbchengröße A, hatte sie trotzdem einen Busen und war somit nicht flach! Für diesen Frevel seinerseits fand die kleine Potter keine passende Beschimpfung.
Mahnend biss sie sich auf die Zunge, um nicht mehr dazu zu sagen. Es ging hier um etwas anderes. Etwas von viel größerer Bedeutung und sie brauchte Lorcan. „Hör zu. Es ist mir egal, was du sagst. Ich weiß, was ich will und keiner redet mir da rein. Sag mir einfach, ob du mir hilfst oder nicht. Altkluge Ratschläge kann ich mir bei meinen Brüdern holen.“ Angespannt ballte sie die Hände versteckt zu Fäusten. Würde er „Nein“ sagen, hätte Lily ein Problem, aber auf keinen Fall wollte die Gryffindor dem Scamander ihre Abhängigkeit von ihm zeigen und starrte ihn entschlossen an und es half.
Lorcan schüttelte über ihre Beratungsresistenz nur den Kopf. Das war unglaublich stur und kindisch, aber ihr weiter seine Hilfe zu verwehren, brauchte vermutlich auch nichts. Sie würde auf eigene Faust versuchen, Seth Zabini für sich zu gewinnen oder ihn immer weiter nerven, bis er sich endlich ihrer erbarmte.
„Ich erwarte nicht, dass du den Kuppler spielst. Ich schaff das allein. Ich brauch nur ein klein wenig Unterstützung von dir. Ehrlich“, setzte Lily noch hinzu und der Slytherin gab auf.
Resigniert ließ er die Schultern hängen und raufte sich durchs Haar. „Ist ja gut. Von mir aus“, murrte er. Das freudig strahlende Gesicht des Mädchens schmeckte ihm bitter. Er hatte sich von einer vierzehnjährigen Göre tatsächlich breitschlagen lassen. Schande für Slytherin.
„Aber komm später nicht heulen oder mach mir auch nur einen Vorwurf, weil Seth dich nach wie vor nicht beachtet!“, maulte er sie an, dabei war er nur sauer auf sich selbst. Aber Lily war das egal.
„Okay, ich zähl auf dich! Danke, Lorc.“ Überschwänglich drückte sie ihn, womit der Scamander weder gerechnet hatte, noch umzugehen wusste, also drückte er sie bloß wieder von sich und schnaubte verächtlich. Und wieder kam ihm dieses eine Wort als Beschreibung in den Sinn: kindisch.
„Ist gut. Nun zisch ab. Ich nehm‘ dich sicher nicht mit, damit du in sein Bett schleichen kannst.“ Dass solch eine Aktion nicht im Sinn der kleinen Potter war, wusste er, aber die Worte waren ihm so über die Lippen gekommen.
Mit gerecktem Kinn sah das Mädchen zu ihm auf. „Sowas ist unter meinem Niveau“, stellte sie klar und stolzierte schließlich davon.
Das Abendbrot war längst vorbei. Im Gryffindor-Turm wurde sie sicher schon von James vermisst. Daher war es keine gute Idee noch länger den Räumlichkeiten fern zu bleiben. Lily wollte den Beschützerinstinkt ihrer Brüder nicht unnötigerweise erwecken.
Nachdem sie ins Schloss verschwunden war, nahm Lorcan erst einmal einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Der Glimmstängel war fast bis auf den Filter runter gebrannt, dabei hatte der Slytherin kaum einen Zug genommen. Die kleine Potter hatte ihn um seine erholsame Lightdroge gebracht. Unmöglich. Grummelnd nahm er einen letzten Zug, bevor er den Rest der Kippe wegschnippte und sich ebenfalls ins Schloss begab.
Schlafen würde es auch tun, um diesen Irrsinn zu verarbeiten. In was für einen Unsinn er sich wirklich verwickeln hatte lassen, davon konnte Lorcan sich noch gar keine richtige Vorstellung machen.

Fortsetzung folgt.

Impressum

Texte: Harry Potter von J. K. Rowling; Klappentext von Arina Tanemura
Bildmaterialien: Cover von blo0wm0on(deviantart.com), Charakterbild; Lily von thumbeliina(deviantart), Lorcan von Beau Mirchoff, Polly von NeonLynxie(deviantart.com), Seth von samron(deviantart.com), Silvia von Bella Thorne
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /